Titus Müller, Jahrgang 1977, geboren in Leipzig. Studierte in Berlin Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift Federwelt.
Titus Müller lebt mit seiner Familie in Landshut, ist Mitglied des PEN-Clubs und wurde für seine Romane u. a. mit dem C.S. Lewis-Preis und dem Sir-Walter-Scott-Preis ausgezeichnet. Im Herbst 2016 erhielt er den Homer-Preis.
Das Kleine Buch vom Alltagsglück ist groß geworden – und vom Autor für diese Neuausgabe (3. Auflage) mit Liebe zum Detail überarbeitet und spürbar erweitert worden: auf 52 Geschichten.
Stille
Freiheit
Das Geheimnis von Heimat
Vertrauen
Wir sind hier, um uns zu wundern
Lenas Handtasche
Erdbeeren vom Friedhof
Mit Schnee kochen
Warum ich schreibe
Papier
Das Geheimnis guter Bücher
Ein Kuss nach sechzehn Jahren
Erfolgsdenken
Wo die Sonne scheint
Die Hummel
Eine künstliche Nahrung, die nicht satt macht
Ich verstehe das Leben nicht
Spatzenschwärme und tanzende Blätter
Eine Welt ohne Tiere?
Kluge Rehe
Witzige Namen
Wir lieben ein schweres Leben
Eisenkästen im Weltall
Probleme einweichen
Perfektionismus
Die Schönheit der Schneeflocken
Vertrauen
Bin ich Außenseiter?
Es ist nie zu spät
Mitten im Sturm
Die Reise einer Postkarte
Entdecken Sie Ihr Australien
Knarrende Kiefern
Flimmerbilder
Nicht gut genug?
Irgendwann kommt ein schöner Augenblick
Die Suche nach Gott
Von bummelnden Zugführern
Kleine Wunder
Heiß duschen
Jugendliche Träume
Die Ewigkeit im Herzen
Fröhliche Menschen
Unmusikalische Computer
Kinderspiele
Arroganz oder Neugier
Konkurrenzkampf
Gott und die Spinnen
Das persönliche Biotop
Neugierig auf das Leben bleiben
Bitte leise gehen
Staunen
Anmerkungen
Ich mag Stille. Vor allem die Stille, in der man etwas hört. Mir gefällt es, wenn der Wind in den Baumwipfeln rauscht. Ich höre gern die Brandung am Meeresufer. Wenn die Wellen tosen, wird es weit in meiner Brust, und ich stehe einfach da und höre zu und sehe in die Ferne.
Mir gefällt die Stille unter einem Sternenhimmel. Das Leuchten zahlloser Sonnen am schwarzen Himmel lässt mich vergessen, dass da eine Atmosphäre ist, es wirkt, als stünde ich auf der Planetenoberfläche im Weltraum.
Die Stille von Wind und Meer und Sternen macht mich klein. Das gefällt mir, denn meine Selbstwahrnehmung ist die meiste Zeit des Tages angeschwollen wie eine Prellwunde, sie schmerzt und lässt mich daran denken, wie es mir gerade geht und ob alles in Ordnung ist oder ob mich etwas stört und was die nächsten Aufgaben sind und wem ich es recht machen will. Stehe ich am Meeresufer oder unter einem großen Baum oder unterm Sternenhimmel, dann weiß ich, dass ich klein bin auf einem riesigen Planeten und dass ich nicht wichtig bin, außer für meinen ewigen Gefährten, den Erschaffer von allem, den Weltenschmied. Und wenn ich ihm wichtig bin, muss ich mir selbst nicht wichtig sein, er kümmert sich dann schon, ich kann loslassen und einfach da sein. Es ist gut, einfach da zu sein.
Mit den vertrautesten Menschen kann ich auch schweigen. Ohne, dass es unangenehm ist. Ich muss nicht Konversation machen und ständig mit Blicken und Worten abprüfen, ob es meinem Gegenüber gut geht und ob es zufrieden ist mit mir.
Ich schweige gern in Buchhandlungen. Niemand redet laut in einer Buchhandlung, die Regale mit Tausenden Büchern machen ehrfürchtig. Vor dieser Menge an Wissen und Erfahrungen und starken Geschichten werden wir still.
Ich liebe Kinosäle, deren Polstersessel mich weich empfangen wie ein Nest und mich klein machen vor einer gigantischen Leinwand. Ich kann gut mit den anderen Filmliebhabern still genießen.
Ich liebe Bibliotheken, Konzertsäle, Wälder, und beim Schwimmen tauche ich gern, dann schweige ich unter Wasser mit dem See, und ab und an sehe ich einen Fisch, der mit mir schweigt.
In der Stille bin ich nicht abwesend. Ich beame mich nicht weg. Ich bin bloß endlich einmal nicht abgelenkt von meinen sorgenvollen Gedanken und darf anwesend sein, einfach so.
Matt Ridley hat ein Buch geschrieben, das ich in weiten Teilen für schlichtweg falsch halte (es heißt »Wenn Ideen Sex haben«). Aber es hat seine erhellenden Seiten. Er vergleicht unser luxuriöses Leben heute mit dem Leben früher, indem er ausrechnet, wie viel künstliches Licht man sich mit dem Lohn für eine Arbeitsstunde kaufen konnte: Heute arbeiten wir eine Stunde und bekommen dafür 300 Tage Lesevergnügen, im Jahr 1800 hätten wir für dieselbe Arbeit nur zehn Minuten Talglicht bekommen. Um 1750 vor Christus erzeugte man das Licht in Babylon mit Sesamöllampen. Damals musste man fünfzig Stunden arbeiten, um eine Stunde künstliches Licht zu bezahlen. Wie viel besser haben wir es als unsere Vorfahren! Und wir haben keinen Ruß an der Decke, es flackert nicht, stinkt nicht und ist nicht brandgefährlich. Die für mich kostbarste Ware aber, die wir heute in größerem Maß haben als früher, ist die Freiheit. Meine Vorfahren waren Schmiede. In einem früheren Jahrhundert hätte ich keine Wahl gehabt, wenn Großvater und Vater Schmied waren, wäre auch ich an der Esse gelandet. Ich bin lang und dünn und trage eine Brille. Mit Hammer und Amboss wäre ich nie glücklich geworden.
Ich bin in der DDR aufgewachsen, als Pastorensohn. Eine Mitgliedschaft bei den Thälmannpionieren kam für meine beiden Brüder und mich nicht infrage, zu weit lagen die Ansichten unserer Familie und die des Staates auseinander. In den Gesetzen der Thälmannpioniere hieß es unter anderem:
Wir Thälmannpioniere lieben unser sozialistisches Vaterland, die Deutsche Demokratische Republik. In Wort und Tat ergreifen wir immer und überall Partei für unseren Arbeiter- und Bauern-Staat, der ein fester Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft ist.
Wir Thälmannpioniere tragen mit Stolz unser rotes Halstuch und halten es in Ehren. Unser rotes Halstuch ist Teil der Fahne der Arbeiterklasse. Für uns Thälmannpioniere ist es eine große Ehre, das rote Halstuch als äußeres Zeichen unserer engen Verbundenheit zur Sache der Arbeiterklasse und ihrer Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, zu tragen.
Wir Thälmannpioniere lieben und schützen den Frieden und hassen die Kriegstreiber. Durch fleißiges Lernen und durch gute Taten stärken wir den Sozialismus und helfen den Friedenskräften der ganzen Welt. Wir treten immer und überall gegen die Hetze und die Lügen der Imperialisten auf.
Die »Kriegstreiber« und »Imperialisten« lebten in der Bundesrepublik Deutschland und in Amerika. Die sollten wir hassen.
Das erinnert mich an die Spruchbänder der paramilitärischen Kampfgruppen der Arbeiterklasse, die in der DDR zum 1. Mai in der großen Parade mit dem Spruchband »Wir hassen die Kriegstreiber!« marschierten. Dabei war jeder Schütze mit einem Karabiner 98k ausgerüstet, und drei Mann jeder Gruppe trugen eine Maschinenpistole oder das Sturmgewehr MPi 44. Außerdem waren sie mit Handgranaten und Nebelgranaten ausgerüstet. Sie übten vier Stunden in der Woche Dreißig-Kilometer-Märsche, Schießen auf ein bewegliches Ziel, Schießen auf Mannscheiben. Ihre Zugführer trainierten Taktik des Straßen- und Häuserkampfes. Ziel der Einheiten war es, einen Volksaufstand gegen das Regime wie am 17. Juni 1953 zu verhindern, sollte er sich wiederholen.
Ich weiß, was Unfreiheit ist. Als Kind stand ich mit meiner Familie an den Grenzbefestigungen vor dem Brandenburger Tor, und ich fragte mich, wie es möglich wäre, über den Todesstreifen zu gelangen. Die Waffen der Grenzsoldaten waren keine Attrappe. Sie hätten auf mich geschossen, wenn ich losgelaufen wäre. Auf andere haben sie geschossen, es gab 327 Todesopfer an der Mauer.
Da ich kein Thälmannpionier war und später auch nicht in der Freien Deutschen Jugend, war es ausgeschlossen, dass ich nach der zehnten Klasse das Abitur machte. Ein Studium kam auch nicht infrage, und bei der Wahl des Ausbildungsplatzes hätten die Parteileute mich eingeschränkt. Ich plante, Bäcker zu werden. Vielleicht hätte man es mir erlaubt. Dann würden Sie heute kein Buch von mir lesen, sondern vielleicht ein Brötchen kauen, das ich gebacken hätte.
In der DDR musste jedes Druckwerk genehmigt werden. Einem, dem sie das Abitur verbieten, hätten sie kaum gestattet, Bücher zu veröffentlichen.
Obwohl ich immer ein guter Schüler war, war ich unserer Klassenlehrerin als Pastorensohn suspekt. Morgens war oft eine Diskussion über Politisches angesetzt. Meldete ich mich, sah sie durch mich hindurch, als wäre ich nicht da. Sie war klein gewachsen, hielt den Kopf aber hoch aufgereckt, machte einen spitzen Mund und fragte: »Hat noch jemand einen Beitrag?« Mein erhobener Arm war Luft für sie. Meldete sich niemand außer mir, erklärte sie die Diskussion für beendet.
Dann kam die Wende. Ich durfte Abitur machen. Zu Beginn dieser Zeit gingen wir mit der Schulklasse ins Berufsinformationszentrum, und da waren plötzlich all diese Berufe, die uns offenstanden, all diese Möglichkeiten! Es war ein überwältigendes Gefühl.
Aber auch wenn Sie in Westdeutschland aufgewachsen sind, gilt: Kein Zeitalter vor uns hatte eine solche Freiheit. Allein schon die freie Wahl des Wohnorts war in früheren Jahrhunderten für große Teile der Bevölkerung nicht gegeben. Und für eine Eheschließung musste man bei den Herrschaften um Erlaubnis bitten.
Die strengen Standesregeln führten mitunter zu absurden Situationen. König Friedrich Wilhelm III. war seit 1810 Witwer. 1824 heiratete er Auguste von Harrach. Allerdings stellte Auguste keine standesgemäße Verbindung dar, deshalb heiratete er sie »morganatisch«. Damit wurde sie offiziell seine Ehefrau, aber ohne in alle üblichen Rechte eingesetzt zu werden. Sie blieb in der Rangfolge bei Hof weit unter ihm, sie stand noch unter den jüngsten Prinzen. Der König und sie waren bis 1840 glücklich verheiratet, und sie pflegte ihn in den letzten Monaten aufopferungsvoll. An seiner offiziellen Trauerfeier im Berliner Dom durfte sie aber nicht teilnehmen, weil sie zu niedrigen Standes war. Die Witwe des Königs! Nach 16 Jahren Ehe!
Heute dürfen wir unsere Lebensumstände frei wählen. Wir dürfen heiraten, wen wir wollen. Oder uns entscheiden, nicht zu heiraten. Wir können Kinder aufziehen, eins, drei, fünf. Wir können unseren Beruf aussuchen.
Und wie viel Freizeit wir haben! Wir haben die Muße, zu lesen, zu schreiben, zu singen, im Internet zu surfen, wir gehen zum Baden an den Strand und zum Spazieren in den Wald, wir fliegen in den Urlaub, pflegen Hobbys, bilden uns weiter, besuchen uns gegenseitig.
Unsere Wahlmöglichkeiten wachsen beständig. 1965 hatte ein Supermarkt in Deutschland im Durchschnitt 3.200 verschiedene Artikel im Angebot. Heute sind es 11.600. Wir können im Lebensmittelgeschäft also aus über zehntausend Produkten auswählen. Größere Supermärkte haben sogar bis zu 60.000 Artikel vorrätig.
Eine kluge Logistik ist dafür nötig. Und Bäckereien, Müslifabriken, Apfelplantagen und Süßigkeitenerfinder lassen sich viel einfallen, damit wir ihre Ware in unseren Einkaufskorb legen.
Weltweit läuft ein unglaubliches Projekt der Zusammenarbeit. Damit ich mit einem Bleistift schreiben kann, schuften Arbeiter in den Grafitminen Sri Lankas, Holzfäller in den USA fällen das Wachholderholz – man verwendet es, weil es wenig Astlöcher hat und weich genug ist, um das Anspitzen zu ermöglichen –, und in einer Bleistiftfabrik in Deutschland wird das Grafitpulver mit Tonerde gemischt und die Mine bei mehr als 1.000 Grad Celsius im Ofen hart gebrannt. Anschließend behandelt man sie mit Wachs, damit sie geschmeidiger wird und man besser mit ihr schreiben kann, und fügt sie in ihre hölzerne Hülle.
Aber damit tasten wir ja gerade mal über die Oberfläche des Ganzen. Die Holzfäller trinken Kaffee von Kaffeebauern in Brasilien. Die Fabrikmitarbeiter bringen ihre Kinder in den Kindergarten. Sie lesen abends ein Buch oder sehen sich einen Film an. Jemand hat ihr Haus gebaut, jemand holt ihren Müll ab.
Was steuere ich bei zu diesem Projekt?
Ein Buch. Und es genügt. Ich darf, indem ich Bücher schreibe, meine Kinder in die Schule schicken, die Straßen benutzen, mich unter dem Schutz der Polizei bewegen, und auch für mich fahren die Schiffe über die Weltmeere und bringen Obst und Fleisch und Getreide und elektronische Geräte in die Häfen, von wo aus all das via Güterzug und LKW in meine Stadt gebracht wird.
Nehmen wir mal an, ich habe heute keine Lust, einzukaufen und zu kochen. (Lena lacht sich schlapp, wenn sie das liest – sie wird fragen: Wann hast du das letzte Mal gekocht?) Dann habe ich die Wahl zwischen Entenbrustfilet mit frischen Mangostücken in Mango-Safran-Cashew-Sauce im indischen Restaurant, einer knusprigen Thunfischpizza beim Italiener, mexikanischen Quesadillas, einer großen Platte Tapas beim Spanier, Sushi, kroatischen oder vietnamesischen Speisen oder gehobener deutscher Küche.
Ein anderes Beispiel: Für jeden Geschmack gibt es die passenden Schuhe. Sneaker in allen Farben. Mokassins. Elegante Oxfords, Budapester, Derbs. Bootsschuhe aus Veloursleder. Weiche Loafer. Stiefeletten für den Winter. Und das war nur die Männerabteilung, ganz ohne Ballerinas, Boots, Kitten Heels, Pumps und Riemchen-Sandaletten.
Und es gibt keine Kleiderordnung, die bestimmte Schuhe nur gewissen Gesellschaftsschichten erlaubt. Lachen Sie nicht! Das war in Europa lange Zeit gang und gäbe. Der Gebrauch teurer Seidenstoffe wie Atlas, Damast oder Brokat war den höheren Ständen vorbehalten, Handwerker und Bauern durften nur Wolle oder Leder tragen. Auch die Farben waren klar geregelt: Fürs niedere Volk Schwarz oder Graublau, für die Adligen die bunten Gewänder in Rot, Weiß, Braun oder Blaugrün, gestreifte Stoffe oder solche, in die Gold- und Silberfäden gewebt waren.
Im 14. Jahrhundert existierten nach Vermögen gestaffelte Kleiderordnungen. Damals kamen Schuhe mit langen spitzen Schnäbeln in Mode, und es wurde rasch gesetzlich geklärt, dass keiner außer den Adligen diese Schnabelschuhe tragen durfte. Bei Zuwiderhandlungen drohten Strafen.
Solche Regeln waren kein ausschließlich europäisches Phänomen. Auch im China der Ming-Dynastie gab es eine Kleiderordnung mit genauen Angaben zu den Farben der Kleider, die man tragen durfte. Dazu existierten Vorschriften zur Musik, die zu hören erlaubt war, und zu den Festen, die man feiern durfte. Jegliche Reisen waren verboten, Ausnahmegenehmigungen erteilte auf Anfrage die Regierungsbehörde.
Die Freiheit, die wir heute haben, genossen in der Weltgeschichte nur wenige. Hinzu kommt der Wohlstand, der unseren Spielraun noch erweitert. Im vergangenen Jahrhundert konnten es sich nur die Reichsten und Mächtigsten leisten, mit dem Flugzeug zu reisen. Schnelle Fortbewegung war ein Luxus. Und wir sind empört, wenn mal in einem Jahr der Urlaub ins Wasser fällt.
Schon bloß in ferne Länder zu telefonieren, war vor nicht allzu langer Zeit sündhaft teuer. In meiner Kindheit lebten wir für ein Jahr in den USA. Damals fassten wir uns kurz, wenn wir nach Deutschland telefonierten, weil sonst eine happige Telefonrechnung gedroht hätte.
Heute schicken wir nicht nur E-Mails in alle Welt, wir telefonieren auch, ohne nachzudenken (oft zur Flatrate), reisen, lesen, bilden uns – lauter Privilegien der Reichen, zu denen wir inzwischen Zugang haben.
Und wir haben mehr Zeit als unsere Vorfahren, unser Leben zu genießen. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland ist in den vergangenen siebzig Jahren für Männer um rund 20 Jahre und für Frauen um rund 15 Jahre gestiegen. So viel zusätzliche Zeit haben wir. Nicht Minuten, nicht Stunden, sondern etliche Jahre mehr als die Menschen vor uns.
Das liegt am medizinischen Fortschritt, am Zurückdrängen von Infektionskrankheiten, an der Bildung und der Hygiene, die wir heute haben, und nicht zuletzt daran, dass wir uns weniger bei der Arbeit verausgaben müssen. (Ich weiß, das empfinden Sie nicht so.)
Die Wahrheit ist: Wir sind reicher geworden. Auch in anderen Weltgegenden, wobei dort der Weg noch etwas weiter ist.
Unsere Generation genießt mehr Frieden, Freiheit, Freizeit, Bildung und kulinarische Genüsse als jede Generation davor.
Und wir?
Nörgeln.
Bis ich 32 Jahre alt war, hatte ich in meinem Leben bereits an neun Orten gewohnt. Im Durchschnitt – mathematisch gerechnet – blieb ich jeweils 3,5 Jahre. Müsste ich meine Heimatstadt benennen, würde ich Berlin sagen, dort habe ich am längsten gelebt. Eine wirkliche Heimat habe ich aber nicht. Keinen einen Ort, an dem ich Kindheit und Jugend und Erwachsenenalter verbracht habe. Das macht mir nichts aus, im Gegenteil, ich will gern noch mehr sehen von der Welt, am liebsten mal in New York leben, in Moskau, in London.
Wenn ich für eine Lesung in eine Stadt reise, frage ich mich, wie es ist, dort seine Heimat zu haben. Am Bahnhof frage ich die Menschen nach dem Weg zum Hotel, und sie erzählen mir gleich mehrere mögliche Wege. Ich frage verwirrt nach. Gleich schleicht sich ein fürsorgliches Lächeln in ihr Gesicht, sie denken: Oh, wenn er nicht mal diese Straße kennt, dann hat er wirklich keinen blassen Schimmer.
Ich sehe mir die Läden an, das Kino, die Häuser. Ich begutachte die Schlaglöcher in den Straßen, die murkeligen Zäune, sehe heruntergewohnte Straßen, spielende Kinder, einen alten Mann mit Tragetasche. Jede Stadt hat ihr eigenes Gesicht. Den Einwohnern ist dieses Gesicht vertraut wie kein zweites. Sie kennen hier die meisten Menschen, grüßen sich auf der Straße, haben zu jeder Hausecke eine Erinnerung: der erste Kuss, der erste Strafzettel, die zerbrochene Milchflasche, der Lieblingsplatz zum Lesen, der verlorene Schlüssel. Ihre Stadt ist ein Teil ihres Herzens, nirgendwo auf der Welt werden sie sich heimischer fühlen als hier. Ihr Zuhause besteht nicht nur aus ihrer Wohnung und ihrem Haus, sondern auch aus ihrer Straße, den Läden, wo sie einkaufen, ihren Haltestellen und Arztpraxen, der Schule, dem Fotografen und der Kirche.
Am nächsten Tag reise ich ab. Ich verlasse diese in sich abgeschlossene Welt, die sympathische Schneegestöber-Kugel. Meinen Neid auf die Wurzeln dieser Menschen lösche ich mit Arroganz: Ich habe mehr von der Welt gesehen als sie, bin mehr gereist, habe mehr Orte kennengelernt.
Die leise Frage bleibt, wer das Bessere gewählt hat.
Ich vermute, es gibt ein besonderes Verständnis der eigenen Existenz, wenn man – wie meine Großtante – sein Leben lang beim Blick aus dem Fenster auf dieselben Felder und denselben Wald sieht, und die Eltern und die Großeltern haben schon aus diesem Fenster gesehen, und der Wald ist geblieben, nur Sommer und Winter haben gewechselt, und die Felder haben Frucht getragen.
Nachts mit dem Zug über Land zu fahren und die Lichter in den Häusern zu sehen, wo man Abendbrot isst, im Sessel sitzt und liest, jedes Licht ein Zuhause, jedes Licht ein Mensch, das ist ein eigenartiges Gefühl. Wir wissen nichts voneinander, diese Menschen und ich. Ich weiß nichts von ihrer Ruhe, sie wissen nichts von meiner Rastlosigkeit.
Vielleicht ist freiwillige Beschränkung das Geheimnis von Heimat. Kein Ort auf dieser Welt ist perfekt. In den Bergen fehlt das Meer, am Meer fehlt der Wald, im Wald fehlt der Himmel. In der Großstadt gibt es keine Ruhe im Grünen, das Dorf bietet zu wenig Weltläufigkeit. Man muss wohl, um Heimat zu finden, verzichten können.