Gerhard Mantel
Vom Text zum Klang
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Bestellnummer SDP 104
ISBN 978-3-7957-8652-6
© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
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Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 8731
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Du übst die angeborne Kraft,
Mit schneller Hand bequem dich auszudrücken;
Es glückt dir schon und wird noch besser glücken,
Allein du übst die Hand,
Du übst den Blick*, nun üb’ auch den Verstand.
Dem glücklichsten Genie wird’s kaum einmal gelingen,
Sich durch Natur und durch Instinkt allein
Zum Ungemeinen aufzuschwingen:
Die Kunst bleibt Kunst! Wer sie nicht durchgedacht,
Der darf sich keinen Künstler nennen;
Hier hilft das Tappen nichts; eh’ man was Gutes macht,
Muss man es erst recht sicher kennen!
(J. W. v. Goethe, aus »Künstlers Apotheose«)
* Goethes Worte wenden sich an den Maler; für uns Musiker hätte er wohl gesagt: Du übst das Ohr, das Gehör!
Inhalt
Vorwort
I. Intuition
1. Begabung
2. Was ist der Unterschied?
3. Musikalisches Wissen
4. Wie spielt man langweilig?
II. Notentext
1. »Public domain«?
2. Einstieg in einen Text
3. Lesen lernen!
4. Beschreibung des Notentextes
5. Bedeutung: Warum steht das da?
III. Wahrnehmung in Parametern
1. Beschreibung und Bewertung
2. Grenzen der Aufmerksamkeit
3. Fehler als Lernhilfe
4. Regie bei der Interpretation
5. Grenzen des Beschreibbaren
IV. Rhythmus
1. Kreative Ungenauigkeit
2. Rhythmische Fallen
3. Sprachrhythmus
4. Auftakte
V. Dynamik
1. Absicht und Beliebigkeit
2. Ideale Ungleichmäßigkeit
3. Ebenen dynamischer Interpretation
4. Psychologische Aspekte von Dynamik
VI. Artikulation
1. Konsonanten
2. Akzente
3. Pausen
4. Tonverbindungen
VII. Klangfarben
1. Vokale
2. Vibrato
3. Intonation und Klangfarbe
VIII. Tempo
1. Tempo variieren
2. Übergänge
IX. Vergleichen: Die Frage nach dem »Wieviel«?
1. Vergleiche schaffen
2. Relief
3. Spielräume
4. Geschmack: Regel und Individualität
X. Struktur
1. Musik verstehen
2. Ordnung
3. Strukturelle Zeitspannen
4. Strukturmuster
4.1 Barform
4.2 Erweiterung
4.3 Verdichtung
4.4 Sequenzen
4.5 Umkehrpunkte
4.6 Zahlen als Strukturmerkmale
5. Phrasierung
6. Gliederung und Interpunktion
XI. Profile
1. Kurven
2. Gewichtung einzelner Elemente
3. Dynamische Klammern
4. Rubato, agogische Klammern
5. Verhältnis zwischen Artikulation und Phrasierung
6. Plötzlichkeit
XII. Variation und Aufmerksamkeit
1. Variation und Sinneseindruck
2. Mit Varianten spielen
XIII. Das Spiel mit Abweichungen
1. Genau oder bestimmt?
2. Bezeichnungen des Komponisten
XIV. Verknüpfung
1. Erinnerung und Erwartung
2. Die »große Linie«
3. Ähnlichkeit
4. Puzzle-Profil musikalischer Bausteine
5. Auffälligkeit
6. Kontraste
7. Überblick über Zeitspannen
XV. Assoziationen
1. Mut zur Assoziation
2. Komponist und Stil
3. Sprachliche Assoziationen
4. Physikalische Assoziationen
5. Bilder, Situationen
5.1 Erzählungen, Imaginationen
5.2 Raum
5.3 Klänge
5.4 Bewegungen
6. Rollen
XVI. Ausdruck und Kommunikation
1. Was ist Ausdruck?
2. Wie entsteht ein Vorstellungsbild?
3. Vorstellungsbild und Ausführung als Regelkreis
4. Musikalische Empfindung und Körperempfindung
5. Ausdruck als bewegte Energie
5.1 Wahrnehmung von Spannung
5.2 Körperspannung
5.3 Psychische Spannung
6. Kommunikation
7. Ausdrucksgesten
8. Mentale Vorstellung
XVII. Der Interpret
1. Nachahmung, Vorbilder
2. Optimale Disposition
3. Gewohnheit, Einprägung und Gedächtnis
4. Stimmung, Befindlichkeit
5. Mut zur eigenen Interpretation
Literaturverzeichnis
Sach- und Personenregister
Anlass dieses Buches waren zwei Stoßseufzer meiner Studenten. Ein Student meinte: »Ich möchte so gerne eine überzeugende Interpretation erreichen, aber mir fällt nichts ein!« Ein anderer fragte: »Was kann ich machen, um meine Begabung auf eine höhere Stufe zu heben?«
Es gibt keinen Geheimtipp für die Interpretation. Aber es gibt er probte Verhaltensweisen, die den Zustand, der zu diesen Stoßseufzern geführt hat, in Bewegung bringen können. Statt auf Inspiration zu warten, kann man aktiv etwas unternehmen. Entscheidende Voraussetzung ist die Bereitschaft des Lernenden, den Blickwinkel und die Perspektive zu ändern. Wenn der Blick nur starr auf das Ziel, auf den Erfolg, auf das Erlebnis eines Kunstwerks gerichtet ist, werden viele Möglichkeiten, die auf dem Weg zu diesem Erfolg liegen, ja die den Erfolg überhaupt bedingen, nicht wahrgenom men. Das klingt paradox, ist aber eigentlich eine einfache Wahrheit: Das Ziel wird ja nicht aus den Augen verloren, wenn man sich um einzelne Aspekte auf dem Weg zu diesem Ziel bemüht und sich mit ihnen isoliert beschäftigt. Das Ziel wird auf diese Weise überhaupt erst erreichbar.
Ich möchte in diesem Buch Werkzeuge zur Interpretation definieren und für den Übealltag anbieten. Gleichzeitig möchte ich jedem jungen Musiker Mut machen, sich von alten Gewohnheiten zu verabschieden. Jede Änderung von Gewohnheiten führt zunächst zu einer gewissen Unsicherheit. Es gilt zunächst einmal, diese Unsicherheit auszuhalten. In einem zweiten Schritt lässt sich diese Unsicherheit auch als eine Einladung zur Improvisation verstehen. Ein Funke Improvisation muss bei jedem noch so intensiv erarbeiteten Werk übrig bleiben, damit die Musik beim Hörer zündet.
Die Änderung eines Verhaltens ist immer mit einem kleinen »Abschiedsschmerz« verbunden, den es im Interesse des Fortschritts auszuhalten gilt. Die Bereitschaft zu einem neuen Blickwinkel, vielleicht sogar zu einer neuen Arbeitsmethode, zum Experimentieren (das auch das Risiko von Fehlern birgt!), hat viel mit der Persönlichkeit eines Instrumentalisten zu tun, mit seinem Mut. Und immer spielt die Neugier, der Forscherdrang, ja der Ehrgeiz, die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern, eine Rolle: Ohne Neugier geht überhaupt nichts!
Im Zentrum der Überlegungen in diesem Buch steht nicht die – durchaus berechtigte – Frage, »Was muss ich aus philologischen (historischen, stilistischen) Gründen machen?«, sondern die Frage: »Was kann ich darüber hinaus machen, um erstens mich selbst gezielt weiter zu entwickeln und um zweitens meinem Hörer diese von mir erlebte Musik nahezubringen? Wie kann ich sein Interesse wecken, ihn mitreißen, ihn faszinieren?« Dieses Buch fragt also nicht in erster Linie, wie es klingen soll, sondern was ich machen kann, damit es so klingt, wie es klingen soll.
Ich möchte nicht suggerieren, man könne philologische Genauigkeit, historisches Wissen, musikalische Analyse und Hermeneutik einfach durch Inspiration ersetzen. Im Gegenteil, Inspiration und Analyse stehen miteinander in einer Art Wechselwirkung: Durch die enge Verknüpfung mit der Praxis werden Türen zu einem gesteigerten Erlebnisniveau der Musik geöffnet. Das schärft das Bewusstsein dafür, dass die Ziele selbst sich durch die Suche nach ihnen er weitern und neu gestalten lassen. Der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg postulierte in seiner Unschärferelation, dass in der Welt der Teilchen durch den Messvorgang das Gemessene selbst verändert wird. In Analogie dazu lässt sich feststellen: Auch in der Musik wird das Gesuchte durch das Suchen verändert!
Der berühmte Schweizer Pianist, Dirigent und Musikpädagoge Edwin Fischer sagte: »Inspiration ist nicht alles«. Daraus folgt, dass wir bei der Interpretation nicht dem – vielleicht vergeblichen – »Warten auf Inspiration« ausgeliefert sind. In diesem Sinne wendet sich dieses Buch an alle, die ihre Interpretationsmöglichkeiten durch eine aktive geistige Anstrengung erweitern wollen, ausgehend von naturgemäß unterschiedlichen Ebenen musikalischen Könnens und Wissens.
Meine Beobachtungen stammen aus einer langjährigen Arbeitsund Unterrichtspraxis. Sie beziehen auch die Grenzen mit ein, die dem Musikstudenten in der Praxis seines Alltags gesetzt sind. Trotz der Unterrichtsform des Einzelunterrichts ist es auch an den Hochschulen sehr schwierig, jedem Begabungsprofil eine maßgeschneiderte pädagogische Betreuung angedeihen zu lassen. Die hier besprochenen Fragen beziehen sich übrigens immer auch auf kammermusikalische Situationen, ohne dass diesem Themenkomplex ein eigenes Kapitel gewidmet wurde. Gerade im kammermusikalischen Kontext entstehen durch unreflektierte Verallgemeinerungen (»das spielt man so«!) viele Missverständnisse, die ein hohes Konfliktpotenzial mit sich bringen und oft die Arbeit, ja sogar den menschlichen Zusammenhalt von Gruppen behindern.
Wichtig war für mich das Bestreben, ästhetische und mentale Prozesse, die bei einer Interpretation in den meisten Fällen unbewusst, aber keineswegs unbemerkt und wirkungslos ablaufen, dem Bewusstsein zu erschließen. Eine neue Perspektive und neue Arbeitsmethoden können die emotionalen Eigenschaften einer Interpretation ändern. Für den Hörer ist es gleichgültig, aus welchen Quellen sich eine überzeugende Interpretation speist. Jeder Künstler hat ein eigenes Profil, das sich aus seiner Biografie ergibt und auf verschiedenen Graden von Begabung, Temperament, Intuition, Wissen, Experimentieren, Vergleichen und Lernen basiert.
Viele Studenten übertragen die Verantwortung für ihre eigene Entwicklung viel zu sehr und zu lange auf einen Lehrer, oft in einem Alter, in dem in anderen Berufen schon Verantwortung für andere übernommen werden muss. Das Buch soll eine Hilfe zu autodidaktischem Handeln sein, es soll zu eigenverantwortlichem Umgang mit der eigenen Begabung beitragen. Und der Lehrer kann sich – sozusagen als Nebenprodukt dieses Buches – zur Auseinandersetzung damit anregen lassen, auf welcher Alters- und Entwicklungsstufe sein Schüler sich gerade befindet. Auf diese Weise kann der Lehrer prüfen, wann und in welchem Maße der Schüler in die Unabhängigkeit und Eigenverantwortung geführt und entlassen werden kann.
Das Buch soll jedem Lernenden und Lehrenden – das kann auch ein und dieselbe Person sein – Anregungen zur interpretatorischen Arbeit in der Praxis geben. Da ich Cellist bin, neigen die Beispiele etwas zu streicherspezifischer Gewichtung. Analogien zu anderen Instrumenten bieten sich aber immer an.
Der Leser findet in diesem Buch einen logischen Aufbau vor, die meisten Kapitel können aber auch ohne den Gesamtzusammenhang verstanden werden und bieten punktuelle Informationen zu bestimmten Fragestellungen.
Gerhard Mantel
Bei der Beurteilung von künstlerischen Leistungen, sei es in Wettbewerben, Konzerten oder Prüfungen, bei »Jugend Musiziert« oder im familiären Bereich, fällt früher oder später unweigerlich der Begriff der Begabung. So schwierig es ist, diesen Begriff überhaupt zu definieren – er wird oft in dem Sinne verwendet, dass jemand ohne nachzudenken, intuitiv schnell und anscheinend mühelos etwas erreicht, das einem anderen gar nicht oder nur mit großer Anstrengung gelingt. Begabung wird auch häufig als eine genetisch bedingte Eigenschaft verstanden.
Eines der unbestrittenen Ergebnisse der Begabungsforschung ist sicher dieses, dass Begabung sich aus einer Reihe von sehr verschiedenen Eigenschaften zusammensetzt. Fest steht auch, dass manche dieser Eigenschaften bei Musikern gar keine speziell musikalischen Eigenschaften sind. Z.B. geht es da um Neugier, Geduld, Zähigkeit und Hartnäckigkeit beim Verfolgen von Zielen, Ehrgeiz, sogar eine Portion Wille zur Selbstdarstellung kann hier eine Rolle spielen.
Oft wird mit dem Begriff Begabung die Vorstellung verbunden, dass der Erfolg sich mit wenig Anstrengung und wenig Bewusstheit, sozusagen als »Geschenk« einstellt. Der Begabte handelt unbewusst richtig, nach Gesetzen, die er nicht zu kennen braucht. Als beliebtes Beispiel wird gern eine Parallele zum Spracherwerb gezogen: Jedes Kind lernt »automatisch« seine Muttersprache mit allen Regeln dieser Sprache, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein, ohne diese Regeln definieren zu können.
Wie verhält es sich aber mit einer ganz anderen Erfahrung, die sich in dem Goethe-Wort »Genie ist Fleiß« niederschlägt? Eine ähnliche Einschätzung finden wir auch in den eingangs zitierten Zeilen Goethes. Die Bewertung einer Begabung wird im Allgemeinen dann besonders positiv ausfallen, wenn möglichst wenig anstrengende »Kopfarbeit« dahinter steckt, wofür in Musikerkreisen der Begriff des »Verkopften« kursiert. Man könnte also daraus folgern: Je weniger einer denkt, desto besser spielt er.
So kommt es, dass sich mancher angehende Musiker die bange Frage stellt, wie begabt er eigentlich ist und ob er an seiner – als vollkommen unveränderlich eingestuften – Begabung irgendetwas ändern, verbessern könnte.
Wenn Begabung als eine genetische Grundausstattung verstanden wird, die ja zweifellos jeder Mensch in sich trägt, dann ist eine solche Fragestellung sinnlos. Man kann ja auch sein Geburtsdatum, die Körpergröße, die Eltern und die angeborene Augenfarbe nicht ändern. Leitet man aber den Begriff »Begabung« vom Verb »begaben« (= mit etwas ausstatten, versehen) ab, dann ergibt sich ein Spielraum, innerhalb dessen man sich bis zu einem gewissen Grad selbst begaben oder begaben lassen kann.
Es stimmt, dass es immer wieder Menschen gegeben hat und gibt, die aus einer intuitiven Veranlagung heraus ästhetische Zusammenhänge erfassen und realisieren können. Es gibt Wunderkinder, die mit einem überdurchschnittlich guten Gefühl für ihr Instrument ausgestattet sind, mit einer körperlichen Beweglichkeit und mit einer Fähigkeit ihre musikalischen Vorstellungen umzusetzen, die man tatsächlich nur bewundern kann. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Wunderkinder in einer Phase ihres Lebens gefördert werden, in der rein biologische Reifungsprozesse und musikalische Lernprozesse noch aufs Engste miteinander verschmolzen sind. Diese Menschen stellen aber einen winzigen Prozentsatz all jener dar, die Musik zu ihrer Lebensgrundlage machen wollen – eine Handvoll Ausnahmeerscheinungen unter Hunderten und Tausenden von Musikstudenten, die eben keine Wunderkinder sind.
Offensichtlich gibt es unbewusst gelernte Verhaltensweisen, die bei manchen Menschen für das Beherrschen eines Instruments weitgehend ausreichen. So kommt es, dass Musiker mit beschränkter Fähigkeit zu »intellektueller« Begriffsbildung trotzdem intelligent Musik machen können, dass Streicher »sauber« spielen können, ohne irgendeine Kenntnis der physikalischen Grundlagen der Intonation zu haben. Dies gilt aber nicht für alle Menschen. Niemand kann sich nachträglich zum Wunderkind stilisieren.
Es ist deshalb sinnlos, die verschiedenen Arten von Begabung gegeneinander ausspielen zu wollen, etwa »verkopft« versus »aus dem Bauch«, »geübt, gelernt« versus »intuitiv « etc. Es ist sinnlos und kontraproduktiv, die mehr intuitive Begabung gegen die mehr begriffl ich orientierte (kognitive bzw. diskursive) Begabung, (das ist ja auch eine »Begabung«, eine Fähigkeit, nämlich die Fähigkeit zur Reflexion) auszuspielen, zumal in jedem Menschen beide Begabungsformen, wenn auch unterschiedlich stark, wirksam sind.
Die »unbegriffliche«, intuitive Begabung wird im Allgemeinen mehr bewundert. Sie kann sich aber nur »indirekt«, ungesteuert weiterentwickeln – vielleicht ist dies ein Grund dafür, dass so mancher hochbegabte Gewinner von Wettbewerben später stagniert.
Wer hingegen auch kognitiv, mit Hilfe von Begriffen arbeitet, also mit klaren, bewusst eingesetzten Selbstanweisungen aufgrund künstlerischen »Know-hows« und ausgestattet mit klaren methodischen Kenntnissen, die sich aufgrund von Erfahrung herangebildet haben, hat die besseren Möglichkeiten, sich auch in späteren Entwicklungs-stufen weiter zu entfalten. Ob man mehr intuitiv oder mehr bewusst seine Kunst verfeinert, hängt also auch von der musikalischen Lernbiografie ab. Vereinfachend kann man sagen: Je früher man beginnt, desto stärker ist die Intuition am Lernprozess beteiligt.
Intuition bedeutet »Einsicht« und wird im landläufigen Verständnis als eine Erkenntnis erlebt, deren Wurzeln nicht präsent sind, zumindest nicht bewusst. In Wirklichkeit ist Intuition jedoch immer das Resultat intensiver geistiger und emotionaler Beschäftigung. Im Gegensatz zu körperlichen Erlebnissen oder Ereignissen sind die komplexen Lernprozesse, die sich im Gehirn abspielen, nie direkt »fühlbar« und infolgedessen auch nicht als solche verfolgbar. Lernprozesse müssen aber der Intuition vorausgegangen sein; sie sind die Voraussetzung für das Glücksgefühl der als Geschenk, als Gabe, als Begabung erlebten Intuition.
Zwischen dem Wunderkind und dem sich weniger spektakulär Entwickelnden gibt es keine starre Grenze, sondern ein Kontinuum. So treffen wir auf Künstler der Spitzenklasse, die nie Wunderkinder waren und ihre Kunst über andere Kanäle als die kindliche Intuition gelernt und entwickelt haben. Daraus lässt sich schließen, dass ein wichtiger Teil der Begabung als Absorptionsfähigkeit bezeichnet werden kann. Mozarts Vater Leopold war der kompetenteste Instrumentalpädagoge seiner Zeit. Ein Teil von Wolfgangs Begabung muss in der Fähigkeit gelegen haben, das musikalische Wissen seines Vaters wie ein Schwamm aufzusaugen.
Eines steht fest: Musikalische Fantasie braucht geistiges und emotionales »Futter«! Sie wächst nicht im Vakuum auf der Basis eines »Prinzips Hoffnung «, sondern entsteht als Resultat der Verarbeitung vieler musikalischer Eindrücke. Die Eindrücke mögen, ja sie müssen von außen kommen, aber die Verarbeitung – mental, emotional, körperlich – kommt von innen. Dazu bedarf es der genannten Bereitschaft, Neues zu wagen und die Sicherheit von Gewohnheiten aufzugeben zugunsten der Freiheit des Experiments. Es gilt, Gewohntes mit Ungewohntem zu vergleichen. Wichtig ist dabei die Bereitschaft, Fehler zu machen und zu akzeptieren.
Viele stellen sich die Frage: Wie komme ich zu einer musikalischen Vorstellung? Zur Beantwortung dieser Frage muss man wissen: Die musikalische Vorstellung ist keine feste Größe, sondern entsteht, entwickelt und verändert sich in Abhängigkeit vom eigenen Verhalten.
Jeder Instrumentalist hat ein ganz individuelles Begabungsprofil. Man trifft auf phänomenale Bewegungsbegabungen, die erstaunlicherweise schwere Defizite im rhythmischen Bereich aufweisen können. Manche Instrumentalisten haben eine große Ausdrucksbegabung, aber vor lauter Begeisterung über die von ihnen selbst gespielte Musik nehmen sie schwere (z.B. intonatorische oder rhythmische) Mängel nicht wahr. Andere erreichen ein geradezu betörendes Klangprofil, ohne irgendeinen Sinn für Struktur zu entwickeln. Kann man bei einem Instrumentalisten, der über einen Triller wie von einer elektrischen Klingel und ein Staccato wie von einem Specht verfügt, schon von »musikalischer Begabung« sprechen? Allein diese Beobachtungen zeigen, wie unklar der Begabungsbegriff ist und wie wenig hilfreich, wenn man auf Probleme trifft.
Der musikalische Erfolg eines Studenten wird vom Umfeld – außer vom Lehrer – auf seine Begabung zurückgeführt, ein Misserfolg dagegen wird einem schlechten Lehrer angelastet. Der Ausspruch mancher Pädagogen: »Ich unterrichte nur begabte Schüler« ist, so gesehen, doppeldeutig. Hinter einer solchen Aussage mag ein erfolgreicher Pädagoge stecken, der seine Schüler »begaben« kann, andererseits lässt eine solche Aussage aber auch auf mangelnde pädagogische Fähigkeiten schließen, über die ein Lehrer mit Hilfe von »begabten« Schülern (bei denen die pädagogische Hauptarbeit schon von an deren Lehrern geleistet wurde) hinwegtäuschen möchte.
Die wichtigste Frage eines angehenden Musikers an sich selbst sollte also lauten:Was kann ich mit der in mir angelegten Begabung machen? Lässt sie sich entwickeln? Oder zumindest: Lässt sich meine Leistung auf der Basis meiner Anlage entwickeln, einer Anlage, die meine sämtlichen intuitiven, emotionalen und geistigen (selbstverständlich auch intellektuellen) Fähigkeiten umschließt?
Denn es läuft ja auf eine gewisse Verachtung der geistigen Fähigkeiten großer Komponisten hinaus, deren künstlerische Produkte einfach mit den Fähigkeiten des »Bauchs « quittieren zu wollen!Eine solche Einschätzung zeugt von einer völligen Unkenntnis der Arbeitsweise unseres Gehirns – und der Arbeitsweise jedes großen Komponisten.
»Was kann ich machen, um meine Begabung auf eine höhere Stufe zu heben?« An diese im Vorwort formulierte Frage knüpfen sich mehrere weitere Fragen an:
•Was genau ist der Unterschied zwischen einer besseren und einer schlechteren Interpretation, zwischen einer gelungenen und einer weniger gelungenen Version?
Der Akzent liegt auf dem Wort »genau«: Es muss doch beobachtbare, rein akustische Unterschiede geben, die zwar subjektiv ästhetisch und emotional erlebt und bewertet werden, aber doch objektiv feststellbar sind.
Es ist bemerkenswert, dass die rein physikalische Beschreibung eines akustischen Phänomens aus der Instrumentalpädagogik weitgehend ausgeklammert wird. Ein Klangverlauf ist ein physikalisch bestimmbares und deshalb zumindest bis zu einem gewissen Grad beschreibbares Phänomen. Die Beobachtung dieser rein klanglichen Unterschiede wird nun meist vernachlässigt zugunsten ihrer Bewertung (siehe Kapitel III). Viele angehende Musiker haben schon Schwierigkeiten damit, den dynamischen Verlauf eines Tons oder einer Phrase mit einer in die Luft gezeichneten Kurve auch nur ungefähr zu beschreiben. Alle können die Unterschiede aber bewerten, etwa durch Attribute wie intensiv, farbig, anrührend, spröde, langweilig, mitreißend etc.
•Was macht ein als begabt eingestufter, »besserer« Instrumentalist eigentlich anders?
Die »akustischen« Unterschiede müssen doch eine Ursache haben, die bis zu einem gewissen Grad beobachtbar und erforschbar ist.
•Kann ich einen von mir erlebten Unterschied zurückführen auf einen Unterschied im akustischen Phänomen, kann ich ihn also beschreiben, nicht nur bewerten, eventuell sogar nachahmen, auf jeden Fall für meine Praxis verwerten?
•Kann ich vielleicht sogar eine handhabbare ästhetische Regel, eine brauchbare Verallgemeinerung für mein Handeln ableiten, die mich zu einem neuen künstlerischen Verhalten befähigt, das dem des »Begabten« entspricht?
•Warum macht der »Begabte« etwas anders, oder anders gefragt, was erlebt er anders?
Es geht hier nicht um die Frage, was der Unterschied zwischen »begabten« und »weniger begabten« Instrumentalisten ist. Es geht um die Frage, was beim »Begabten« konkret anders klingt, was er anders macht und was er anders erlebt als der »weniger Begabte«.
•Welche von verschiedenen möglichen Arbeitsweisen hat der »Begabte« gewählt?
Zugegeben, die Beantwortung jeder einzelnen dieser so plausibel erscheinenden Fragen kann sehr schwierig sein. Sie stellen sich auch für jeden ein bisschen anders. Musiker erleben Musik sehr unterschiedlich. Der eine ist zufrieden, wenn er weiß, wie es geht, der andere ist erst zufrieden, wenn er es kann, der dritte schließlich ist erst dann glücklich, wenn er weiß, warum er es kann. Für das künstlerische Resultat spielt die Methode nur eine unerhebliche Rolle (für den Pädagogen, für die Weitergabe von Erkenntnissen ist sie natürlich sehr wichtig!).
Beide Methoden – das Lernen über Begriffe oder mehr über Intuition – können also je nach gestellter Aufgabe unterschiedlich erfolgreich sein. Manche Aufgaben lassen sich durch eine klare Beschreibung, andere durch eine mehr »intuitive« Assoziation besser lösen, wobei der jeweilige Schwerpunkt auch vom Lerntyp abhängt. Auch »kognitiv« in längeren Lernprozessen erreichte Leistungen stehen schließlich »intuitiv « zur Verfügung. Von Robert Schumann stammt der berühmte Ausspruch, dass Kopf, Herz und Hand im Gleichgewicht stehen müssen. Im Einzelfall macht es also die Mischung!
In Biografien und Autobiografien bedeutender Interpreten, ja selbst in der spezifisch instrumentalpädagogischen Literatur erfährt man zwar so manches über lerntechnische, über körperliche, ja »sportliche« Arbeitsmethoden, aber man erhält recht wenig konkrete und praktische künstlerisch-ästhetische Hinweise darauf, wie man sich eine Interpretation erarbeitet. Geschichte, Ziele, Wirkungen und Urteile von und über Musik werden überall ausführlich erörtert und oft geradezu schwärmerisch beschrieben, aber der künstlerische Arbeitsprozess selbst wird kaum thematisiert, sondern als »implizit«, als unterschwellig vorhanden vorausgesetzt. Das heißt, man verzichtet auf die Beschreibung der geistigen Vorgänge, die einer bestimmten Interpretation vorausgehen, als läge dieser Bereich in einer geheimnisvollen Black Box.
Die »Werkzeuge « der Wahrnehmung, die gleichzeitig auch die Werkzeuge der Darstellung sind und die Bedingungen schaffen für jede Differenzierung bei der interpretatorischen Arbeit, werden oft einfach vorausgesetzt – oder geheim gehalten. Eine Differenzierung beginnt dann – leider – erst eine Stufe höher, beim künstlerischen Resultat, nach dem Motto: »Wie du dort hingelangst, ist deine Sache«.
Immer wieder wird die Frage gestellt, ob das Gefühl für Technik und erst recht für Interpretation nicht besser »intuitiv « erlernbar sei. Manche befürchten sogar, dass das Wissen um die Zusammenhänge technischer und ästhetischer Bedingungen die Interpretation stören könnte. Die Angst vor allzu »verkopftem« Musizieren führt gelegentlich zu Aussprüchen wie diesem: »Dieser Oktavsprung gelingt mir auch nicht besser, wenn ich die Biografie oder den Geburts- und Todestag eines Komponisten oder seine stilistischen Raffinessen kenne.« Bezogen auf die genauen Lebensdaten mag das vielleicht stimmen. Stilistische Kenntnisse (zu denen natürlich auch die Einordnung in eine bestimmte Epoche gehört) sind aber wichtig für die Artikulation und die Spielweise bestimmter Tonverbindungen. Um beim Beispiel des Oktavsprungs zu bleiben: Im Einzelfall können stilistische Kenntnisse sehr hilfreich sein, weil sie möglicherweise einen anderen Fingersatz, eine andere Artikulationspause nahelegen, wodurch der Sprung vielleicht in einen anderen Kontext gestellt wird und deshalb tatsächlich besser gelingt.
Informationen über den historischen, ja sogar über den persönlichen Zusammenhang, in dem ein Komponist ein Werk geschrieben hat, welche Konflikte, Lebensumstände und im Einzelfall programmatische Ideen ihn zu einer Komposition beflügelt haben, sind – sofern sie verfügbar sind – für eine Interpretation, die diesen Namen verdient, unabdingbar.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass musikalisches Allgemeinwissen allein schon durch einen vergrößerten Assoziationshintergrund einen größeren Spielraum von künstlerischen, kreativen Vergleichs- und Auswahlmöglichkeiten bietet und damit nicht nur den musikwissenschaftlichen, sondern auch den emotionalen und sogar den technischen Horizont erweitert. Von Wissen geht Wirkung aus: Welche ähnlichen Stücke kenne ich? Welche ähnlichen Stellen habe ich schon gespielt, vom gleichen oder von einem anderen Komponisten? Zugegeben, ganz ohne geistige Anstrengung ist dieses Hintergrundwissen für niemanden zu haben.
Historische und damit stilistische Kenntnisse etwa aus dem Bereich des Barock und der Klassik eröffnen darüber hinaus selbst für die Interpretation viel späterer Werke, etwa der Romantik, ja der Gegenwart, überraschende Einsichten. Viele sehr genau beschriebene ästhetische Beobachtungen von Komponisten wie Leopold Mozart, Carl Philipp Emanuel Bach, Daniel Gottlob Türk, Johann Mattheson, Johann Joachim Quantz und anderen beziehen sich nicht nur auf die Musik ihrer Zeit, sondern kommen in vielen Fällen all ge mein ästhetischen, überzeitlich geltenden Wahrnehmungsprinzipien gleich.
Es ist immer wieder überraschend zu beobachten, wie junge Musiker sich über die »richtige« Interpretation die Köpfe heiß reden, ohne auch nur einen dieser Klassiker jemals gelesen zu haben, ja ohne überhaupt von deren Existenz zu wissen. Diese Bücher lesen sich übrigens nicht so schwer, wie mancher befürchtet. Es macht einfach Freude, dabei von einem »Aha-Effekt « zum anderen zu gelangen, und man kommt bald zu der Einsicht, dass die »Alten« mindestens ebenso gute Ohren hatten wie wir.
Das vorliegende Buch hat weder Musikgeschichte noch Harmonielehre, auch nicht technischen Instrumentalunterricht zum Thema. Vieles davon wird hier vorausgesetzt, wobei die komplexe (und z.T. recht unterschiedlich beurteilte) historische, nach neuester Forschung jeweils »richtige« Interpretation ebenfalls nicht Thema dieses Buches ist. Die Verzierungen der verschiedenen Epochen fallen in den Bereich historischen Wissens, sie haben tatsächlich im wörtlichen, philologischen Sinne mit »Texttreue « zu tun und weniger mit den hier besprochenen Werkzeugen zur »Interpretation« im Sinne von – wohl-verstandener – inspirierter Textdarstellung. Hier sollen vielmehr einzelne Parameter herausgeschält werden, bei denen man ansetzen kann, um einen künstlerischen Teilerfolg bei der Interpretation eines Werks zu erreichen, um ästhetische Unterschiede kennenzulernen und anzuwenden – kurz, um eine überzeugende Darstellung und Mitteilung von Musik zu erzielen. Daraus lassen sich gewisse Regeln ableiten, die uns bei der weiteren Arbeit helfen können.
Dass eine klare musikalische Vorstellung direkte positive Auswirkungen auch auf die technische Darstellung hat, leuchtet ein. Es funktioniert aber auch umgekehrt: Die gelungene technische Darstellung wirkt direkt auf die Idee der Interpretation zurück. Diese Rückkopplung wird von zahlreichen bedeutenden Künstlern und Pädagogen immer wieder betont. Kein Geringerer als Franz Liszt betrachtete die Technik als »Helferin der musikalischen Idee«. Diese Erkenntnis steht in deutlichem Widerspruch zu der viel später formulierten, aus heutiger Perspektive antiquierten Ansicht, die Technik sei ausschließlich Sklavin des autonomen Geistes, der die Direktiven gibt.
Interpretation und Intensität einer Darstellung sind nicht ein für alle Mal per Begabung festgelegt. Das lässt sich durch ein einfaches Experiment schlagend beweisen. Jeder, der sich um eine Steigerung seines Ausdrucks bemüht, vielleicht vergeblich bemüht, ist in der Lage, seine Interpretation rein experimentell auf ein extrem langweiliges Niveau herunterzuschrauben. Wer sich diesen Spaß einmal machen will, wird eine merkwürdige Erfahrung machen: Es geht meist noch langweiliger. Was muss man tun, um eine möglichst langweilige Musik zu produzieren? Es stellt sich schnell heraus, dass man nur die Variationsarmut, die Kontrastarmut, die Gleichförmigkeit, die Vorhersehbarkeit auf allen Ebenen auf die Spitze zu treiben braucht, um das »gewünschte« Ergebnis zu erzielen.
Wenn dem so ist, lässt sich die Intensität logischerweise auch in die andere Richtung steuern: Es geht also um Variation, Kontrast, Ungleichförmigkeit, Überraschung, Deutlichkeit von Struktur, von Phrasierung, von Artikulation, und zwar auf allen musikalisch-akustischen Ebenen, die in der Musik überhaupt eine Rolle spielen.
Um nun aus einem solchen Experiment den größtmöglichen Nutzen für eine überzeugende Interpretation zu ziehen, bedarf es einer Fähigkeit, die nicht nur in der vorhandenen »Begabung« liegt, sondern die es auch zu schulen gilt:Wir müssen und können lernen, diese einzelnen Parameter getrennt zu hören, um sie in den künstlerischen Arbeitsprozess eingliedern zu können. Der etwas triviale Pädagogenspruch »Du musst dir besser zuhören « bekommt in dem Augenblick eine brauchbare Bedeutung, in dem er sich auf die getrennte Verfügbarkeit der unterschiedlichen Aspekte der Musik bezieht. Solche Aspekte oder Parameter sind Tempoführung, Rhythmus, Dynamik, Artikulation und Klangfarbe. Auf diese Aspekte soll im Folgenden genauer eingegangen werden. Vielleicht ergeben sich dabei auch einige praktische Erkenntnisse für den Übealltag.
Intuition ist komprimierte Erfahrung, die sich als Regelhaftigkeit für jeweils adäquates und erfolgreiches Verhalten manifestiert. Diese »erworbenen Regeln« treten meist nicht ins Bewusstsein. Deshalb wird Intuition oft als »unverdientes«, beglückendes Geschenk erlebt: Man handelt richtig, ohne sich dessen bewusst zu werden! Als beglückend wird Intuition zwar meist empfunden – unverdient ist sie aber nicht.
Wenn ein Komponist eine Komposition veröffentlicht hat, ist er in der Regel sehr daran interessiert, dass möglichst viele Menschen diese Komposition spielen und hören. Das bedeutet, er ist nicht nur damit einverstanden, sondern er wünscht sich sogar, dass sein Werk durch das geistige und emotionale Prisma von vielen verschiedenen Menschen »gebrochen« wird. Er hofft darüber hinaus, die innere Logik und Gesetzmäßigkeit, die Struktur und die Atmosphäre, der »Affekt « mögen von möglichst vielen Individuen verstanden werden. Dadurch werden zwangsläufig viele verschiedene Versionen entstehen, die in einem gewissen Sinne alle »richtig« sein können. Schon beim Tempo variieren meisterliche Darbietungen verschiedener Interpreten, ja sogar bei verschiedenen Interpretationen des Komponisten selbst gibt es ganz erhebliche Unterschiede im Tempo. Welches Tempo ist denn nun »richtig«?
Einmal veröffentlicht, ist ein Werk gewissermaßen »public domain«: Jeder darf, muss sogar seine eigene Persönlichkeit dahinter stellen. Wir sehen, dass es keine für alle Zeiten endgültige Interpretation eines Werkes geben kann, man möchte sagen, geben darf. So entsteht ein großer Spielraum für die Interpretation, der vom emotionalen Willen und der geistigen Fähigkeit jedes einzelnen Interpreten neu ausgefüllt wird. Unter der Voraussetzung, dass ein Musiker sich um eine adäquate Wiedergabe, um den Sinn eines Meisterwerks wirklich ernsthaft bemüht, könnte man in Anlehnung an ein Gedicht von Friedrich Rückert aus der »Weisheit des Brahmanen«, an das ich mich aus meiner Jugendzeit erinnere, sagen, »ein jeder deutet recht – soviel ist Sinn darin!«
Der emotionale Zustand des Komponisten, noch dazu in einer ganz bestimmten Lebenssituation, ist nicht unbedingt mein eigener in meiner ganz bestimmten, jetzigen Lebenssituation. Meine Biografie ist eine vollkommen andere; ich erlebe möglicherweise ein Intervall, einen Harmoniewechsel, eine rhythmische Wendung, einen Tempowechsel, einen strukturellen Zusammenhang ähnlich, aber doch anders als der Komponist. Wie soll ich das Werk also »gültig«, nach dem Willen des Komponisten, interpretieren, wenn wir doch beide, Komponist und Interpret, quasi »Variable« darstellen? Denn auch der Komponist selbst, als Interpret, spielt und spielte seine eigenen Werke heute anders als morgen. Welte-Mignon -Rollen und alte Ton-Aufnahmen z.B. von Bartók und Reger zeigen, dass Komponisten keine Roboter waren, die nur eine einzige Version erleben und zulassen konnten oder können, noch nicht einmal in der Interpretation ihrer eigenen Werke. Hinzu kommt, dass ein so entscheidender Aspekt des Musizierens wie die Improvisation früher eine viel größere Rolle spielte als heute. All dies deutet darauf hin, dass es viele Möglichkeiten, Varianten und Spielräume für eine Interpretation gibt.
Interpretation, wenn sie etwas taugt, ist immer subjektiv, das macht ja gerade ihre Faszination im Sinne einer Deutung, Exegese, Erklärung aus. Diese Überlegungen sollen nicht als Freibrief für Oberflächlichkeit und Willkür verstanden werden. Im Gegenteil, für eine überzeugende Interpretation helfen uns die Informationen darüber, wie ein Werk entstand, der stilistische, biografische Hintergrund, das Wissen um Struktur, Stimmung, Atmosphäre. Diese Informationen sind nicht nur wegweisend für die »richtige« Interpretation, sie regen auch unsere Fantasie an und schaffen somit die Voraussetzung für eine den Hörer bewegende und berührende Darstellung, für eine wirkliche »Vermittlung« zwischen Komponist und Hörer.
Interpretieren heißt erklären. Jeder Einzelne kann eine Sache nur so erklären, wie er sie selbst versteht. Verschiedene persönliche Interpretationen von Musik können deshalb »richtig« sein.
Wer ein Werk interpretieren will, sieht sich zunächst einmal einem gedruckten oder geschriebenen Text gegenüber. Vom ersten Augenblick unserer Bemühungen an wirken Einflüsse auf uns, die aus der musikalischen Lernbiografie herrühren. Häufig stellt sich, noch bevor überhaupt ein Bild der angestrebten Interpretation entstanden ist, ein vages Gefühl der Last von Verantwortung ein, Unsicherheit kommt auf, ob man eine, ja die »richtige« Interpretation findet. So fängt man einfach an zu spielen, was da steht. Im Bewusstsein der eigenen »Musikalität « und Erfahrung wird einem im Laufe des Erarbeitungsprozesses schon etwas Schönes oder Angemessenes, jedenfalls Musikalisches einfallen, und so entsteht nach und nach eine Vorstellung von dem Werk, das man sich zu interpretieren anschickt.
Verfolgen wir den Prozess der Aneignung weiter. Es stellen sich aufgrund des Profils der eigenen Fähigkeiten bestimmte Gewohnheiten ein. Mit wachsender Zahl von Übewiederholungen fühlt man sich in zunehmendem Maße wohl, da Wiederholung ein immer stabileres Spielresultat erzeugt. Auf der Basis einer zuverlässigen Spieltechnik entsteht so das Gefühl von interpretatorischer Sicherheit, gleichzeitig kommt der Wunsch auf, das Bild unserer angestrebten Interpretation möge auch auf dem Podium möglichst abweichungsfrei darstellbar und wiederholbar werden.
Vom ersten Augenblick der Beschäftigung mit einem Werk an wirkt also das eigene Profil, zu dem natürlich auch die gegenwärtig zur Verfügung stehenden technischen Fähigkeiten gehören, auf die Entwicklung unserer Vorstellung der Interpretation ein. Wir befinden uns in einem Prozess, der sich als Kreislauf beschreiben lässt: Das klangliche Resultat, die eigene gehörte und erlebte Interpretation, ist immer auf die Interpretationsidee, auf die Klangvorstellung rückgekoppelt. Sie ist nicht, wie oft vermutet wird, das Ergebnis einer absoluten Vorstellung, die dann durch die gerade verfügbare Technik (und eventuell begrenzt durch deren Unzulänglichkeiten) umgesetzt wird.
Werfen wir nun einen genaueren Blick auf das Notenbild, aus dem ja ein musikalisches Vorstellungsbild entstehen soll. Es ist eine gängige Plattitüde, dass die Musik nicht im Notenbild, sondern »zwischen den Tönen« stehe.Versuchen wir also einmal etwas genauer festzustellen, was alles nicht im Notenbild steht, das für eine Interpretation bestimmend ist.
Ohne gründliches Wissen über die genaue Bedeutung von Noten und Bezeichnungen ist eine Interpretation nicht möglich. Wer einen Text nicht richtig lesen kann, kann ihn auch nicht interpretieren. Er liest ihn dann wie jemand, der z.B. kein Türkisch kann, aber doch die lateinischen Buchstaben dieser Sprache aussprechen und zu ihm unbekannten Wörtern zusammenfügen kann. Ein Türke würde ihn möglicherweise gar nicht verstehen.
Aus dem großen Feld musikalischer Allgemeinbildung sind hier einige wenige Beispiele zur Lesegenauigkeit herausgegriffen:
•Übergebundene Noten
Im schnellen Tempo sind übergebundene Noten, etwa Achtelnoten über den Taktstrich hinweg (nicht nur im Barock und in der Klassik) meist als Pausen zu spielen. Wer das nicht weiß, scheitert oft schon an der technischen Umsetzung, der Streicher etwa bekommt Probleme mit der Bogeneinteilung. Die adäquate dynamische und artikulatorische Darstellung wird verzerrt durch das Bemühen, »texttreu« zu spielen.
•Dynamische Gabeln
Crescendo - und Diminuendo -Gabeln sind keine akustischen, sondern musikalische Hinweise. Ihre »akustische« Darstellung (wie laut, wie steil, welche Kurvenform, wo genau begonnen und beendet) ergibt sich nur aus dem erlebten und verstandenen musikalischen Zusammenhang, muss also vom Interpreten bestimmt werden. Dynamische Gabeln sind immer als gerade Linien gedruckt, bezeichnen aber immer akustische Kurven. Manchmal sind Gabeln ganz allgemeine Ausdrucksvorstellungen des Komponisten: So kommt es, dass Schumann auf einem einzigen Klavierakkord eine Crescendo- und eine Decrescendo-Gabel unterbringt.
•Noten aushalten
Noten ohne Bindebögen müssen im Barock und in der Klassik klanglich nicht bis zum Ende ihres rhythmischen Wertes ausgehalten werden (C.P.E. Bach beschreibt diesen Sachverhalt ausführlich in seinem berühmten »Versuch über die wahre Art, das Klavier zu spielen«). Zwischen solchen Tönen stehen fast immer kleine Artikulationspausen zur Verfügung, die sich oft sowohl gestalterisch als auch technisch trefflich nutzen lassen. Die von Pädagogen so häufig geäußerte Ermahnung »Spiele, was da steht« würde hier, wörtlich befolgt, sogar zu einem »Lesefehler« führen.
Wir können einen Notentext aufgrund ganz verschiedener Arten von »Beschreibung« lernen. Hier sind einige der Fragestellungen aufgeführt, die zu verschiedenen Beschreibungsweisen führen:
•Ein Notentext ist eine Folge von Noten, aufgeschrieben von links nach rechts. Man könnte diese Beschreibung »seriell« nennen. Beim Lernen eines Textes mit dieser seriellen Methode wird immer ein Element (Note, Ton) an das vorhergehende angefügt. Um eine solche Folge von Elementen zu lernen, benötigen wir für jedes Element einen separaten Lernvorgang.
•Wie viele Noten stehen in einem Takt, wie sind sie rhythmisch angeordnet?
•Wie ist die Bewegungsrichtung einer melodischen Linie, wo geht sie nach oben, wo nach unten?
•In welchem Intervallbereich bewegt sich eine Melodie, wo ist der tiefste, wo der höchste Ton?
•Wie viele Takte enthält ein musikalisches Gebilde, z.B. ein Motiv oder eine Phrase?
•Wie können Spielfiguren und deren Linie beschrieben werden? Z.B. als Hügel, Delle,Tal,Welle, Schlange etc.
•An welcher Stelle stehen welche Harmonien und wo wechseln sie?
•Wo tauchen in unserem Text Sequenzen auf? Wo sind wörtliche Wiederholungen, in der Tonhöhe nach oben oder unten verschobene Sequenzteile und variierte Passagen zu beobachten?
•Aus wie vielen Teilen besteht eine Sequenz?
•Welcher Sprechweise, welchem Klang entsprechen diese Töne? Sind sie weich, hart, lang, kurz, klingen sie glockenartig, trocken, abgerissen aus, erinnern sie womöglich an andere Instrumente?
•Wo geht ein Text kontinuierlich weiter und wo bricht er ab und erzeugt vielleicht einen Kontrast?
Diese Liste lässt sich natürlich je nach vorliegendem Text ganz erheblich erweitern.
Fragestellungen dieser Art führen zunächst zu recht vordergründigen, eher quantitativen Beschreibungen, an die sich, je nach der Komplexität eines Notentexts, weitere Beschreibungen anschließen können. Immerhin sehen wir, dass es auf die Frage »was steht eigentlich da« eine Vielzahl von Antworten gibt, noch jenseits jeder »philologischen« oder historischen Betrachtungsweise und jenseits jeder musikalischen oder emotionalen Resonanz. So befinden wir uns mitten in einer Tätigkeit, die man mit dem bei Musikstudenten wenig beliebten Ausdruck »Analyse « bezeichnen kann. Analyse ist, wie wir sehen, nichts weiter als eine mehr oder weniger genaue Beschreibung auf verschiedenen, unterschiedlich komplexen Ebenen. Über den emotionalen Inhalt, den ich ja in meiner Interpretation darstellen will, sagt sie zunächst noch nichts aus.
Auf der Suche nach interpretatorischer »Inspiration « können uns manche dieser oben aufgeführten einfachen Fragestellungen allerdings ein paar interessante Informationen liefern. Wenn wir nämlich, um aus der großen Fülle von Möglichkeiten ein Beispiel herauszugreifen, durch reine Beschreibung erfahren, dass zwei ähnliche Gebilde wie etwa zwei Sequenzteile unterschiedlich in ihrem Intervallrahmen, in ihrer Tonhöhe, ja in ihrer Taktzahl (Länge) sind, drängt sich sofort der Gedanke auf, dass man diesen Sachverhalt durch eine beim zweiten Auftreten des Gebildes »ein bisschen anders« gespielte Version unterstreichen könnte, um ihn einem Hörer – und sich selbst – bewusst zu machen, zu erklären, zu interpretieren.
Welche Optionen, welche Parameter stehen dafür zur Verfügung? Um auch hier nur ein paar zu nennen: Ich kann z.B. beim zweiten Mal schneller (langsamer), lauter (leiser), härter (weicher) spielen. Ich kann mir dabei einen Dialog vorstellen, der vom Liebesgeflüster bis zum Ehestreit reicht!
Gehen wir in unserer Beschreibung des Texts jetzt noch einen Schritt weiter. Wir können ja auch nach etwas allgemeineren musikalischen Zusammenhängen fragen und begeben uns bei der Untersuchung schon auf eine etwas komplexere Ebene. Auch hier einige Beispiele:
•Wie unterscheiden sich bestimmte Figuren voneinander?
•Wo habe ich etwas Ähnliches schon gehört?
•An was für eine Stimmung, Begebenheit, Landschaft erinnert mich dieser Text?
•Welche harmonischen, welche rhythmischen, welche melodischen Überraschungen erfahre ich beim Durchgehen des Textes, beim Vergleichen von zwei musikalischen Strukturelementen (Motiven, Phrasen)?
•Auf welche Weise kann ich zwei oder mehrere musikalische Gebilde miteinander verknüpfen? (Verknüpfen scheint übrigens eine Tätigkeit zu sein, die den meisten Menschen ganz allgemein Spaß macht – würde sonst jemand Kreuzworträtsel lösen wollen?)
Auch diese Liste lässt sich je nach der zu analysierenden, sprich zu beschreibenden Musik beliebig fortsetzen – und schon berühren wir allein schon durch Beschreibung den emotionalen Bereich einer Interpretation.
Fragen haben oft eine eigentümliche Konsequenz. Vordergründig scheinen sie eine mehr oder weniger logische, eindeutige Antwort zu verlangen. Bei der künstlerischen Arbeit ist dies anders. Die Frage eines Musikers an sich selbst zieht in den meisten Fällen mehrere »versuchsweise« gegebene Antworten nach sich, Antworten, die den verschiedenen Ebenen der zu interpretierenden Musik entsprechen. Die Antwort auf die Frage »Wie hört dieser Ton auf?« könnte im Bewegungsbereich liegen (»Lasse den Arm weiter schwingen«), oder sie könnte im ästhetischen (= Wahrnehmungs-) Bereich liegen (»Spiele ein gleichmäßiges Diminuendo «), oder sie könnte im assoziativen Bereich liegen (»Stell dir eine Glocke vor«), sie könnte sogar im strukturellen Bereich liegen (»Spiele den Ton so, dass er einem ähnlichen vorausgegangenen vergleichbar ist«).
Solche Fragen können sich natürlich nicht nur auf einzelne Töne, sondern auch auf Tonverbindungen beziehen : Ist die Tonverbindung dicht, ist sie weich, hart, ruckartig, schleichend, langsam?
Eine besondere Eigenschaft von Fragen tritt hier allerdings ganz stark in den Vordergrund: Sie fokussieren unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Aspekt der Musik, in unserem Beispiel auf die Schluss-Artikulation, also den Ausklang eines Tones. Eine Frage hat, ganz unabhängig davon, ob sie überhaupt mit einer Antwort quittiert wird, in sich bereits eine Bedeutung. Viele künstlerische Fragen brauchen deshalb überhaupt keine Antwort. Sie müssen nur gestellt werden.
Die Frage, warum etwas dasteht, wird unweigerlich unsere Fantasie und unsere Gefühle berühren. Jede Antwort, so denn überhaupt eine gegeben werden kann, führt außerdem unweigerlich weiter zur nächsten Frage. Insofern braucht eine Antwort auch nicht »richtig« zu sein, zumal ja mehrere Antworten möglich sind. Verschiedene Menschen würden sicher verschiedene Antworten geben. Ich selbst, ja vielleicht sogar der Komponist, würde in einem anderen Kontext, zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht eine andere Antwort geben. Das Frage-und-Antwort-Spiel hat nicht zum Zweck, Fakten zu konstatieren, sondern Fantasie-Prozesse in Bewegung zu setzen. Und wenn eine Antwort nicht richtig zu sein braucht, kann auch keine Angst entstehen, sie könnte falsch sein.
Eines der für uns Musiker wichtigsten Ergebnisse der modernen Hirnforschung ist die Beobachtung, dass jede Handlung, ja jeder Gedanke zwangsläufig mit emotionalen Bewegungen und Veränderungen einhergeht. Der auf alten Vorstellungen beruhende Zwiespalt zwischen Kopf und Herz ist, so gesehen, gar nicht existent, er beruht genau genommen auf einer Illusion. (Eigentlich ist er religionsgeschichtlich zu verstehen: In den Erklärungsversuchen der meisten Religionen ist die Seele ein von Geist und Körper unabhängiges Wesen.)