ROMAN
Erste Auflage
© 2021 by Secession Verlag Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christian Ruzicska
Korrektorat: Peter Natter
www.secession-berlin.com
Gestaltung und Satz:
Erik Spiekermann und Marco Stölk, Berlin
Herstellung: Daniel Klotz, Berlin
ISBN 978-3-96639-033-0
eISBN 978-3-96639-034-7
Für die fünfte Himmelsrichtung.
BETON
Kapitel 38
Kapitel 37
Kapitel 36
Kapitel 35
Kapitel 34
Kapitel 33
Kapitel 32
Kapitel 31
Kapitel 30
Kapitel 29
AUFBRUCH
Kapitel 28
Kapitel 27
Kapitel 26
Kapitel 25
Kapitel 24
Kapitel 23
Kapitel 22
Kapitel 21
Kapitel 20
Kapitel 19
Kapitel 18
Kapitel 17
Kapitel 16
Kapitel 15
Kapitel 14
Kapitel 13
Kapitel 12
Kapitel 11
LEHM
Kapitel 10
Kapitel 09
Kapitel 08
Kapitel 07
Kapitel 06
Kapitel 05
Kapitel 04
Kapitel 03
Kapitel 02
Kapitel 01
ANMERKUNGEN
DIE NATUR stach ihm ins Auge. Erst ein Baum, dann Bäume, dann zog ihn der Dschungel in seinen Bann. Viktor blickte tief hinein in die bedrohlich wirkende Dunkelheit. Er hörte Schreie, Scharren und Rascheln im Unterholz. Eine Kugel zischte an seinem Kopf vorbei und drang krachend in den Stamm eines Baumriesen. Viktor schrak auf und rannte los. Lianen schlugen ihm ins Gesicht, ein zweiter Schuss fiel, streifte ihn. Er stürzte, seine Hand grub sich in den feuchten Grund des Waldes. »Steh auf!«, feuerte er sich an und erhob sich wieder. Seine Beine – er spürte sie kaum mehr, aber sie trugen ihn. Sie trugen ihn schneller, als er denken konnte in den immer dichter werdenden Dschungel hinein.
Er sprang über aststarke Wurzeln, sah herumgeisternde Schatten, Vögel und direkt vor ihm eine Kreatur, die zischend zurückwich. Er blieb stehen, schaute sich um. Ein rotes Glühen durchbrach den Wall aus Blättern. Die Magmatürme, dachte er, der Countdown für die Sprengung wird gleich beginnen. Er spurtete los, vom Mut getrieben, den der Anblick der angestrahlten Türme in ihm hervorrief. Er sah die Liane nicht, auf die er zulief, knallte mit dem Kopf gegen sie, taumelte und fiel zu Boden.
Stille, das Keuchen der Erde.
Sein Blick bewegte sich entlang der aufragenden Stämme, wanderte von Ast zu Ast, verlor sich in den Kronen der Bäume, erfasste das schimmernde Firmament über ihm. Er schloss die Augen. Ein Nachglühen der Gestirne warf rote und gelbe Punkte auf seine Netzhaut. Als er die Augen wieder aufschlug, sah er blitzendes Metall über sich. Ein Schatten baute sich vor ihm auf. »Das Ende, amigo!« Die Stimme drang zu ihm, erst leise, dann lauter werdend; sie war ihm vertraut. Ein letzter Schuss.
FERNANDA RAÍZ stieß einen Seufzer in die Welt hinaus: Regen prasselte auf die Erde, flutete die Straßen, schlug auf ihrer Veranda auf und schwemmte den Schmutz des Tages fort. Der Smog, der gerade noch Himmelskuppel und Atemwege belegt hatte, löste sich auf, und plötzlich bot sich ihrem Blick hier und da das Blau eines ansonsten von Wolken dicht verhangenen Himmels. Vor ihr blitzten die hohen Türme von Banken und Geschäftshäusern auf, ihr langer Schatten verdunkelte die kleineren Mietshäuser mit ihren Restaurants und Cafés auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Autos stockten am Straßenrand, eine Frau stellte sich unter das Blechdach ihres Verkaufstandes, fing Regenwasser auf und reinigte damit ihre Herdplatte. Die Luft roch frisch, und seltsam: Fernanda vermochte die Züge von Mexico City nicht mehr zu deuten, das im Wolkenbruch unterging. Diese riesige Stadt – atmete sie auf. Jede Nacht schliefen Abermillionen erschöpft ein, um sich tags darauf wieder zu erheben. Das Licht dieses schwülen Tages, das eben noch Palmen und Gesichter hatte erglühen lassen, wich einer unter heftigen Böen aufziehenden Dunkelheit. Fernanda ging über die Außenwendeltreppe zurück in ihr »Observatorium«, wie sie ihr Arbeitszimmer pathetisch nannte. Von hier aus konnte sie das Viertel ringsum, aber auch die Entwicklung der bedrohten Pflanzenarten, die sie hier versammelt hielt, in Ruhe beobachten. Eine Deckenlampe strahlte auf, kaum, dass sie den Raum betreten hatte, und bildete um das Kabinett ihrer Pflanzen einen goldenen Lichtkreis. Sie näherte sich zögerlich einer Pflanze, die ihr ein befreundeter Kunstsammler geschenkt hatte. Sie öffnete leicht ihre Hand. Ihr Zeigefinger schwebte für einen Moment in der Luft, senkte sich dann herab und berührte mit aller Vorsicht den zarten, behaarten Stiel der Pflanze.
Einer Pflanze, die weinte.
Ihre Fingerspitze glitt über den Stängel, über die hauchzarten Blätter und erntete mit einer sanften Bewegung die zähflüssigen Tränen, die auf ihrem Handrücken zu Perlen verschmolzen. Wie faszinierend, dachte sie. Sie fühlte sich vom Anblick des Grüns in ihrem Observatorium erfüllt, hegte aber noch Argwohn gegenüber diesem fleischfressenden Geschenk des Kunstsammlers: Byblis Lamenta, benannt nach einer griechischen Göttin und dem Rinnsal ihrer Tränen. Das Weinen selbst hatte die Pflanze zur Tarnung erhoben, um mit dem Schleim ihrer Drüsen ihre Opfer in den Tod zu locken. Ein feiner Mechanismus, wie Fernanda fand; feiner als etwa derjenige der Venusfliegenfalle, die eher mit weiblicher Verführung verglichen wird als mit männlicher Begierde. Viel zu oft fühlte sie sich von dieser brüsken Männlichkeit bestürmt. Kaum ein Reiz, kaum eine erste Berührung, und schon entzündete sich bei ihren Verehrern die Gier nach Befriedigung und schlug meist in Verachtung um, sofern sie diese nicht rasch genug erfüllte, und mit ihr in jenen hasserfüllten Blick, der ihr zu verstehen gab, dass sie als Frau Anfang fünfzig froh sein sollte, wenn ihr Körper überhaupt, geschweige denn liebevoll, noch angefasst würde. Was für eine Zeitverschwendung, dachte sie und musterte ihr Gesicht im Spiegel der Fenster: Buschige Brauen, ausgeprägte Wangenknochen, eine lange, schlanke Nase, darunter ihr sanfter Mund, der wählerisch mit Worten war, doch weit und großzügig im Lachen; eine feine Nackenlinie, und dichtes, schwarzes Haar mit bläulichem Schimmer, das sie heute zu einem Zopf gebändigt hatte, der ihre großen walnussbraunen Augen betonte, die, wie sie fand, in ihrer Sprache schöne Dinge sahen. Nein, Bewunderung war für sie nie eine Frage schneller Entfaltung gewesen, Erregung keineswegs die Erzählung eines Blitzes. Das hatte ihr Leben anspruchsvoller werden lassen – und wesentlich einsamer. Sie blickte zur Seite. Draußen wurde es dunkler, das Observatorium wirkte nun wärmer auf sie. Sie lockerte den Gürtel ihres Hausmantels und sah hinüber zu Zitlali in der Mitte des Raumes. Landkarten lagen auf dem Boden verstreut. Das Mädchen studierte, vom Bann des Unentdeckten angezogen, ihrem kindlichen Bewusstsein ferne Winkel der Welt. Fernanda war vom Schicksal dieses Kindes berührt. Bei einem Unfall hatte es seine Eltern verloren. Seither hatte Zitlali bei ihr ein Zuhause gefunden. Der Unfall – sie stockte und trat näher an das Mädchen heran, legte ihr behutsam die Hand auf den Rücken, als legte sie ein Pflaster auf eine Wunde. Wie durch ein Geräusch aus dem Schlaf geschreckt, zuckte Zitlali zusammen und schaute empor.
»Was ist das?«
Fernanda beugte sich zu ihr. »Amerika. Ein Teil davon gehörte früher zu Mexiko.«
Das Mädchen nickte und fragte weiter: »Und das?«
»Japan. Dort haben viele Menschen so schöne Augen wie du.«
»Und das?« Zitlali umkreiste mit dem Zeigefinger eine Insel.
»Das habe ich eingezeichnet. Es ist Bermeja.«
»Bermeja?« Das Mädchen stutzte und spielte Harfe auf einer ihrer schwarzen Strähnen.
»Das ist eine Insel der Fantasie. Dort wohnen die Träume. Du träumst doch oft, nicht wahr?«
Das Mädchen nickte bedächtig, Fernanda fuhr fort: »Auf eine Weltkarte ohne das Land der Fantasie sollten wir niemals blicken. Es würde sich nicht lohnen.« Sie streichelte dem Mädchen über den Kopf. »Es muss ja einen Ort geben, zu dem hin unsere Gedanken reisen können. Wo es zwei Sonnen gibt, vielleicht auch drei. Wo du wunderschön Gitarre spielen kannst, am Saum eines Meeres mit glasklarem Wasser! Bist du schon einmal auf dem Rücken riesiger Schildkröten durch Flüsse gepaddelt?«
»Nein, aber kann ich nach der Schule dorthin?«
Fernanda lachte: »Ja, bestimmt.«
»Aber ich bin noch klein«, wisperte Zitlali hinter vorgehaltener Hand. »Kommen dort nicht nur Erwachsene hin? Große Frauen und Männer?«
»Große Männer haben selten Fantasie.«
Plötzlich war ein Räuspern zu vernehmen. Eine hochgewachsene Gestalt erschien im Zwielicht des Türrahmens und schmunzelte. »Das habe ich gehört.«
»Damion, so spät?« Noch hatte Fernanda sich nicht ganz gesammelt, da trat bereits der Kopf ihres Besuchers in den Lichtkegel der Lampe, was seine hohe Stirn und sein braunschimmerndes, schulterlanges Haar aufleuchten ließ. Gleichmütig wie ein Messer ging er auf sie zu. Sein nachtblauer Anzug verbarg nicht die Masse an aufgesparter Kraft.
»Alles ist vorbereitet«, sagte er und wuschelte Zitlali durchs Haar. Seine Stimme klang ruhig. »Bist du bereit?«
»Ich? Ja!«
»Eine persönliche Frage noch …«
Sie straffte den Gürtel des Hausmantels, dessen Stoff an der kleinen Wölbung ihres Bauches aufbauschte, und nickte ihm aufmunternd zu.
»Warum willst du das Museum wirklich bauen?«, fragte er ernst. »Erkläre es mir.«
»Was soll ich sagen?«, begann sie zögerlich. »Schau dich an.« Sie blickte ihm offen in die Augen. »Ein stattlicher Mann, du hast meiner Familie während der Wirtschaftskrise geholfen. Aber du bist von Geburt an privilegiert, vieles kam dir zugeflogen. Wohin du auch gehst, empfängt dich in den Augen der Menschen ein zumindest neutrales Willkommen, nicht wahr? Nur, du kennst diese abwertenden Blicke nicht.« Sie ging durch ihr Observatorium, die Ärmel ihres Hausmantels, eine Mischung aus Kimono und Kittel, wirbelten auf. »Ich bin lange mit dem Stigma herumgelaufen, anders zu sein als die Norm, als Sonderling … als Frau.« Sie griff nach dem Blatt einer Pflanze und befühlte dessen Innenseite. »Mein Handeln war eingeschränkt. Weißt du, wie viel Kraft es kostet, das zu fordern, was normal erscheint? Nicht nur Teilhabe oder Gleichheit, sondern vor allem …«, sie fahndete nach den richtigen Worten, »… die Fantasie von Glück? Ich habe ein Leben lang im Widerstand gelebt, Macht und Demütigung ertragen. Ich möchte mir und uns endlich die Räume der Fantasie zurückerobern. In ihr liegt doch für alle so etwas wie Glück, meinst du nicht?«
Damion kniff die Augen zusammen und blickte auf das Mädchen. »Utopien haben ihren Preis.«
»Wie hoch kann der wohl sein?«, fragte sie forsch. »Bei all den Krisen, all der Zerstörung. Die Welt ist allein mit ihren alten Ideen.«
»Visionen sind wirkungslos«, urteilte er mit einer abschmetternden Handbewegung. »Sie schüren nur neues Verlangen. Sei praktisch, nimm dein Geld, gib es für Sinnvolles aus.«
»Bereitest du mich gerade auf meine Kritiker vor?« Sie war erzürnt, ihre Wangen gerötet.
Damion verzog keine Miene und fügte trocken hinzu: »In Mexiko ist das Recht, ein normaler Mensch zu sein, bereits eine Illusion. Es fehlt, es mangelt, überall, an allem. Wie zynisch, nicht zuerst an den Hunger zu denken!« Seine wasserblauen Augen leuchteten auf. »Wer braucht eine Idee, wenn er nichts zu essen hat?«
»Eine andere, eine bessere Idee!«, drängte sie. »Welcher Mangel entsteht durch den Mangel an Fantasie? Was passiert, wenn Menschen, denen Ungerechtigkeit widerfährt, nie die Vorstellung eines anderen Lebens entwickeln können?«
»Hilf ihnen direkt!«, forderte er.
»Und wie?« Sie schweifte mit ihrem Blick durch das Grün. Ihre Pflanzen hatten sie gelehrt, was Fürsorge bedeutet. Sie betrachtete eine schwere, violette Blüte; atmete dann tief durch. »Diese Wesen hier haben alle ein Bewusstsein. Sie registrieren, was um sie herum passiert.«
Er strich sich unruhig durchs Haar. »Was willst du mir sagen?«
»Empathie entsteht durch Anerkennung von Bewusstsein.«
»Ja, schon gut, wir müssten neben den Tieren auch die Pflanzen ernster nehmen.«
Sie ging auf seinen ironischen Unterton keineswegs ein: »Genauer gesagt, sollten wir alles Leben ernster nehmen und uns an ein Potenzial erinnern, das allem Sein innewohnt.« Sie sah zu Zitlali hinüber, die nun im Schneidersitz auf dem Boden saß und nicht mehr länger die Karten studierte. »Die Fähigkeit zu staunen.« Sie biss sich auf die Unterlippe, ihre Stimme wurde leiser, erlosch fast. »Leben wir einfach nicht mehr gegen diesen Planeten, sondern mit ihm.«
Erneut betrachtete sie ihr Spiegelbild im Fenster. Das ewige Aufbegehren hatte sie ausgezehrt, sie war müde, ihre Nerven ausgefasert, ihr linkes Augenlid fing an zu zucken. »Wir rotten aus. Und die westliche Hemisphäre nennt es Weltgeschichte. Diese absurde Idee von Fortschritt, die immer schon auf der Ausbeutung des anderen beruhte.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Wann geben wir sie endlich auf? Die Überlegenheit.« Eine kurze Pause verstrich. »Und entwickeln eine Idee, die sich nicht gegen die Natur und andere Menschen richtet, sondern sie einbezieht. Dafür braucht es einen Ort, einen neuen Ereignishorizont, der sich vor den Augen aller auftut.«
Er lachte spöttisch auf. »Wie soll das klappen? Im Dschungel? Mit einem Museum?« Ein Stakkato an Fragen. Wort um Wort spitzte er provokant zu.
»Nenn es, wie du willst.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich glaube daran.«
Er musterte sie lange und sagte dann völlig emotionslos: »Okay, ich stelle das Team zusammen.« Aus der Innenseite seines Sakkos zog er einen Brief hervor, den er in ihre leicht zitternde Handfläche legte. »Das ist für dich. Ich werde alles in die Wege leiten.«
Sie faltete den Brief auf, fühlte das weiche Papier und begann zu lesen, erst abwartend, dann fassungslos, bis sie endlich den Brief fallen ließ und anschließend selbst zu Boden ging. In den Räumen ihres Observatoriums hatte eine Pflanze geweint. Und jetzt sie.
»Warum weinst du?«, fragte Zitlali leise.
DAMION FARABOW stand auf einer Schotterstraße. Eine Zeitung klemmte unter seinem Arm. Er blickte auf die Kirchturmuhr eines Dorfes im Norden Mexikos, das unter der brütenden Mittagssonne zu schmachten schien. Sein alter Ford wurde auf eine Hebebühne gehievt. Rund um die Werkstatt lagen ganze Wracks und einzelne Autoteile verstreut. Ein Garten voller Schrott, dachte er und schnäuzte sich die Nase. Das herumliegende Metall warf das Sonnenlicht zurück, er kniff schützend die Augen zusammen. Seit jeher hatte Schrott ein Gefühl von Heimat in ihm ausgelöst. Als Kind hatte er nicht in der Natur, sondern zwischen Bahngleisen und einem Arm des Chicago River gespielt, der zu der dreckigen Brühe eines Industriekanals verkommen war. Seine Kindheit hatte mehr Gestank gekannt als Duft.
Er blickte auf die Uhr an seinem Handgelenk: kurz vor zwölf. Es ist noch früh, rief er sich in Erinnerung. Beinahe hätte ihm die Autopanne das Ziel seiner Reise vermasselt. Erst zeichnete er mit seinen Stiefeln Kreise ins Geröll, dann stapfte er die Auffahrt entlang zu einem Imbiss an der Straße. Er ging ins Dorf, drehte eine Runde, die ihn langweilte, schlenderte dann zurück zum Imbiss, bestellte etwas zu essen, setzte sich auf einen der herumstehenden Plastikeimer. Der Verkäufer knetete Maisteig und reichte ihm wenig später einen Pappteller. Ein in die Jahre gekommenes Väterchen mit tief in die Stirn gezogenem Sombrero wiegte sich in seinem Rohrstuhl im Schatten eines löchrigen Sonnenschirms. Damion faltete seinen Taco und träufelte Chilisoße in die Mulde. Er breitete die Zeitung über seinen Knien aus: Er sah das Bild einer Leiche und las die Schlagzeile: Frau auf offener Straße erschossen.
»Was ist mit den Vermissten?«, fragte er kalt. Der Straßenverkäufer zuckte mit den Achseln. Damion wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Es heißt, einer von ihnen wurde am Straßenrand gefunden!«, hakte er nach. »Eingewickelt in eine blutige Decke!« Auf der Herdplatte qualmte Fett vor sich hin. Ein Köter beschnüffelte die Abfalltonne, der Verkäufer verjagte ihn mit einem grellen Pfiff. »Du stellst viele Fragen«, knurrte er dann. Das Väterchen im Rohrstuhl kommentierte das Geschehen mit einem Lächeln. Er hatte viele Zähne verloren. Die Lücken fuhr er mit der Zunge ab; es schien, als wolle er sich vergewissern, dass sie nicht mehr da waren: Diese Zähne, die genauso sicher verschwanden wie die Menschen hier. Damion sah, wie der Mechaniker seinen Ford von der Hebebühne fuhr. Er aß den letzten Bissen auf, warf den Teller in die Tonne und knüllte Geldscheine hervor.
»Funktioniert wieder, Señor«, erklärte der Mechaniker und wischte sich die Hände an einem ölverschmierten Tuch ab. Die ersten Kilometer auf der Straße vergingen wie im Flug. Die Panamericana rollte unter ihm hinweg und verlor sich in der Ferne. Bullige Trucks zogen an ihm vorbei. Gelegentlich sah er eine Karawane von Menschen, die ihr Heil an der Grenze suchten. Ich habe alle Grenzen in mir verloren, dachte Damion. In der Kindheit hatte er noch ein Gefühl für sie, so etwas wie eine innere Karte. In Chicago wusste er, in welche Ecken er gehen konnte und welche Gegenden er meiden sollte. Als Kind hatte er alle, die er um ihr Wissen beneidete, mit Fragen gelöchert. So hatte er große Teile der Stadt und ihre Geschichten aufgesogen. Chicago, das war Getreide, Kaugummi für Amerikas Kinnbacken, Schlachten am Fließband in den Fleischfabriken, gigantische Wolkenkratzer als Zeichen immerwährenden Wandels. Als Junge hatte er den Jazz in den Bars geliebt, das jüdische Leben in der Southside, vor allem aber hatte er eine gewisse Art Gangstertum verehrt, das keine Haltung oder Verantwortung brauchte, solange es mit Dreistigkeit durchkam. Er hatte sich bald mit den Klugscheißern auf der Straße arrangiert, straffe Autodidakten wie sein Großvater, der zunächst professioneller Saxophonspieler und dann Rechtsanwalt geworden war; er kannte die Geometrie von Downtown und die unvernünftige Leere des Nordens, wo reiche Typen ihre Häuser in weiten Abständen zueinander bauten, um sich nicht in die Quere zu kommen; die alten Industriebaracken, in denen sein Vater sich abgeschuftet hatte, bis er schließlich Geschäftsmann geworden war und Dosenmilch verkaufte, später Autoteile. Beides war ihm misslungen. In Damions Augen blieb sein »Erzeuger« ein schwächlicher Versager. Der Wandel – er hatte ihn einfach geschluckt, für seinen Dad war er zu umfassend und zu rasch gekommen. Als Junge war ihm bewusst geworden, dass man besser daran tat, sich Veränderungen nicht in den Weg zu stellen.
Eines Tages hatte er an der Winthrop Avenue gestanden und zu einem Gebäude hochgeschaut, auf dessen Dachkante eine junge Frau gesessen hatte, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie sah traurig aus. Es war schwer zu ertragen, sie im wehenden Kleid auf dem Vorsprung des Dachs zu sehen, in dieser windigen Stadt. Er hatte zu ihr hinaufgerufen: »Spring endlich! Spring!« Auf eine gewisse Art hatte es ihn erleichtert, als sie dann tatsächlich sprang. Es ist vernünftig, hatte er damals gedacht und seinen Eltern von dem Vorfall beim Abendbrot erzählt. Die Mutter hatte seine Hand ergriffen, war jedoch unfähig gewesen, ihrer Empfindung Worte zu verleihen. Sie hatte damals schon harte Gesichtszüge angenommen, musste aber wenigstens ein paar Jahre ihres Lebens schön gewesen sein. Er hatte dann von seinem Glas Milch getrunken und seinen Dad gefragt: »Warum springst du nicht auch?« An diesem Abend war zuerst er, dann seine Mutter verprügelt worden. Es wäre vieles einfacher gewesen, wäre sein Vater früher gesprungen, dachte er heute.
Jetzt erklang alte Jazz-Musik aus dem Autoradio. Er drehte den Song lauter, pfiff die Melodie mit. Die Luft im Wagen wurde stickiger. Er kurbelte die Scheibe herunter, fuhr an einem Pick-up vorbei, der am Straßenrand parkte, wenig später jedoch losfuhr und ihn bald schon überholte. Erst als der Wagen ihn schnitt, seine Geschwindigkeit drosselte und ihn zum Anhalten zwang, registrierte er die vermummten Männer mit gezogenen Handfeuerwaffen, die sich auf der Ladefläche erhoben und nun in einer flüssigen Bewegung und mit gerichtetem Lauf auf seinen Ford zumarschierten.
»Schaut mal Leute, wir haben einen Hippie gefunden«, schrie einer der Männer und machte sich über Damions langes Haar lustig. »Los, steig, aus, Jesús!«
Aus dem Radio tönte das Solo eines Saxophons zu Ende. Er stieg aus dem Wagen. Alles ging schnell: Die Männer überwältigten ihn, durchsuchten seine Taschen, den Kofferraum, warfen ihn schließlich auf die Ladefläche, fesselten ihn und verbanden ihm die Augen. Ein gutes Zeichen?, überlegte er. Er sollte sich bloß den Weg nicht merken, das war wahrscheinlich alles. Mehrmals stieß er sich den Kopf an der Ladefläche. Irgendwann endete die Fahrt. Die Männer brachten ihn in einen düsteren Raum. Die Sonne fiel durch ein Loch in der Wand. Sie zogen ihn nackt aus und fesselten ihn an einen Stuhl in der Mitte des Raumes. In der Ecke lag eine Matratze. Der Geruch von Urin und Sex ließ das Licht klebrig wirken. Er sah Schatten, die stumm ihre Zigaretten hielten; einige Männer, die ihre Maschinengewehre säuberten, und andere, die sich eine TV-Liveübertragung eines Fußballspiels ansahen. Ein Schädel näherte sich ihm von hinten. Er spürte das Gesicht plötzlich über sich, als es seinen Kopf fast berührte: »Wie geht es dir, Jesús?«, flüsterte es hämisch über ihm. Damion blickte das Gesicht nicht an, zwang sich zur Ruhe und sprach sich Mut zu: Alles würde ein gutes Ende nehmen, solange er diesem Gesicht nicht in die Augen schaute.
»Wir haben in deinem Wagen nichts Wertvolles gefunden. Du hast nicht mal Geld dabei. Was bist du nur für eine arme Sau!« Der Typ beugte sich vor, und da erkannte Damion ihn. Die Zigaretten glühten auf, die Männer stießen konzentriert Rauchschwaden aus. »Aber vielleicht hat deine Familie ein bisschen Kohle? – Was meint ihr?« Die Gruppe johlte.
Damion hörte Schritte, sah schwerfällige Silhouetten, die näherkamen und einen Halbkreis um ihn bildeten. Langes Schweigen. Der Anführer trat dichter an ihn heran. »Weißt du, warum sie mich El Cuchillo nennen? Das Messerchen?«
Damion schluckte, mit fast unmenschlicher Anstrengung versuchte er, den Blick Richtung Boden zu halten. Schau ihn nicht an, befahl er sich, und wiegte seinen Oberkörper hin und her; er verkrampfte bei dem Versuch, die Fesseln zu lösen, die in sein Fleisch schnitten. El Cuchillo schlich um ihn herum und flüsterte ihm ins Ohr. »Ich schneide Leuten die Ohren und Nasen ab.« Noch bevor die Worte in ihn einsickern konnten, spürte er, wie ein winziges Stück Fleisch aus seinem Ohr herausgebissen wurde. Die Männer grölten, als El Cuchillo einen Blutklumpen zu Boden spuckte. Damion widerstand dem Impuls aufzuschreien. Er wünschte sich, ohnmächtig zu werden. Doch die Ohnmacht blieb aus. Der Fernseher zeigte einen Flankenlauf. Ein Spieler köpfelte den Ball ins Netz. Ein paar Typen im Hintergrund jubelten.
»Jesús. Ruf doch deine Maria an«, scherzte El Cuchillo und zückte ein Handy aus der Tasche. »Sie hat bestimmt was für dich zur Seite gelegt.« Er zündete sich eine Zigarette an, blies Rauchkaskaden in die Luft. Ein Glanz von Grausamkeit schwelte in seinen Augen. Das Handy glitt in die Tasche zurück. Er nahm die Zigarette und rieb sie zwischen den Fingern, ging auf Damion zu und drückte das glühende Ende der Zigarette auf seinem Gesicht aus, nahe dem rechten Auge. Es roch sofort nach versengtem Fleisch. Damion verschwamm das Augenlicht. Er wusste nicht, ob ihm Blut oder Tränen die Wangen herunterliefen. El Cuchillo klopfte sich vor Erregung auf die Brust. »Das Ende, amigo!«, hörte er ihn sagen. Dann, in einem äußerst irritierenden Moment, kicherte Damion auf. Zuerst leise, dann lauter. »Willst du aus mir auch einen Cowboy machen?«, röchelte er und spuckte auf den Boden. »Wie der Lieutenant damals? Oder mich auf die Straße schmeißen? Wie den Kerl vor ein paar Wochen? Der hat doch auch auf diesem Stuhl gesessen, nicht wahr?« Er schaute seinen Peiniger angriffslustig an. »Was ist, Ángel, keine Lust mehr?«
Der Mann fuhr beim Ausruf seines Namens zusammen. »Wer zum Teufel bist du?«, fragte er.
Damion dehnte die Pause aus. Dann sagte er: »Ein Freund, Ángel.«
»Was willst du?«
»Dir ein Angebot unterbreiten.«
Ein Söldner trat aus dem Schatten hervor und fluchte. »Der Typ nervt. Machen wir ihn kalt.«
Ángel schleuderte ihn zurück. Seine Augen glichen tiefen Gräben, aus deren Dunkel Blitze aufschossen. »Nein«, keifte er. »Ich will wissen, was er zu sagen hat.«
EIN LUFTZUG wehte Fernanda eine Strähne aus der Stirn. Sie blickte zum felsigen Eingang einer unterirdischen Höhle, dann in das missmutige Gesicht ihres Gegenübers, forschte nach einer kurzen Notiz, einem Nicken, nach etwas, das sie darin bestärkt hätte, weitergehen zu können. Sie war aufgeregt. Allein bis hierher hatte sich der Weg als recht beschwerlich erwiesen. Vor drei Tagen hatte ihr Begleiter, Adrian Chan Sánchez, ein die Kultur der Maya ehrender Wissenschaftler der Universität Oriente in Valladolid, eine Korallenschlange vor der Kalksteinhöhle gesichtet. »Jeder Eingang hat einen eigenen Wächter«, hallte sein Orakelspruch in ihr nach. Drei Nächte hatten sie im Dschungel kampiert und Zeremonien zur Besänftigung der Geister abgehalten. Den Mayas galten die Unterwasserhöhlen als heilig, sie verehrten die Cenotes als Tore zur Unterwelt, das wusste Fernanda. Dennoch war sie erstaunt darüber, wie viel Ehrfurcht der Wissenschaftler dem auserkorenen Wächter entgegengebracht hatte.
»Die Passage ist offen«, erklärte Adrian, und nickte ihr zu. Ein kleiner Lustschauer rieselte ihr über den Rücken, wohl Ausdruck des menschlichen Instinkts, wie sie glaubte, wenn es eine Schwelle zu überqueren gilt, ohne dass man die Folgen überblicken kann. Sie schulterten ihre Rucksäcke mit den Tauchgeräten und gingen durch den steinernen Korridor auf die kreisrunde Cenote zu. Die Sonne drang dünn durch den Spalt im Felsen ein, ihre Kraft verlor sich, die Farben verdämmerten. Die Enge der Felsenschlucht presste die beiden vorwärts, bis sie eine Senke erreichten. Vor ihnen tat sich ein mit türkisfarbenem Wasser gefülltes Erdloch auf. Es ähnelte einem überdimensionalen marmornen Taufbecken, war von Pflanzen und Wurzeln umwuchert. Wortlos zogen sie ihre Ausrüstung über, glitten ins Wasser; eine letzte Kontrolle, dann sanken beide in die Tiefe. Stufe um Stufe drang Stille in Fernanda ein. Nur wenige Meter vergingen, schon hielt die Cenote sie gefangen. Fernanda hatte das Gefühl, hinter die Zeit zu gelangen. Sie folgte dem verlockenden Ruf der Höhle, tauchte an Steinen, Schatten und versunkenen Bäumen vorbei; folgte den engen, sich stets weiterverzweigenden Röhren im Gestein und tastete sich voller Lust immer tiefer hinein in den Bauch der Höhle, vorbei an weiteren Öffnungen, die sich plötzlich über ihr auftaten und das grandiose Spiel des Lichtes aufblitzen ließen. Nie hatte sie sich der menschlichen Sphäre ferner gefühlt. Schwerelos, schwebend, endlich undefiniert: ein kleines Nichts im Weltenraum.
Plötzlich flimmerte ihre Lampe und erlosch. Etwas Glitschiges streifte ihr Gesicht, ihr Atem beschleunigte sich, ging flacher. Sie geriet in Panik, glaubte, dass es ihr an Luft fehle, sie schlug um sich, biss auf den Bügel in ihrem Mund. Ihre Bewegungen wurden hastiger, sie ermahnte sich, kontrollierter zu atmen – tiefer – und die Luft aus der Lunge zu pressen, sie tauchte in vollkommener Dunkelheit weiter vorwärts und konzentrierte sich auf einen einzigen Gedanken: keine Panik! Langsam, Atemzug für Atemzug, schwamm sie in dem unterirdischen Gang Meter um Meter in der Hoffnung weiter, dass sich wieder eine der typischen Öffnungen im Erdboden zeigen würde, wo sie auftauchen könnte. Der fahle Lichtschein, den Adrians Lampe in ihre Richtung warf, beruhigte sie. Minuten später zeigte sich tatsächlich das fantastische Schauspiel eindringenden Sonnenlichts über ihr im Wasser. Die aufblühende Farbenpracht zwischen tiefblauen und helltürkisen Tönen, das Glitzern im Gestein verhießen mehr als nur Rettung: Die eben noch verspürte Angst wich einem Staunen über das unfassbar Schöne vor ihr. Sie tauchte auf, hievte ihren Körper aus dem Wasser, streifte sich die Taucherbrille ab und spuckte den Atemregler aus. Sie keuchte: die Höhle, das Wasser, das Licht, der intensive erste Atemzug an freier Luft. Sie lächelte. Mit ihrer Geburt hatte sie für eine Enttäuschung gesorgt, die bittere Enttäuschung bei ihrem Vater, nur ein Mädchen zu sein, kein Junge. Ein halbes Leben lang hatte sie versucht, ihren Wert unter Beweis zu stellen. Jetzt streifte sie sich mit der Hand über die Wange und lachte befreit auf.
Vor ihr schlugen Bläschen hoch, gefolgt von Adrians Kopf. Mit einem Ruck saß er neben ihr und nahm seinerseits die Taucherbrille ab. »Alles in Ordnung?«
Sie zuckte mit den Achseln, als wäre nichts passiert.
»Glauben Sie jetzt, dass es hier spukt?«
»Ich glaube, Sie hätten die Schlange etwas höflicher bitten sollen.«
Adrian nickte belustigt und erklärte ihr dann, sich noch einmal in eine Meditation begeben zu wollen, um die Geister in der Höhle zu besänftigen.
Minutenlang saßen sie nebeneinander da, Minuten, in denen Fernanda einfach nur schwieg. Schließlich wandte er ihr seinen Kopf zu: »Bereit?«
»Ja. Aber haben Sie gefunden, wonach wir suchen?«, fragte sie vorsichtig.
»Seit Urzeiten gebiert das Wasser Leben«, murmelte er und löste zwei Behälter vom Tauchgurt, hielt die Proben gegen das Licht der einfallenden Sonne. Die Flüssigkeit wies eine geleeartige Konsistenz auf. »Plastikpartikel sind durch das Gestein eingedrungen«, stellte er trocken fest und deutete mit ernster Miene auf die Felswände. »Der Stein auf der gesamten Halbinsel ist porös. Der Regen sickert durch den Boden und sammelt sich in den Unterwasserhöhlen. Sie sind über Hunderte von Kilometern miteinander verbunden.« Seine Stimme hatte den dozierenden Klang eines Akademikers angenommen. »Über uns befinden sich Müllkippen, die meisten davon sind illegal. Der Abfall hat sich den Weg in die Tiefe gebahnt – und wird das Grundwasser einer gesamten Region verseuchen.«
»Wie schlimm ist es?«, fragte sie.
»Ich kann es nicht sagen, ich muss die Proben untersuchen lassen.« Adrian verstaute die Behälter wieder an seinem Gurt und überprüfte die Gerätschaften. »Ohne das Licht Ihrer Lampe halten Sie sich dicht an meinen Füßen, haben Sie keine Angst.«
Bevor die beiden ihre Taucherbrille über den Kopf stülpten, verweilte ihr Blick noch auf dem Wasser. Die Landschaft wandelte sich vor ihrem inneren Auge. Sie sah verrottenden Müll am heiligen Ort, menschengemachtes Treibgut: Flaschen, zerfasernde Binden und klebriges Plastik. Die Schönheit, die sie verspürt hatte, war dem Eindruck eines nassen Grabes gewichen. Sie brauchten eine gute Stunde, um an den Eingang der Höhle zurückzuschwimmen.
Später dann, auf der Küstenstraße nach Tulum, ihrem Zielort, sprachen sie kein Wort miteinander. Nur einmal geriet Adrian aus der Fassung und schlug mit der Hand aufs Lenkrad. Sie wusste, dass sein ohnmächtiger Ärger der fortschreitenden Zerstörung der Schutzgebiete geschuldet war. Sie blickte aus dem Fenster. Als sie Tulum das erste Mal besucht hatte, hatte es friedlich im Dornröschenschlaf eines Fischerdörfchens gelegen. Unberührte Strände, kristallklares Wasser, ein Idyll der mexikanischen Karibik. Nur ein paar Hütten in Meeresnähe, sonst nichts. Einmal hatte sie in den Ruinen der Maya-Stätte übernachtet, unter freiem Sternenhimmel. Sie bat Adrian, sie dort aussteigen zu lassen, sie wollte die wenigen Kilometer zum Treffpunkt zu Fuß gehen. Sie winkte dem weiterfahrenden Kollegen kurz nach und drehte sich dem Meer zu.
Was ist mit den Orten meiner Erinnerungen geschehen?, dachte sie und schlenderte los. Am Strand stieß sie auf Schamanen, die Touristen mit Kakao reinigten. Sie traf auf Männer in Tangas und auf traurig streunende Hunde. Ein Hotel reihte sich an das nächste. Weiter hinten an einer Felsgruppe sah sie Frauen in Federn gekleidet, die sich in Trance tanzten, umringt von ratternden Dieselmotoren, die dem hiesigen Treiben den notwendigen Strom lieferten. Sie roch Benzin und den Gestank roher Eier, der einem Wall in der Sonne verfaulender brauner Algen entwich. Ein Arbeiter kehrte den Strand, versuchte ihn piekfein und postkartenweiß zu halten; eine absurde Sisyphusarbeit, bei der er die Algen aufhäufte, mit einer Schubkarre wegbrachte, während die Wellen wieder und wieder den dunklen Schlamm an Land spülten. Das Wasser, ehemals türkisfarben, wirkte wie dünner Kaffee.
Sie kletterte über Felsen hinweg und durchquerte schließlich eine Bucht. Sie traf auf ein Kind, das ihr mit seinen zarten Händen einen Regenbogen schenkte, eine Geste der Liebe, die ihr wohl und zugleich weh tat, dann bedrängte sie ein Ausländer, der ihr Drogen verkaufen wollte. Als sie dankend ablehnte, pries er seine Massagekünste an. Fernanda löste ihre Erinnerungen an diesen einst unberührten Ort in den Fluten auf.
Habe ich nicht Gleiches vor? Der Gedanke ließ sie in den Wellen erschaudern. Ihr Außenposten im Dschungel würde auch in die Natur eingreifen, mit unvorhersehbaren Folgen. Sie dachte zurück an den Brief jenes Mannes, den sie so sehr geschätzt hatte. Seine Fähigkeit zuzuhören, hatte schon gereicht, ihr Vertrauen zu einer Zeit zu gewinnen, in der ihr irgendwelche Typen noch die Handlung eines Films erklären wollten. »Schau, mi amor«, hatte sie einmal einen Verflossenen im Kino flüstern hören. »Gleich küssen sie sich. Schau, wie sie ihn ansieht. Alles nur Fassade! Die lieben sich gar nicht. Hast du bemerkt, wie sie den Musiker anschaut?«
Sie senkte den Kopf, ließ sich ins Rauschen des Meeres fallen. Ihre Erziehung war klassisch verlaufen, ihre Entfremdung auch. Sie war in einer Klosterschule ausgebildet worden, deren Werte die Frau dem Mann zur Seite stellten. Als ihr Vater erfahren hatte, dass sie lieber Zeitschriften wie La Correa Feminista las und sich als Heranwachsende in pequenos grupos organisierte, kleinen Frauenzirkeln, die Foucault besprachen, gegen den Machismo ankämpften und über die reproduktive Union aus Mann und Frau diskutierten, war er ausgerastet. Als Zeichen, dass sie verrückt sei und nicht er, hatte der Patriarch seine Tochter in die Psychiatrie einweisen lassen, das Haus des Lachens genannt. Sehr schick für jene Zeit, dachte sie nun, wie im reichen Paris. Die Tage dort waren einander sehr ähnlich verlaufen: Die Flagge ehren, Frühsport treiben, die meisten Patienten hatten erst Elektroschocks erhalten, dann eine Therapie. Es hatte in der Kolonialvilla drei Pavillons gegeben, einen für die Aussätzigen, einen für die Armen und einen für die Reichen. Sie hatte sich dort mit Señor Trenecito angefreundet, dem Mann der Züglein. Er hatte gern behauptet, Eigentümer aller Eisenbahnen der Welt zu sein sowie einer Zugstrecke, die die Erde in Zukunft mit dem Mond verbinden würde. Sie hatte Sympathie mit der grauhaarigen Frau gehegt, die stundenlang mit ihrer Lupe Insekten beobachtete und beleidigt war, wenn jemand in ihren Raum eindrang. Ein halbes Jahr Psychiatrie hatte sie nicht von dem »feministischen Unsinn« heilen können, wie von ihrem Vater erhofft. An dem Tag, als sie wieder ihr Elternhaus betreten hatte, hatte sie in ihr Tagebuch notiert:
Was ist die Realität, wenn nicht eine unaufhörliche Parodie des Lebens, ein Maskenspiel, eine bis ins Unendliche vervielfältigte Darstellung unser selbst in der Familie, im Staat, in der Bildung, den Städten und ihren Gebäuden, in der Wissenschaft, der Sexualität, im Wort, der Wirtschaft und ihrem Fortschritt, ja selbst in all den verdrängten Fragmenten, die uns ausmachen?
Vertrete nichts und niemanden, außer den einen schönen Moment der Verrückten, die ihn gemacht haben.
Ihr Weg in die Kunst schien vorgezeichnet zu sein. Allerdings hatte sie in dieser Welt wenige Verrückte getroffen, die meisten Menschen, denen sie begegnet war, stellten sich als »Scheusale« heraus, als Handlanger der Lüge oder der eigenen Eitelkeit. Sie blickte auf den Strand, er hatte sich geleert. Vor ihr lag eine Hütte, mit einer Balustrade aus Holz und einem Dach aus Palmblättern. Der Wind hatte Sand auf die Stufen geweht. Damions athletische Statur sprang ihr ins Auge, seine breiten, definierten Schultern. Selten war sie einem so gut trainierten Mann in seinen Vierzigern begegnet. Er winkte sie herbei und empfing sie auf der Veranda, die Sonnenbrille auf, in Shorts, sein Hemd war aufgeknöpft.
»Bereit, das Kernteam kennenzulernen?«, rief er ihr zu und strich sich in der gut eingeübten Gestik eines vom Leben verwöhnten Sonnyboys eine tiefhängende Strähne aus dem Gesicht. »Wir haben Fisch zubereitet«, köderte er. Seine Laune stimmte sie milde.
Sie ging an ihm vorbei, schnell fuhr ein dicht zusammengerücktes Bündel an Personen auseinander, Tische wurden verschoben, Stühle im Halbkreis arrangiert. Getuschel war hörbar, als Damion aus Fernandas Schatten hervortrat. Er hielt inne und versicherte sich der Blicke, die auf ihm ruhten. »Okay, machen wir es kurz.« Er zeigte auf eine junge Frau im Trägerhemd mit kurzgeschorenem, schwarzem Haar, spitzen Wangen und großen, grünen Augen, die sich lässig an der Tischkante anlehnte. »Sabina: in Tijuana aufgewachsen, in San Diego Kunstgeschichte studiert, in der texanischen Künstlerkolonie Marfa den Laden geschmissen.« Sabina nickte, lächelte leicht. Dann kam Damion auf Carlos zu sprechen, der still eingesunken an einem kleinen Tisch saß. »Indigene Wurzeln, großgeworden in Oaxaca, Studium der Kulturpolitik in London, enzyklopädisches Wissen über präkolumbianische Kunst.« Schließlich deutete er auf einen ehemaligen Elitesoldaten aus Guatemala, bevor er mit der Bemerkung schloss: »Ángel kennt den Dschungel wie seine Westentasche, sorgt für unser aller Sicherheit. Noch Fragen?«
An anderen Tagen wäre Fernanda näher auf die Biografien der Menschen eingegangen, die nun für sie arbeiten sollten. Heute fühlte sie sich entkräftet und hoffte, mit einem Lächeln alles zu sagen, wozu Worte nicht mehr imstande waren. Sie senkte den Kopf. »Wir haben eine lange Reise vor uns, wir sollten uns ausruhen«, gab sie dann beinahe tonlos von sich. Still zog sie an der Gruppe vorbei, ging auf ihr Zimmer und versuchte, ein wenig Schlaf zu finden. Es wollte ihr nicht gelingen. Als sie daraufhin ihren Koffer packte, schwirrten ihr lose Gedanken durch den Kopf. Es mag eine Zeit gegeben haben, dachte sie, in der ein Abstieg unter die Erde noch Geheimnisse hervorgebracht hat, kostbare Mineralien oder neue Mythen. Diese Zeit war unwiderruflich vorbei. Wo einst Schätze verborgen lagen, stinkt heute Müll. Auf der Oberfläche sah es nicht anders aus. Die Menschen hinterließen zu viele Spuren. Sie legte sich wieder aufs Bett, faltete ihre schlanken Hände über der Brust, schloss die Augen.
Vor zwei Jahrzehnten hatte sie eine Konferenz in Mexico City besucht. Dort hatte der Wissenschaftler Paul Crutzen zum ersten Mal die Ära des Anthropozäns ausgerufen. In Wahrheit, das spürte sie jetzt, war das Thanatozän angebrochen, das Erdzeitalter des Todes, des Absterbens. Niemand konnte zu einst vertrauten Orten, zur Vielfalt der Arten, zur Fülle des Lebens zurückkehren. Die Menschheit schrieb nur noch Verluste.
Auf der Veranda schwor unterdessen Damion sein Team auf die kommenden Wochen ein, im Halbschlaf hörte sie seine Worte. »Okay«, trommelte er los. »Ab heute gilt ein straffer Terminplan. Wir haben hier die besten Köpfe für unser Projekt zusammengestellt.« Stille. Die Brandung tönte herüber. Dann: »Mal sehen, ob der alte Kontinent Europa noch irgendwas zu bieten hat.«
IM MUSEUM am Rothenbaum in Hamburg zeichnete Viktor Sørless und führte den Kohlestift wie eine Sense. Ratsch – der Stift wirbelte hoch und ein Strich war vollendet. Viktor musterte seine Skizze und sah darauf feixende Gesichter mit langen Nasen und schräg stehenden, weit aufgerissenen Augen; ein Rausch an Linien und Kreisen. In den letzten Tagen hatte er tatsächlich wieder das Bedürfnis verspürt, zu zeichnen, doch allein das Halten des Stiftes, das Herumstochern in fremden Augen, Gesichtern und Körpern, kam ihm, inmitten der hiesigen Abendgesellschaft, übergriffig vor. Es störte wie ein Finger in der Wunde. Dennoch vermochte die aus seiner Hand stammende Schraffur sich wie ein Schleier über die ihn umgebende Wirklichkeit zu legen, was ihn tatsächlich beruhigte. Auch heute, in dieser mondänen Abendgesellschaft, in der er bislang die Abwesenheit von Gesellschaft war. Er war keinem Gespräch gefolgt, hatte nur kurz an dahinjagenden Lippen gehangen, sich aus dem Zentrum der tafelnden Gäste geschlichen, die sich immerzu selbst fotografierten; vielleicht, so dachte er nun bei sich, weil sie einen Mangel an Ewigkeit verspüren, zwischen all diesen Artefakten, die aus den Vitrinen heraus leise über die Zeit triumphierten. Er beobachtete, wie sich die Geladenen des Ephemeren Dinners erhoben – berauscht von der Rede des Kurators im faltenfreien Hemd, bestärkt von der Pracht des Saals, flankiert von überlebensgroßen Holzfiguren, die 1908 auf einer Südsee-Expedition »erworben« worden waren, deren eigentliche »Bedeutung« jedoch, so die angebrachte Texttafel, »nicht geklärt« war.
Wer will es hier auch schon allzu genau wissen?, dachte er. Die Feier sollte schließlich Vergessen schenken. Die Gäste lachten, tanzten. Auf ihren Uhren verging eine sorglose Zeit. Von einigen Gesichtern glaubte er die Zufriedenheit ablesen zu können, die mit einer nicht gerade geringfügigen Spende zur Entfaltung von Kultur einherging, ganz unerheblich welcher Kultur im Übrigen, und ohne die Gefahr, dass irgendeine Weltsicht ins Wanken geraten oder etwa die Verdauung gestört würde. Eine Gruppe von Gästen versammelte sich im Schatten eines zeitgenössischen Künstlers, der gerade eben noch von jenem Kurator im faltenfreien Hemd als Person gepriesen worden war, die »wider alle Müdigkeit hintersinnige Mandalas malt, welche die Referenzhölle der Gegenwart thematisieren«.