Meine Dramen, Band 1

 

Hugo von Hofmannsthal

 

 

 

 

Inhalt:

 

 

Hugo von Hofmannsthal – Biografie und Bibliografie

 

Der Tod des Tizian

Dramatis Personae.

 

Der Tor und der Tod

Personen.

 

Elektra

Dramatis Personae.

 

Alkestis

Personen.

Prolog

 

Das Salzburger große Welttheater

Personen.

 

Arabella

Personen.

Erster Aufzug

Zweiter Aufzug

Dritter Aufzug

 

 

 

 

Meine Dramen, Band 1, H. von Hofmannsthal

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849655969

 

www.jazzybee-verlag.de

admin@jazzybee-verlag.de


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Hugo von Hofmannsthal – Biografie und Bibliografie

 

Dichter, geb. 1. Febr. 1874 in Wien, verstorben am 15. Juli 1929 in Rodaun (bei Wien). Studierte daselbst erst die Rechte, dann neuere Literaturgeschichte und Sprachen und widmete sich bald ausschließlich der Schriftstellerei. Schon im Alter von 18 Jahren veröffentlichte er unter dem Pseudonym Theophil Morren die feinsinnige dramatisch-lyrisch-reflektierende Studie »Gestern« (Leipz. 1892; 2. Aufl., Berl. 1904). Im selben Jahre gelang ihm das kleine Drama »Der Tod des Tizian« (gedruckt Berl. 1901), voll ergreifender Betrachtungen über die Schönheits- und Lebensfülle der Werke Tizians. In der kleinen dramatischen Dichtung »Der Tor und der Tod« (2. Aufl., Berl. 1900) ist die Gefühlsverkümmerung eines Décadents in hinreißender Sprache geschildert. In dem »Theater in Versen« (Berl. 1899) vereinigte H. das einaktige Drama »Die Frau im Fenster«, die Erdrosselung einer treulosen Frau durch ihren Ehemann darstellend und durch magische Traumstimmung fesselnd, ferner »Die Hochzeit der Sobeide«, worin der tragische Untergang einer Frau geschildert wird, die den gediegenen Ehegatten verschmäht und sich einem nichtswürdigen Gecken hingibt, endlich »Der Abenteurer und die Sängerin«, das, wie mehrere Stücke Hofmannsthals, in Venedig spielt und den Bankrott ästhetisch-genußsüchtiger Lebensführung schildert. Außer dem weniger bedeutenden Drama »Der Kaiser und die Hexe« (Berl. 1900) verfaßte H. noch eine grell übertreibende Bearbeitung der »Elektra« des Sophokles (2. Aufl., das. 1904). H. ist ausgezeichnet durch lyrische Gefühlsverfeinerung und symbolisch ausdrucksvollen Stil und entfernt sich weit von der naturalistischen Technik der Neuzeit.

 

Wichtige Werke:

 

 

 

Der Tod des Tizian

 

Ein dramatisches Fragment

 

 

Dramatis Personae.

 

 

Der Prolog.

 

Filippo Pomponio Vecellio, genannt Tizianello, des Meisters Sohn.

Giocondo.

Desiderio.

Gianino, er ist 16 Jahre und sehr schön.

Batista.

Antonio.

Paris.

Lavinia, eine Tochter des Meisters.

Cassandra.

Lisa.

 

Spielt im Jahre 1576, da Tizian neunundneunzigjährig starb.

 

 

Der Vorhang, ein Gobelin, ist herabgelassen. Im Proscenium steht die Büste Böcklins auf einer Säule; zu deren Fuß ein Korb mit Blumen und blühenden Zweigen.

In die letzten Takte der Symphonie tritt der Prolog auf, seine Fackelträger hinter ihm.

Der Prolog ist ein Jüngling; er ist venezianisch gekleidet, ganz in schwarz, als ein Trauernder.

 

DER PROLOG.

Nun schweig, Musik! nun ist die Szene mein,

Und ich will klagen, denn mir steht es zu!

Von dieser Zeiten Jugend fließt der Saft

In mir; und er, des Standbild auf mich blickt,

War meiner Seele so geliebter Freund!

Und dieses Guten hab ich sehr bedurft,

Denn Finsternis ist viel in dieser Zeit,

Und wie der Schwan, ein selig schwimmend Tier,

Aus der Najade triefend weißen Händen

Sich seine Nahrung küßt, so bog ich mich

In dunklen Stunden über seine Hände

Um meiner Seele Nahrung: tiefen Traum.

Schmück ich dein Bild mit Zweig und Blüten nur?

Und du hast mir das Bild der Welt geschmückt,

Und aller Blütenzweige Lieblichkeit

Mit einem solchen Glanze überhöht,

Daß ich mich trunken an den Boden warf

Und jauchzend fühlte, wie sie ihr Gewand

Mir sinken ließ, die leuchtende Natur!

 

Hör mich, mein Freund! ich will nicht Herolde

Aussenden, daß sie deinen Namen schrein

In die vier Winde, wie wenn Könige sterben:

Ein König läßt dem Erben seinen Ruf

Und einem Grabstein seines Namens Schall. –

Doch du warst solch ein großer Zauberer,

Dein Sichtbares ging fort, doch weiß ich nicht,

Was da und dort nicht alles von dir bleibt,

Mit heimlicher fortlebender Gewalt

Sich dunklen Auges aus der nächtigen Flut

Zum Ufer hebt – oder sein haarig Ohr

Hinter dem Efeu horchend reckt, drum will ich

Nie glauben, daß ich irgendwo allein bin,

Wo Bäume oder Blumen sind, ja selbst

Nur schweigendes Gestein und kleine Wölkchen

Unter dem Himmel sind; leicht daß ein Etwas,

Durchsichtiger wie Ariel, mir im Rücken

Hingaukelt, denn ich weiß: geheimnisvoll

War zwischen dir und mancher Kreatur

Ein Bund geknüpft, ja! und des Frühlings Au

Siehe, sie lachte dir so wie ein Weib

Den anlacht, dem sie in der Nacht sich gab!

 

Ich meint' um dich zu klagen; und mein Mund

Schwillt an von trunkenem und freudigem Wort:

Drum ziemt mir nun nicht länger hier zu stehen.

Ich will den Stab dreimal zu Boden stoßen

Und dies Gezelt mit Traumgestalten füllen.

Die will ich mit der Last der Traurigkeit

So überbürden, daß sie schwankend gehn,

Damit ein jeder weinen mag und fühlen:

Wie große Schwermut allem unsren Tun

Ist beigemengt.

Es weise euch ein Spiel

Das Spiegelbild der bangen, dunklen Stunde,

Und großen Meisters trauervollen Preis

Vernehmet nun aus schattenhaftem Munde!

 

Er geht ab, die Fackelträger hinter ihm.

Das Proscenium liegt in Dunkel. Die Symphonie fällt wieder ein. Das Standbild verschwindet.

Darauf ertönt das dreimalige Niederstoßen eines Stabes. Der Gobelin teilt sich und enthüllt die Szene.

 

 

Die Szene ist auf der Terrasse von Tizians Villa, nahe bei Venedig. Die Terrasse ist nach rückwärts durch eine steinerne, durchbrochene Rampe abgeschlossen, über die in der Ferne die Wipfel von Pinien und Pappeln schauen. Links rückwärts läuft eine (unsichtbare) Treppe in den Garten; ihr Ausgang vor der Rampe ist durch zwei Marmorvasen markiert. Die linke Seite der Terrasse fällt steil gegen den Garten ab. Hier überklettern Efeuund Rosenranken die Rampe und bilden mit hohem Gebüsch des Gartens und hereinhangenden Zweigen ein undurchdringliches Dickicht.

Rechts füllen Stufen fächerförmig die rückwärtige Ecke aus und führen zu einem offenen Altan. Von diesem tritt man durch eine Tür, die ein Vorhang schließt, ins Haus. Die Wand des Hauses, von Reben und Rosen umsponnen, mit Büsten geziert, Vasen an den Fenstersimsen, aus denen Schlingpflanzen quellen, schließt die Bühne nach rechts ab.

 

 

Spätsommermittag. Auf Polstern und Teppichen lagern auf den Stufen, die rings zur Rampe führen, Desiderio, Antonio, Batista und Paris. Alle schweigen, der Wind bewegt leise den Vorhang der Tür. Tizianello und Gianino kommen nach einer Weile aus der Tür rechts. Desiderio, Antonio, Batista und Paris treten ihnen besorgt und fragend entgegen und drängen sich um sie. Nach einer kleinen Pause.

 

PARIS.

Nicht gut?

GIANINO mit erstickter Stimme.

Sehr schlecht.

 

Zu Tizianello, der in Tränen ausbricht.

 

Mein armer lieber Pippo!

BATISTA.

Er schläft?

GIANINO.

Nein, er ist wach und phantasiert

Und hat die Staffelei begehrt.

ANTONIO.

Allein

Man darf sie ihm nicht geben, nicht wahr, nein?

GIANINO.

Ja, sagt der Arzt, wir sollen ihn nicht quälen

Und geben, was er will, in seine Hände.

TIZIANELLO ausbrechend.

Heut oder morgen ists ja doch zu Ende!

GIANINO.

Er darf uns länger, sagt er, nicht verhehlen ...

PARIS.

Nein, sterben, sterben kann der Meister nicht!

Da lügt der Arzt, er weiß nicht, was er spricht.

DESIDERIO.

Der Tizian sterben, der das Leben schafft!

Wer hätte dann zum Leben Recht und Kraft?

BATISTA.

Doch weiß er selbst nicht, wie es um ihn steht?

TIZIANELLO.

Im Fieber malt er an dem neuen Bild,

In atemloser Hast, unheimlich, wild;

Die Mädchen sind bei ihm und müssen stehn,

Uns aber hieß er aus dem Zimmer gehn.

ANTONIO.

Kann er denn malen? Hat er denn die Kraft?

TIZIANELLO.

Mit einer rätselhaften Leidenschaft,

Die ich beim Malen nie an ihm gekannt,

Von einem martervollen Zwang gebannt –

 

Ein Page kommt aus der Tür rechts, hinter ihm Diener; alle erschrecken.

 

TIZIANELLO, GIANINO, PARIS.

Was ist?

PAGE.

Nichts, nichts. Der Meister hat befohlen,

Daß wir vom Gartensaal die Bilder holen.

TIZIANELLO.

Was will er denn?

PAGE.

Er sagt, er muß sie sehen ...

»Die alten, die erbärmlichen, die bleichen,

Mit seinem neuen, das er malt, vergleichen ...

Sehr schwere Dinge seien ihm jetzt klar,

Es komme ihm ein unerhört Verstehen,

Daß er bis jetzt ein matter Stümper war ...«

Soll man ihm folgen?

TIZIANELLO.

Gehet, gehet, eilt!

Ihn martert jeder Pulsschlag, den ihr weilt.

 

Die Diener sind indessen über die Bühne gegangen, an der Treppe holt sie der Page ein. Tizianello geht auf den Fußspitzen, leise den Vorhang aufhebend, hinein. Die andern gehen unruhig auf und nieder.

 

ANTONIO halblaut.

Wie fürchterlich, dies letzte, wie unsäglich ...

Der Göttliche, der Meister, lallend, kläglich ...

TIZIANELLO zurückkommend.

Jetzt ist er wieder ruhig, und es strahlt

Aus seiner Blässe, und er malt und malt.

In seinen Augen ist ein guter Schimmer.

Und mit den Mädchen plaudert er wie immer.

ANTONIO.

So legen wir uns auf die Stufen nieder

Und hoffen bis zum nächsten Schlimmern wieder.

 

Sie lagern sich auf den Stufen. Tizianello spielt mit Gianinos Haar, die Augen halb geschlossen.

 

BATISTA halb für sich.

Das Schlimmre ... dann das Schlimmste endlich ... nein.

Das Schlimmste kommt, wenn gar nichts Schlimmres mehr,

Das tote, taube, dürre Weitersein ...

Heut ist es noch, als obs undenkbar wär ...

Und wird doch morgen sein.

 

Pause.

 

GIANINO.

Ich bin so müd.

PARIS.

Das macht die Luft, die schwüle, und der Süd.

TIZIANELLO lächelnd.

Der Arme hat die ganze Nacht gewacht!

GIANINO auf den Arm gestützt.

Ja, du ... die erste, die ich ganz durchwacht.

Doch woher weißt denn dus?

TIZIANELLO.

Ich fühlt es ja,

Erst war dein stilles Atmen meinem nah,

Dann standst du auf und saßest auf den Stufen ...

GIANINO.

Mir wars, als ginge durch die blaue Nacht,

Die atmende, ein rätselhaftes Rufen.

Und nirgends war ein Schlaf in der Natur.

Mit Atemholen tief und feuchten Lippen,

So lag sie, horchend in das große Dunkel,

Und lauschte auf geheimer Dinge Spur.

Und sickernd, rieselnd kam das Sterngefunkel

Hernieder auf die weiche, wache Flur.

Und alle Früchte, schweren Blutes, schwollen

Im gelben Mond und seinem Glanz, dem vollen,

Und alle Brunnen glänzten seinem Ziehn.

Und es erwachten schwere Harmonien.

Und wo die Wolkenschatten hastig glitten,

War wie ein Laut von weichen, nackten Tritten ...

Leis stand ich auf – ich war an dich geschmiegt –

 

Er steht erzählend auf, zu Tizianello geneigt.

 

Da schwebte durch die Nacht ein süßes Tönen,

Als hörte man die Flöte leise stöhnen,

Die in der Hand aus Marmor sinnend wiegt

Der Faun, der da im schwarzen Lorbeer steht

Gleich nebenan, beim Nachtviolenbeet.

Ich sah ihn stehen, still und marmorn leuchten;

Und um ihn her im silbrig – blauen Feuchten,

Wo sich die offenen Granaten wiegen,

Da sah ich deutlich viele Bienen fliegen

Und viele saugen, auf das Rot gesunken,

Von nächtgem Duft und reifem Safte trunken.

Und wie des Dunkels leiser Atemzug

Den Duft des Gartens um die Stirn mir trug,

Da schien es mir wie das Vorüberschweifen

Von einem weichen, wogenden Gewand

Und die Berührung einer warmen Hand.

In weißen, seidig – weißen Mondesstreifen

War liebestoller Mücken dichter Tanz,

Und auf dem Teiche lag ein weißer Glanz

Und plätscherte und blinkte auf und nieder.

Ich weiß es heut nicht, obs die Schwäne waren,

Ob badender Najaden weiße Glieder,

Und wie ein süßer Duft von Frauenhaaren

Vermischte sich dem Duft der Aloe ...

Das rosenrote Tönen wie von Geigen,

Gewoben aus der Sehnsucht und dem Schweigen,

Der Brunnen Plätschern und der Blüten Schnee,

Den die Akazien leise niedergossen,

Und was da war, ist mir in eins verflossen:

In eine überstarke, schwere Pracht,

Die Sinne stumm und Worte sinnlos macht.

ANTONIO.

Beneidenswerter, der das noch erlebt

Und solche Dinge in das Dunkel webt!

GIANINO.

Ich war in halbem Traum bis dort gegangen,

Wo man die Stadt sieht, wie sie drunten ruht,

Sich flüsternd schmieget in das Kleid von Prangen,

Das Mond um ihren Schlaf gemacht und Flut.

Ihr Lispeln weht manchmal der Nachtwind her,

So geisterhaft, verlöschend leisen Klang,

Beklemmend seltsam und verlockend bang.

Ich hört es oft, doch niemals dacht ich mehr ...

Da aber hab ich plötzlich viel gefühlt:

Ich ahnt in ihrem steinern stillen Schweigen,

Vom blauen Strom der Nacht emporgespült,

Des roten Bluts bacchantisch wilden Reigen,

Um ihre Dächer sah ich Phosphor glimmen,

Den Widerschein geheimer Dinge schwimmen.

Und schwindelnd überkams mich auf einmal:

Wohl schlief die Stadt: es wacht der Rausch, die Qual,

Der Haß, der Geist, das Blut: das Leben wacht.

Das Leben, das lebendige, allmächtge –

Man kann es haben und doch sein vergessen! ...

 

Er hält einen Augenblick inne.

 

Und alles das hat mich so müd gemacht:

Es war so viel in dieser einen Nacht.

DESIDERIO an der Rampe, zu Gianino.

Siehst du die Stadt, wie jetzt sie drunten ruht?

Gehüllt in Duft und goldne Abendglut

Und rosig helles Gelb und helles Grau,

Zu ihren Füßen schwarzer Schatten Blau,

In Schönheit lockend, feuchtverklärter Reinheit?

Allein in diesem Duft, dem ahnungsvollen,

Da wohnt die Häßlichkeit und die Gemeinheit,

Und bei den Tieren wohnen dort die Tollen;

Und was die Ferne weise dir verhüllt,

Ist ekelhaft und trüb und schal erfüllt

Von Wesen, die die Schönheit nicht erkennen

Und ihre Welt mit unsren Worten nennen ...

Denn unsre Wonne oder unsre Pein

Hat mit der ihren nur das Wort gemein ...

Und liegen wir in tiefem Schlaf befangen,

So gleicht der unsre ihrem Schlafe nicht:

Da schlafen Purpurblüten, goldne Schlangen,

Da schläft ein Berg, in dem Titanen hämmern –

Sie aber schlafen, wie die Austern dämmern.

ANTONIO halb aufgerichtet.

Darum umgeben Gitter, hohe, schlanke,

Den Garten, den der Meister ließ erbauen,

Darum durch üppig blumendes Geranke

Soll man das Außen ahnen mehr als schauen.

PARIS ebenso.

Das ist die Lehre der verschlungnen Gänge.

BATISTA ebenso.

Das ist die große Kunst des Hintergrundes

Und das Geheimnis zweifelhafter Lichter.

TIZIANELLO mit geschlossenen Augen.

Das macht so schön die halbverwehten Klänge,

So schön die dunklen Worte toter Dichter

Und alle Dinge, denen wir entsagen.

PARIS.

Das ist der Zauber auf versunknen Tagen

Und ist der Quell des grenzenlosen Schönen,

Denn wir ersticken, wo wir uns gewöhnen.

 

Alle verstummen. Pause. Tizianello weint leise vor sich hin.

 

GIANINO schmeichelnd.

Du darfst dich nicht so trostlos drein versenken,

Nicht unaufhörlich an das eine denken.

TIZIANELLO traurig lächelnd.

Als ob der Schmerz denn etwas andres wär

Als dieses ewige Dran – denken – Müssen,

Bis es am Ende farblos wird und leer ...

So laß mich nur in den Gedanken wühlen,

Denn von den Leiden und von den Genüssen

Hab längst ich abgestreift das bunte Kleid,

Das um sie webt die Unbefangenheit,

Und einfach hab ich schon verlernt zu fühlen.

 

Pause.

Gianino ist seitwärts auf den Stufen, den Kopf auf den Arm geschmiegt, eingeschlummert.

 

PARIS.

Wo nur Giocondo bleibt?

TIZIANELLO.

Lang vor dem Morgen

– Ihr schlieft noch – schlich er leise durch die Pforte,

Auf blasser Stirn den Kuß der Liebessorgen

Und auf den Lippen eifersüchtge Worte ...

 

Pagen tragen zwei Bilder über die Bühne: die Venus mit den Blumen und das große Bacchanal. Die Schüler erheben sich und stehen, solange die Bilder vorübergetragen werden, mit gesenktem Kopf, das Barett in der Hand.

Nach einer Pause, alle stehen.

 

DESIDERIO.

Wer lebt nach ihm, ein Künstler und Lebendiger,

Im Geiste herrlich und der Dinge Bändiger

Und in der Einfalt weise wie das Kind?

ANTONIO.

Wer ist, der seiner Weihe freudig traut?

BATISTA.

Wer ist, dem nicht vor seinem Wissen graut?

PARIS.

Wer will uns sagen, ob wir Künstler sind?

TIZIANELLO.

Er hat den regungslosen Wald belebt:

Und wo die braunen Weiher murmelnd liegen

Und Efeuranken sich an Buchen schmiegen,

Da hat er Götter in das Nichts gewebt:

Den Satyr, der die Syrinx tönend hebt,

Bis alle Dinge in Verlangen schwellen

Und Hirten sich den Hirtinnen gesellen ...

BATISTA.

Er hat den Wolken, die vorüberschweben,

Den wesenlosen, einen Sinn gegeben:

Der blassen, weißen schleierhaftes Dehnen

Gedeutet in ein blasses, süßes Sehnen;

Der mächt'gen goldumrandet schwarzes Wallen

Und runde, graue, die sich lachend ballen,

Und rosig silberne, die abends ziehn:

Sie haben Seele, haben Sinn durch ihn.

Er hat aus Klippen, nackten, fahlen, bleichen,

Aus grüner Wogen brandend weißem Schäumen,

Aus schwarzer Haine regungslosen Träumen

Und aus der Trauer blitzgetroffner Eichen

Ein Menschliches gemacht, das wir verstehen,

Und uns gelehrt, den Geist der Nacht zu sehen.

PARIS.

Er hat uns aufgeweckt aus halber Nacht

Und unsre Seelen licht und reich gemacht:

Und uns gewiesen, jedes Tages Fließen

Und Fluten als ein Schauspiel zu genießen,

Die Schönheit aller Formen zu verstehen

Und unsrem eignen Leben zuzusehen.

Die Frauen und die Blumen und die Wellen

Und Seide, Gold und bunter Steine Strahl

Und hohe Brücken und das Frühlingstal

Mit blonden Nymphen an kristallnen Quellen,

Und was ein jeder nur zu träumen liebt,

Und was uns wachend Herrliches umgibt:

Hat seine große Schönheit erst empfangen,

Seit es durch seine Seele durchgegangen.

ANTONIO.

Was für die schlanke Schönheit Reigentanz,

Was Fackelschein für bunten Maskenkranz,

Was für die Seele, die im Schlafe liegt,

Musik, die wogend sie in Rhythmen wiegt,

Und was der Spiegel für die junge Frau

Und für die Blüten Sonne licht und lau:

Ein Auge, ein harmonisch Element,

In dem die Schönheit erst sich selbst erkennt ...

Das fand Natur in seines Wesens Strahl.

»Erweck uns, mach aus uns ein Bacchanal!«

Rief alles Lebende, das ihn ersehnte

Und seinem Blick sich stumm entgegendehnte.

 

Während Antonio spricht, sind die drei Mädchen leise aus der Tür getreten und zuhörend stehen geblieben. Nur Tizianello, der zerstreut und teilnahmslos etwas abseits rechts steht, scheint sie zu bemerken. Lavinia trägt das blonde Haar im Goldnetz und das reiche Kleid einer venezianischen Patrizierin. Cassandra und Lisa, etwa 19- und 17jährig, tragen beide ein einfaches Gewand aus weißem, anschmiegendem, flutendem Stoff; nackte Arme mit goldenen Schlangenreifen am Oberarm; Sandalen, Gürtel aus Goldstoff. Cassandra ist aschblond, Lisa hat eine gelbe Rosenknospe im schwarzen Haar. Irgend etwas an ihr erinnert ans Knabenhafte, wie irgend etwas an Gianino ans Mädchenhafte erinnert. Hinter ihnen tritt ein Page aus der Tür, der einen getriebenen, silbernen Weinkrug und Becher trägt.

 

ANTONIO.

Daß uns die fernen Bäume lieblich sind,

Die träumerischen, dort im Abendwind ...

PARIS.

Und daß wir Schönheit sehen in der Flucht

Der weißen Segel in der blauen Bucht ...

TIZIANELLO zu den Mädchen, die er mit einem leichten Nicken begrüßt hat. –

 

Alle anderen drehen sich um.

 

Und daß wir eures Haares Duft und Schein

Und eurer Formen mattes Elfenbein

Und goldne Gürtel, die euch weich umwinden,

So wie Musik und wie ein Glück empfinden –

Das macht: Er lehrte uns die Dinge sehen ...

 

Bitter.

 

Und das wird man da drunten nie verstehen!

DESIDERIO zu den Mädchen.

Ist er allein? Soll niemand zu ihm gehen?

LAVINIA.

Bleibt alle hier. Er will jetzt niemand sehen.

TIZIANELLO.

O, käm ihm jetzt der Tod, mit sanftem Neigen,

In dieser schönen Trunkenheit, im Schweigen!

 

Alle schweigen.

Gianino ist erwacht und hat sich während der letzten Worte aufgerichtet. Er ist nun sehr blaß. Er blickt angstvoll von einem zum anderen.

Alle schweigen.

Gianino tut einen Schritt auf Tizianello zu. Dann hält er inne, zusammenschaudernd; plötzlich wirft er sich vor Lavinia hin, die vorne allein steht und drückt den Kopf an ihr Knie.

 

GIANINO.

Der Tod! Lavinia, mich faßt ein Grausen!

Ich war ihm nie so nah! Ich werde nie,

Nie mehr vergessen können, daß wir sterben!

Ich werde immer stumm daneben stehn,

Wo Menschen lachen, und mit starrem Blick

Dies denken: daß wir alle sterben müssen!

Ich sah einmal: sie brachten mit Gesang

Einen geführt, dem war bestimmt zu sterben.

Er schwankte hin und sah die Menschen alle

Und sah die Bäume, die im leisen Wind

Die süßen Schattenzweige schaukelten.

Lavinia, wir gehen solchen Weg!

Lavinia, ich schlief nur eine Weile

Dort auf den Stufen, und das erste Wort,

Da ich die Augen aufschlug, war der Tod!

 

Schaudernd.

 

Ein solches Dunkel senkt sich aus der Luft!

 

Lavinia steht hochaufgerichtet, den Blick auf den völlig hellen Himmel geheftet. Sie streift mit der Hand über Gianinos Haar.

 

LAVINIA.

Ich seh kein Dunkel. Ich seh einen Falter

Dort schwirren, dort entzündet sich ein Stern,

Und drinnen geht ein alter Mann zur Ruh.

Der letzte Schritt schafft nicht die Müdigkeit,

Er läßt sie fühlen.

 

Indem sie spricht, und der Tür des Hauses den Rücken wendet, hat dort eine unsichtbare Hand den Vorhang lautlos aber heftig zur Seite gezogen. Und alle, Tizianello voran, drängen lautlos und atemlos die Stufen empor, hinein.

 

LAVINIA ruhig weitersprechend, immer gehobener.

Grüße du das Leben!

Wohl dem, der von des Daseins Netz gefangen

Tief atmend und nicht grübelnd, wie ihm sei,

Hingibt dem schönen Strom die freien Glieder,

Und schönen Ufern trägt es ihn ...

 

Sie hält plötzlich inne und sieht sich um. Sie begreift, was geschehen ist, und folgt den anderen.

 

GIANINO noch auf den Knien, schaudernd vor sich hin.

Vorbei!

 

Er richtet sich auf und folgt den andern.

Der Vorhang fällt.

 

 

 

Der Tor und der Tod

 

 

Personen.

 

Der Tod.

Claudio, ein Edelmann.

Sein Kammerdiener,

Claudios Mutter,

Eine Geliebte des Claudio,

Ein Jugendfreund, Tote.

 

Claudios Haus.

Kostüm der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.

 

 

Studierzimmer des Claudio, im Empiregeschmack. Im Hintergrund links und rechts große Fenster, in der Mitte eine Glastüre auf den Balkon hinaus, von dem eine hängende Holztreppe in den Garten führt. Links eine weiße Flügeltür, rechts eine gleiche nach dem Schlafzimmer, mit einem grünen Samtvorhang geschlossen. Am Fenster links steht ein Schreibtisch, davor ein Lehnstuhl. An den Pfeilern Glaskasten mit Altertümern. An der Wand rechts eine gotische, dunkle, geschnitzte Truhe; darüber altertümliche Musikinstrumente. Ein fast schwarzgedunkeltes Bild eines italienischen Meisters. Der Grundton der Tapete licht, fast weiß; mit Stukkatur und Gold.

 

CLAUDIO allein. Er sitzt am Fenster. Abendsonne.

Die letzten Berge liegen nun im Glanz,

In feuchten Schmelz durchsonnter Luft gewandet,

Es schwebt ein Alabasterwolkenkranz

Zuhöchst, mit grauen Schatten, goldumrandet:

So malen Meister von den frühen Tagen

Die Wolken, welche die Madonna tragen.

Am Abhang liegen blaue Wolkenschatten,

Der Bergesschatten füllt das weite Tal

Und dämpft zu grauem Grün und Glanz der Matten;

Der Gipfel glänzt im vollen letzten Strahl.

Wie nah sind meiner Sehnsucht die gerückt,

Die dort auf weiten Halden einsam wohnen

Und denen Güter, mit der Hand gepflückt,

Die gute Mattigkeit der Glieder lohnen.

Der wundervolle wilde Morgenwind,

Der nackten Fußes läuft im Heidenduft,

Der weckt sie auf; die wilden Bienen sind

Um sie und Gottes helle, heiße Luft.

Es gab Natur sich ihnen zum Geschäfte

In allen ihren Wünschen quillt Natur,

Im Wechselspiel der frisch und müden Kräfte

Wird ihnen jedes warmen Glückes Spur.

Jetzt rückt der goldne Ball, und er versinkt

In fernster Meere grünlichem Kristall;

Das letzte Licht durch ferne Bäume blinkt,

Jetzt atmet roter Rauch, ein Glutenwall

Den Strand erfüllend, wo die Städte liegen,

Die mit Najadenarmen, flutenttaucht,

In hohen Schiffen ihre Kinder wiegen,

Ein Volk, verwegen, listig und erlaucht.

Sie gleiten über ferne, wunderschwere,

Verschwiegne Flut, die nie ein Kiel geteilt,

Es regt die Brust der Zorn der wilden Meere,

Da wird sie jedem Wahn und Weh geheilt.

So seh ich Sinn und Segen fern gebreitet

Und starre voller Sehnsucht stets hinüber,

Doch wie mein Blick dem Nahen näher gleitet,

Wird alles öd, verletzender und trüber;

Es scheint mein ganzes so versäumtes Leben,

Verlorne Lust und nie geweinte Tränen,

Um diese Gassen, dieses Haus zu weben

Und ewig sinnlos Suchen, wirres Sehnen.

 

Am Fenster stehend.

 

Jetzt zünden sie die Lichter an und haben

In engen Wänden eine dumpfe Welt

Mit allen Rausch- und Tränengaben

Und was noch sonst ein Herz gefangenhält.

Sie sind einander herzlich nah

Und härmen sich um einen, der entfernt;

Und wenn wohl einem Leid geschah,

So trösten sie ... ich habe Trösten nie gelernt.

Sie können sich mit einfachen Worten,

Was nötig zum Weinen und Lachen, sagen.

Müssen nicht an sieben vernagelte Pforten

Mit blutigen Fingern schlagen.

 

Was weiß denn ich vom Menschenleben?

Bin freilich scheinbar drin gestanden,

Aber ich hab es höchstens verstanden,

Konnte mich nie darein verweben.

Hab mich niemals daran verloren.

Wo andre nehmen, andre geben,

Blieb ich beiseit, im Innern stummgeboren.

Ich hab von allen lieben Lippen

Den wahren Trank des Lebens nie gesogen,

Bin nie, von wahrem Schmerz durchschüttert,

Die Straße einsam, schluchzend, nie! gezogen.

Wenn ich von guten Gaben der Natur

Je eine Regung, einen Hauch erfuhr,

So nannte ihn mein überwacher Sinn,

Unfähig des Vergessens, grell beim Namen.

Und wie dann tausende Vergleiche kamen,

War das Vertrauen, war das Glück dahin.

Und auch das Leid! zerfasert und zerfressen

Vom Denken, abgeblaßt und ausgelaugt!

Wie wollte ich an meine Brust es pressen,

Wie hätt ich Wonne aus dem Schmerz gesaugt:

Sein Flügel streifte mich, ich wurde matt,

Und Unbehagen kam an Schmerzes Statt ...

 

Aufschreckend.

 

Es dunkelt schon. Ich fall in Grübelei.

Ja, ja: die Zeit hat Kinder mancherlei.

Doch ich bin müd und soll wohl schlafen gehen.

 

Der Diener bringt eine Lampe, geht dann wieder.

 

Jetzt läßt der Lampe Glanz mich wieder sehen

Die Rumpelkammer voller totem Tand,

Wodurch ich doch mich einzuschleichen wähnte,

Wenn ich den graden Weg auch nimmer fand

In jenes Leben, das ich so ersehnte.

 

Vor dem Kruzifix.

 

Zu deinen wunden, elfenbeinern' Füßen,

Du Herr am Kreuz, sind etliche gelegen,

Die Flammen niederbetend, jene süßen,

Ins eigne Herz, die wundervoll bewegen,

Und wenn statt Gluten öde Kälte kam,

Vergingen sie in Reue, Angst und Scham.

 

Vor einem alten Bild.

 

Gioconda, du, aus wundervollem Grund

Herleuchtend mit dem Glanz durchseelter Glieder,

Dem rätselhaften, süßen, herben Mund,

Dem Prunk der träumeschweren Augenlider:

Gerad so viel verrietest du mir Leben,

Als fragend ich vermocht dir einzuweben!

 

Sich abwendend, vor einer Truhe.

 

Ihr Becher, ihr, an deren kühlem Rand

Wohl etlich Lippen selig hingen,

Ihr alten Lauten, ihr, bei deren Klingen

Sich manches Herz die tiefste Rührung fand,

Was gäb ich, könnt mich euer Bann erfassen,

Wie wollt ich mich gefangen finden lassen!

Ihr hölzern, ehern Schilderwerk,

Verwirrend, formenquellend Bilderwerk,

Ihr Kröten, Engel, Greife, Faunen,

Phantastsche Vögel, goldnes Fruchtgeschlinge,

Berauschende und ängstigende Dinge,

Ihr wart doch all einmal gefühlt,

Gezeugt von zuckenden, lebendgen Launen,

Vom großen Meer emporgespült,

Und wie den Fisch das Netz, hat euch die Form gefangen!

Umsonst bin ich, umsonst euch nachgegangen,

Von eurem Reize allzusehr gebunden:

Und wie ich eurer eigensinngen Seelen

Jedwede, wie die Masken, durchempfunden,

War mir verschleiert Leben, Herz und Welt,

Ihr hieltet mich, ein Flatterschwarm, umstellt,

Abweidend, unerbittliche Harpyen,

An frischen Quellen jedes frische Blühen ...

Ich hab mich so an Künstliches verloren,

Daß ich die Sonne sah aus toten Augen

Und nicht mehr hörte als durch tote Ohren:

Stets schleppte ich den rätselhaften Fluch,

Nie ganz bewußt, nie völlig unbewußt,

Mit kleinem Leid und schaler Lust

Mein Leben zu erleben wie ein Buch,

Das man zur Hälft noch nicht und halb nicht mehr begreift,

Und hinter dem der Sinn erst nach Lebendgem schweift –

Und was mich quälte und was mich erfreute,

Mir war, als ob es nie sich selbst bedeute,

Nein, künftgen Lebens vorgeliehnen Schein

Und hohles Bild von einem vollern Sein.

So hab ich mich in Leid und jeder Liebe

Verwirrt mit Schatten nur herumgeschlagen,

Verbraucht, doch nicht genossen alle Triebe,

In dumpfem Traum, es würde endlich tagen.

Ich wandte mich und sah das Leben an:

Darinnen Schnellsein nicht zum Laufen nützt

Und Tapfersein nicht hilft zum Streit; darin

Unheil nicht traurig macht und Glück nicht froh;

Auf Frag ohn Sinn folgt Antwort ohne Sinn;

Verworrner Traum entsteigt der dunklen Schwelle,

Und Glück ist alles, Stunde, Wind und Welle!

So schmerzlich klug und so enttäuschten Sinn

In müdem Hochmut hegend, in Entsagen

Tief eingesponnen, leb ich ohne Klagen

In diesen Stuben, dieser Stadt dahin.

Die Leute haben sich entwöhnt zu fragen

Und finden, daß ich recht gewöhnlich bin.

 

Der Diener kommt und stellt einen Teller Kirschen auf den Tisch, dann will er die Balkontüre schließen.

 

CLAUDIO.

Laß noch die Türen offen ... Was erschreckt dich?

DIENER.

Euer Gnaden glauben mirs wohl nicht.

 

Halb für sich, mit Angst.

 

Jetzt haben sie im Lusthaus sich versteckt.

CLAUDIO.

Wer denn?

DIENER.

Entschuldigen, ich weiß es nicht.

Ein ganzer Schwarm unheimliches Gesindel.

CLAUDIO.

Bettler?

DIENER.

Ich weiß es nicht.

CLAUDIO.

So sperr die Tür,

Die von der Gasse in den Garten, zu,

Und leg dich schlafen und laß mich in Ruh.

DIENER.

Das eben macht mir solches Graun. Ich hab

Die Gartentür verriegelt. Aber...

CLAUDIO.

Nun?

DIENER.

Jetzt sitzen sie im Garten. Auf der Bank,

Wo der sandsteinerne Apollo steht,

Ein paar im Schatten dort am Brunnenrand,

Und einer hat sich auf die Sphinx gesetzt.

Man sieht ihn nicht, der Taxus steht davor.

CLAUDIO.

Sinds Männer?

DIENER.

Einige. Allein auch Frauen.

Nicht bettelhaft, altmodisch nur von Tracht,

Wie Kupferstiche angezogen sind.

Mit einer solchen grauenvollen Art,

Still dazusitzen und mit toten Augen

Auf einen wie in leere Luft zu schauen,

Das sind nicht Menschen. Euer Gnaden sei'n

Nicht ungehalten, nur um keinen Preis

Der Welt möcht ich in ihre Nähe gehen.

So Gott will, sind sie morgen früh verschwunden;

Ich will – mit gnädiger Erlaubnis –jetzt

Die Tür vom Haus verriegeln und das Schloß

Einsprengen mit geweihtem Wasser. Denn

Ich habe solche Menschen nie gesehn,

Und solche Augen haben Menschen nicht.

CLAUDIO.

Tu, was du willst, und gute Nacht.

 

Er geht eine Weile nachdenklich auf und nieder. Hinter der Szene erklingt das sehnsüchtige und ergreifende Spiel einer Geige, zuerst ferner, allmählich näher, endlich warm und voll, als wenn es aus dem Nebenzimmer dränge.

 

Musik?

Und seltsam zu der Seele redende!

Hat mich des Menschen Unsinn auch verstört?

Mich dünkt, als hätt ich solche Töne

Von Menschengeigen nie gehört ...

 

Er bleibt horchend gegen die rechte Seite gewandt.

 

In tiefen, scheinbar langersehnten Schauern

Dringts allgewaltig auf mich ein;

Es scheint unendliches Bedauern,

Unendlich Hoffen scheints zu sein,

Als strömte von den alten, stillen Mauern

Mein Leben flutend und verklärt herein.

Wie der Geliebten, wie der Mutter Kommen,

Wie jedes Langverlornen Wiederkehr,

Regt es Gedanken auf, die warmen, frommen,

Und wirft mich in ein jugendliches Meer:

Ein Knabe stand ich so im Frühlingsglänzen

Und meinte aufzuschweben in das All,

Unendlich Sehnen über alle Grenzen

Durchwehte mich in ahnungsvollem Schwall!

Und Wanderzeiten kamen, rauschumfangen,

Da leuchtete manchmal die ganze Welt,

Und Rosen glühten, und die Glocken klangen,

Von fremdem Lichte jubelnd und erhellt:

Wie waren da lebendig alle Dinge,

Dem liebenden Erfassen nahgerückt,

Wie fühlt ich mich beseelt und tief entzückt,

Ein lebend Glied im großen Lebensringe!

Da ahnte ich, durch mein Herz auch geleitet,

Den Liebesstrom, der alle Herzen nährt,

Und ein Genügen hielt mein Ich geweitet,

Das heute kaum mir noch den Traum verklärt.

Tön fort, Musik, noch eine Weile so

Und rühr mein Innres also innig auf:

Leicht wähn ich dann mein Leben warm und froh,

Rücklebend so verzaubert seinen Lauf:

Denn alle süßen Flammen, Loh an Loh

Das Starre schmelzend, schlagen jetzt herauf.

Des allzu alten, allzu wirren Wissens

Auf diesen Nacken vielgehäufte Last

Vergeht, von diesem Laut des Urgewissens,

Den kindisch – tiefen Tönen angefaßt.

Weither mit großem Glockenläuten

Ankündigt sich ein kaum geahntes Leben,

In Formen, die unendlich viel bedeuten,

Gewaltig – schlicht im Nehmen und im Geben.

 

Die Musik verstummt fast plötzlich.

 

Da, da verstummt, was mich so tief gerührt,

Worin ich Göttlich – Menschliches gespürt!

Der diese Wunderwelt unwissend hergesandt,

Er hebt wohl jetzt nach Kupfergeld die Kappe,

Ein abendlicher Bettelmusikant.

 

Am Fenster rechts.

 

Hier unten steht er nicht. Wie sonderbar!

Wo denn? Ich will durchs andre Fenster schaun ...

 

Wie er nach der Türe rechts geht, wird der Vorhang leise zurückgeschlagen, und in der Tür steht der Tod, den Fiedelbogen in der Hand, die Geige am Gürtel hängend. Er sieht Claudio, der entsetzt zurückfährt, ruhig an.

 

Wie packt mich sinnlos namenloses Grauen!

Wenn deiner Fiedel Klang so lieblich war,

Was bringt es solchen Krampf, dich anzuschauen?

Und schnürt die Kehle so und sträubt das Haar?

Geh weg! Du bist der Tod. Was willst du hier?

Ich fürchte mich. Geh weg! Ich kann nicht schrein.

 

Sinkend.

 

Der Halt, die Luft des Lebens schwindet mir!

Geh weg! Wer rief dich? Geh! Wer ließ dich ein?

DER TOD.

Steh auf! Wirf dies ererbte Graun von dir!

Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe!

Aus des Dionysos, der Venus Sippe,

Ein großer Gott der Seele steht vor dir.

Wenn in der lauen Sommerabendfeier

Durch goldne Luft ein Blatt herabgeschwebt,

Hat dich mein Wehen angeschauert,

Das traumhaft um die reifen Dinge webt;

Wenn Überschwellen der Gefühle

Mit warmer Flut die Seele zitternd füllte,

Wenn sich im plötzlichen Durchzucken

Das Ungeheure als verwandt enthüllte,

Und du, hingebend dich im großen Reigen,

Die Welt empfingest als dein eigen:

In jeder wahrhaft großen Stunde,

Die schauern deine Erdenform gemacht,

Hab ich dich angerührt im Seelengrunde

Mit heiliger, geheimnisvoller Macht.

CLAUDIO.

Genug. Ich grüße dich, wenngleich beklommen.

 

Kleine Pause.

 

Doch wozu bist du eigentlich gekommen?

DER TOD.

Mein Kommen, Freund, hat stets nur einen Sinn!

CLAUDIO.

Bei mir hats eine Weile noch dahin!

Merk: eh das Blatt zu Boden schwebt,

Hat es zur Neige seinen Saft gesogen!

Dazu fehlt viel: Ich habe nicht gelebt!

DER TOD.

Bist doch, wie alle, deinen Weg gezogen!

CLAUDIO.

Wie abgerißne Wiesenblumen

Ein dunkles Wasser mit sich reißt,

So glitten mir die jungen Tage,

Und ich hab nie gewußt, daß das schon Leben heißt.

Dann ... stand ich an den Lebensgittern,

Der Wunder bang, von Sehnsucht süß bedrängt,

Daß sie in majestätischen Gewittern

Auffliegen sollten, wundervoll gesprengt.

Es kam nicht so ... und einmal stand ich drinnen,

Der Weihe bar, und konnte mich auf mich

Und alle tiefsten Wünsche nicht besinnen,

Von einem Bann befangen, der nicht wich.

Von Dämmerung verwirrt und wie verschüttet,

Verdrießlich und im Innersten zerrüttet,

Mit halbem Herzen, unterbundnen Sinnen

In jedem Ganzen rätselhaft gehemmt,

Fühlt ich mich niemals recht durchglutet innen,

Von großen Wellen nie so recht geschwemmt,

Bin nie auf meinem Weg dem Gott begegnet,

Mit dem man ringt, bis daß er einen segnet.

DER TOD.

Was allen, ward auch dir gegeben,

Ein Erdenleben, irdisch es zu leben.

Im Innern quillt euch allen treu ein Geist,

Der diesem Chaos toter Sachen

Beziehung einzuhauchen heißt

Und euren Garten draus zu machen

Für Wirksamkeit, Beglückung und Verdruß.

Weh dir, wenn ich dir das erst sagen muß!

Man bindet und man wird gebunden,

Entfaltung wirken schwül und wilde Stunden;

In Schlaf geweint und müd geplagt,

Noch wollend, schwer von Sehnsucht, halbverzagt,

Tiefatmend und vom Drang des Lebens warm ...

Doch alle reif, fallt ihr in meinen Arm.

CLAUDIO.

Ich bin aber nicht reif, drum laß mich hier.

Ich will nicht länger töricht jammern,

Ich will mich an die Erdenscholle klammern,

Die tiefste Lebenssehnsucht schreit in mir.

Die höchste Angst zerreißt den alten Bann;

Jetzt fühl ich – laß mich – daß ich leben kann!

Ich fühls an diesem grenzenlosen Drängen:

Ich kann mein Herz an Erdendinge hängen.

Oh, du sollst sehn, nicht mehr wie stumme Tiere,

Nicht Puppen werden mir die andern sein!

Zum Herzen reden soll mir all das Ihre,

Ich dränge mich in jede Lust und Pein.

Ich will die Treue lernen, die der Halt

Von allem Leben ist ... Ich füg mich so,

Daß Gut und Böse über mich Gewalt

Soll haben und mich machen wild und froh.

Dann werden sich die Schemen mir beleben!

Ich werde Menschen auf dem Wege finden,

Nicht länger stumm im Nehmen und im Geben,

Gebunden werden – ja! – und kräftig binden.

 

Da er die ungerührte Miene des Todes wahrnimmt, mit steigender Angst.

 

Denn schau, glaub mir, das war nicht so bisher:

Du meinst, ich hätte doch geliebt, gehaßt ...

Nein, nie hab ich den Kern davon erfaßt,

Es war ein Tausch von Schein und Worten leer!

Da schau, ich kann dir zeigen: Briefe, sieh,

 

Er reißt eine Lade auf und entnimmt ihr Pakete geordneter alter Briefe.

 

Mit Schwüren voll und Liebeswort und Klagen;

Meinst du, ich hätte je gespürt, was die –

Gespürt, was ich als Antwort schien zu sagen?!

 

Er wirft ihm die Pakete vor die Füße, daß die einzelnen Briefe herausfliegen.

 

Da hast du dieses ganze Liebesleben,

Daraus nur ich und ich nur widertönte,

Wie ich, der Stimmung Auf- und Niederbeben

Mitbebend, jeden heilgen Halt verhöhnte!

Da! da! und alles andre ist wie das:

Ohn Sinn, ohn Glück, ohn Schmerz, ohn Lieb, ohn Haß!

DER TOD.

Du Tor! Du schlimmer Tor, ich will dich lehren,

Das Leben, eh dus endest, einmal ehren.

Stell dich dorthin und schweig und sieh hierher

Und lern, daß alle andern diesen Schollen

Mit lieberfülltem Erdensinn entquollen,

Und nur du selber schellenlaut und leer.

 

Der Tod tut ein paar Geigenstriche, gleichsam rufend. Er steht an der Schlafzimmertüre, im Vordergrund rechts, Claudio an der Wand links, im Halbdunkel. Aus der Tür rechts tritt die Mutter. Sie ist nicht sehr alt. Sie trägt ein langes schwarzes Samtkleid, eine schwarze Samthaube mit einer weißen Rüsche, die das Gesicht umrahmt. In den feinen blassen Fingern ein weißes Spitzentaschentuch. Sie tritt leise aus der Tür und geht lautlos im Zimmer umher.

 

DIE MUTTER.

Wie viele süße Schmerzen saug ich ein

Mit dieser Luft. Wie von Lavendelkraut

Ein feiner toter Atem weht die Hälfte

Von meinem Erdendasein hier umher:

Ein Mutterleben, nun, ein Dritteil Schmerzen,

Eins Plage, Sorge eins. Was weiß ein Mann

Davon?

 

An der Truhe.

 

Die Kante da noch immer scharf?

Da schlug er sich einmal die Schläfe blutig;

Freilich, er war auch klein und heftig, wild

Im Laufen, nicht zu halten. Da, das Fenster!

Da stand ich oft und horchte in die Nacht

Hinaus auf seinen Schritt mit solcher Gier,

Wenn mich die Angst im Bett nicht länger litt,

Wenn er nicht kam, und schlug doch zwei, und schlug

Dann drei und fing schon blaß zu dämmern an ...

Wie oft ... Doch hat er nie etwas gewußt –

Ich war ja auch bei Tag hübsch viel allein.

Die Hand, die gießt die Blumen, klopft den Staub

Vom Kissen, reibt die Messingklinken blank,

So läuft der Tag: allein der Kopf hat nichts

Zu tun: da geht im Kreis ein dumpfes Rad

Mit Ahnungen und traumbeklommenem,

Geheimnisvollem Schmerzgefühle, das

Wohl mit der Mutterschaft unfaßlichem

Geheimem Heiligtum zusammenhängt

Und allem tiefstem Weben dieser Welt

Verwandt ist. Aber mir ist nicht gegönnt,

Der süß beklemmend, schmerzlich nährenden,

Der Luft vergangnen Lebens mehr zu atmen.

Ich muß ja gehen, gehen...

 

Sie geht durch die Mitteltüre ab.

 

CLAUDIO.

Mutter!

DER TOD.

Schweig!

Du bringst sie nicht zurück.

CLAUDIO.

Ah! Mutter, komm!

Laß mich dir einmal mit den Lippen hier,

den zuckenden, die immer schmalgepreßt,

Hochmütig schwiegen, laß mich doch vor dir

So auf den Knieen ... Ruf sie! Halt sie fest!

Sie wollte nicht! Hast du denn nicht gesehn?!

Was zwingst du sie, Entsetzlicher, zu gehn?

DER TOD.

Laß mir, was mein. Dein war es.

CLAUDIO.

Ah! und nie

Gefühlt! Dürr, alles dürr! Wann hab ich je

Gespürt, daß alle Wurzeln meines Seins

Nach ihr sich zuckend drängten, ihre Näh

Wie einer Gottheit Nähe wundervoll

Durchschauert mich und quellend füllen soll

Mit Menschensehnsucht, Menschenlust – und – weh?!

 

Der Tod, um seine Klagen unbekümmert, spielt die Melodie eines alten Volksliedes. Langsam tritt ein junges Mädchen ein; sie trägt ein einfaches großgeblümtes Kleid, Kreuzbandschuhe, um den Hals ein Stückchen Schleier, bloßer Kopf.

 

DAS JUNGE MÄDCHEN.

Es war doch schön ... Denkst du nie mehr daran?

Freilich, du hast mir weh getan, so weh ...

Allein was hört denn nicht in Schmerzen auf?

Ich hab so wenig frohe Tag gesehn,

Und die, die waren schön als wie ein Traum!

Die Blumen vor dem Fenster, meine Blumen,

Das kleine wacklige Spinett, der Schrank,

In den ich deine Briefe legte und

Was du mir etwa schenktest ... alles das

– Lach mich nicht aus – das wurde alles schön

Und redete mit wachen lieben Lippen!

Wenn nach dem schwülen Abend Regen kam

Und wir am Fenster standen – ah, der Duft

Der nassen Bäume! – Alles das ist hin,

Gestorben, was daran lebendig war!

Und liegt in unsrer Liebe kleinem Grab.