Märchen – die liest man nicht nur, die genießt man!

Für kleine und große Menschen, das versteht sich, vor allem aber für meine Enkelkinder Elín, Julia und Matti!

Ein sehr kleines Vorwort

Märchen? Aber sicher! Nichts ist doch wirklicher und wirkmächtiger als die Phantasie! Wo kämen wir hin, wenn wir uns ganz und gar vom Grau des Alltags einsaugen lassen würden? Unweigerlich in ein schwarzes Loch! Und schon wären wir verschwunden, aufgegangen in einem Wust von Pflichten, in einem Strom von Menschen, geschrumpft zu einer Null.

Dagegen ein Märchen! Das ist eine Welt der Wunder, eine weite, helle, bunte Welt. Es handelt von Wundern und macht uns zum Teil von Wundern. Das Märchen ist ein Zuhause. Es ist ein Spiel und doch so ernst! Natürlich sollt ihr Kinder Märchen lesen, aber wie schade wäre es, wenn die Großen die Märchen für Kinderkram hielten! Sie sind doch gedacht für ernsthafte Leser, für Leute, die wirklich lesen können, für euch!

A

Das Märchen vom alten

Anker

Herr Seemann, Balthasar Seemann, aus einem Dorf in der Nähe von Husum, wollte immer schon gern Seemann werden. Als Kind wollte er Seeräuber bekämpfen und ferne Inseln entdecken. Später wurde seine Sehnsucht ernsthafter. Er wollte auf einem der großen Handelsschiffe anheuern und die Welt kennenlernen. Und den Wunsch, Seemann zu werden, hatte er auch später nie aufgegeben. Er meinte, das sei er seinem Namen und allen seinen Vorfahren, die auch schon diesen bedeutungsvollen Namen getragen hatten, unbedingt schuldig. Nun gab es allerdings einige ernsthafte Hindernisse, die diesem Wunsch entgegenstanden. Herr Seemann hatte nämlich als junger Mann keineswegs auf einem Viermaster als Schiffsjunge angeheuert, sondern auf Drängen seiner Eltern den ehrbaren und nahrhaften Beruf des Bäckers erlernt und ihn über mehrere Jahrzehnte zur völligen Zufriedenheit seiner hungrigen Mitbürger ausgefüllt. Inzwischen war er schon über fünfzig Jahre alt und hatte, was bei einem Leben als Bäcker nicht verwunderlich ist, eigentlich nicht die geringste Ahnung von der Seefahrt. Zwar wohnte er in der Nähe der Nordsee, aber die Schiffe hatte er stets nur vom Land aus gesehen, und bei den drei Bootsfahrten, die er in seinem Leben unternommen hatte, eine auf dem Bodensee, eine Rundfahrt auf dem Rhein bei Sankt Goar und eine Hin- und Rückfahrt von Norddeich nach Norderney, war er stets nur als Passagier mitgefahren. Und die Boote, die ihn bei diesen Reisen getragen hatten, waren ja auch bestenfalls Schiffchen gewesen!

Jedermann wird einsehen, dass die Kenntnisse der Schiffsführung, die er dabei erworben hatte, auch bei großzügiger Betrachtung nicht ausreichten, sich für einen angehenden Seemann zu halten. Außerdem muss noch erwähnt werden, dass er nur ein mittelmäßiger Schwimmer war und weder mit einer kleinen Segeljolle, noch mit einem Ruderboot umgehen konnte. Ja, im Grunde kann man sich keine größere Landratte als Balthasar Seemann denken! Und dafür spricht ja auch der Beruf, der ihn zum Herrn der Brote und Brötchen, der Kuchen und Torten gemacht hatte. Das Bäckerhandwerk ist bekanntlich ein Beruf, dem Abenteuerlichkeit weitgehend fehlt.

Das größte Hindernis für eine Seefahrerkarriere aber war seine Frau Gesine. Sie war grundsolide, über alle Maßen tüchtig, eine Musterhausfrau, in der Backstube ihres Mannes eine Meisterin im Dekorieren der schönsten Torten und in allen Lebenslagen energisch, sehr energisch.

„Balthasar“, sagte sie, „das mit der Seefahrt schlag dir aus dem Kopf! Das verbiete ich dir. Du bleibst schön auf dem Land! Meinst du, ich hätte Lust, hier allein im Haus zu -9 -sitzen und Pullover zu stricken, während du über die Meere gondelst und in jedem Hafen mit einer anderen Freundin Eierlikör trinkst? Das kommt nicht in Frage! Du bleibst hier! Und wem willst du in deiner Abwesenheit die Bäckerei anvertrauen? Unserem Altgesellen Heiner? Da würdest du dich wundern! Der Heiner ist ein braver Kerl, aber ein Schussel. Da hätte ich also alles am Hals. Kommt nicht in Frage, Balthasar! Du bleibst hier!“

Wenn sie ihm so ihre Meinung sagte, pflegte ihr Mann klugerweise den Mund zu halten. Man muss sich ja nicht unnötig dem Unwetter aussetzen! Und was hätte er dazu auch Gescheites sagen sollen? Wusste er nicht im Grunde selbst, dass er inzwischen für einen so dramatischen Berufswechsel wie der vom Bäcker zum Seemann längst zu alt geworden war?

Aber wenn Balthasar Seemann mit seinen drei besten und einzigen Freunden im Gasthof „Zum wilden Hammel“ saß, Skat spielte und zwei oder auch drei Gläser Bier trank, immer schön langsam und immer mit einem kleinen, zufriedenen Seufzer bei jedem Schluck, dann sprach er, spätestens nach einer halben Stunde und noch bevor er das erste Glas ausgetrunken hatte, nur noch von seinem Seefahrertraum. Dabei benutzte er gern Dutzende von Wörtern aus der Seemannssprache, die er sich über Jahrzehnte angelesen hatte. Und da kannte er sich wirklich sehr gut aus, denn er hatte seit seiner Jugend außer der kleinstädtischen Tageszeitung hauptsächlich Seemannsbücher gelesen, zuerst die Schatzinsel und den Robinson, später auch richtige Fachbücher über die Führung eines Schiffes. Seine Freunde hörten geduldig auf seine Schwärmereien, nickten, tranken einen klaren Schnaps auf sein Wohl und stimmten ihm zu, oder sie schüttelten ernst ihre Köpfe und nannten ihn einen kompletten Narren.

Die freien Wochenenden verbrachte Balthasar am liebsten in der Nähe der Häfen, von denen es an Nord- und Ostsee ja eine große Anzahl gibt. Dabei bevorzugte er keineswegs etwa den gewaltigen Hafen von Hamburg, nein, angetan hatten es ihm die kleinen Häfen an der Küste, Häfen, in denen Fischkutter und die Kähne der Krabbenfischer lagen und in denen Ausflugsboote und kleine und große Yachten ein- und ausfuhren. Dort plauderte er ein bisschen mit den Seeleuten, die auf den Booten arbeiteten, fragte dies und das und gab auch großzügig seine eigenen Ansichten zum Besten, und die waren meistens sogar recht gescheit, denn dumm war er nicht, der Balthasar Seemann. Seine Frau, die seinen Seemannsfimmel, so nannte sie das, zutiefst hasste, begleitete ihn bei diesen Ausflügen trotzdem ohne den geringsten Einwand, weil es dabei auch immer weite Spaziergänge am Meer entlang und anschließend Kaffee und Kuchen in einem gemütlichen kleinen Café gab. Sie fand zwar, dass der bei weitem beste Kuchen aus der eigenen Backstube kam, aber unterwegs ließ sie sich auch ganz gern einmal bedienen. Es machte ihr übrigens auch ein tiefes Vergnügen, wenn sie die Torten fremder Konditoren nicht nur mit gewissem Genuss verspeisen, sondern auch mit Genuss kritisieren konnte. Wir Menschen sind so! Jedenfalls die meisten von uns!

Balthasar hörte ihr dann nur mit einem Ohr zu. Er setzte sich meistens so, dass er das Hafenbecken im Blick hatte, und während er mit ganz unkritischem Genuss ein Riesenstück Torte in seinem Munde verschwinden ließ, er war nämlich viel toleranter, wenn es um fremde Kuchen ging, schaute er sehnsüchtig auf die kleinen Schiffe, die dort an ihren Leinen hingen, hütete sich aber, allzu oft von seinem Traum zu sprechen. Er liebte seine Gesine und war immer sehr betrübt, wenn sie betrübt war.

Leider hatte sein Traum von der Seefahrt direkt vor seiner Nase einen immerwährenden Auslöser und Bestätiger: Mitten auf der Wiese, die den größten Teil ihres Gartens ausmachte, und gleich rechts von der Haustür, also täglich mehrmals gut zu sehen, hatten die Seemanns nämlich einen Anker liegen, einen echten, alten Schiffsanker, über einen Meter lang, aus stabilem Eisen und sicher zwei Zentner schwer. Der lag da, seitlich abgekippt und ein wenig ins Gras gesunken und von seinen beiden Spitzen bis zu der großen Öse für die Ankerkette dick mit Rost bedeckt. Der Großvater Balthasars (Oder war es sogar der Urgroßvater gewesen?) hatte ihn aus einem gestrandeten Schiff gerettet und ihn mit Mühe und mit der Hilfe mehrerer befreundeter Nachbarn, die auch ihn vermutlich für verrückt gehalten hatten, in den Garten geschafft. Er lag da zur Dekoration oder als Erinnerungsstück, wie man das in der Nähe der Weltmeere ja wohl häufiger sieht. Vielleicht hatte auch dieser Ahn, man sagte, er sei Schulmeister gewesen, von der Seefahrt und der großen, weiten Welt geträumt. Es sind ja wohl besonders die Eingesperrten, die von der großen Freiheit träumen!

Nun wirst du, lieber Leser, vielleicht sagen: Aber diese Geschichte ist doch kein Märchen! Das ist doch der normale Küstenalltag! Mit dem Meer leben dort alle, und mit der Seefahrt und dem Traum von der Ferne leben dort auch sehr viele, und Anker und andere Schiffsteile liegen in jenen Gegenden auf jedem Marktplatz oder im Zentrum der modern gewordenen Kreisverkehrsregelungen oder eben in den Vorgärten der Küstenbewohner herum. Wo bleiben da die Märchenfiguren?

Geduld! Wir sind ganz nahe dran! Die ungewöhnlichen Ereignisse fingen nämlich just mit dem alten, verrosteten Anker an. Da saßen die Seemanns wie gewöhnlich beim Frühstück. Es gab wie immer die frischen Rundstücke (So heißen in Norddeutschland die Brötchen!) aus der eigenen Backstube mit Honig und selbst gemachter Erdbeermarmelade, mit Salami und mit Holländer Käse, es gab Rührei mit Schinken und natürlich viel Kaffee, und gerade hatte sie die zweite Tasse geleert, da fiel Frau Seemanns Blick durch das Fenster in den Garten und damit auch auf den Anker, und sie stieß einen kleinen, überraschten Schrei aus.

„Der Anker!“ rief sie. „Schau nur, Balthasar, was ist mit dem Anker? Ich werd‘ verrückt!“

Nun sah es auch ihr Mann. Der Anker war blank! Ja, richtig blitzeblank! Die bekannte alte, rostige, schäbig braune Farbe war verschwunden. Vollkommen verschwunden. Der Anker sah aus wie frisch poliert, wie aus blankem Stahl gemacht.

Die Eheleute sprangen auf, ließen ihr Rührei auf den Tellern liegen, stürzten in den Garten und starrten verwundert auf ihr Schmuckstück. Da gab es keinen Zweifel: Der Anker sah aus, als sei er gerade aus einer Fabrik für Luxusanker angeliefert worden. Schön, blank, ohne den geringsten Makel. Das war nun allerdings wunderbar! Das war unglaublich! Gesine und Balthasar rätselten natürlich herum: Wer hat das getan? Wie ist das zugegangen? Aber ihre durchgehend schon älteren Nachbarn kamen für solche Streiche wirklich nicht in Betracht, und eine Nacht hätte für eine solche Arbeit doch auch nicht ausgereicht. Die beiden konnten nur staunen. Wer einmal versucht hat, dicken Rost wirklich erfolgreich zu entfernen, der weiß, wie mühsam das ist, wie lange das dauert und wie mittelmäßig der Erfolg ist. Und besonders rätselhaft: Das war ganz bestimmt kein neuer, kein anderer Anker. Es war zweifellos das eigene alte Schmuckstück, seitlich abgekippt wie immer und ein wenig in die Wiese eingesunken. Schließlich kannten sie ihn in allen Einzelheiten!

Nach drei Tagen hatte sich das Staunen gelegt. Kein Mensch kann unausgesetzt staunen. Man gewöhnt sich schließlich auch an die ungewöhnlichsten Dinge. Dann gab es aber die nächste Überraschung: Frau Seemann, der ihr Mann seit vielen Jahren bei allen Mahlzeiten den schöneren Platz am Tisch, den Platz mit dem Blick in den Garten, eingeräumt hatte, ja, so lieb war er, der Balthasar, Gesine also sprang plötzlich auf und rief: „Der Anker hat gewackelt! Ich habe das ganz deutlich gesehen!“

„Du spinnst!“ stellte ihr Mann ruhig und entschieden fest. „Der wiegt mindestens zwei Zentner, und wenn ich den nur ein wenig bewegen wollte, müsste ich mich ganz schön anstrengen. Und von selbst? Einfach so? Du hast dich geirrt, das ist doch klar. Wahrscheinlich hat das blanke Metall einen Sonnenstrahl gespiegelt. Komm, trink noch eine Tasse Kaffee! Das beruhigt!“

Doch da schrie seine Frau erneut, laut und mit einer Prise Zorn in der Stimme: „Der wackelt wieder! Schau doch hin!“

Da gab es nun keinen Zweifel mehr. Auch Herr Seemann sah, wie der schwere Anker schaukelte und dann an seinem Platz ein regelrechtes Tänzchen aufführte. Die Eheleute schauten sich bestürzt an. Das konnte doch nicht wahr sein! Das widersprach nun wirklich allen Naturgesetzen! Dann aber lag der Anker wieder still an seinem Platz, Balthasar und Gesine beruhigten sich und aßen ihr Rührei auf, das inzwischen leider kalt geworden war. Auch der Kaffee war nicht mehr heiß genug.

Das war aber noch nicht alles! Am nächsten Tag hatte der Anker den Platz, an dem er seit Jahrzenten still und brav gelegen hatte, eigenmächtig verlassen! Er lag vor der Gartentür! So als wollte er sich auf den Weg irgendwohin machen! Gesine war zutiefst erschrocken, und Balthasar wunderte sich, aber er ließ ihn zunächst dort liegen. Für den Rücktransport zum Platz mitten auf der Wiese wollte er seine Skatfreunde um Hilfe bitten. Allein hätte er das schwere Ding gar nicht bewegen können. Aber wie gesagt: Er wunderte sich, er wunderte sich sehr!

Und nun, ich kann dir das nicht ersparen, lieber Leser, denn es ist die reine Wahrheit, wird die Geschichte immer seltsamer, sie wird regelrecht märchenhaft. Als Balthasar am späten Abend noch einmal nach dem Anker sehen wollte (Man wird verstehen, dass ihm diese merkwürdige Geschichte keine Ruhe ließ!), erlebte er eine neue, eine noch viel größere Überraschung: Auf dem Anker, der im Mondlicht silbern schimmerte, saß ein kleines Männchen! Ja, da hockte eine Zwergengestalt, nicht größer als ein zweijähriges Kind, klapperdürr und, soweit Herr Seemann das bei dem milden Licht des Mondes erkennen konnte, alt, uralt und von den altertümlichen, spitzen Schuhen über die Hose und die Joppe bis zu dem wirren Haarschopf war die Erscheinung rot oder rötlich oder braunrot oder schmutzig-rot.

Das Männchen zwinkerte mit den Augen, hustete wie ein alter Zigarettenraucher und fragte mit einer Stimme, die so klang, als wäre sie schon lange nicht mehr benutzt worden, kratzig, heiser, undeutlich: „Wolltest du nicht unbedingt zur See fahren, Balthasar Seemann?“

„Wer bist du denn? Wo kommst du her? Was machst du hier?“ Diese Fragen brachte Seemann immerhin mit einigem Stottern heraus.

Das Männchen hustete wieder so erbärmlich, dass sich jeder Lungenarzt erschrocken hätte, lachte ungefähr so, wie eine Krähe lachen würde und rief: „Frag doch nicht so dumm, Balthasar! Du weißt das doch ganz genau! Jeder Mensch in Husum und um Husum herum kennt mich, wenn mich auch nur wenige gesehen haben.“

„Der Klabautermann?“ fragte Seemann.

„Ja, wer denn sonst? Wer sonst sollte denn mit meinem Aussehen hier auf dem Anker herumhocken? Nun pass auf, Balthasar Seemann! Morgen Abend um diese Zeit lädst du den Anker auf eine Karre, und dann fährst du damit zum Hafen! Da werde ich dir dann sagen, was du weiter tun musst.“

„Ja, aber… Was soll ich… Wozu…?“ stotterte Seemann.

„Frag nicht so albern! Tu, was ich dir gesagt habe! Es wird schon nicht dein Unglück sein. Versprochen!“

Damit war das Männchen verschwunden. Seemann hatte es die ganze Zeit im Blick gehabt. Es war nicht weggelaufen oder weggeflogen, nein, es war mit einem Male weg, vollkommen weg, so als hätte man es mit einem Schalter ausgeknipst.

Gesine lachte zuerst und schüttelte den Kopf, als ihr Mann von dieser Begegnung erzählte. „Erst spinnt der Anker, und jetzt spinnst du!“ sagte sie, aber dann hörte sie immer aufmerksamer zu.

„Wenn ich mich recht erinnere, ist der Klabautermann in den alten Geschichten meistens ein Freund der Menschen gewesen“, sagte sie schließlich. „Wenn er jemandem einen Schabernack gespielt hat, dann hatte der sich das redlich verdient. Du aber bist ein lieber Mensch, Balthasar, ja, das bist du, auch wenn ich mich schon mal über dich ärgern muss. Dir wird der Klabautermann bestimmt nichts Böses tun. Wir sollten machen, was er gesagt hat! Was kann uns dabei schon passieren? Ich weiß bloß noch nicht, wie wir dieses schwere Eisenteil morgen auf unsere Handkarre heben sollen.“

Auch Balthasar zerbrach sich deswegen stundenlang den Kopf, aber dieses Problem löste sich am nächsten Abend ganz leicht, wenn auch wieder auf rätselhafte Weise. Sie fassten den Anker an, bloß um so ein bisschen daran zu rütteln, und Balthasar überlegte schon, welchen von seinen Skatfreunden er zu dieser späten Stunde wohl noch um Hilfe bitten könnte, da hob sich der Anker fast von selbst, und sie brauchten ihn nur noch auf der Ladefläche zurechtzuschieben.

Sie machten sich also auf den Weg zum nächsten Hafen. Das war ein Fußmarsch von einer guten Stunde, und es ging dabei auch über eine kurze sandige Wegstrecke. „Wie werden wir den Wagen dort durch den Sand ziehen?“ fragte Gesine. „Der ist doch viel zu schwer! Der sinkt ein!“ Zu ihrem Staunen zog der Karren sich aber ganz leicht, und manchmal glaubten sie hinter sich ein leises Kichern zu hören. Wenn sie sich dann aber umwandten, sahen sie nur ihren alten Handwagen und darauf den blanken, wunderschönen Anker. Auch durch den Sand fuhr der Wagen beinahe so, als habe er einen Motor. Sie brauchten sich kein bisschen anzustrengen, ja, manchmal wurden sie regelrecht geschoben von dem Wagen. Und es gab noch eine Überraschung auf diesem Weg. Sie hatten befürchtet, die Karre würde mit ihren eisenumspannten Rädern auf den dicken Pflastersteinen der Kapitänsgasse einen furchtbaren Radau machen und schimpfende Leute aus ihren Häusern treiben, aber die Räder rollten so leise über die holprigen Steine, als hätten sie aufgepumpte Gummireifen. Doch darüber konnten die Seemanns an diesem Abend schon gar nicht mehr staunen!

Als sie den Hafen beinahe erreicht hatten, lag schon eine graue Dämmerung über Stadt und Hafen. Es waren kaum noch Leute auf den Straßen, hinter den Fenstern flimmerten Bildschirme, ein Polizeiwagen fuhr langsam vorbei, aber die beiden Beamten darin schienen sich gar nicht zu wundern über einen Handwagen mit einem aufgeladenen Anker. Und die Eheleute fühlten sich trotz des Weges und der späten Stunde kein bisschen müde! Das war auch sehr merkwürdig, denn Balthasar pflegte zwar regelmäßig seinen Garten, pflanzte, säte, rupfte Unkraut, aber Spaziergänge machten ihm wenig Spaß, und meistens geriet er schon nach einer halben Stunde ins Schnaufen.

„Balthasar“, sagte Gesine, „wenn da mal nicht der Klabautermann geholfen hat! So rasch bist du schon seit zehn Jahren nicht mehr marschiert!“

An der Kaimauer des kleinen Hafens lagen drei Schiffe, recht gut beleuchtet von einigen Laternen. Zwei davon waren Krabbenfischer. Das sah man an den seitlich aufgespannten Netzen. Die Boote waren alt und verbraucht, wahrscheinlich hatten sie ihre Pflicht schon viele Jahre getan. Zwischen den beiden aber lag ein großes Segelschiff mit zwei Masten, das völlig neu zu sein schien, eine Brigg, wie Balthasar Seemann sofort erkannte. Die Holzteile glänzten vom frischen Lack, Kajüte und Steuerhaus waren teils holzfarbig, teils rot gestrichen, die Reling war aus blankem Metall. Wohin man blickte: Alles sah aus, als sei dieses Fahrzeug gerade erst aus der Werft gekommen. Ein hübsches, ein sehr hübsches Schiff! Wie aber staunte Herr Seemann, als er den Namen las! Da hing seitlich am Bug ein schön geschnitztes Schild, und darauf stand in goldenen Buchstaben: BALTHASAR!

Balthasar Seemann hatte gar keine Zeit, sich über das Schiff und den Namen zu wundern. Drei Männer kamen nämlich aus der Kajüte und gingen zum Bug des Schiffes. Einer bediente dort einen kleinen Kran, zwei liefen über ein Brett an Land und banden den Anker, der friedlich auf dem Handwagen glänzte, an ein Seil, dann liefen sie zurück aufs Schiff, dirigierten den Anker, den der Kran inzwischen vorsichtig hoch- und hinübergehoben hatte, an seinen Platz und befestigten ihn an der Ankerkette, die schon bereitlag. Da hing der blanke Anker nun seitlich an der Schiffswand, als wäre das schon immer sein Platz gewesen. Die Männer aber verließen das Schiff und gingen stadteinwärts.

Ehe die Seemanns sich von ihrem Staunen erholt hatten, öffnete sich die Tür der Kajüte wieder. Ein großer, hagerer Mann mit einer gelben Regenjacke und einem breitkrempigen Hut kam über die Planke zu ihnen an Land und fragte: „Balthasar Seemann?“

Balthasar nickte, und der Mann sagte: „Moin, Käptn! Ich bin James, für die nächsten drei Jahre Ihr Steuermann. Die Heuer hab‘ ich im Voraus bekommen. Großzügig! Wirklich großzügig! So bin ich all mein Leben noch nicht bezahlt worden. Jetzt bin ich Ihr Mann. Ich kenne mich auf den Meeren hier herum gut aus, sehr gut sogar. Sie können befehlen, wann wir ablegen sollen. Zwischen Le Havre und Helsinki kann ich jeden Hafen wie im Schlaf anfahren. Und als Helfer habe ich für alle Fälle noch zwei tüchtige Matrosen. Ach, sehen Sie, da taucht auch Hein, unser Smutje, auf! Auch für drei Jahre bezahlt. Er wird für uns kochen, er wird uns bedienen und das Schiff sauber halten.“

„Wieso für uns? Wieso Käptn? Warum sollen wir ablegen?“ Seemann war fassungslos.

„Kommen Sie mit!“ sagte der Steuermann James. „Im Schiff liegen alle Unterlagen.“

Und tatsächlich: Im Kapitänszimmer der Kajüte, und ich darf versichern, es war ein ungewöhnlich eleganter Raum, in dem alles von edlem Holz und blankem Messing blitzte, da lagen in einer Ledermappe die Schiffspapiere. Obenauf ein Erbschein. Darin stand: Meinem lieben Neffen Balthasar Seemann vermache ich mein seetüchtiges Schiff. Es ist vollkommen neu instand gesetzt und hat den Namen Balthasar erhalten.

Darunter stand der Name eines Onkels, von dessen Existenz Balthasar nie etwas gehört hatte: Erasmus Seemann, Hamburg.

Unter diesem Erbschein lag eine Urkunde, die Herrn Balthasar Seemann als Besitzer des Schiffes auswies. Ein paar Unterschriften auf diesem Dokument hätte niemand lesen können, aber unter einem dieser Schnörkel stand in klarer Druckschrift: Hubert Hallig, Rechtsanwalt und Notar, Hansestadt Hamburg. Und ein paar Stempel waren auch auf den Papier.

Aus einer Ecke der Kajüte hörte man wieder ein leises Kichern. Gesine drehte sich um, aber sie konnte niemanden erkennen. „Balthasar“, sagte sie, „das scheint seine Richtigkeit zu haben. Du hast dieses Schiff wirklich geerbt. Ich kann es zwar kaum glauben, denn wir haben in unserem Leben noch nie etwas geschenkt bekommen, und von deinem Onkel Erasmus haben wir niemals etwas gehört oder gesehen, aber diese Schriftstücke sind doch offenbar in Ordnung.“

„Sie sind in Ordnung“, sagte jetzt der Steuermann. „Ich kenne mich damit aus. Und das Schiff ist nicht nur neu und blank und natürlich vollkommen seetüchtig, es ist auch perfekt ausgestattet. Wir haben hier alles an Bord, was man für eine Reise von vier Wochen braucht. Aber es gibt noch mehr gute Nachrichten. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass wir alle schon für drei Jahre bezahlt worden sind, aber hier habe ich noch einen Scheck in einer bemerkenswerten, in einer sehr bemerkenswerten Höhe. Dieses Geld wird wohl für die drei Jahre, die ich nun für Sie arbeite, ausreichen. Davon können wir Nahrung, Treibstoff, Reparaturen, Hafengebühren, Steuern und alles Weitere bezahlen, was so anfällt. Ihr Onkel Erasmus war großzügig, sehr großzügig. Na, er wird es wohl entsprechend gehabt haben! Am besten gehen Sie mit diesem Scheck zur Bank und lassen ein Konto einrichten. Dann können Sie überall auf Ihren Reisen Geld abheben, wo immer Sie es brauchen.“

Balthasar Seemann drehte sich der Kopf. Er glaubte, das alles sei ein Traum. „Ist die Balthasar jetzt wirklich mein Schiff?“ fragte er. „Natürlich!“

„Und Sie werden mit den beiden Matrosen und dem Smutje auf dem Schiff für mich arbeiten?“ „Natürlich!“

„Und wir können reisen, wohin wir wollen?“ „Natürlich!“

„Und das alles drei Jahre lang?“ „Natürlich! Aber dann ist der Vertrag für den Smutje, die Matrosen und für mich beendet. Das Schiff bleibt selbstverständlich Ihr Eigentum.“

Aus einer Ecke hörte man wieder das leise Kichern.

„Darüber muss ich erst schlafen!“ Seemann war immer noch fassungslos. „Das geht mir alles zu schnell. Morgen kommen wir wieder zu Ihnen aufs Schiff, und dann können wir gemeinsam unsere erste Reise planen.“

Gesine Seemann dachte praktischer. Sie hatte sich schon flüchtig auf dem Schiff umgesehen. „Alles tipptopp!“ sagte sie. „Die Küche ist ausgestattet wie die Küche in einem guten Restaurant, kleiner natürlich, aber genauso fein. Unsere Betten – viel schöner als zu Hause. Alle Möbel – echtes, edles Holz. Wirklich, Balthasar, hier kann man sich wohlfühlen! Ich glaube, ich kann mich tatsächlich an den Gedanken gewöhnen, mit dir eine Seereise zu machen. Vielleicht sogar zwei oder drei.“

Aus einer Ecke hörte man wieder ein Kichern. „Aber womit haben wir das verdient?“ fragte Balthasar. „Mir ist das nicht ganz geheuer. Ich kannte den Onkel doch gar nicht. Woher konnte er wissen, dass ich mein Leben lang von der Seefahrt geträumt habe?“

Wieder hörten sie das Kichern, und dann sagte eine feine, leise Stimme dicht hinter ihnen: „Ihr habt den Anker nicht als Alteisen verkauft, sondern ihm einen Ehrenplatz in eurem Garten gegeben. Und ihr habt nie ein böses Wort über den Klabautermann verloren. Das musste doch belohnt werden! Genießt eure Seereisen und verlasst euch darauf: Ich werde in den nächsten drei Jahren in eurer Nähe bleiben und euch und das Schiff beschützen. Wir Klabautermänner kennen uns damit aus. Ach so – die Bäckerei? Da habe ich schon für drei Jahre einen Pächter besorgt, einen Pächter, der kein Schussel ist wie euer Heiner. Da könnt ihr ganz beruhigt sein!“

Und tatsächlich: Sie waren beruhigt! Schon eine Woche später hatten sie ihr Geschäft dem Pächter übergeben, einem Bäckermeister, der froh war, jetzt wieder für drei Jahre ein eigenes Geschäft zu haben, der etwas schusselige Heiner blieb als Geselle in der Backstube, und sie stachen mit ihrem Schiff in See. Es ging zunächst um Dänemark herum und nach Rügen, dann weiter nach Helsinki, Finnlands Hauptstadt. Danach haben sie noch manche Seereise gemacht, ja, sie haben oft monatelang auf ihrem Schiff gelebt, in vielen Häfen angelegt, und viele Städte kennengelernt. Als die drei Jahre vergangen waren, konnte man Herrn Seemann durchaus schon als Seemann bezeichnen, denn in seinem Steuermann James hatte er einen klugen Lehrer gehabt. Die Eheleute Seemann dachten auch nicht daran, sich von ihrem Schiff zu trennen. Der Scheck des großzügigen Onkels Erasmus reichte nämlich noch für manche Reise, und wenn Gesine und Balthasar nicht inzwischen gestorben sind, dann schippern sie immer noch auf ihrer BALTHASAR über die Meere.

B

Das Märchen vom letzten

Buchenblatt

Buchen sind Laubbäume, das weiß vermutlich jeder. Na, fast jeder, denn mit der Allgemeinbildung ist das ja heute so eine Sache! Darum sagen wir es noch einmal: Buchen sind Laubbäume, das steht fest, darauf kann man sich verlassen! Im Sommer sind sie dicht belaubt, und im Winter stehen sie kahl in Sturm und Schnee. Ihre Blätter sind elliptisch, leicht zugespitzt, glatt und glänzend, und so ein Baum hat, na ja, bestimmt einige Hunderttausende davon. Man kann das nur schätzen. Wie sollte man denn die Blätter eines großen Baumes zählen? Und wozu auch?

Und an diesen Blättern ist ja auch überhaupt nichts Besonderes, wirklich nicht! Was soll schon an Buchenblättern sein? Es gibt doch so unzählbar viele davon! Sie kommen im Frühling als winzige Knospen aus den kahlen Zweigen hervor. Immer! In jedem Frühling! Da kann der Winter noch so streng gewesen sein, denn so ein Baum erfriert nicht. Er ist zäh. Die Blätter wachsen und entfalten sich, sie produzieren Sauerstoff, wie sich das für ein anständiges Blatt gehört, und im Herbst verfärben sie sich, sie werden welk und schrumpelig und fallen schließlich ab wie die Blätter an allen Laubbäumen. Dann liegen sie auf dem Boden, werden nass von Regen und Tau, zerfallen und verschwinden schließlich, werden zu Humus, zu Erde. Was kann da schon Besonderes an einem einzelnen Blatt sein, von dem man erzählen könnte?

Und doch gibt es da ein Blatt, über das zu sprechen lohnt. Es ist ein Buchenblatt mit wunderbarer Kraft. Vielleicht wird jetzt mancher sagen: Blatt ist doch Blatt! Ob von Buche, Eiche oder Linde – was schert mich die Herkunft eines Blattes, wenn der Wind so ungezogen war, es in meinen Kaffee zu wehen? Aber das Buchenblatt, von dem hier erzählt werden soll, ist wirklich ein ganz besonderes, ein einzigartiges Blatt. Und die Menschen wissen nichts mehr davon, niemand kennt seine Geschichte! Überhaupt verschwinden ja die alten Weisheiten. Viele Menschen glauben, auf das Wissen der Väter und Vorväter verzichten zu können, weil ihnen die neuen Kommunikationsmaschinen Milliarden von Informationen in Sekundenschnelle liefern. Man weiß alles, nein, man glaubt, alles zu wissen, aber ein Haufen von beliebigen Informationen ist noch kein wirkliches Wissen, und mit Weisheit hat das schon gar nichts zu tun. Nun kann man natürlich auf das moderne Wissen nicht verzichten, im Gegenteil, das Wissen wird noch wachsen, und es muss wachsen, unbedingt, aber auch in dem naiven Aberglauben der Vorzeit kann man manchen klugen Gedanken finden. Es lohnt sich, danach zu suchen. Die Welt wird ärmer, wenn das Wissen aus alter Zeit so ganz und gar verschwindet. Wir leben doch aus unserer Vergangenheit, so wie ein Baum aus seinen Wurzeln lebt.

Aber ich sprach von dem Blatt! Ja, ja, es wird Zeit wieder auf das Buchenblatt zu kommen! Ich weiß, ich weiß! Es hat damit folgende Bewandtnis: Das allerletzte Buchenblatt des Sommers, das Blatt also, das zuletzt noch am Baum hängt, wenn alle Geschwister schon in alle Winde verweht sind, dieses Blatt hat Zauberkraft, ja, es hat eine ungewöhnliche, magische Macht. Aber es gibt dazu Bedingungen. Nicht jeder Buchenbaum entwickelt diese Macht. Die Buche muss an diesem Tag genau 111 Jahre alt sein. Und von solchen Bäumen gibt es nicht allzu viele!

Und warum 111 Jahre? Ja, wer kann das schon wissen? Man kann da nur spekulieren. Die Quersumme ist 3, und die 3 war schon immer eine besondere, eine heilige Zahl. Und die 111 ist 3 mal 37. Diese 37 scheint zufällig und belanglos. Ja, das scheint so, wenn man keine Ahnung von der nordischen Geschichte hat! Wisst ihr denn nicht, dass Knut, der Nasenlose, vor vielen hundert Jahren auf dem Winterwendefest im nördlichen Norwegen mit 37 Krügen Bier einen Krüge-Austrink-Wettbewerb gewonnen hat? Ja, 37 Krüge Bier an einem einzigen Abend! Das war Krüge-Austrink-Weltrekord, und das hat die Zahl 37 in jenen nördlichen Gegenden für alle Zeiten zur besonderen, beinahe zu einer heiligen Zahl gemacht! Und was ist mit dem Bierkrüge-Austrink-Sieger? Oh, Knut der Nasenlose, der berühmte Trinker, war damals ein großer Mann. Und ein wilder Kämpfer! Seine Nase, einstmals ein schönes, großes, rotes Riechorgan, hatte er in einem unerbittlichen Kampf verloren. Der Gegner, ein ungepflegter Wikinger aus dem noch höheren Norden, hatte mit seinem Schwert nach Knuts Kopf gezielt, aber zum Glück nur die Nase getroffen und säuberlich abgetrennt. Knut brüllte vor Wut und Schmerz so laut, dass der Wikinger sich wendete und wie ein Hase davonlief. Man hat nie wieder etwas von ihm gesehen, und folglich kennen wir auch seinen Namen nicht. Knut aber wurde verbunden (Da sah er heiter aus!), und nach und nach vernarbte die Wunde. Aber die Nase war ab, endgültig ab. Heute würde man eine solchermaßen abgetrennte Nase vorsichtig aufsammeln, reinigen, zum Chirurgen bringen, und der würde sie säuberlich wieder an der rechten Stelle annähen. Das ging zu Knuts Zeiten leider noch nicht. Ab war ab! Ob Arm, Bein oder Nase. Und die verlorene Nase gab dem Knut seinen nicht gerade charmanten Namen: Knut der Nasenlose.

Nun sollten wir uns aber von Knut verabschieden und uns endlich dem Buchenblatt zuwenden! 37 Krüge Bier! 3 mal 37 gleich 111. Ein Alter von genau 111 Jahren. Das alles kam bei der Buche, von der dieses Märchen handelt, aufs Schönste zusammen, und nun hing das allerletzte Buchenblatt geduldig an seinem Ast (Blätter sind aus Prinzip niemals ungeduldig!) und wartete auf einen letzten, heftigen Windstoß.

Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat es ganz bestimmt Tausende solcher letzten Blätter an genau 111-jährigen Buchen gegeben. Aber diese Blätter haben wohl immer das Schicksal ihrer vielen, vielen Blattgefährten geteilt. Sie trudelten vom Baum, fielen auf Wege, ins Gras oder ins Gebüsch und verfaulten und vergingen. Kein Mensch dachte daran, sich um gerade dieses Blatt zu kümmern. Kein Mensch ahnte etwas von seiner Kraft. Das Blatt, von dem unsere Geschichte handelt, hatte nun aber ein anderes Schicksal. Ein herbstlicher Windstoß sauste durch die Äste der Buche, das allerallerletzte Blatt wurde abgerissen, der Wind trieb es durch die Luft, und dann fiel es dem 12-jährigen Benni nicht vor die Füße (Da wäre es ihm niemals aufgefallen!), nicht in die Hand (Da hätte er es einfach weggeworfen!), sondern in die Kapuze seines dicken Winterpullovers. Und natürlich bemerkte er das gar nicht.

Der Junge hatte die Oma besucht und ihr eine Tasche mit Äpfeln und auch zwei Stücke Apfelkuchen mit Zimt mitgebracht. Das war ihr Lieblingskuchen, und sie sagte oft zu ihrer Nachbarin, mit der sie täglich mindestens einen Plausch hielt: „Trine, es geht doch nichts über den Apfelkuchen von Bennis Mutter. Ich kann doch auch backen, aber so gut gerät mir der Apfelkuchen nie.“ Benni hatte dann dies und das erzählt, meistens von seiner Schulklasse, wo es einige rechte Lümmel gab, er hatte eine Tasse von Omas feinem Kakao getrunken, sein Taschengeld eingesteckt, auf Omas linke Wange ein Küsschen gedrückt und sich verabschiedet.

Der Weg zurück zur Wohnung seiner Eltern führte den Jungen am Wald entlang aufwärts. Links erstreckten sich abgeerntete Felder, und rechts begleitete ihn der Wald, ein Buchenwald, in dem ab und zu kleine, schlanke Tannen und dünne Birken nach oben strebten. Das alte Laub raschelte unter seinen Füßen, im Gebüsch sang ein verspäteter Vogel, der Anstieg wollte kein Ende nehmen, und trotz der herbstlichen Kälte wurde es dem Benni in seinem Pullover ungemütlich warm, und so entfuhr ihm ein tiefer Seufzer: „Ach, wäre ich doch schon zu Hause!“

Und im gleichen Augenblick stand er mit seiner Mütze, dem warmen Pullover und verdreckten Schuhen zu Hause in seinem Kinderzimmer. Er hatte noch gar nicht angefangen, sich richtig zu wundern, da kam schon seine Mutter ins Zimmer gestürmt, und sie überschüttete ihn sofort mit Vorwürfen und mit besorgten Fragen: „Wo kommst du denn so plötzlich her? Ich habe dich erst in einer Stunde erwartet. Und warum hast du die Schuhe nicht ausgezogen? Wie siehst du denn aus? Willst du noch ein Stück von dem Apfelkuchen? Soll ich dir heißen Kakao machen? Was hat denn die Oma erzählt? Geht es ihr gut?“

Eine Antwort wartete sie aber gar nicht ab. Sie verschwand in der Küche, um den Kaffeetisch zu decken und den Kakao zu kochen. Wie richtige Mütter so sind: Strenge Vorwürfe und liebevolle Fürsorge liegen dicht beieinander.

Erst jetzt geriet Benni so richtig ins Staunen. Was war denn das? dachte er. Gerade habe ich doch noch auf diesem steilen Waldweg geschwitzt. Wie bin ich denn so plötzlich in unsere Wohnung gekommen? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu! Er schaute an sich herunter. Die Schuhe! Seine Mutter hatte ja Recht: Die Schuhe waren schmutzig, sehr schmutzig! Es war in der Familie überhaupt nicht üblich, die Wohnung mit Schuhen zu betreten. Und er stand mit diesen staubigen Schuhen sogar auf dem hellen Teppich!

„Wäre ich doch diese schweren Schuhe los! Und sauberer könnten sie auch sein!“ sagte er halblaut.

Schwupp! Da stand er in Socken auf dem Teppich, und als er in den Flur schaute, standen seine Schuhe dort an ihrem Platz, blitzeblank geputzt.

Jeder vernünftige Mensch wird sich denken, was Benni in diesem Moment dachte: Ich glaub‘, ich spinne! dachte er. Was ist denn da los? Was ist mit mir los? Übrigens ist meine Hose auch ganz schön schmutzig. Wie wär’s, wenn die auch sauber im Flur hing?

Schwupp! Da stand Benni in der Unterhose auf dem Teppich, und die Hose konnte er, wenn er den Hals ein wenig reckte, im Flur an der Garderobe sehen. Sie schien auch sauber und gebügelt zu sein.

Es sieht so aus, überlegte Benni, als hätte ich einige Wünsche frei. Das ist doch wie im Märchen! (Damit hatte er ja auch Recht!) „Eine Tafel Mandelschokolade, bitte! Aber mindestens 200 Gramm!“

Schwupp! Und da hatte er die Schokolade schon in der Hand. Das war nun wirklich wunderbar, und nun wollte er das Wünschen mal so richtig ausprobieren.

„Ein Lamborghini-Modell hätte ich gern! Schön groß, aus Metall und mit allen Einzelheiten.“

Schwupp! Da stand das Modell schon vor ihm auf dem Teppich, knapp 40 Zentimeter lang, gelb, flach, futuristisch, ein ungewöhnlicher Sportwagen. Sehr schön! Sehr italienisch! Ein Lamborghini eben!

Nun wurde es dem Benni doch ein wenig unheimlich. Mit Zauberei und Hexerei haben wir ja nicht jeden Tag zu tun. Wir sind sozusagen nicht daran gewöhnt. Wer will es dem Benni also verübeln, dass ihm die ganze Sache nicht so recht geheuer war? Aber er wurde zunächst abgelenkt von dem, was ihm schon seit dem Mittag auf den Nägeln brannte. Das waren die Hausaufgaben, die er wie gewöhnlich, noch gar nicht angefangen hatte.

„Dieser blöde Aufsatz über mein schönstes Ferienerlebnis! Wie langweilig! Wenn der doch bloß schon fertig wäre! Jedes Jahr derselbe Quatsch!“

Benni hatte nicht im Ernst daran geglaubt, dass sich dieser Wunsch erfüllen würde. Immerhin schaute er neugierig in seinen Schulrucksack. Da war das Aufsatzheft. Aufgeregt suchte der Junge nach den letzten Seiten. Und tatsächlich! Da stand in seiner eigenen etwas krakeligen Handschrift: Mein schönstes Ferienerlebnis! Fünf Seiten Text mit einigen Schmierereien, zweimal war ein Wort darübergeschrieben, ganz so, wie seine Aufsätze eben auch sonst aussahen. Nicht übermäßig ordentlich! Kein Mensch und also auch kein Lehrer hätte auf den Gedanken kommen können, dieser Aufsatz sei nicht Bennis Arbeit!

Das ist ja zum Verrücktwerden! dachte Benni. Aber jetzt war er auf den Geschmack gekommen. Jetzt wollte er diese Wünscherei richtig ausprobieren.

„Mein Zimmer soll aufgeräumt werden! In der neuen Jacke ist ein Loch. Das hat meine Mutter noch gar nicht gesehen. Das Loch muss weg! Der Computer funktioniert nicht mehr. Schon seit zwei Wochen. Er soll wieder heil sein! Und er soll schneller arbeiten! Und ich will das Spiel auf der Festplatte haben, das mein Freund Erkan immer spielt. Und jetzt soll meine Mutter sofort ihren leckeren Pflaumenpfannkuchen backen, weil ich von dem Apfelkuchen schon genug habe!“

„Komm, Benni, die Pfannkuchen sind fertig!“ rief seine Mutter in diesem Augenblick. Und das Zimmer war perfekt aufgeräumt, und das Loch in der Jacke war verschwunden. Und der Computer? Ja, das musste er noch ausprobieren. Er schaltete ihn ein, und da war kein Zweifel möglich. Der Bildschirm leuchtete auf, schneller als je, der Computer funktionierte tadellos, Benni kam ohne Mühe ins Internet, und ein Klick, da war auch schon Erkans Spiel auf dem Schirm. Es war wunderbar!

„Benni, der Pfannkuchen! Er darf doch nicht kalt werden!“ hörte er die Mutter in der Küche. Und nun ließ er sich nicht noch einmal einladen. Er biss vorsichtig ein Stück ab, der Pfannkuchen schmeckte köstlich. Der Zauber lieferte erstklassige Ergebnisse! Die beiden plauderten beim Essen über dies und das. Benni musste erzählen, was er bei der Großmutter erlebt hatte, aber er hütete sich, auch nur ein Wort über diese merkwürdige Hexerei zu verlieren. Die Mutter war eine patente Frau, klug, sachlich, schnell im Denken und im Arbeiten. Sie hätte bestimmt gesagt: Benni, du hast einen Vogel! Aber einen großen!

Benni ging wieder in sein Zimmer und setzte sich neben den Lamborghini auf den Teppich. Wieso, dachte er, gehen meine Wünsche in Erfüllung? Was ist das für ein Zauber? Der Junge konnte sich das nicht erklären. Wie sollte er das auch erklären können? Er zog seine Pantoffeln an, hängte den Pullover in die Garderobe, ging wieder in sein Zimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch.

Neue Wasserfarben könnte ich auch schon längst gebrauchen, dachte er. Los, du merkwürdiger Zauber, bring mir Wasserfarben, einen großen Kasten, mindestens 36 Farbtöne! Und eine anständige Qualität, wenn ich bitten darf!

Aber diesmal tat sich nichts. Kein Wasserfarbkasten!

Aha, dachte der Junge, der Zauber ist vorbei. Es klappt nicht mehr. Habe ich das alles nur geträumt? Nein, das ist unmöglich, denn da liegt noch die Schokolade, und der Lamborghini steht auch noch auf dem Teppich. Sollte der Zauber wirklich schon vorbei sein? Das wäre aber schade! Vielleicht habe ich beim Wünschen einen Fehler gemacht? Habe ich etwas verändert? Muss man irgendeine besondere Bedingung einhalten, damit der Zauber gelingt? Und dann fiel ihm der Pullover ein. Den, dachte er, habe ich ausgezogen und weggehängt. Sonst habe ich doch nichts verändert. Ob der Zauber damit zusammenhängt?

Es war ein purer Zufall, dass er gerade daran dachte. Was hat denn ein Pullover mit Zauberei zu tun? Ja, eigentlich war dieser Gedanke sogar ganz gegen jede Vernunft. Aber unsere Gedanken springen ja manchmal wirklich in eine ungewollte Richtung.

Benni holte also den Pullover in sein Zimmer. Was muss ich wohl tun, wenn der Zauber mit dem Pullover zusammenhängt? Ziehe ich ihn an? Halte ich ihn in der Hand? Lege ich ihn nur so hin, dass ich ihn gut sehen kann? Er legte ihn über den Arm und wünschte: Die Jungs in meiner Klasse tragen schon seit Monaten beinahe alle so schicke schwarze Jeans. Solche Jeans hätte ich gern, schwarze Jeans mit einem weißen Streifen an den Seiten!

Schwupp! Da lagen die Jeans schon neben ihm auf dem Stuhl. Schwarz mit einem weißen Streifen an den Hosenbeinen, wie er sich das gewünscht hatte.

Aha! dachte Benni wieder, es scheint an dem Pullover zu liegen! Ich muss den Pullover bei mir haben, anziehen aber muss ich ihn nicht unbedingt. Aber was ist bloß mit ihm los? Das ist doch ein ganz gewöhnlicher Pullover, und ich trage ihn schon seit Monaten, ohne dass mir etwas Besonderes daran aufgefallen wäre.

Und dann gab es in Bennis Gedanken einen zweiten Zufall. Zehn andere Kinder wären möglicherweise gar nicht auf diesen Einfall gekommen, aber Benni untersuchte jetzt den Pullover ganz sorgfältig. Irgendetwas muss doch anders sein als gewöhnlich, dachte er. Und dabei fand er in der Kapuze das Buchenblatt. Sonst nichts, sonst gar nichts. Ob die Zauberei etwas mit diesem Blatt zu tun hat? dachte er. Das Blatt war glänzend tiefbraun, hatte gelbliche (oder goldene?) Pünktchen und fühlte sich glatt, beinahe ein wenig ledrig an.

„Bist du etwa schuld an der Zauberei?“ fragte Benni. Er brachte den Pullover wieder in den Flur und ging mit dem Blatt in der Hand in sein Zimmer zurück.

„Ich wünsche mir einen ganz neuen Computer, einen mit einem größeren Bildschirm!“

Und tatsächlich: Schwupp! Da stand das neue Gerät schon auf seinem Schreibtisch. Neu und glänzend und fertig verkabelt. Das alte Gerät mit dem ungefügen Bildschirm war verschwunden, und jetzt stand da ein großer, flacher Bildschirm, in dem der Rechner irgendwie versteckt war. Ein tolles Gerät!

Es ist tatsächlich das Blatt! dachte Benni. Es ist nur dieses alte, vom Baum gefallene Blatt! Ein Buchenblatt wahrscheinlich. Ich will es gleich noch einmal versuchen. Zuerst mal etwas ganz Harmloses! „Eine Apfelsine, bitte! Und jetzt noch zwei Bananen!“

Kaum hatte er die Wünsche ausgesprochen, da lag das Obst schon vor ihm auf dem Tisch. Ausgesucht schöne, appetitliche Früchte.

In den nächsten Tagen tat Benni sich und anderen viel Gutes. Sein altes Fahrrad verwandelte sich in ein Prachtstück; aus den Königsberger Klopsen, die seine Mutter gekocht hatte, verschwanden die Kapern, die er verabscheute; die Hausaufgaben waren im Nu fertig, und diesmal, wie er es sich gewünscht hatte, in der allerschönsten Sonntagsschrift; der Müll aus der Küche lag draußen in der Mülltonne, ohne dass Benni sich aus seinem Sessel erheben musste. Dann war da Biene, ein Mädchen aus seiner Klasse, das er sehr, sehr schätzte, sonst ein aufgewecktes Kind, aber leider mit deutlichen Schwächen in der Mathematik. Das Buchenblatt sorgte dafür, dass Biene bei Rechenarbeiten rasch hintereinander zwei Einser schrieb, worüber sie selbst am meisten staunte. Und Bennis Oma, eine überaus patente Oma, die wir ja schon kennengelernt haben, freute sich darüber, dass ihr Gebiss beim Sprechen kein bisschen mehr klapperte. Ja, auch bei solchen Problemen half das Zauberblatt!

„Das war mir so unangenehm!“ sagte sie. „Jetzt sitzt mein Gebiss viel besser. Wahrscheinlich hat sich mein Gaumen verändert.“

Und Benni lächelte, aber er verriet nichts.

Und noch etwas freute die Oma. „Es ist wie ein Wunder“, sagte sie, „ich habe nun schon drei Tage keine Kopfschmerzen mehr gehabt. Das ist doch ein ganz anderes Leben!“

Und Benni lächelte wieder, aber er verriet auch weiterhin nichts.

Bei allen Wünschen, die Benni aussprach oder auch nur dachte (Beim bloßen Denken wurden die Wünsche auch erfüllt!), achtete er darauf, nicht zu übertreiben und das Geheimnis des Buchenblattes nicht zu verraten. Vielleicht verliert es seine Zauberkraft, wenn man darüber spricht, dachte er. Das will ich lieber nicht ausprobieren! Und warum blieb er mit seinen Wünschen hübsch bescheiden? Nun, er kannte das Märchen vom Fischer und seiner Frau. Die hatten an den Butt in der See, den Fisch, der sprechen und Wünsche erfüllen konnte, immer unverschämtere Forderungen gestellt, und als sie schließlich sogar einen Palast hatten und schon König und Königin waren, da wollten sie auch noch wie der liebe Gott selber sein. Das ging natürlich nicht gut, und Peng! waren sie wieder wie ganz am Anfang in ihrer erbärmlichen Fischerhütte. Weil sie zu viel wollten, hatten sie schließlich alles verloren. Nein, Benni war vorsichtig, und wollte lieber kein Rennpferd, kein Schiff, keinen Palast wünschen. Er war vollkommen zufrieden, dass ihm allerlei kleine Wünsche erfüllt wurden und dass er auch anderen hier und da eine kleine Freude machen konnte.

Dann aber geschah, was der Junge im Grunde hätte erwarten können. Ein Buchenblatt ist ja nun leider nicht aus Blech, nicht einmal aus Karton. Das Blatt trocknete aus, wurde blass und runzelig. Der freundliche Leser wird sich erinnern: Schon an den verschiedenen Wunschringen, die man aus alten Märchen kennt, den Ringen, die man drehen muss, während man einen Wunsch murmelt, hatten die Besitzer keine lange Freude. Es gab immer einen Fehler, eine Unvorsichtigkeit, und schon war die schöne Zauberkraft verloren. Und dann ein einfaches Blatt von einem einfachen Baum! Ein Blatt, das in seiner kurzen Lebenszeit schon Sommerhitze und Herbststürme zu überstehen hatte! Das Ende war abzusehen!

Nach und nach klappte die Wunscherfüllung nicht mehr so rasch und zuverlässig. Manchmal dauerte es minutenlang, bis das Blatt seine Pflicht tat. Einmal stand statt einer Pralinenschachtel ein Paket Waschpulver auf dem Tisch, ein anderes Mal hatte Benni sich bloß ein Kaugummi gewünscht, und das Buchenblatt lieferte einen Kringel Fleischwurst. Das war nicht gut, nein, das war gar nicht gut, und der Junge wurde vorsichtig mit dem Wünschen. Was hätte da nicht alles passieren können?

Schließlich kam das Ende ganz plötzlich. Benni hatte das Buchenblatt, sorgfältig in Papier eingeschlagen, in die Tasche seiner Jeans gesteckt (In die älteren Jeans, die neuen schwarzen schonte er noch!), und seine Mutter fand, dass man diese Alltagshose unbedingt wieder einmal waschen müsste. Also rein in die Waschmaschine, waschen, spülen, schleudern mit 700 Umdrehungen! Benni sah die Hose im Garten auf der Leine hänge, stürzte hin, untersuchte die Tasche und fand darin nur noch Papier- und Buchenblattkrümel! Verzweifelt kratzte er die feuchten Reste zusammen, und dann rief er: „Ich wünsche mir, dass diese Hose sofort trocken ist!“

Du wirst dir vorstellen können, lieber Leser, was geschah! Nichts geschah! Gar nichts! Die Zauberkraft des Buchenblattes, des letzten Blattes von einer genau 111 Jahre alten Buche, war verschwunden. Sie war unwiederbringlich dahin.

Benni, der große Benni weinte. Und nun tat es ihm leid, dass er sich nicht viel mehr und viel größere Dinge gewünscht hatte. Er fand es auch nicht mehr richtig, seine Eltern nicht eingeweiht zu haben. Sie hätten ihm doch wohl gute Ratschläge gegeben. Wahrscheinlich sind Erwachsene geschickter beim Wünschen. Sie haben einfach mehr Erfahrung damit. Hat nicht jeder vernünftige Mensch sein ganzes Leben lang irgendwelche Wünsche? Aber Bennis Enttäuschung hielt nicht lange an, und schließlich war er ganz froh, dass er sich kein Schloss und kein Segelschiff mit drei Masten gewünscht hatte. Was hätte er damit anfangen sollen? Und wenn er sich zum Kaiser von China gewünscht hätte - wäre das wohl ein Segen für ihn geworden? Man kann sich doch vorstellen, was die chinesische Regierung tun würde, wenn in ihrem Land auf einmal ein Kaiser auftauchte! Ab ins Gefängnis! würden die sagen. Aber sofort und für immer! Vielleicht fiel denen sogar noch etwas Schlimmeres ein!