Die 13-jährige Emily liebt Pferde über alles. Als ihr Mutter einen Job auf einem Gestüt in Neuseeland annimmt, zieht Emily nur widerstrebend in das ferne Land. Doch dann lernt sie das Fohlen Hope kennen – und verliebt sich Hals über Kopf in das junge Wildpferd. Hope wurde allerdings bereits einem Verkäufer versprochen. Und Emily befürchtet, dass das Pferd in seinem neuen Zuhause nicht gut gehalten wird. Zusammen mit dem Maorijungen Tommy beschließt Emily, für Hope zu kämpfen …
Sarah Lark, geboren 1958, wurde mit ihren fesselnden Neuseeland- und Karibikromanen zur Bestsellerautorin, die auch ein großes internationales Lesepublikum erreicht. Nach ihren fulminanten Auswanderersagas überzeugt sie inzwischen auch mit mitreißenden Romanen über Liebe, Lebensträume und Familiengeheimnisse im Neuseeland der Gegenwart. Sarah Lark ist das Pseudonym einer erfolgreichen deutschen Schriftstellerin, die in Spanien lebt.
Sarah Lark
Der Ruf der Pferde
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Margit von Cossart, Köln
Umschlaggestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano
unter Verwendung von Motiven von © Lisa Kolbenschlag/
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eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-8575-5
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»Emily! Nun komm, trödel nicht herum! Du weißt, wir werden abgeholt!«
Emilys Mutter eilte mit ihren Koffern in Richtung Passkontrolle, und Emily folgte ihr langsam. Sie wollte nicht trödeln, aber sie konnte doch auch nicht durch den Flughafen von Auckland hasten, ohne sich ein bisschen umzusehen. Zu fremd und zu neu war hier alles für sie. Das fing schon damit an, dass die Monitore und Wegweiser englisch beschriftet waren. Emily besuchte seit Jahren eine internationale Schule, in der auf Englisch unterrichtet wurde. Doch es war ungewohnt, die Sprache nun überall zu hören, den Durchsagen zu lauschen und Werbeplakate zu lesen. Sie würde ein bisschen Zeit brauchen, um in diesem neuen Land richtig anzukommen.
Ihre Mutter schien damit keine Schwierigkeiten zu haben. Sie hatte die Passkontrolle inzwischen erreicht und erledigte die Einreiseformalitäten.
»Sie machen hier Urlaub, Mrs. Reiser?«, erkundigte sich der Zollbeamte.
Johanna schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Das sehen Sie doch.« Sie wies auf die Papiere, die sie ihm eben vorgelegt hatte. »Ich werde hier arbeiten. Für mindestens zwei Jahre. Hier ist mein Visum. Meine Tochter Emily begleitet mich. Sie wird solange hier zur Schule gehen.«
Der Zollbeamte griff nach Emilys Pass und verglich ihr Gesicht mit dem Passbild. Emily befürchtete allerdings, dass sie sich im Moment nicht sonderlich ähnlich sah. Ihr eigentlich glänzendes rotbraunes Haar war nach dem langen Flug fettig und strähnig, auf ihrer Stirn hatte sie eben zwei Pickel entdeckt, und sie hatte das Gefühl, als wären ihre gewöhnlich lebhaften grüngrauen Augen ganz geschwollen. Immerhin versuchte sie, dem Zollbeamten zuzulächeln. Nicht dass die Schroffheit ihrer Mutter ihn so verprellte, dass er weitere Kontrollen durchführte! Emily war jetzt schon todmüde.
Der Mann verzog zum Glück keine Miene, sondern stempelte ihre Pässe nur ab und gab sie ihnen zurück.
»Dann einen schönen Aufenthalt, Madam«, wünschte er und wandte sich den nächsten Reisenden zu.
Emilys Mutter steckte die Pässe ein und ging weiter zum Ausgang.
Emily fragte sich, wer sie wohl empfangen würde. Mr. und Mrs. Lovington, Johannas künftige Arbeitgeber, waren reich. Gut möglich, dass sie von einem Chauffeur oder einem anderen Angestellten abgeholt würden. Ihre Mutter sollte die Cheftrainerin im Trabrennstall der Lovingtons werden. Mr. und Mrs. Lovington hatten sich international nach einem geeigneten Bewerber für die Stelle umgesehen und sich schließlich für Johanna Reiser entschieden, die bisher auf der Trabrennbahn in Gelsenkirchen gearbeitet hatte. Und nun würden sie nach Ohakune ziehen, einem Ort auf der Nordinsel Neuseelands.
»Die Lovingtons haben ein Gestüt und einen Rennstall«, hatte Johanna Emily erklärt. »Sehr nobel. Wir werden dort wohnen, und ich werde die Pferde trainieren. Du kannst sicher im Stall helfen …«
Das hatte Emily auch in Gelsenkirchen regelmäßig getan. Sie liebte Pferde, obwohl sie eigentlich lieber ritt, statt sie vor dem Sulky zu fahren. Um richtig reiten zu lernen, hatte es ihr bisher allerdings an Zeit gefehlt – zudem musste sie die Stunden von ihrem Taschengeld bezahlen. Sie hatte einen sehr langen Schulweg gehabt und Ganztagsunterricht. Wenn sie sich dann noch um die Pferde, die ihre Mutter trainierte, hatte kümmern müssen, war ihr Zeitplan restlos ausgefüllt gewesen.
Emily hoffte, dass sich das in Neuseeland ändern würde. Immerhin wohnten sie in Zukunft neben dem Stall, und die Schule war vielleicht auch nicht gar so weit weg.
Ihre Mutter und sie hatten den Transitbereich verlassen und sahen sich nun in der Eingangshalle um. Natürlich wimmelte es dort von Leuten, die Fluggäste abholten. Taxifahrer hielten Schilder mit Namen hoch, Touristikunternehmen sammelten Pauschalreisende ein.
Den Namen »Reiser« entdeckte Emily nirgendwo, allerdings lief ihre Mutter zielsicher auf einen weißblonden Herrn zu, der etwas abseits von den anderen Wartenden stand. Er war schlank, groß gewachsen und braun gebrannt. Beim Näherkommen sah Emily, dass sein Gesicht mit Fältchen durchzogen war. Der Mann trug Jeans und eine Wachsjacke.
Ihre Mutter sprach ihn an. »Mr. Lovington?«
Sofort lächelte er. »Mrs. Reiser! Na, Sie sind ja schnell. Konnten es wohl gar nicht abwarten, aus dem Flieger zu kommen nach der langen Reise.«
Johanna gab das Lächeln zurück. »Selbstverständlich bin ich schnell«, bemerkte sie. »Deshalb haben Sie mich ja engagiert.«
Mr. Lovington lachte. »So ist es! Und das ist Ihre Tochter?« Nun hielt er auch Emily die Hand hin.
»Du bist dreizehn, nicht? Etwas jünger als unser Wallace. Sprichst du denn schon Englisch?«
Emily nickte. »Ich habe eine internationale Schule besucht, Sir«, sagte sie höflich. »Meine Mutter hat immer gehofft, dass sie mal im Ausland arbeiten würde. Ich sollte dann keine Sprachschwierigkeiten haben.«
»Vorausschauend gedacht«, lobte Mr. Lovington. »Dann kommen Sie mal. Oder möchten Sie hier noch einen Kaffee trinken?«
Johanna schüttelte den Kopf. »Wir haben im Flugzeug gefrühstückt«, sagte sie.
Emily hätte eigentlich nichts gegen einen Tee oder eine Cola gehabt. Nach dem anstrengenden Nachtflug – ihre Mutter hatte geschlafen, aber sie selbst hatte kein Auge zugemacht – hatte sie kaum etwas herunterbekommen. Andererseits wollte sie endlich etwas von dem Land sehen, in dem sie von nun an leben sollte. Von ihren Großeltern hatte sie zum Abschied einen Reiseführer bekommen und ihn gleich ganz aufgeregt durchgearbeitet. So einiges wusste sie deshalb schon. Zu Neuseeland gehörten zwei Inseln – die Süd- und die Nordinsel, und von Deutschland aus gesehen lagen sie ziemlich genau auf der anderen Seite der Erdkugel. Das war zu weit, um direkt dorthin zu fliegen. Man musste in Dubai oder Singapur umsteigen und war insgesamt über zwanzig Stunden unterwegs. Emily fand all das spannend. Sie war recht gern mit ihrer Mutter nach Neuseeland gekommen, obwohl ihr Vater ihr angeboten hatte, in seiner neuen Familie zu leben. Ihre Eltern waren seit vier Jahren geschieden, er hatte erneut geheiratet und zwei Kinder mit seiner zweiten Frau bekommen. Emily konnte mit der neuen Familie ihres Vaters allerdings nicht richtig warm werden − besonders nervig fand sie die Tierhaarallergie ihrer Halbgeschwister. An den Wochenenden musste sie sich vor dem Kontakt mit ihnen strengstens kontrollieren lassen – auch das kleinste Pferdehaar verursachte bei den Kindern Erstickungsanfälle.
Für Emily war es undenkbar, länger in dieser Familie zu leben. Sie hätte es niemals ausgehalten, zwei Jahre lang kein Tier zu berühren. Auch sonst hielt sie wenig in Gelsenkirchen. Sie hatte in der Schule keine engen Freunde – der lange Schulweg hatte Kontakte außerhalb des Unterrichts schwierig gemacht. Mit den Lehrlingen und dem Stallpersonal auf der Rennbahn war sie zwar gut zurechtgekommen, vermissen würde sie die jedoch auch nicht.
Fehlen würden ihr nur die Pferde – der kleine Hengst Starlight, der immer so traurig guckte, wenn ihre Mutter ihn beim Training hart rangenommen hatte, die Stute Corazon, deren Maulwinkel derart empfindlich waren, dass sie bei der Arbeit mit scharfen Gebissen aufrissen. Emily hoffte, jemand anderes behandelte sie nun regelmäßig mit Wundsalbe. Und Billy Joe, ihr Liebling, der gerade erst vom Gestüt auf die Rennbahn gekommen war. Er schaute noch drein wie ein Fohlen und wirkte in seiner Box wie ein verlassenes Kind. Emily hatte ihm immer besonders viele Streicheleinheiten zukommen lassen.
Eigentlich lagen ihr Johannas sämtliche Schützlinge am Herzen – doch sie hatte längst gelernt, sich nicht zu sehr in die Traber zu verlieben, die ihre Mutter trainierte. Sie gehörten ihr ja alle nicht, und sie waren selten sehr lange unter Johannas Obhut geblieben. Nur wenige Pferdebesitzer konnten es sich leisten, ihre Pferde über Jahre hinweg von einer Star-Trainerin trainieren zu lassen. Insofern wurden sie nach einigen Monaten – und einigen Siegen in wichtigen Rennen − verkauft oder wechselten zu anderen Trainern.
Mr. Lovington führte Johanna und Emily durch die Eingangshalle des Flughafens und in eine Tiefgarage. Mit der Fernbedienung öffnete er einen Geländewagen, der brandneu wirkte.
»Da sollten Ihre Koffer hineinpassen«, bemerkte er und half beim Verstauen des Gepäcks. Emily und ihre Mutter hatten drei große Koffer bei sich und zwei kleine. Viel war das nicht, um ein neues Leben zu beginnen, aber Johanna hatte immer schon die meiste Zeit im Stall bei den Pferden verbracht. Sie hatten auch in Deutschland nur eine kleine Wohnung gehabt und eher selten gekocht. Ihre wenigen Möbel und den sonstigen Hausrat hatten sie nun in der alten Heimat eingelagert. Die Lovingtons würden ihnen eine möblierte Wohnung zur Verfügung stellen.
Schließlich rutschte Emily auf den Rücksitz, und Johanna setzte sich nach vorn neben ihren neuen Arbeitgeber.
Nach Ohakune waren es gut vier Stunden Fahrt.
Emily blickte neugierig aus dem Fenster. Auckland unterschied sich anscheinend kaum von den größeren Städten in Deutschland, die sie bisher kennengelernt hatte. Auch als es später über Land ging, erschien ihr die Gegend nicht exotisch, sondern eher langweilig und nicht sehr einladend. Der Himmel war an diesem Julitag grau, es regnete in Strömen. Die Felder neben der Straße waren abgeerntet, die Weiden abgefressen und gelb. Während in Deutschland Hochsommer war, herrschte in Neuseeland tiefster Winter – die Jahreszeiten waren genau entgegengesetzt. Allerdings war das Klima recht mild. Mit Schneefällen war auf der Nordinsel kaum zu rechnen.
Interessanter als den Blick aus dem Fenster fand Emily die Unterhaltung zwischen ihrer Mutter und Mr. Lovington.
»Wir haben so ungefähr hundertfünfzig Pferde«, berichtete der Gestüts- und Rennstallbesitzer. »Die meisten sind Zuchtstuten und Hengste, zudem Jungtiere. Um die zwanzig haben wir im Training. Wir lassen sie meist auf der Rennbahn in Auckland laufen und auf den kleineren Bahnen auf der Nordinsel, da vor allem die jüngeren. Wenn sie gut einschlagen, beschicken wir außerdem die Rennbahnen auf der Südinsel und gelegentlich Australien. International haben wir noch nicht so recht Fuß fassen können. Wir hoffen, dass sich das mit Ihnen ändert.«
Johanna hob die Schultern. »Ich werde mein Bestes geben«, versprach sie. »Aber es hängt natürlich sehr vom Material ab …«
Emily biss sich auf die Lippen. Sie hasste es, wenn ihre Mutter und die anderen Trainer von »Pferdematerial« sprachen, als handelte es sich nicht um lebendige Wesen, sondern eher um etwas Knetbares.
»Oh, das Material ist hervorragend!«, erklärte Mr. Lovington stolz. »Unsere Pferde entstammen ausgezeichneten Zuchtlinien, wir haben sehr gute Stuten und lassen von internationalen Champions besamen. Das ist nicht das Problem. Es ist mehr … die Ausbildung …«
»Sie hatten bisher keinen fest angestellten Trainer?«, fragte Emilys Mutter.
Mr. Lovington verzog das Gesicht. »Doch, wir haben einen fest angestellten Fahrer, einen Lehrling und einen Trainer. Nur … sind die Leute nicht besonders fähig. Sie verstehen nicht, aus den Pferden das Beste rauszuholen. Kein internationaler Standard, Sie verstehen? Keine modernen Trainingsmethoden … Ich meine, wir haben alle Hilfsmittel hier, aber die Leute wissen einfach nicht, wie man damit umgeht. Da wurde dann mal schnell auf Blinker verzichtet …«
»Es ist eben immer eine Gratwanderung zwischen ›hart rannehmen‹ und ›Überforderung‹«, bemerkte Johanna.
»Oder Unterforderung«, ergänzte Mr. Lovington.
Emily hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Deshalb hatten sich die Lovingtons also für ihre Mutter entschieden. Johanna Reiser verstand sich auf die unterschiedlichsten Methoden zur Gangmanipulation ihrer Rennpferde. Dazu gehörten Hilfszügel und Scheuklappen, der gezielte Einsatz der Peitsche und der verschiedenen, zum Teil sehr scharfen Mundstücke. Johanna trieb es den Pferden aus, im Training zu trödeln oder anzugaloppieren, wenn es ihnen zu anstrengend wurde, im Renntempo zu traben. Sie brachte sowohl ihre Pferde als auch die Fahrer, die sie ausbildete, zu Höchstleistungen, und sie genoss dafür hohes Ansehen.
Emily hingegen sah in die Augen der Tiere, wenn sie vom Training kamen. Sie streichelte über zitternde Muskeln, kühlte geschwollene Zungen und strich Salbe auf wunde Maulwinkel. Meist konnte sie sich über die Siege ihrer Schützlinge nur bedingt freuen. Es war ihr sehr viel wichtiger, dass die Pferde sie beim Eintreten in den Stall mit einem Wiehern begrüßten, als dass sie ein Rennen gewannen. Zumal wenn der Sieg mit Angst und Schmerzen erkauft war.
»Interessierst du dich denn auch für Pferde?«, wandte Mr. Lovington sich jetzt an sie. »Oder hast du ganz andere Hobbys?«
»Ich mag Pferde sehr gern«, erklärte Emily. »Aber ich … also, ich würde lieber reiten als fahren …«
Mr. Lovington nickte. »Dann wirst du dich mit meinem Sohn gut verstehen. Wallace reitet Springturniere. Wir haben drei Reitpferde für ihn im Stall. Vielleicht kannst du ihm ja helfen, sie zu bewegen.«
Emilys Herz machte einen Sprung. Ihre Mutter hatte ihr nicht erzählt, dass die Lovingtons auch Warmblüter hielten.
»Ich kann leider nicht gut reiten«, gab sie dann allerdings zu. »Ich hatte zwar Reitstunden, aber …«
»Nun, wir werden sehen«, meinte Mr. Lovington. »Für das Pony bist du schon zu groß, die eine Stute dagegen ist schon älter und recht brav. Vielleicht gibt Wallace’ Trainer dir noch ein paar Stunden.«
Ein Pony hatten die Lovingtons also auch noch. Emilys Spannung nahm immer mehr zu. Sie brannte darauf, den neuen Stall und die Pferde kennenzulernen.
Ohakune war ein kleiner Ort, vor allem berühmt für seine Karottenproduktion, wie Mr. Lovington gut gelaunt erzählte. Das wichtigste Karottenanbaugebiet in ganz Neuseeland.
»Dann können Ihre Pferde ja viele Möhren fressen«, meinte Emily, bevor Mr. Lovington weiter ausführte, dass der Ort auch touristisch interessant war, da er Zugang zu zwei Nationalparks bot. Sogar Skigebiete gab es in den Bergen ringsum.
»Und er hat eine Highschool«, erklärte Mr. Lovington, was Emily schon wusste. Ihre Mutter hatte sie von Deutschland aus dort angemeldet. Sie würde die achte Klasse besuchen.
»Verkehrt ein Schulbus zwischen Ihrer Farm und der Schule?«, erkundigte sich Johanna.
Mr. Lovington schüttelte den Kopf. »Nein, wir bringen die Jungs – und demnächst natürlich auch Emily – jeden Morgen mit dem Wagen hin. Es ist ja nicht weit, nur ein paar Kilometer.«
Emily horchte auf. Also war Wallace nicht ihr einziger Sohn. Ob der andere Trabrennen fuhr?
Bevor sie fragen konnte, kamen weiß eingezäunte Koppeln in Sicht. Emily hielt bei dem Anblick fast den Atem an. Sie kannte solche Holzzäune bislang nur aus dem Fernsehen. In Deutschland waren die meisten Weiden mit Elektrodraht eingefasst. Auch hier waren die Koppeln durch Elektrolitze zusätzlich gesichert. Die Anlage musste ein Vermögen gekostet haben, und sie erstreckte sich über etliche Hektar! Links und rechts der gepflegten Zufahrtsstraße gab es Weiden, auf denen jetzt im Winter allerdings keine Pferde standen, und schließlich durchfuhr man ein weiß gestrichenes, hufeisenförmiges Tor mit der Aufschrift LOVINGTON STUD- AND TRAINING STABLES.
»Ist das schön hier!«, entfuhr es Emily, als die Ställe in Sicht kamen sowie Ausläufe, Reitplätze und eine Aschenbahn zum Trainieren der Traber.
Jetzt entdeckte sie auch die ersten Pferde. Sie streckten ihre Köpfe durch die Luken der Außenboxen, einige drehten an einer Führanlage ihre Runden.
»Freut mich, dass es dir gefällt«, sagte Mr. Lovington freundlich. »Mrs. Reiser, Emily – willkommen auf Lovington Station.«
Emilys Mutter wollte zuerst die Ställe sehen, bevor sie sich ihre Unterkunft zeigen ließ. Emily, die nichts anderes erwartet hatte, folgte ihr und Mr. Lovington zu den lang gestreckten weißen Gebäuden, die frisch gestrichen aussahen. Ein großes Tor stand offen, um Licht und Luft auf die Stallgasse zu lassen, sämtliche Boxen hatten Luken nach draußen. Emily hätte Offenställe noch schöner gefunden. Viele Stallanlagen für Reitpferde boten den Tieren kleine Ausläufe vor den Boxen an, sodass sie nach Belieben drinnen oder draußen stehen konnten. In Rennställen war das jedoch nicht üblich. In Gelsenkirchen hatte es nur vergitterte Innenboxen gegeben, in denen es dunkel und stickig gewesen war.
Emily sah sich weiter um. Im Stalleingangsbereich waren Heu und Stroh gestapelt, dort stand auch der Futterwagen, der in der anliegenden Futterkammer gefüllt werden konnte. Im hinteren Bereich der Ställe lag die Geschirrkammer. Hier gab es zudem eine Besonnungsanlage für die Pferde, einen Untersuchungs- und einen Waschstand. Alles war blitzsauber, das Fell der Pferde glänzte. Die Boxen waren dick mit Stroh eingestreut. Auf der Stallgasse war eine junge Frau damit beschäftigt, eine dunkelbraune Stute zu bandagieren.
»Unsere Gloriana«, stellte Mr. Lovington das Pferd vor. »Zweijährig, sehr vielversprechend. Leider hat sie sich letzte Woche ein bisschen vertreten. Wie sieht es denn jetzt aus, Tiana, wird es besser?«
Die junge Frau richtete sich auf und grüßte. »Es ist eigentlich schon wieder gut, Mr. Brad. Wir wollen sie nur noch ein paar Tage schonen, und ich mache ihr sicherheitshalber weiter Umschläge …«
»Mit Tensolvet?«, fragte Emilys Mutter. »Doch nicht mit DMSO?«
Sie beugte sich über das Bein des Pferdes, konnte allerdings nichts erkennen, da die Bandage ja bereits angelegt war.
»Ein Hausmittel«, sagte die junge Frau. »Auf Kräuterbasis. Geheimrezept von Tommy.«
Johanna runzelte die Stirn. »Auch Naturarzneien können verbotene Substanzen enthalten«, erklärte sie und sah Mr. Lovington an. »Also bitte in Zukunft keine Experimente. Ich muss sicher sein, dass hier nicht Medikamente gegeben werden, die auf der Dopingliste stehen.«
Mr. Lovington nickte. »Darf ich vorstellen, dies ist Johanna Reiser, unsere neue Cheftrainerin«, erklärte er dann der jungen Frau. »Und dies ist Tiana, Mrs. Reiser. Unsere für den Rennstall zuständige Pflegerin. Sie kümmert sich vorbildlich um die Pferde. Ich bin sicher, dass sie keine verbotenen Medikamente verabreicht.«
»Da irren sich mitunter sogar Tierärzte«, bemerkte Emilys Mutter und streckte Tiana die Hand entgegen. »Auf gute Zusammenarbeit!«, sagte sie. »Wie halten Sie es hier mit der Anrede?« Sie wandte sich an Mr. Lovington. »Man nennt Sie Mr. Brad, Mr. Lovington?«
Tiana, eine mittelgroße, schlanke junge Frau mit hellbrauner Haut und exotischen Gesichtszügen, nickte. Emily schätzte sie auf Mitte zwanzig, vielleicht auch etwas älter. Sie hatte dunkle Augen und langes, glattes schwarzes Haar, das sie zu einem Zopf geflochten hatte, der über den halben Rücken hing. Ob sie Maori war? Emily hatte von den Ureinwohnern Neuseelands – streng genommen waren sie die ersten Einwanderer – gelesen. Sie lebten recht harmonisch mit den Europäern zusammen.
»Und meine Frau Miss Lorena«, ergänzte Mr. Lovington.
»Dann bin ich für das Stallpersonal Miss Johanna oder Miss Jo«, bestimmte Emilys Mutter und wandte sich dann wieder an Tiana.
»Kümmerst du dich um den Stall ganz allein? Ach, ich darf doch Du sagen?«
Tiana nickte. »Klar. Und nein, es kommen morgens noch zwei Jungen aus dem Ort zum Misten. Und dann …«
»Dann haben wir noch den Lehrling, wie ich schon sagte, und Tommy«, fiel ihr Mr. Lovington ins Wort und sah sich suchend um. »Wo ist der überhaupt?«
»Hier! Bei der Arbeit!« Aus einer Box im hinteren Stallbereich kam ein Junge, imitierte ein militärisches Strammstehen und präsentierte die Mistgabel wie ein Gewehr.
Mr. Lovington lachte. »Komm her, Tommy. Begrüß Miss Johanna. Tommy ist …«
»Lass mich raten«, sagte Johanna. »Du willst Trabrennfahrer werden?«
Tommy trat näher und grinste über sein ganzes Gesicht. Er war noch dunkelhäutiger als Tiana und ein ganzes Stück größer. Auch er zeigte die typischen Gesichtszüge der Maori, allerdings weniger ausgeprägt. Er hatte blitzende braune Augen und lockiges schwarzes Haar. Emily fand ihn auf Anhieb sympathisch.
»Eigentlich Tierarzt«, erklärte er und hielt Johanna die Hand hin.
»Tommy ist hier Praktikant«, erläuterte Mr. Lovington. »Er stammt von den Chatham-Inseln, seine Eltern haben dort eine Traberzucht. Leider gibt es auf den Chathams mehr Rennbahnen als weiterführende Schulen. Tommy wohnt deshalb bei uns, geht mit Wallace zusammen zur Schule und versucht, nebenbei so viel über Trabrennen aufzuschnappen wie nur eben möglich. Stimmt’s, Tommy?«
Tommys Miene verdüsterte sich, doch er widersprach nicht.
»Du fährst also?«, fragte Johanna. »Und ich werde dich trainieren?« Tommy nickte. »Gut«, fuhr sie fort. »Dann sehen wir uns morgen um sieben auf der Bahn, und du zeigst mir, was du kannst.«
Tommys Miene verdüsterte sich zusehends, immerhin waren noch Winterferien. Dennoch bejahte er beflissen.
»Desgleichen natürlich der Lehrling und der angestellte Fahrer. Ich gehe davon aus, der fängt auch früh an?«, ergänzte Emilys Mutter.
»Bobs und Robin kommen um acht«, sagte Mr. Lovington. »Sie wohnen beide im Ort.«
»Ab übermorgen kommen sie um sechs und machen die ersten Pferde fertig. Wir beginnen um sieben. Sie haben doch eine Flutlichtanlage, oder?« Mr. Lovington bejahte. »Dann brauchen wir auch nicht zu warten, bis es hell wird«, schloss Johanna.
Sie schien den Stallbesuch damit beenden zu wollen und wandte sich mit Mr. Lovington zum Gehen. Missvergnügt bemerkte Emily, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, auch sie kurz vorzustellen.
Also entschied sie entschlossen, das selbst zu übernehmen.
»Ich bin übrigens Emily, Miss … Miss Johannas Tochter«, sagte sie und erntete ein freundliches Lächeln von Tiana und ein breites Grinsen von Tommy.
»Und ich dachte schon, du wärst ihr Schatten«, bemerkte er. »Weitgehend unbeachtet, aber leider angenäht.«
Emily schüttelte den Kopf. »Meine Mom«, beschied sie ihn, »kann eine ganze Menge. Aber Nähen gehört eher nicht dazu. Ich bin also frei, wenn die Sonne nicht scheint. Und die scheint hier doch eher selten, oder?«
Tommy und Tiana lachten.
»Magst du Pferde?«, fragte Tiana.
Emily nickte. »Auch schon früh um sieben Uhr«, erklärte sie. »Obwohl ich zugeben muss, dass meine Liebe zunimmt, je später es wird. Wenn’s euch nichts ausmacht, würde ich morgen gern ausschlafen. Sonst komme ich vor der Schule und helfe euch im Stall.«
Tiana blickte sie verwundert an. »Das musst du aber nicht«, sagte sie vorsichtig. »Mr. Brad …«
»Der wird schon nichts dagegen haben«, meinte Tommy. »Und wir erst recht nicht. Wir sind für jede Hilfe dankbar. Man sieht sich!« Er winkte Emily zu und verschwand wieder im hinteren Stallbereich.
Tiana führte die Stute Gloriana in ihre Box.
Emily streichelte die Nase der jungen Stute. Es tat immer gut ein Pferd zu berühren. »Wo sind Mr. Brad und meine Mutter wohl hin?«, fragte sie Tiana.
»Na, wohin wohl?«, antwortete Tommy, der nun mit einer Mistkarre auf sie zukam. »Mr. Brad wird ihr den Palast zeigen, den ihr ab heute bewohnen sollt. Miss Lorena wollte für andere Räumlichkeiten sorgen, aber er meinte, das ginge schon. Ich hoffe, du hast ein gutes Verhältnis zu deiner Mutter – ein enges hast du jetzt auf jeden Fall!«
Emily wusste nicht recht, wie sie das verstehen sollte, es wurde ihr jedoch schnell klar, als sie die Trainerwohnung betrat, die sich in einem Stallanbau befand. Sie war blitzblank, in hellen Farben gehalten und zweckmäßig möbliert. Allerdings war sie winzig. Eigentlich bestand sie nur aus einer offenen Küche, die in einen kleinen Wohnbereich überging, und einem Schlafzimmer, in das kaum mehr passte als das Bett, das darin stand, ein Schrank und ein Nachttisch. Dann gab es noch ein kleines Bad.
»Hier sollen wir wohnen?«, brach es aus Emily heraus. »Zusammen?«
Ihre Mutter, die bereits den ersten Koffer öffnete – irgendjemand musste das Gepäck in die Wohnung gebracht haben –, nickte gelassen. Sie schien sich widerspruchslos mit der Lage abzufinden. »Hatten die Trainer, die bisher für die Leute gearbeitet haben, denn keine Familie?«, fragte Emily unwillig. »Es kann doch nicht sein, dass wir uns diese Bonsai-Wohnung teilen sollen!«
Johanna zuckte mit den Schultern. »Du kannst das Schlafzimmer haben«, meinte sie großzügig. »Ich zieh einfach das Sofa im Wohnzimmer aus. Das geht schon …«
Emily protestierte. »Mama, das geht überhaupt nicht!«, führte sie an. »In das Schlafzimmer passt nicht mal ein Schreibtisch … Ich werde hier zur Schule gehen, wenn ich dich daran mal erinnern darf. Ich muss Hausaufgaben machen, vielleicht auch mal zusammen mit anderen Schülern an einem Projekt arbeiten. Ich könnte also Besuch bekommen. Wo sollen wir uns dann hinsetzen?«
Johanna verdrehte die Augen. »Dann macht ihr das halt am Küchentisch. Oder du gehst in mein Büro. Meine Güte, wir können uns doch mal etwas einschränken …«
»Wir könnten uns auch eine Wohnung im Ort suchen«, regte Emily an.
Sie kämpfte mit einer Art Panik – wobei es gar nicht so sehr das Problem war, ihre Hausaufgaben am Küchentisch erledigen zu müssen. Eher hatte sie Angst davor, ohne jegliche Privatsphäre mit ihrer Mutter zusammenzuleben. Das sogenannte Schlafzimmer hatte keine Tür, die man schließen konnte, und auch die Küche war ja mit dem winzigen Wohnraum verbunden. Wenn ich hier mal allein sein will, dachte Emily niedergeschlagen, muss ich mich auf dem Klo einschließen.
Johanna schüttelte den Kopf. »Unmöglich, Emmy. Ich muss in der Nähe der Pferde sein. Zumindest in der ersten Zeit. Wenn sich hier alles eingespielt hat …«
»Eingespielt?«
Emily fand eigentlich nicht, dass der Stall der Lovingtons einen ungeordneten Eindruck machte. Die Ställe waren sauber, am schwarzen Brett hingen Trainingspläne, und Tiana und Tommy schienen zuverlässig und kompetent zu sein. Sicher wohnte Tommy hier und Tiana vielleicht ebenfalls. Emily fragte sich, ob ihre Unterkünfte wohl noch primitiver waren als die Wohnung der Cheftrainerin.
»Du wirst sowieso die meiste Zeit unterwegs sein«, behauptete Johanna. »Das sind doch hier alles Ganztagsschulen. Und hinterher wirst du sicher im Stall helfen wollen …«
Emily nickte. »Trotzdem …«, beharrte sie.
Johanna gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen. »Hör jetzt mal auf zu meckern und pack aus. Wir sind nachher bei den Lovingtons zum Essen eingeladen.«
Emily rieb sich die Augen. »Muss ich da mitkommen?«, fragte sie. »Ich bin so was von müde nach dem Flug – ich könnte im Stehen einschlafen. Außerdem sehe ich schrecklich aus …«
Ihre Mutter musterte sie kurz und widersprach ihr nicht. Ihr hatte die Reise viel weniger zugesetzt. Aus ihrem aufgesteckten braunen Haar hatten sich nur ein paar Strähnen gelöst. Zudem hatte sie während des zweiten Fluges – sie hatten bei einer Zwischenlandung in Dubai die Maschine gewechselt – die ganze Zeit geschlafen. Sie wirkte geradezu ausgeruht. Aber Mama, dachte Emily zwischen Bewunderung und Neid, ist sowieso nicht kleinzukriegen. Sie sah jünger aus, als sie war, ihre blauen Augen blickten immer hellwach. Würde sie nicht immer so streng dreinschauen, hatte Emily die Leute sagen hören, wäre Johanna Reiser eine außerordentlich schöne Frau.
Jetzt zuckte ihre Mutter mit den Schultern. »Ich kann dich entschuldigen. Die Lovingtons haben sicher Verständnis. Und du kannst dir hier ein Sandwich machen.« Sie wies auf die Küche. Emily stellte erfreut fest, dass ein Toastbrot auf dem Tisch lag. Im Kühlschrank fand sie Käse und Aufschnitt, Gemüse und Obst.
»Dann machen wir das so.«
Emily atmete auf. Endlich würde sie mal wieder allein sein. Sie war immer etwas angespannt, wenn sie mit ihrer Mutter zusammen war. Johanna war streng und erwartete stets korrektes Verhalten. Emily sollte genauso perfekt funktionieren wie ihre Pferde. Vor allem sollte sie Johanna nicht bei der Arbeit stören. Vermutlich war es ihrer Mutter ganz recht, dass sie an diesem ersten Abend in ihrer Wohnung blieb. Und Emily wollte nur schlafen.
Sie zog ihren Koffer ins Schlafzimmer und warf sich, noch angezogen, auf das Bett. Sie musste sofort eingeschlafen sein, denn als sie aufwachte, war ihre Mutter verschwunden. Draußen war es dunkel geworden, und Emily war jetzt hellwach. Ein Sandwich war eine gute Idee. Und eine Tasse Tee. Emily ging in die Küche und öffnete den Wasserhahn. Leider kam nichts heraus.
»Shit!«
Im Kühlschrank standen Milch und Limonade, aber Emily hätte jetzt zu gern etwas Warmes gehabt. Ob sie einfach in den Stall gehen und sich dort am Waschbecken etwas Wasser holen konnte? Eigentlich hätte sie auch gern geduscht …
Seufzend suchte sie im Küchenschrank nach einer Kanne und fand ein Litermaß. Damit verließ sie die Wohnung Richtung Stall, hörte allerdings gleich hinter der nächsten Tür im Wohngebäude Stimmen und Gelächter.
»Pass doch auf! Gleich ist hier alles voller Tomatensauce!« Das war Tiana.
»Rot wie das Blut und feucht wie die Tränen, die wir täglich unter dem Joch der Lovingtons vergießen«, sagte Tommy theatralisch.
Es hörte sich an, als hätten die beiden einen Heidenspaß. Kurz entschlossen klopfte Emily an die Tür.
Tiana öffnete fast sofort. »Du?«, fragte sie verwundert. »Seid ihr nicht drüben im Haupthaus zum Essen?«
Im Zimmer roch es aromatisch nach Tomatensauce und Oregano. Emily lief das Wasser im Mund zusammen.
»Ich wollte lieber hierbleiben«, erklärte sie. »Hab bis jetzt geschlafen. Und dann festgestellt, dass bei uns kein Wasser aus dem Hahn kommt …« Sie hielt Tiana ihr Litermaß entgegen.
»Ach, du Arme, da kannst du ja gar nicht duschen!«, meinte Tiana. »Und hast du keinen Hunger? Komm rein, wenn du es schaffst, dich klein zu machen. Ich hab Spaghetti gekocht.«
Emily ließ sich das nicht zweimal sagen, obwohl sie wirklich fast einen Schuhanzieher brauchte, um auch noch in das winzige Zimmer zu passen. Es enthielt eine Küchenzeile, einen kleinen Tisch mit einem Stuhl und ein Bett, dazu Schrank und Nachttisch. Tommy hatte es sich mit einem Teller Spaghetti mit Tomatensauce auf dem Bett gemütlich gemacht. Tianas Teller stand auf dem Tisch. Jetzt holte sie einen weiteren für Emily und gleich darauf schlangen alle drei einträchtig Nudeln in sich hinein. Tiana und Tommy saßen auf dem Bett und ließen Emily den einzigen Stuhl.
»Weil du neu bist«, erklärte Tommy großzügig. »Soll ja keiner sagen, wir wären keine guten Gastgeber.« Tiana kicherte.
»Müsstest du nicht auch im Haus sein?«, wandte sich Emily an Tommy. »Mr. Lovington sagte doch, du wohnst bei ihnen. Ich meine … wenn deine Eltern mit den Lovingtons befreundet sind, dann fällst du doch eher unter ›Besuch‹ als unter ›Arbeitssklave‹.«
Tommy lachte. »Mein Stamm ist es gewohnt, versklavt zu werden«, sagte er würdevoll. »Da stehen wir drüber. Und Besuch … Also dafür, würde ich sagen, ist den Lovingtons meine Haut zu dunkel. Oder unser Betrieb zu Hause zu klein, um wirklich zu zählen. Allerdings haben wir da einen Hengst, auf den sind sie richtig scharf! Am liebsten würden sie ihn uns abkaufen, also machen sie gut Wetter.« Er grinste. »Sie werden ihn bloß nicht bekommen. Ein paar Portionen Tiefkühlsperma, um drei oder vier Stuten zu decken, das ja. Aber Rekohu’s Pride bleibt auf Chatham Island. Verrat’s bloß niemandem! Mein Dad tut noch unentschlossen, bis ich mit der Schule fertig bin.«
»Seid ihr beide eigentlich Maori?«, wagte Emily zu fragen. Sie hoffte, dass sie damit nicht aneckte.
Tiana nickte allerdings ganz selbstverständlich, während Tommy vehement verneinte.
»Ich bin Moriori«, erklärte er stolz. »Mein Stamm hat vor ein paar Hundert Jahren die Chatham-Inseln besiedelt. Und eine ganz andere Kultur entwickelt als die Maori hier auf Aotearoa.«
»Auf was?«, fragte Emily.
»Aotearoa. Das ist der Maori-Name für Neuseeland«, verriet Tiana, bevor Tommy weitersprach.
»Wir waren sehr friedlich, sehr gastfreundlich, was uns dann leider Anfang des 19. Jahrhunderts zum Verhängnis wurde. Ein paar Hundert Maori haben übergesetzt, ein Massaker unter den Moriori angerichtet und mein Volk versklavt.«
»Was er mir heute noch vorwirft!«, bemerkte Tiana theatralisch.
Tommy grinste. »Sie arbeitet die Schuld ihres Volkes ab, indem sie mich ab und zu bekocht«, erklärte er. »Jedenfalls sind die Moriori in den folgenden hundert Jahren fast ausgestorben. Es gibt keine reinblütigen Vertreter des Stammes mehr, allerdings …«
»Jetzt wird er gleich damit angeben, dass er von dem letzten reinblütigen Moriori abstammt«, neckte Tiana. »Tommy Salomon. Lebte irgendwie fünf Generationen zuvor …«
»Aber ich bin nach ihm benannt«, trumpfte Tommy auf. »Und wir züchten immer noch Pferde.«
Tame Horomona Rehe oder Tommy Salomon, so erfuhr Emily gleich darauf, hatte beim Aufbau der Rennsportszene auf den Chathams eine wichtige Rolle gespielt.
»Dann seid ihr der Sklaverei also irgendwann entkommen«, schloss Emily.
Tommy nickte und fiel wieder in den dramatischen Tonfall, der Tiana und inzwischen auch Emily sofort zum Kichern brachte. »Jede Knechtschaft – ich sage es mir jeden Tag aufs Neue – hat einmal ein Ende. Auch ich werde eines Tages dieses dunkle Tal verlassen und in die himmlischen Sphären der tiermedizinischen Fakultät von Auckland aufgenommen werden …«
»Die Moriori haben eine Klage vor dem Waitangi-Tribunal – das ist eine Untersuchungskommission zur Regelung von Maori-Angelegenheiten – gewonnen und ihr Land zurückerhalten«, beendete Tiana die Geschichtsstunde.
Emily interessierte das eigentlich weniger als Tommys persönliche Geschichte.
»Du willst also gar kein Trabrennfahrer werden?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Tommy entschlossen. »Ich will Tiermedizin studieren. Und mich auf Pferde spezialisieren. Vielleicht übernehme ich sogar unser Gestüt, wie mein Vater das will, und praktiziere auf Chatham. Als Rennbahntierarzt kann man eine Menge tun.«
»Für die Pferde?« Emilys Herz klopfte heftig. Sollte sie hier einen Gleichgesinnten gefunden haben?
»Ja«, sagte Tommy. »Was manche Trainer und Fahrer so anstellen, nur um zu gewinnen, das ist einfach nur gruselig.«
»Bei uns im Stall werden die Pferde aber korrekt behandelt«, warf Tiana ein. »Bei Mr. Paul gab es keine Tierquälerei. Bobs dagegen, unser Fahrer, ist manchmal hart an der Grenze und ein ziemlicher Idiot. Ich hoffe, deine Mom sieht das genauso und kriegt ihn unter Kontrolle.«
Emily nahm an, dass Mr. Paul der frühere Trainer war. Sie holte tief Luft. »Was du gruselig nennst … nennt meine Mom Leistungsoptimierung«, sagte sie leise. »Und sie wird dem Fahrer sicher keine Eigenmächtigkeiten durchgehen lassen. Genauso wenig wie den Pferden …«