Umschlaggestaltung: Nicolas C. Hammann
Alle Rechte © 2018 Joachim Hammann
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7528-7553-9
Für
Małgorzata Marciniak
Cui prodest scelus, is fecit! Wem das Verbrechen nützt, der hat es getan!
Seneca: Medea
Sie würden den Leuten im Haus einfach den Kopf wegpusten.
Es würde ganz einfach sein. Es passte alles ganz wunderbar zusammen. Es würde wie beim ersten Mal sein. Sie mussten es beim zweiten Mal nur genauso machen wie beim ersten Mal.
Beim ersten Mal war alles ziemlich kompliziert gewesen. Sie kannten sich ja nicht aus, sie hatten das noch nie gemacht, sie mussten mit Überraschungen rechnen, sie mussten vielleicht improvisieren, taten möglichweise gut daran, sich einen Plan B zurecht zu legen.
Beim zweiten Mal wussten sie genau, wie sie es machen mussten — erst den Leuten den Kopf wegpusten und dann das Haus in aller Ruhe nach Wertsachen absuchen.
Da stand wieder ein Einfamilienhaus, allein, in einem großen Garten. Zwar gab es links und rechts Nachbarn, aber hinter dem Haus war Wald. Nicht freies Feld wie auf dem Rheinpfad, sondern Wald. Da konnte man zwar nicht mit dem Auto durchfahren und eine Menge Diebesgut abtransportieren, aber man konnte zu Fuß ungesehen an das Haus herankommen.
Also war das mit dem Wald noch besser. Noch einfacher zu bewerkstelligen als auf dem Rheinpfad. Nachts lief niemand durch den Wald. Niemand würde sie sehen, und wenn, dann würden sie den nächtlichen Zeugen so erschrecken, dass er sofort abhaute.
Die Polizei würde dumm aus der Wäsche gucken, weil sie sich nicht verstanden, warum Einbrecher und Diebe sich durch einen Wald oder über einen Acker an ein Haus heranschleichen würden, wo es doch keinerlei Möglichkeit gab, größere Mengen Diebesgut abzutransportieren — außer in einem Rucksack oder in einem Koffer.
Die Schlaumeier bei der Polizei würden sofort erkennen, dass der Modus operandi der Kriminellen in beiden Fällen genau gleich war, und sie würden sich bereits nahe an der Lösung des Falls glauben. Die würden denken, dass sie ganz einfache Arbeit — halbe Arbeit! — haben würden. Da es sich um die gleiche Tätergruppe handelte, brauchte man sozusagen nur einmal zu ermitteln.
Diese armen, kranken Irren.
Sie waren sich sofort einig gewesen, dass das I-Tüpfelchen auf dem perfekten Mord — auf dem perfekten Doppel-Mord! — daraus bestehen würde, dass sie ganz zum Schluss eine Flasche Sekt oder Champagner aufmachten und sich in aller Ruhe zwei, drei Gläschen genehmigten.
Genauso wie auf den Rheinpfad.
Bestimmt würde der eine oder der andere Kommissar total sauer sein, weil sie so eine Nummer abzogen, und der würde dann dummes Zeug reden von wegen völlig abgebrühten, eiskalten, entmenschten Doppelmördern — nur, weil er wusste, dass er verarscht wurde.
Das erste Gläschen Sekt nach getaner Arbeit war ein spontaner Einfall gewesen, aber das Gläschen Sekt, das sie in dem Haus auf dem Waldweg in Meerbursch trinken würden, würde ein höhnischer Gruß an die Polizei sein: Schaut her, ihr Hochdruckarschlöcher! Wir machen euch extra auf uns aufmerksam. Solche Sachen erlauben wir uns, und ihr kriegt uns doch nicht. Nie und nimmer.
Die politisch korrekt tuenden Schreiberlinge von den Tageszeitungen hatten sich darüber aufgeregt, dass ein Boulevard-Blatt schon sehr früh von einer Jugo-Bande als Tätern gesprochen hatte und hatten dergleichen Bezeichnungen als ausländerfeindlich hingestellt.
Eine blöd heuchlerische Schreiberin der Rheinischen Rundschau hatte es sich nicht nehmen lassen, die Journalisten der Boulevard-Presse zu belehren — nachdem sie in einer speichelleckerischen Demonstration die halbe deutsche Geschichte aufgerollt und vom unheilvollen Nazi-Erbe des Rassismus gesprochen hatte —, dass es keine Jugoslawen mehr gab. Sie wollte aber den von ihr verachteten Kollegen auch nicht erlauben, von einer Serben- oder Bosnier-Bande zu sprechen.
Die Vollidiotin merkte überhaupt nicht, dass sie sich ein Eigentor geschossen hatte, als sie die Jugos von allen Verdächtigungen reinwaschen wollte.
Denn auch Jugos waren Menschen. Aßen, tranken, schliefen, liebten und zeugten Kinder. Und klauten und mordeten.
Im Übrigen fühlten sie sich überhaupt nicht getroffen, geschweige denn beleidigt. Sie waren selbstbewusst, sie waren stolz darauf, die Männer von der Jugo-Bande zu sein. Helden.
Bili su pobjednici. Heroji. Najbolje.
Die Zeitungen konnten sie mal kreuzweise am Arsch lecken und die Polizei sowieso.
Sie gaben sich High fives.
»Wesnuschki,« flüsterte er, »Wesnuschki, ich liebe dich.«
Er wollte seine Arme ausstrecken, seine Hände wurden groß und warm und zart, und er wollte seine Geliebte an sich ziehen und umarmen.
Aber sie war nicht mehr da.
»Wesnuschki!« schrie er entsetzt.
Er wachte mit einem Ruck auf. Irgendwo im Haus hatte vielleicht eine Tür geschlagen — das musste es gewesen sein, dachte er, davon war er aus dem Schlaf gerissen worden.
Er merkte sofort, dass er hellwach war, und wusste aus der Erfahrung langer Jahre und vieler Nächte, dass er jetzt nicht wieder würde einschlafen können. Er knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Es war kurz nach vier.
Er stand auf, ging zum Schlafzimmerfenster, zog die Vorhänge auf und sah hinaus auf die Dächer der Stadt und den Himmel darüber.
Der Himmel hatte wieder diese seltsame Farbe, wie geschmolzenes Kupfer, fand er. Die Sterne wie Einsprenglinge in hartem Gestein.
Dieser Himmel machte ihn einmal mehr, heute Nacht wieder, wie in so vielen Nächten davor, schaudern — so wie damals, als er diese Erscheinung zum ersten Mal gesehen hatte. Da war es ihm gewesen, als ob er dort oben am sternlosen heillosen Himmel den schrecklichen Schlund des Reichs des Fürsten der Finsternis gesehen hätte.
Das war in der Nacht nach Malus Ermordung gewesen.
Wie konnte man nur unter so einem Höllenhimmel leben?
Immer, wenn Joachim morgens um vier Uhr zum ersten Mal die Augen aufmachte, um gleich ganz hellwach zu sein und zu wissen, dass er alle Hoffnungen auf eine lange, gute Nacht aufgeben musste und am besten sofort aufstand, durchlief er ein stets gleiches Ritual.
Nach dem Tod von Malu war er lange allein geblieben, aber dann lernte er doch wieder eine Frau kennen.
Susanne hatte ihren Mann Lukas auf die klassische und so entwürdigende Art und Weise verloren: eines Tages, am ersten und strahlend schönen Urlaubstag in Italien, in Torri del Benaco, am Gardasee, aus dem sprichwörtlich gewordenen heiteren Himmel heraus, eröffnete Lukas ihr, dass er seit langem eine Freundin habe, Sandra, und dass diese im fünften Monat schwanger sei. Da war Susanne neununddreißig gewesen und ihre Ehe war in elf Jahren kinderlos geblieben. Irgendwie konnte sie Lukas verstehen, aber sie wollte ihn nicht verstehen, weil das bedeutete, ihm zu verzeihen, und das konnte sie nicht.
Hinterher wusste Susanne nicht mehr, ob sie das Nächste gefragt hatte, um das Endgültige seines Entschlusses bewiesen zu bekommen oder ob sie sich weh tun und noch einmal von ihm verletzt werden wollte, aber Sandra hörte sich ihrem Gefühl nach jung an, und sie erkundigte sich, wie alt sie denn sei. »Ist das so wichtig?« fragte er zurück, aber dann gab er die Antwort, »Mitte zwanzig.« Einer englischen Redewendung zufolge fügen böse Menschen der Verletzung noch die Beleidigung hinzu, und die bestand darin, dass er die Zahl mit Stolz im Gesicht und Triumph in der Stimme nannte.
Joachim hatte Susanne lieben gelernt, und genau wie er schreckte auch Susanne nach ihrem Trauma, das zwei Jahre zurücklag, vor einer tieferen Bindung zurück und versuchte, die Nähe und Enge zu vermeiden, die zwar eine Beziehung erst sinnvoll, aber, gerade für die Enttäuschten, so schwierig gestalteten.
Viele Jahre vorher war Joachim, durch seinen Freund und Teamkollegen Pius Reinecke, beziehungsweise durch dessen Frau Maria vermittelt, mit einer ersten Susanne zusammengekommen, die lieb und gut und intelligent war und einfühlsam genug, um sofort zu spüren, dass er einmal in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen und seitdem, mehr als ein Jahrzehnt, nicht wieder herausgekommen war.
Sie stellte sich sehr geschickt an, ließ ihm Zeit und Raum, aber dann siegte doch die Liebe, die immer Verletzungen aufdecken und nie verheilte Wunden schließen will, und sie begann, sich sehr zu bemühen, Joachim ins Leben zurückzuführen. Sie versuchte, sein düsteres Gemüt durch Konzert- und Ausstellungsbesuche wieder lebendig zu machen, und strengte sich an, seine Schlafstörungen durch selbstgemachte Tees zu heilen. Sie hatte sich ein Kräuterbuch gekauft und probierte Baldrian, Melisse, Hopfen und Lavendel aus; dann brachte sie ihn dazu, zu einem Therapeuten zu gehen.
Letztlich überstieg das Unternehmen ihre Kräfte, und sie musste ihre Beziehung zu Joachim beenden, um selber gesund zu bleiben.
Diese zweite Susanne war Joachim in bester, wenn auch trauriger Erinnerung geblieben, weil auch sie drohte, an ihm, der zu Stein geworden war, zu zerbrechen, und lernen musste, ihn zu verlieren, um ihr Leben zu behalten. Sie hatte sich ihm in seinem wehmutsvollen Gedenken als die italienische Susanne, in der Unterscheidung zur ersten, das war die bayrische Susanne gewesen, eingeprägt.
Es dauerte lange, fast bis zum Ende ihrer Beziehung, bis er verstand, warum die zweite Susanne immer mit ihm in die Ferien nach Italien, an den Gardasee, fahren wollte — sie war an ihr Trauma gebunden und versuchte, den Goldfaden ihres Lebens wieder dort anzuknüpfen, wo er so gedankenlos und herzlos zerrissen worden war.
Der Verbrecher, sagt man, kehre immer an den Ort des Verbrechens zurück. Aber das hatte er, Joachim, Hauptkommissar im Kriminalkommissariat für Todesermittlungen und schwere Verletzungs- und Gefährdungsdelikte der Düsseldorfer Polizei, kurz KK 11 genannt, noch nie erlebt. Das konnte auch durch seine jahrzehntelange Berufserfahrung nicht belegt werden. Das war dummes Geschwätz, gedankenlos nachgeplappert.
Es war genau umgekehrt: wer in Gedanken und Gefühlen, Worten und Werken immer an den Platz des Schreckens zurückkehrte, war das Opfer.
Auch er kam nie von der Vergangenheit los. Er kehrte immer zu Malu zurück, zu ihrem Grab und zu jenem Tag im Juli, an dem sie ermordet worden war, und er wollte die Worte hören, die damals, 1973, niemand gesagt hatte, »Es ist vorbei. Die Geiselnahme ist glücklich ausgegangen und der Bankräuber ist gefasst worden. Ihre Frau lebt. Sie ist unverletzt. Sie können jetzt kommen und sie abholen.«
Aber die Worte wurden nicht gesprochen, weder von einem Arzt noch von der Polizei noch von einem Vertreter der Bank.
Er ging in die Küche, bereitete die Espressokanne zu, stellte den Milchtopf auf die Herdplatte und wartete.
Er suchte sich eine Schallplatte aus, ging zum Plattenspieler und legte Musik auf. Die Morgenstunden, wenn der frühe Blick aus dem Fenster hinaus auf die Himmelskuppe hinter ihm lag, waren für ihn die schönsten Stunden des Tages: die drei Tassen Cappuccino und die Musik dazu, Piano-Trios, von Hampton Hawes, Elmo Hope, Al Haig, Billy Taylor, Vince Guaraldi oder Claude Williamson.
Dann kam das Duschen, das Rasieren, der Morgenspaziergang die Roßstraße hinunter zum Nordfriedhof, die Begrüßung der Amsel mit den paar weißen Federn am Friedhofseingang oder bei der Kapelle — die, treu wie er, immer wieder hierher zurückfand —, dann der Besuch an Malus Grab und das stumme Gespräch mit ihr.
Manchmal schlief er, der in den wenigen Stunden der Nacht nicht ausgeruhte Körper forderte sein Tribut, auf der Parkbank gegenüber ihrem Grab ein.
Seit Malus Tod hatte er nie mehr Frieden gefunden und auch nicht den tiefen Schlaf geschlafen, der ihn mit der Zeit, mit den Jahren, in jeder Nacht ein bisschen mehr, hätte gesundwerden lassen, und er verfluchte die Stunde, in der Malu ihm genommen wurde.
Aber in ihrer Nähe, in der Helligkeit des beginnenden Tages, fand er die Ruhe, die ihm in den harten, schweren Schatten zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang verwehrt blieb.
Er wurde auf die Dauer nur deswegen nicht krank, hatte ihm einmal ein Arzt erklärt — Dr. Messing, ein Rechtsmediziner, mit dem er beruflich viel zusammenkam —, weil er in den wirklich wichtigen ersten fünf Stunden der Nacht, in der gesunderhaltenden Tiefschlafphase, schlief, wie es sich gehörte.
Darauf, nach dem Aufwachen auf der Parkbank, folgte meistens die Rückkehr in die Wohnung, auf jeden Fall der Fußweg dem Rhein hinauf zum Polizeipräsidium am Jürgensplatz und die Begrüßung der Kollegen. Dann begann die Arbeit, der Schriftverkehr, die Telefonate, die Besprechungen, die Durchsicht der unerledigten Fälle.
Und dann gab es vielleicht einen neuen Mord mit seinen Vernehmungen und Verhören, Protokollen und Berichten, Zeugen und Verdächtigen und den endlosen Ermittlungen und Recherchen.
Er ging auch an diesem Morgen zu Fuß die Roßstraße hinunter bis zum Nordfriedhof, wie er es seit vielen Jahren tat.
Früher hatte er ungefähr zwanzig Minuten für die Strecke gebraucht, war regelrecht zu Malu hingeeilt, aber er war älter und müder geworden, und jetzt dauerte der Morgenspaziergang fünfundzwanzig Minuten und manchmal noch ein paar Minuten länger.
Es war trocken und kalt an diesem Morgen, ohne die übliche Nässe eines Februars am Niederrhein. Er begrüßte die Amsel mit den weißen Federn, die um die Kapelle herumflatterte, und ging dann, immer den kürzesten Weg, immer den gleichen Weg, zu Malus Grab.
Er nahm die verwelkten Blumen von Malus Grab, warf sie in einen Abfalleimer, setzte sich dann auf eine Parkbank und schaute auf den Grabstein.
Marie-Luise Joachim
geb. Klausmann
1952 – 1973
Eins ließ ihn weiterleben, aufstehen, in das nächtliche, höllische Glühen der Welt unter der niedrigen Himmelsdecke starren, nicht verzagen und weitermachen: dass das Glück, das Paradies der Liebe, einmal Wirklichkeit gewesen war, dass es noch lebte und erst dann sterben würde, wenn er die Erinnerung daran aufgab.
Alle Menschen waren aus dem Paradies vertrieben worden, nicht nur Malu und er und die italienische Susanne. Das war unser aller Schicksal.
Wir konnten unser Leben zur Hölle machen, indem wir das vergaßen, und versuchten, den Tanz der Teufel mitzutanzen. Aber wir konnten auch die Erinnerung daran wachhalten.
Malu hatte ihn das gelehrt: dass es einen Gott gab, und dass Er sich uns mit Seiner Liebe zeigte, und sich zeigen würde, wenn wir liebten, und dass wir, wenn wir das einmal erlebt hatten, ewig leben würden.
Er schloss die Augen und schlief mit diesem Gedanken auf der Bank vor Malus Grab ein.
»Joachim!« hörte er rufen und er wachte zum zweiten Mal an diesem Morgen auf.
Da kam ein junger Mann mit schnellen Schritten die Allee heraufgelaufen, winkte ihm zu und rief schon von weitem, »Joachim! Hauptkommissar Joachim!«
Der aufgeregte junge Mann war sein neuer Kollege und Spannmann, Kommissar Marc Peletier. Er war sechsundzwanzig Jahre alt und über die Fachhochschule Wuppertal in den Kriminaldienst gekommen. Das disqualifizierte ihn für eine bestimmte Sorte von Kollegen, welche die Ochsentour gegangen waren, aber nicht für Joachim.
Joachim fand, dass sein junger Spannmann auf dem besten Wege war, ein guter Ermittler zu werden, und er wollte das Seine dazu beitragen, bei dem jungen Mann dort, wo er Lücken vermutete, einiges an fachlicher Ausbildung und menschlicher Erziehung nachzuholen.
Er sah jedoch, dass Marc das nicht nur nicht gerne hatte, sondern richtig aggressiv zurückwies — aber nicht, weil er sich schon für reif und fertig hielt, sondern aus einem ganz anderen Grund: Marc fand, dass Joachim ihn voll und ganz ablehnte.
Und das war so gekommen: Joachim hatte für viele Jahre mit seinem gleich alten Kollegen Pius Reinecke ein zur Legende gewordenes Zweierteam gebildet. Joachim kannte Pius, seit er bei der Polizei angefangen hatte, und Pius war sein bester Freund, sein neuer bester Freund geworden, nachdem er seinen besten Freund aus der Kölner Jugendzeit, Friedhelm Kiesler, aus den Augen verloren hatte.
Aber dann, letztes Jahr im November, hatte Joachim auch seinen Freund Pius verloren — Pius war unter noch ungeklärten Umständen zu Tode geprügelt worden. Die Täter hatte man noch nicht gefasst.
Kurz danach, als der Chef ihm den jungen Marc Peletier als Ersatzmann vorstellte, hatte Joachim sehr emotional und sehr laut verkündet, dass er keinen Neuen brauche, da sein alter Freund und Kollege Pius Reinecke noch immer sein Spannmann sei.
Joachim galt schon seit langem im Polizeipräsidium als Sonderling, weil er auch nach einem Vierteljahrhundert noch immer an seiner Frau Malu hing und es in all der Zeit nicht geschafft hatte, eine Beziehung zu einer neuen Frau aufzubauen. Aber nach dem Mord an Pius war man überzeugt, dass er ganz und gar durchgeknallt war. Als Joachim seinen ersten Schock nach dem Tod von Pius überwunden hatte, schickte er seiner ersten Aussage eine halbwegs rationale Erklärung hinterher, »Auf jeden Fall bleibt Pius so lange mein Spannmann, bis ich seinen Tod aufgeklärt habe.«
Das wurde ihm nicht leichtgemacht: wegen allzu großer emotionaler Nähe zu Pius — und die hatte er so ungefähr jedem Kollegen gezeigt und davon erfuhr auch sein Chef — wurde er vom Fall abgezogen.
Marc Peletier sah heute Morgen schon wieder wie aus dem Ei gepellt aus; besser noch: wie aus dem Modejournal entsprungen. Der Junge war schwer in Ordnung, aber warum er immer so daherkommen musste, als wenn er gerade über die Kö spazierte und nicht auf dem Weg zum Tatort war, würde Joachim wohl nie einleuchten.
Die einzig vernünftige Erklärung, nämlich dass Marc eben ein schicker Düsseldorfer war, reichte nicht hin, da er aus Neuss stammte.
Etwas irritierend kam hinzu, dass Marc ab und zu eine schwarze Lederjacke trug, seine vollen schwarzen Haare zur Andeutung einer Elvis-Tolle frisierte und freimütig gestand, dass Rockabilly seine Lieblingsmusik sei; es fehlte nur noch, dass Marc sich überall tätowieren ließ. Das hatte er bis jetzt aber noch nicht getan, jedenfalls hatte Joachim noch nichts auf Marcs Unterarmen gesehen, wenn der mal die Ärmel aufrollte.
Es war schwer — auch für einen altgedienten und erfahrenen Kommissar —, aus dem jungen Kerl schlau zu werden. Wenn man nicht auf böse Unterstellungen als Erklärungsmodell verfiel, dann war eigentlich nur anzunehmen, dass Marc noch sehr jung war und sich noch nicht wirklich gefunden hatte. Rebellischer Rocker oder schicker, angepasster Düsseldorfer. Dazwischen lagen Welten. Und in denen schien Marc noch herumzuwandern.
Joachim fand das eine wie das andere Rollenmodell Blödsinn. Wenn es nach ihm ging, hatte Marc nur eine Aufgabe im Leben: ein guter Kommissar zu werden. Falsch: ein guter Mensch zu werden.
Das Zeug dazu hatte er. Was genau ihm fehlte, war auch Joachim in den ersten Wochen der Bekanntschaft noch nicht klargeworden.
»Was schreist du denn hier so rum?« fragte Joachim.
»Erst mal Guten Morgen«, antwortete Marc.
Das war eigentlich eine von Joachims Standardformulierungen. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Watt soll dä Quatsch. Immer mit der Ruhe. Sei mich nit so doll. Immer langsam mit de Violin, die iss noch neu. Lass ens kucken. Komm, hör op. Drink doch eene met. Et kütt wie et kütt. Erss ma Guten Morgen.
Das waren alles Variationen der einen der beiden Grundüberzeugungen des Rheinländers: dass das Leben nicht nur Arbeit und Hetze, Wissen-Müssen und Erledigen-Müssen, sondern auch Leben ist, Verweilen und Freude am Dasein.
Die andere war, dass der Mensch Mitmensch ist und zu sein hat oder sonst kein Mensch ist.
»Gut, dass du mich dran erinnerst!« sagte Joachim.
Höflichkeit und angemessen aufmerksames Wahrnehmen des menschlichen Gegenübers waren nach Joachim mühsam erarbeitete und noch immer alles anderes als selbstverständlich etablierte Errungenschaften der menschlichen Zivilisation und Kultur. Er meinte das ganz ernst und nahm sich Marcs Vorschlag zu Herzen, »Guten Morgen.«
»Ich war schon bei Ihnen zuhause und als auf das Klingeln keiner aufgemacht hat, da hab’ ich mir gedacht, dass Sie bestimmt auf dem Friedhof sind, auf der Bank beim Grab sitzen und wieder mal eingenickt sind.«
»Wie spät ist es denn?«
»Gleich neun Uhr.«
Jetzt war Joachim hellwach.
»Kurz vor neun? Und wieso holst du mich erst jetzt ab?«
»Sie haben mal wieder Ihr Handy nicht mitgenommen«, sagte Marc. »Sollen wir erst mal einen Kaffee trinken gehen? Ich könnte einen gebrauchen.«
»Erzähl erst, was los ist.«
»Wir haben nen neuen Fall.«
»Wo?«
»Wo wir Kaffee trinken gehen sollen?«
»Na, klar!« knurrte Joachim.
»In Meererbusch.«
»Wer hat’s dir gesagt?«
»Von der Heiden hat’s mir gesagt und der hat auch gesagt, dass ich Sie hier finde.«
»Du fängst für einen Ermittler mit unnötigen Umständlichkeiten an.«
»Sie hatten nicht...«
»Doch! Hatte ich!« unterbrach Joachim. »Ich hatte laut und deutlich Ja, klar! gesagt.«
»Sie hatten Na, klar! gesagt. Für mich hörte sich das nach reinem Zynismus an.«
»So, hörte sich das so an?« Joachim grinste. »Du denkst, ich hab’ nur an einem Interesse: dir das Leben schwer zu machen. Weil ich irgend so ein fieser alter Möppes bin.«
»Stimmt das etwa nicht?«
»Doch.«
Marc musste zugeben, dass Joachim, oder wie der selber zu sagen pflegte: der echte, also der linksrheinische Rheinländer, eine gottgegebene Begabung hatte, auch durchaus giftige Bemerkungen so zu formulieren, dass die Würde des Gegenübers stets gewahrt blieb.
Letztens stand er mit Joachim in der Kantine am Tresen an, als sich ein afrikanischer Küchenhelfer neben die Kaltmamsell stellte, um im Mittagsgewühle zu assistieren.
»Na, du schwarzer Räuber!« begrüßte sie ihn in der unnachahmlichen Art und Weise der Rheinländerin, in der Vorurteil, Angst, Verurteilung, sanfte Ironie und deutlich gemachte Sympathie sich zu der Form rheinischen Sprechens sublimierten, die dem Mann sofort das Gefühl gaben, auch fern von der Heimat, im ganz fremden Land, akzeptiert und, ja, gemocht und trotzdem in seinem Anderssein belassen und respektiert zu werden.
Das musste man können.
Man musste sich die Szene nur in Bayern, Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern vorstellen, um sofort zu verzweifeln, welches Gefälle an mitmenschlicher Kultur da bestand.
Sie verließen den Friedhof, kamen auf den Parkplatz und stiegen ins Auto. Joachim wunderte sich immer, oder eben nicht, dass der stilbewusste Junge, der sein Spannmann geworden war, es für wichtig hielt, sich von all den Autos der Mordkommission den schwarzen VW Golf zu angeln. Opel Vectra oder Omega waren ihm wohl zu prollig.
Sie fuhren los, fädelten sich in den Rest des morgendlichen Berufsverkehrs ein und fuhren auf die Theodor-Heuss-Brücke hinauf.
»Zwei Opfer. Ein Ehepaar. Ist letzte Nacht ermordet worden. Es handelt sich um einen schwerreichen Unternehmer, Dr. Alexander Terstappen, und dessen Frau.«
»Ermordet?«
»Gar kein Zweifel. Erschossen. Bei einem Einbruch. Vorher, eiskalt. Oder in Panik. Das sieht verdammt...«
»Halt!« brüllte Joachim.
»Aber Sie hatten mich doch gefragt…«
»Nicht weiterreden!«
»Was ist denn los?«
»Hör mal her, mein Junge. Das sieht gar nicht so aus. Nichts sieht am Anfang so aus wie irgendwas Anderes, was wir kennen.«
»Ich dachte nur...«
»Jetzt komm mir bloß nicht mit der Jugo-Bande!«
»Ja, aber... das sieht doch alles so aus wie bei dem Doppelmord auf dem Rheinpfad in Büderich. Einbruch in ein alleinstehendes Haus, dahinter freies Feld oder Wald, also zu Fuß gekommen...«
»Du warst doch noch gar nicht am Tatort. Wer sagt denn, dass das so aussieht wie bei dem Doppelmord auf dem Rheinpfad?«
Marc zögerte. Der kluge Joachim hatte ihn erwischt.
»Die Neusser Kollegen«, musste Marc zugeben.
»Die Neusser Kollegen? Doch der Neusser Kollege. Oder? Die personifizierte Profilneurose. Der Scharfmacher.« Joachim beruhigte sich etwas. »Mit dem hast du schon telefoniert? So von echtem Neusser zum anderem echten Neusser? Offen und vertrauensvoll? Sag mal, habt ihr sie nicht mehr alle?«
Der Scharfmacher, das war Harald Scharfenberg, ein Kommissar von der Kripo Neuss, der unter zwei schweren Komplexen litt.
Der eine war, dass alle älteren Leute dachten, er sei ein Urenkel der Neusser Legende Scharfenbergs Nas’, einem stadtbekannten Lumpensammler mit einem richtigen Zinken im Gesicht. Aber die Leute starben aus, Scharfenbergs Nas’ geriet in Vergessenheit, und Harald Scharfenberg wurde weniger und weniger nach seinen Ahnen gefragt, obwohl sein eigener Naserines zu allerlei, keineswegs nur fantastischen genealogischen Spekulationen Anlass hätte geben können.
Scharfenbergs zweites Problem war, dass er in Neuss Dienst schieben musste, wo doch auf der anderen Rheinseite die schöne und schicke Stadt Düsseldorf lag, deren moderne Fassaden in der Abendsonne glitzerten und prangten wie das sagenhafte Goldland El Dorado. Da wollte Scharfenberg hin, da wollte auch er glänzen und da wollte er Karriere machen und im Licht stehen.
Dr. Alexander Terstappen war ein in den letzten Jahren als Mäzen und Kunstsammler in der deutschen Kunstszene bekannt gewordener ehemaliger Unternehmer, und er und seine Frau waren ein Milliardärs-Ehepaar. In so einem Fall wurden nicht nur die Männer der Düsseldorfer Mordkommission eingesetzt, sondern man zog noch ein paar auswärtige Ermittler, zum Beispiel aus Neuss oder anderen nahegelegenen Städten, hinzu oder verstärkte die Mordkommission mit Kollegen aus den Polizeiinspektionen der Landeshauptstadt.
Nachdem 1991 der Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder in seiner Wohnung auf dem Kaiser-Friedrich-Ring in Oberkassel durch die Fensterscheibe hindurch erschossen worden war — Profikiller? Superscharfschütze oder Geheimdienst-Spezialist? (obwohl sich die Rote-Armee -Fraktion zur Tat bekannte) — waren hundertfünfzig Ermittler aus ganz Nordrhein-Westfalen auf den Beinen, um den Fall aufzuklären.
»Hör mal«, sagte Joachim, »nichts sieht so aus wie irgendwas, das wir schon kennen, egal, was der eine oder andere voreilige Kollege sagen mag. Autós épha.«
»Was?«
»Das heißt: wie bitte.«
Joachim hatte, das hatte Marc schon erfahren, einen Oberstudienrat als Vater gehabt, einen, der auch noch Deutsch und Geschichte gab, gehörte also zum Bildungsbürgertum, und Marc fand es unnötig, eigentlich unverschämt, von Joachim, auf Defizite in seiner Ausdrucksweise aufmerksam gemacht zu werden. Was er noch schlimmer fand, war, dass Joachim sehr oft lateinische Sentenzen aufsagte.
Joachim hatte, das war im Polizeipräsidium allgemein bekannt, so ein paar Eigenarten, die einigermaßen schwer zu ertragen waren — seine gelegentliche Schroffheit, sein Philosophieren, seine Liebe zum modernen Jazz, sein Alleinleben und seine Ungeselligkeit, trotz eines immer wieder betonten rheinischen dialogischen Gemüts; seine Sturheit, wenn er auf den Wahrheitsgehalt seiner vagen Intuitionen pochte; die Distanz, die er zwischen sich und seine Kollegen legen konnte, sowie das auf manche aufdringlich wirkende Demonstrieren seiner Bildung; sein Hass auf den FC Bayern München; seine ständigen sarkastischen Kommentare, er war geborener Kölner, zu Düsseldorf; seine Verschlossenheit, obwohl doch jeder im Kollegenkreis wusste, dass Joachim als junger Student seine Ehefrau auf tragische Weise verloren hatte und noch immer darunter litt, worüber er aber mit niemandem sprechen wollte und es anscheinend nicht einmal mit seinem besten Freund und langjährigen Kollegen Pius Reinecke getan hatte.
Aber ob man ihn nun mochte (einige mochten ihn sogar, und so ganz langsam begann Marc auch zu ahnen, warum) oder auch nicht — Joachim war ein hervorragender Ermittler, geradezu eine Legende in seiner Zunft, und auch die, die ihn nicht mochten oder nur duldeten, sprachen von ihm nur mit großem Respekt.
Joachims Merkwürdigkeiten wollte Marc so lange nicht hinnehmen, so lange er noch nicht wusste, ob das alles auf der Ablehnung seiner Person beruhte oder ob das bei Joachim eigentlich nett gemeinte Sticheleien waren, mit denen er Lücken in der Bildung seines jüngeren Kollegen auffüllen wollte.
Letzteres konnte Marc, wenn auch nur an guten Tagen, wenn Joachim witzig und brillant war und es eine Freude war, mit ihm zusammenzuarbeiten, durchgehen lassen. Heute war kein guter Tag. Also wehrte er sich.
»Was?«
»Autós épha. Sagten die Schüler vom großen Pythagoras. Schon mal den Namen gehört?«
»Geschenkt.«
»Er selbst hat es gesagt. Oder auf Lateinisch: Ipse dixit. Das schon mal gehört? Ich sehe an deinem Gesichtsausdruck, nein.«
»Jetzt halten Sie mir gleich wieder einen längeren Vortrag, weil ich nicht das große Latinum habe.«
»Wo?«
»Wo was? Die Stelle bei Pythagoras?«
»Jetzt stell dich nicht doch nicht so dumm. Du musst doch nicht sauer auf mich sein, nur weil ich dir ein bisschen was beibringen will.«
»Es ist die Art, wie Sie einem was beibringen wollen. Da möchte man am liebsten dumm bleiben. Also. Auf dem Waldweg in Meererbusch. Im eigenen Haus. Im Schlafzimmer. Vermutlich mitten in der Nacht. Die Haushälterin hat die Toten entdeckt. Polizei ist da. Spurensicherung ist informiert. Die sind bereits am Tatort. Doktor Messing weiß auch schon Bescheid.«
»Na, siehste«, schmunzelte Joachim, »geht doch.«
»Da vorne an der Ecke, an der Kirche, da biegst du links ab.«
»Zum Tatort müssen wir rechts abbiegen.«
»Links!«
»Nein! Rechts!«
»Wirst du verdammt noch mal jetzt tun, was ich dir sage?«
»Ist trotzdem rechts.«
»Wer sagt denn, dass wir zum Tatort wollen? Links, verdammt noch eins!«
Marc betätigte den Blinker, ordnete sich ein und bog dann nach links in die Düsseldorfer Straße ab.
»Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun.«
»Was stellst du für Fragen! Hab’ ich nicht gesagt, wir wollten nen anständigen Kaffee trinken gehen?«
»Warum denn dieser Umweg?«
»Kurz vor dem Deutschen Eck, bei der Bäckerei da, da kannst du halten. Café Bistro. Die machen einen guten Kaffee.«
»Da wollen wir hin?«
»Ja, da wollen wir hin.«
Sie fuhren drei Minuten schweigend und dann waren sie da. Marc verlangsamte, fuhr rechts ran und hielt.
»Hier ist Halteverbot«, sagte Joachim, »um die Ecke rum kannst du parken.«
Marc bog um die Ecke und stellte den Wagen ab.
»Was Sie alles wissen.«
Sie stiegen aus.
Der sonnenhelle Aufgang des Tages war ein Versprechen geblieben. Der Himmel hatte sich schon längst wieder zugezogen. Die Wolken drückten schwer nach unten wie Blei. Der Wind war eisig. Joachim ging vor, betrat das Café, sah sich nach einem ihm passenden Tisch um, eilte darauf zu, setzte sich hin und griff sofort zur Speisekarte, »Mal kucken, ob die uns nen Strammen Max machen können.«
Marc zog sich langsam einen Stuhl her.
»Ich dachte, wir trinken nur nen Kaffee und müssen schnellstens zum Tatort.«
»Wir haben Zeit. Wenn der Scharfenberg da ist, hat der bestimmt schon überall rumgeschnöft, und wir kommen sowieso zu spät.«
Bayern München, Fernsehen, die rechte Rheinseite und Harald Scharfenberg. Das hatte Marc schon gelernt. Das waren vier der sieben Todsünden. Vier von Joachims Lieblingsthemen. Über die konnte er sich stundenlang, vernichtend natürlich, völlig vernichtend, auslassen. Marc war auf die anderen drei gespannt.
»Wir kommen zu spät, weil Sie wieder mal verpennt haben«, sagte Marc.
»Ich habe nachgedacht.«
»Mit geschlossenen Augen? Auf einer Parkbank auf dem Friedhof? Ich denke, die griechischen Philosophen haben alle im Gehen philosophiert? Haben Sie mir schon mindestens ein Dutzend Mal klarzumachen versucht.«
»Wenn sie mit ihren respektlosen, neunmalklugen Schülern unterwegs waren. Über die wichtigen Dinge haben sie allein, in einer Tonne oder auf dem Klo nachgedacht.«
»Oder auf einer Parkbank«, antwortete Marc.
»Genau!« freute sich Joachim. »Und die wichtigen Dinge tut man zuerst.«
»Wie Kaffee trinken und Strammen Max essen?«
»Was redest du da für einen Stuss? Wir sind im Dienst. Wir ermitteln.«
»Hier?«
»Natürlich!« Joachim sprach plötzlich leiser. »Was hast denn du gedacht?«
»Wa... Wie bitte?«
Eine Bedienung war, von Marc unbemerkt, an den Tisch gekommen, aber Joachim hatte blitzschnell reagiert und die Stimme gesenkt.
»Morgen. Was darf es sein?«
Marc und Joachim blickten gleichzeitig hoch.
Es war ein junges hübsches Mädchen. Hier in der ehemaligen Dorfbäckerei in Büderich, die sich jetzt Café-Bistro nennen musste, um überleben zu können, ein geradezu unerwartet hübsches Mädchen. Blond, frisch, mit ganz hellen, blauen Augen, die gerade erst die Welt zu sehen begannen. Und Männer.
»Oh, hallo, Sie sind’s«, sagte sie zu Joachim. Sie wurde verlegen.
»Hallo«, sagte Marc. Und wunderte sich: Oh, Sie sind’s? Ging Joachim öfters hierher? überlegte er. Ihretwegen? Er hatte nicht einmal einen Führerschein oder ein Auto. Fuhr er mit dem Bus hierher? Wegen ihr?
»Guten Morgen«, sagte Joachim zu dem Mädchen, »zweimal Strammen Max und zwei Portionen Kaffee, bitte.«
»Gerne«, sagte sie, drehte sich schon um, war schon halb weg, schaute sich aber, kurz und verstohlen, dennoch von Joachim bemerkt, wenn auch nicht von Marc, der die Karte studierte, Marc noch einmal näher an.
Und dann sah sie Joachim an und schüttelt verneinend den Kopf. Joachim machte ihr mit einem Kopfnicken klar, dass er sie verstanden hatte.
Marc war ein sehr attraktiver junger Mann und sein Gesicht hatte die Mischung, fand Joachim, die Frauen gefiel, halb großer starker Mann, halb noch ein Kind. Halb junger Herr, halb Lausbub. Da konnten auch Mädchen ganz Frau sein, Begehrte und Kameradin, Geliebte und Mutter.
Marc legte die Speisekarte ab.
»Ich wollte keinen Strammen Max. Ich wollte nur ne Tasse Kaffee. Außerdem bin ich alt genug, um für mich selber zu bestellen.«
»Hab‘ ich nicht gesagt, dass ich Hunger hab’? Beide Portionen sind für mich.«
Jetzt, wo das Mädchen weg war, schaute Marc Joachim noch einmal genauer an und sah den Schalk in seinen Augen. Joachim grinste, fast schmierig, glaubte Marc zu erkennen, aber das dauerte nur einen Sekundenbruchteil.
»Öh, öh«, sagte Joachim, »nicht, was du denkst.«
Der Mann war ein Phänomen. Der konnte Gedanken lesen.
»Ein so sympathisches Mädchen kann nicht lügen, und schon mal gar nicht so schnell von Du auf Sie umschalten.«
»Aber Sie beide kennen sich? Sie waren schon mal hier?«
»Ja.«
»Warum?«
Keine Antwort. Keine weiteren Auskünfte. Und keine Angabe von Gründen. Joachim hatte Tiefe und Bildung, das war klar. Aber er hatte auch Seiten, die ließ er bewusst im Dunklen liegen, verborgen für Dritte.
Einige davon dürften recht interessant sein, dachte Marc. Und möglicherweise blutjung, hübsch und blond. Aber er hatte ja gesagt, darum ging es nicht. Lügen tat Joachim nicht. Das wusste Marc schon.
Plötzlich hatte er einen Verdacht: Joachim ging nicht der neue Mordfall im Kopf herum, er versuchte auch nicht den Doppelmord in Büderich gedanklich zu lösen — er dachte Tag und Nacht an seinen ermordeten Freund Pius.
»An was für einem Fall arbeiten wir eigentlich?« fragte Marc.
Joachim ging nicht darauf ein.
»Pius Reinecke. Brauchten Sie mir gar nicht zu sagen, komme ich schon von allein drauf. Hier?«
Der schöne Geruch von frischen Kaffee machte jetzt auch Marc auf das Näherkommen des hübschen Mädchens aufmerksam. Er sah hoch, und seine Augen trafen sich mit ihren.
Das Mädchen hatte eine Art, leise näher zu kommen, die ihren sowieso schon umwerfenden Auftritt dramatisch machte.
»Zwei Mal Kaffee«, sagte sie, »und zweimal Strammen Max.«
Sie stellte einen Teller vor Joachim und einen vor Marc.
»Beide für mich«, freute sich Joachim.
»Und Sie?« wandte sich das Mädchen zum ersten Mal direkt an Marc. »Sie essen nichts?«
»Mein Vater erlaubt mir das nicht«, antwortete Marc, »er findet, ich werde zu dick.«
»Ach!« entrüstete sich die zarte blonde Schönheit gegen den vermeintlichen, hartherzigen Vater und nahm temperamentvoll für dessen hübschen Sohn Partei, »Was reden Sie denn da! Ihr Sohn sieht doch total schlank und sportlich aus!«
Und dann, direkt zu Marc, »Ich lasse Ihnen auch einen machen.«
»Ich esse keinen Strammen Max«, sagte Marc, »wenn Sie einen Magerquark mit frischen Früchten hätten?«
»Sie sollten essen, was Ihnen schmeckt, und nicht, was Ihnen ihr Vater vorschreibt.«
Sie war schon voll und ganz auf Marcs Seite.
»Tu ich ja. Ich esse sehr ernährungsbewusst.«
Sie schien enttäuscht. Ein sinnlicher Mann wäre ihr lieber gewesen. Oder einer, der frech war und der sich einen Teufel darum scherte, was sein Vater sagte.
Marc, mein Junge, du musst noch einiges lernen, dachte Joachim.
Pius Reinecke war hier in diesem Café gewesen. Vielleicht fünf, sechs Mal im letzten Jahr. Aus welchen Gründen, wusste Joachim noch nicht. Nach Aussage der jungen blonden Bedienung hatte er sich mit einem untersetzten, kräftig aussehenden Mann mittleren Alters getroffen, mit dem er über Wein gefachsimpelt hatte. Seltsam. Pius hatte sein Lebtag keinen Tropfen Wein getrunken. Die deutsche Bierindustrie ruhte auf Säulen wie ihm.
Maria, Pius’ Frau, hatte Joachim den Tipp gegeben, sich einmal in dem Café in Büderich umzusehen. Sie hatte zunächst, verständlicherweise, an eine Affäre gedacht: der treue Pius, der, nach getaner Arbeit, nirgendwo lieber als zuhause in seinem Heim bei seiner Frau war, fing sozusagen von einem Tag auf den anderen an, auszugehen, länger wegzubleiben und keine oder sehr schlecht gelogene Erklärungen für das alles abzugeben.
Da hatte sie angefangen, in seinen Sachen zu schnüffeln; schnell fand sie zerknüllte Busfahrscheine.
Eines Tages, nach vielen Wochen Misstrauen, entdeckte sie einen Rechnungsbeleg vom Café-Bistro am Deutschen Eck.
Zwei Tage später war Pius tot und ihr kam ein ganz anderer Verdacht. Sie zweifelte fortan nicht mehr an der ehelichen Treue ihres lieben Mannes, begann sich aber um seine moralische Integrität Sorgen zu machen.
Am Abend nach dem Begräbnis vertraute sie sich Joachim an. »Hör mal«, begann sie ohne Umschweife, »könntest du dir vorstellen, dass der Pius in krumme Geschäfte verwickelt war?«
Sie erzählte Joachim, was sie wusste; es war wenig, nur ein paar Fahrscheine und ein Kassenbeleg. Aber was schwerer wog und was Joachim die allerdüstersten Gedanken eingab, waren ihre Vermutungen.
Was Maria als Verdächtigung formuliert hatte, derer sie sich selber schämte, wurde bei Joachims erstem Besuch in dem Café in Büderich bestätigt: die junge Bedienung konnte sich genau an Pius erinnern und an einen merkwürdig verschlossenen und abweisenden Mann, mit dem er sich hier traf.
Das war Joachims erste heiße Spur. Aber dann, für die nächsten Wochen, kam nichts mehr. Pius’ Gegenüber blieb verschwunden. Und wenn Joachim ins Café kam, um das Mädchen zu fragen, ob der geheimnisvolle Mann da gewesen war, schüttelte sie immer nur den Kopf. Wie heute.
Der letzte Fall, den Joachim und sein Freund und Kollege Pius Reinecke übernommen hatten, war der Doppelmord in der Villa in Büderich gewesen, eine Tat, die man – das heißt, die Boulevard-Presse hatte das getan — sehr schnell einer Jugo-Bande in die Schuhe schob.
Sechs Wochen später wurde Pius abends auf dem Nachhauseweg von drei Männern angegriffen und zusammengeschlagen. Die Täter verursachten zwei Knochenbrüche am rechten Arm und mehrere schwere Prellungen am Ober- und Unterkörper und schlugen oder traten Pius so lange gegen den Kopf, bis er, im Gesicht völlig entstellt, von schweren Hirnverletzungen zerstört, blutüberströmt, wie ein Boxer nach einem absolut vernichtenden Kampf, zu Boden sank und ins Koma fiel.
Vergeblich versuchten die Ärzte, ihn zum Erwachen zu bringen. Ein Spezialteam unter Leitung des bekannten Neurochirurgen Professor Dr. Coppenrath operierte; einmal, dann noch einmal; Blutgerinnsel im Gehirn wurden abgesaugt. Aber Pius Reinecke blieb klinisch tot. Seine Frau Maria sowie sein bester Freund und Kommissar-Kollege Joachim wachten die letzten Stunden an seinem Bett, starrten auf die Monitore, hörten die Herztöne und die Atemgeräusche und hofften und beteten. Aber Pius Reinecke wachte nicht mehr auf und bewegte sich nicht mehr. Acht Stunden nach der zweiten Operation starb er an einem geplatzten Ödem im Gehirn.
Fußgänger, die, aus weiter Entfernung und im abendlichen Dunkel, Zeugen des Überfalls waren, aber nicht mehr eingreifen konnten, sagten zwar aus, dass die drei Männer, die Pius Reinecke überfallen hatten, sich beim Weglaufen etwas in einer slawischen Sprache zugerufen hätten, aber dann stellte sich heraus, dass keiner der Zeugen slawischen Wortklang von skandinavischem unterscheiden, geschweige denn ein Wort Russisch oder Kroatisch konnte.
Bis heute war vollständig ungeklärt geblieben, ob Pius Reinecke von drei Jugos — den drei Männern der ominösen Jugo-Bande — ermordet worden war.
Oder ob alles ganz anders war...
Joachim hatte manchmal Eingebungen, die von Gott weiß woher kamen, die er sich selber nicht erklären konnte und die in vielen Fällen mit einer verblüffenden Sicherheit den Weg wiesen. Wenn das Gespräch darauf kam, schob er es immer auf seine langjährige Berufserfahrung. Aber so recht wollte ihm das niemand glauben, denn manchmal lagen Joachims Intuitionen äußerst unorthodox zur anerkannten Linie, oft sogar völlig antithetisch, und kamen ganz woanders her als aus einer Berufserfahrung, die auch sehr viele Kollegen teilten.
Seine bislang völlig unbewiesene Theorie war, dass es sich um eine Warnung gehandelt hatte, die aber zu drastisch ausgefallen war und unglücklicherweise zum Ableben des Adressaten geführt hatte, wodurch sie mehr oder minder sinnlos wurde.
Das organisierte Verbrechen rächte sich für gewöhnlich an Personen, die sich dem Geschäft entgegenstellten. Das konnte ein Konkurrent sein oder ein abtrünniges Mitglied der Bande, das zur Konkurrenz übergelaufen war. Dafür gab es nur eine einzige Form der Bestrafung, und die hieß Tod. Man lockte jemanden in eine Falle oder in einen Hinterhalt und erschoss ihn.
Man prügelte nie im Leben jemanden abends auf der Straße, sozusagen in aller Öffentlichkeit, tot. Wenn man jemanden verprügelte, dann war das immer nur als Denkzettel gedacht. Man wollte, dass jemand ins Nachdenken kam — und sich zusammenriss und bei der Stange blieb. Das aber bedeutete, dass man diese Person noch für eine weitere Zusammenarbeit brauchte — gesund und lebend.
Das alles schloss für Joachim die Überlegung ein, dass Pius — der gute, treue, zuverlässige und hochanständige Freund — auf seine alten Tage vielleicht freundschaftliche Kontakte mit kriminellen, möglicherweise sogar mafiösen Kreisen angeknüpft und richtig gut mit ihnen zusammengearbeitet hatte, aber dann doch irgendetwas getan hatte, wodurch er sie enttäuscht und ihre Wut heraufbeschworen hatte.
Joachim hütete sich, irgendjemandem davon zu erzählen und auch seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Adolf von der Heiden, dem Leiter KK 11, hatte er sich diesbezüglich noch nicht anvertraut — nämlich, dass Pius nicht hinter den Jugos her war, sondern hinter jemand ganz anderem.
Joachim hoffte, um sein vorbildlich-sauberes Bild von Pius in Erinnerung behalten zu können, dass Pius sich auf die Hinterbeine gestellt hatte, mit Kriminellen nichts zu tun haben wollte und als Held gestorben war.
Nichts von all dem konnte er beweisen und keine seiner quälenden Vermutungen konnte er loswerden. Joachim trug alles mit sich herum, und es trug nicht gerade dazu bei, seinen Schlaf ruhiger und seine Nächte länger zu machen.
Joachim bekam ein bisschen Unterstützung für seine Vermutungen, weil nämlich schon wenige Tage nach Pius’ Tod zwei Kollegen aus der Führungsgruppe für Amtsdelikte bei ihm vorbeigekommen waren. Benno Kuhlmann und Rüdiger Kolakowski, die in Kollegenkreisen als »K und K« bekannt und gefürchtet waren. Joachim kannte die beiden recht gut.
Aber sie siezten ihn, auch Rüdiger tat das, obwohl er mehrere Jahre lang, bis er sich versetzen ließ, ein Kollege von Joachim im KK 11 gewesen war.
Sie fragten ihn ganz unverblümt nach möglichen Kontakten von Pius zum organisierten Verbrechen. Joachim durfte, ohne zu Ausflüchten und Notlügen greifen zu müssen, aufrichtig antworten, dass er nichts Konkretes wisse, nicht einmal einen Hinweis hätte.
Drei Wochen später machte Rüdiger Kolakowski einen ungeschickten Versuch, ein abendliches Zusammentreffen draußen vor dem Polizeipräsidium mit Joachim als ganz und gar zufällig darzustellen. Rüdiger duzte ihn auf einmal, wie in alten Zeiten, und Joachim ließ sich auf das Spielchen ein, mit Rüdiger Kolakowski nach Dienstschluss den Rhein hinunter nach Hause zu spazieren.
Sehr bald wurde ihm klar, dass er nicht allein mit seinen dunklen Vermutungen war, sondern dass auch Kollege Kolakowski schon einen Verdacht hatte.
Irgendwelche Kollegen standen nämlich mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung, so viel wusste man durch den Hinweis einer Vertrauensperson, aber niemand in der Führungsgruppe für Amtsdelikte — auch nicht ein Kollege, der als verdeckter Ermittler in der Ostmafia-Szene unterwegs war, und auch nicht der tüchtige Rüdiger Kolakowski, der Joachim bei einem harmlosen Abendspaziergang verräterischerweise Löcher in den Bauch fragte — hatte die leiseste Ahnung, wer auf der einen Seite mit wem auf der anderen Seite Beziehungen pflegte und versuchte, Geschäfte zu machen.
Was immer Pius Reinecke über längere Zeit gewusst, getan oder nicht mehr getan hatte, das den Zorn seiner Partner hervorgerufen oder was er gerade erst erfahren hatte — er hatte es nicht mehr an seinen Freund und Kollegen Joachim weitergeben können, sondern mit sich ins Grab genommen.
Joachims Chef, Günter Larosch, Leiter der Kriminalgruppe 1, hatte ihn, durchaus korrekt, wegen zu großer emotionaler Nähe sofort vom Mordfall »Kollege« abgezogen, und es den anderen im KK 11 überlassen zu ermitteln.
Die ließen sich von Larosch einschüchtern, und von ihnen erfuhr Joachim rein gar nichts mehr über den Fortgang der Ermittlungen. Auch die Kollegen aus der Kriminalgruppe 2, Organisierte Kriminalität, die er flüchtig kannte, Manfred Iser und Jürgen Heinemann, hielten so dicht, dass man nicht einmal herausbekommen konnte, ob sie überhaupt am Fall dran waren.
»Sie denken Tag und Nacht an Ihren Freund Pius«, sagte Marc, »und daran, wie Sie seine Mörder schnappen können.«
Warum er Tag und Nacht an Pius dachte, ging Marc vorläufig nichts an. Irgendwann, wenn Marc sich bewährte, würde er ihn einweihen. Joachim grübelte Tag und Nacht darüber nach, wer seinen besten Freund totgeschlagen hatte wie einen Hund. Und wenn er daran dachte, hatte er Rachegefühle. Er trug nie seine Dienstpistole. Aber es war beruhigend zu wissen, dass er sie noch hatte und die gute alte Sig Sauer 9mm noch immer verlässlich funktionierte.
Dass er so dachte, dass er so fühlte, dass er zu solch starken und hässlichen Emotionen fähig war, beunruhigte ihn. Larosch blieb ein Arschloch, aber seine Entscheidung, ihn, Joachim wegen zu großer emotionaler Nähe vom Fall abzuziehen, war richtig gewesen. Wer weiß, zu was er sich sonst hätte hinreißen lassen.
Der Mann, mit dem sich Pius getroffen hatte, hatte mit einer tiefen Stimme gesprochen, ein Bass oder Bariton. Das hatte das Mädchen alles bemerkt. Was er sagte, konnte sie aber kaum verstehen. Sie meinte, dass der Mann mit einem ausländischen Akzent gesprochen habe. Die zwei Männer hatten über Wein gesprochen, Marken, Lagen, Jahrgänge, Liefermengen. Die Treffen waren alle recht kurz gewesen. Das Mädchen meinte, der eine Mann, Pius Reinecke, hätte seine Weinwünsche mitgeteilt, wie eine Bestellung, und der andere Mann, der mit der dunklen Stimme, hätte sie wiederholt, nachgesprochen.