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Buch

Charlotte »Charlie« Silver ist der Liebling der Fans. Hübsch, freundlich, immer fair – eine Vorzeigespielerin im verrückten Tenniszirkus. Nur an die Spitze hat sie es bisher nicht geschafft. Als eine Verletzung Charlie zu der Entscheidung zwingt, ihre Karriere entweder aufzugeben oder sie ganz neu zu starten, schließt sie einen Pakt mit dem Teufel. Genauer gesagt: mit dem berüchtigten Tenniscoach Todd Feltner. Unter dessen Anleitung ist Schluss mit Nettigkeiten – ab jetzt ist Charlie die »Warrior Princess«. Prompt stürzt sich die Klatschpresse auf die neuerdings stets in Schwarz spielende Amazone. Doch Siege und Schlagzeilen haben ihren Preis. Während der Stern der »Warrior Princess« aufgeht, weiß Charlie nicht mehr, wer sie wirklich ist. Von Wimbledon in die Karibik, von den US Open auf eine Jacht im Mittelmeer – das Leben droht ihr zu entgleiten. Ist Charlie tatsächlich bereit, ihrer Karriere alles zu opfern? Familie, Freunde und womöglich sogar ihre große Liebe?

Weitere Informationen zu Lauren Weisberger
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
finden Sie am Ende des Buches.

Lauren Weisberger

Die Liebe trägt
Weiß

Roman

Aus dem Englischen
von Heike Reissig

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»The Singles Game«

bei Simon & Schuster, New York


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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2017

Copyright © der Originalausgabe

2016 by Lauren Weisberger

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagfoto: FinePic®, München

Redaktion: Friederike Arnold

AB · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20516-4
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Sydney, Emma, Sadie und Jack.
Ich liebe euch von ganzem Herzen.

1

Nicht nur Erdbeeren mit Sahne

WIMBLEDON
JUNI 2015

Es passierte Charlie wahrhaftig nicht jeden Tag, dass eine Mittvierzigerin mit Dutt und lila Polyesterkostüm ihr unter den Rock schauen wollte. Die Frau klang reserviert, typisch britisch. Rein geschäftsmäßig.

Charlie warf Marcy, ihrer Trainerin, einen Blick zu. Dann hob sie den Saum ihres weißen Faltenrocks.

»Höher, bitte.«

»Ich garantiere Ihnen, da unten ist alles in Ordnung«, sagte Charlie, so höflich es ging.

Die Wimbledon-Offizielle musterte sie kühl und schwieg.

»Noch höher, Charlie«, sagte Marcy streng, konnte sich jedoch nur mühsam ein Grinsen verkneifen.

Charlie hob den Rock so weit, dass er den Blick auf die weißen Lycra-Shorts freigab, die sie darunter trug. »Kein Slip, aber doppelt verstärkt. Da kriegt wirklich niemand was zu sehen, egal, wie sehr ich schwitze.«

»Gut, danke.« Die Offizielle kritzelte etwas auf ihren Notizblock. »Jetzt Ihr Oberteil, bitte.«

Das Ganze schrie geradezu nach einem Witz (Wo dürfen Spielerinnen erst nach einer gynäkologischen Untersuchung auf den Platz? / Beim ersten Date geht man sich eigentlich noch nicht an die Wäsche!), doch Charlie beherrschte sich. Schließlich hatten die Wimbledon-Offiziellen sich ihr und ihrem Team gegenüber bislang sehr höflich und zuvorkommend verhalten. Schade, dass sie gar keinen Sinn für Humor besaßen.

Charlie zog ihr Oberteil so weit hoch, dass es ihr fast die Sicht versperrte. »Mein Sport-BH ist aus dem gleichen Material. Total blickdicht.«

»Ja, das sehe ich«, murmelte die Offizielle. »Es geht um diesen Farbstreifen da unten.«

»Das Gummiband?«, sagte Marcy. »Das ist hellgrau. Was man wohl kaum als Farbe bezeichnen kann.« Ihre Stimme klang ruhig, doch es schwang eine klitzekleine Spur von Irritation darin mit.

»Mag sein, aber ich muss es trotzdem abmessen.« Die Offizielle holte ein gelbes Maßband aus der kleinen Gürteltasche, die sie über ihrer Uniform trug, und legte es sorgfältig um Charlies Brustkorb.

»Wie lange dauert das denn noch?«, fragte Marcy nun deutlich verärgert.

»Wir sind fast fertig«, sagte die Offizielle. »So weit entspricht alles der Kleiderordnung. Es gibt nur ein Problem, Miss.« Sie presste die Lippen zusammen. »Ihre Schuhe.«

»Was ist damit?«, fragte Charlie. Nike hatte doch wirklich alles getan, um sicherzustellen, dass ihre Sneakers die strengen Wimbledon-Anforderungen erfüllten. Statt ihres ansonsten knallbunten Outfits war sie komplett weiß angezogen: nicht cremefarben, nicht elfenbeinfarben, nicht eierschalenfarben, sondern weiß, im wahrsten Sinne des Wortes. Das Leder der Zehenkappe strahlte in reinstem Weiß, die Schnürsenkel ebenso – weißer ging es wirklich nicht!

»Ihre Schuhe. Die Sohle ist fast vollständig pink. Das verstößt gegen die Regeln.«

»Wie bitte?«, fragte Marcy ungläubig. »Die Schuhe sind oben, seitlich und hinten weiß, die Schnürsenkel auch, so, wie es die Regeln vorsehen! Das Nike-Logo ist sogar noch kleiner als vorgeschrieben. Sie können doch nicht ernsthaft ein Problem mit den Sohlen haben!«

»So breite Farbstreifen sind leider nicht erlaubt, und das gilt auch für die Sohlen. Farbstreifen dürfen höchstens einen Zentimeter breit sein.«

Charlie drehte sich panisch zu Marcy, die sofort beschwichtigend die Hand hob. »Und was schlagen Sie jetzt vor? Diese junge Dame wird in knapp zehn Minuten auf dem Centre Court erwartet! Wollen Sie etwa verlangen, dass sie ohne Schuhe spielen soll?«

»Natürlich nicht, aber diese Schuhe darf sie gemäß Vorschrift leider auf keinen Fall tragen.«

»Danke für diese Klarstellung«, fauchte Marcy. »Wir kümmern uns drum!« Sie griff Charlie am Handgelenk und zog sie zu einem der privaten Trainingsräume hinter der Umkleide.

Marcy hatte derart ihre Fassung verloren, dass Charlie das Gefühl hatte, sie wäre in heftige Flugturbulenzen geraten. Beim Anblick panischer Stewardessen wurde ihr auch immer schlecht. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr war Marcy ihre Trainerin. Ihr Vater, der sie bis dahin trainiert hatte, konnte sie nicht mehr ihrem Talent entsprechend fördern. Er hatte Marcy damals natürlich vor allem wegen ihrer Kompetenzen als Coach engagiert, aber auch, weil sie eine Frau war. Charlies Mutter war einige Jahre zuvor an Brustkrebs gestorben.

»Warte hier. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, okay? Mach ein paar Dehnübungen, iss deine Banane und konzentrier dich darauf, Athertons Spiel Punkt für Punkt auseinanderzunehmen. Ich bin gleich wieder da.«

Charlie war ohnehin viel zu nervös, um sich hinzusetzen, also ging sie im Trainingsraum auf und ab und dehnte ihre Waden. Waren ihre Muskeln etwa schon verspannt? Nein, das konnte nicht sein. Auf einmal steckte Karina Geiger, die Viertgesetzte mit der Kleiderschrankstatur, die ihr den unglückseligen, aber nett gemeinten Spitznamen Deutsche Eiche eingebracht hatte, den Kopf durch die Tür.

»Du spielst gleich auf dem Centre Court, oder?«

Charlie nickte.

»Da draußen ist die Hölle los«, rief Karina. »Prinz William und Prinz Harry sitzen mit Camilla in der Royal Box! Das ist total ungewöhnlich, angeblich mögen die sich doch gar nicht. Aber keine Spur von Prinz Charles und Prinzessin Kate.«

»Echt?«, sagte Charlie, obwohl sie es längst wusste. Es war schon stressig genug, zum ersten Mal in ihrer Profikarriere ein Einzel auf dem Centre Court in Wimbledon zu bestreiten, aber sie musste auch noch ausgerechnet gegen Alice Atherton antreten. Alice stand zwar nur auf Rang 53, doch sie war jung und galt als die nächste große britische Hoffnung, weshalb die gesamte Nation sie gleich anfeuern würde, Charlie vom Platz zu fegen.

»Ja! David Beckham ist auch da, aber der kommt ja überallhin. Ist also nichts Besonderes. Und einer von den Beatles ist da, wer von denen lebt eigentlich noch? Fällt mir gerade nicht ein. Oh, und Natalya hat erzählt, dass sie …«

»Karina? Entschuldige, aber ich bin gerade dabei, mich aufzuwärmen. Viel Glück heute, okay?« Charlie wollte wirklich nicht unhöflich sein, schon gar nicht zu einer der wenigen netten Spielerinnen auf der Tour, aber sie war jetzt einfach nicht in der Stimmung für ein Gespräch.

»Sicher, kein Problem. Dir auch viel Glück!«

Kaum war Karina verschwunden, tauchte Marcy wieder auf. Sie hatte eine Tasche mit weißen Sneakers dabei. »Schnell«, sagte sie und zog ein Paar heraus. »Die sind Größe zehn und schmal. Glück muss man haben. Probier sie mal an.«

Als Charlie sich auf den Boden fallen ließ, schlug ihr schwarzer Zopf so fest gegen die Wange, dass es wehtat. Sie zog den linken Schuh an. »Die sind von Adidas, Marce«, sagte sie.

»Das ist mir so was von schnuppe, wenn Nike ein Problem damit hat, dass du jetzt Adidas trägst. Wenn sie die richtigen Sneakers geliefert hätten, müssten wir uns jetzt nicht so herumärgern. Nimm einfach die Schuhe, mit denen du dich am wohlsten fühlst.«

Charlie stand auf und machte einen Schritt.

»Zieh den anderen auch an«, sagte Marcy.

»Nein, die sind zu groß. Meine Ferse rutscht raus.«

»Nächster Versuch!«, rief Marcy und warf ihr ein weiteres Adidas-Paar zu.

Diesmal probierte Charlie den rechten Schuh und schüttelte den Kopf. »Der quetscht mir die Zehen ein, vor allem den kleinen. Wenn wir ihn tapen, könnte ich es versuchen …«

»Kommt gar nicht in die Tüte«, sagte Marcy. »Hier.« Sie stellte Charlie ein Paar K-Swiss hin. »Vielleicht klappt es damit.«

Der linke Schuh schien ganz gut zu sitzen. Hoffnungsvoll zog Charlie auch den rechten an und band sich die Schnürsenkel zu. Die Sneakers waren klobig und hässlich, aber wenigstens passten sie.

Allerdings waren sie wie Blei an den Füßen. Charlie sprang ein paarmal hin und her, joggte kurz und machte einen schnellen Ausfallschritt nach links. »Sie passen zwar, aber sie fühlen sich wie Ziegelsteine an. Sie sind echt schwer.«

Marcy griff abermals in die Tasche, um das letzte Paar herauszuziehen, als plötzlich eine Lautsprecherdurchsage ertönte. »Achtung bitte. Die Spielerinnen Alice Atherton und Charlotte Silver werden gebeten, sich am Stand der Turnierleitung zu melden, um zu ihrem Platz geführt zu werden. Ihr Match beginnt in drei Minuten.«

Marcy kniete sich hin und drückte auf Charlies Zehen. »Zu eng sind sie jedenfalls nicht. Aber zu weit hoffentlich auch nicht. Meinst du, sie sind okay?«

Charlie hüpfte nochmals hin und her. Die Schuhe waren wirklich schwer, aber von den drei Paaren schienen sie die beste Alternative zu sein. Sie überlegte kurz, das vierte Paar auch noch anzuprobieren, aber dann sah sie, wie Alice in ihrem blendend weißen Outfit am Trainingsraum vorbeiging. Es wurde Zeit.

»Mit diesen klappt es bestimmt«, sagte Charlie überzeugter, als sie tatsächlich war. In Wahrheit dachte sie: Mit diesen muss es klappen.

»Super.« Marcy war sichtbar erleichtert. »Dann lass uns gehen.«

Sie schlang sich Charlies riesige Schlägertasche über die Schulter und ging durch die Tür. »Denk dran, so viel Spin wie möglich. Bei hochspringenden Bällen muss sie sich abmühen. Nutz aus, dass du größer bist als sie, und zwing sie dazu, hohe Bälle zu schlagen, vor allem mit der Rückhand. Dieses Match gewinnst du durch Langsamkeit, Beharrlichkeit und Ausdauer. Teil dir deine Kraft ein und spiel nicht auf Tempo. Spar dir das für die späteren Runden, okay?«

Charlie nickte. Sie war noch nicht mal auf dem Platz, aber ihre Waden fühlten sich schon jetzt total verspannt an. Und bildete sie sich das nur ein, oder rieb der rechte Schuh an der Ferse? Ja. Keine Einbildung. Na toll. Sie würde garantiert Blasen bekommen.

»Ich sollte besser doch noch das vierte Paar …«

»Charlotte?« Eine weitere Wimbledon-Offizielle im lilafarbenen Polyesterkostüm nahm Charlie am Ellbogen und führte sie die Stufen zum Stand der Turnierleitung herunter. »Bitte hier unterschreiben … Danke. Mr Poole, die beiden Damen sind nun bereit, zum Centre Court geführt zu werden.«

Charlie und ihre Gegnerin musterten einander kurz und nickten knapp. Sie waren erst einmal gegeneinander angetreten, zwei Jahre zuvor in Indian Wells, erste Runde, und Charlie hatte Alice 6:2, 6:2 geschlagen.

Charlie, Marcy, Alice und Alices Trainerin folgten Mr Poole durch die Hallway of Champions, den Tunnel, der zum berühmtesten Tennisplatz der Welt führte. Links und rechts hingen riesige Schwarz-Weiß-Fotos der Tennislegenden, die das Turnier von Wimbledon gewonnen hatten, darunter Serena Williams, Pete Sampras, Roger Federer, Maria Sharapova und Andy Murray. Sie hielten die Trophäe umklammert, küssten sie, warfen ihre Schläger hoch in die Luft, schwangen die Fäuste. Lauter jubelnde Siegerinnen und Sieger. Auch Alice blickte auf die Fotos, während sie sich der Tür näherten, die zum Centre Court führte, direkt in die Manege.

Charlie zuckte zusammen, als Marcy sie am Oberarm packte und ihr die Schlägertasche reichte. Hastig schlang sie sich die Tasche über die Schulter, als wäre sie federleicht. Dabei enthielt sie sechs Schläger, eine Rolle Griffband, zwei Flaschen Evian, eine Dose Gatorade, zwei Wechsel-Outfits, die genauso aussahen wie das, was sie gerade anhatte, Reservesocken, Schweißbänder, Schulter-Tape, Knie-Tape, Pflaster, einen iPod, Over-Ear-Kopfhörer, zwei Ersatzstirnbänder, Augentropfen, eine Banane, ein Päckchen Vitaminpräparat und das laminierte Foto ihrer Mutter, das in der kleinen Seitentasche steckte; Charlie hatte es bei jedem Training und Turnier dabei.

Marcy und Alices Trainerin gingen zu ihren Plätzen in der Spielerbox. Dann betrat Charlie zusammen mit ihrer Gegnerin den Platz – und wie zu erwarten war, jubelte das Publikum natürlich Alice zu, der britischen Durchstarterin. Doch eigentlich spielte es keine Rolle, wem die Begeisterung galt: Charlies Puls beschleunigte sich vor jedem Match, egal, wie wichtig es war. Doch diesmal hatte sie regelrecht Herzflattern; sie war so nervös und aufgeregt, dass ihr richtig schlecht wurde. Centre Court in Wimbledon. Sie ließ den Blick über die Tribünen wandern. Das Publikum war aufgestanden und applaudierte höflich – überall elegante Menschen in Pastelltönen, dazu natürlich Pimm’s und Erdbeeren mit Sahne. Charlie hatte früher schon in Wimbledon gespielt und fünf glorreiche Siege eingefahren, aber das hier war der Centre Court.

Sie versuchte, sich auf ihr bevorstehendes Match zu konzentrieren, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen. Normalerweise hielt sie sich, sobald sie den ihr zugewiesenen Stuhl am Spielfeldrand erreichte, an eine bestimmte Routine, um sich zu fokussieren: Sie stellte die Schlägertasche und die Getränkeflaschen ordentlich hin, streifte sich das Schweißband über und rückte ihr Stirnband zurecht. Auch jetzt machte sie alles so wie immer, in der gleichen Reihenfolge, aber sie schaffte es nicht, ihre Aufmerksamkeit zu bündeln. Stattdessen nahm sie lauter Dinge wahr, die sie sonst mühelos ausblenden konnte: die Reporterin auf dem Platz, die den Namen ihrer Gegnerin wiederholte, und den Spielansager, der die Stuhlschiedsrichterin vorstellte. Aber vor allem spürte sie, wie die Socken in ihren Schuhen rutschten, was ihr mit ihren eigenen Sneakers nie passierte. Das war kein gutes Omen – wenn es ihr nicht gelang, ihre Gedanken vor dem Match unter Kontrolle zu bringen, ging das normalerweise nach hinten los. Aber sie war einfach nicht imstande, die Flut an Reizen zu ignorieren.

Das Einschlagen geschah wie in Trance. Wahllos hämmerte Charlie den Ball auf Alices Vor- und Rückhand, ließ Volleys und Überkopfbälle folgen; danach probierte jede für sich ein paar Aufschläge. Alice wirkte locker und entspannt, schnell und geschmeidig jagte sie über den Platz und drehte mühelos ihren hageren, jungenhaften Oberkörper, um den Ball zu erwischen. Beim Anblick ihrer Gegnerin kam Charlie sich ganz steif vor. Die neuen Schuhe passten, aber am Fußrücken taten sie weh, und an der rechten Ferse scheuerte es schon. Charlie musste sich immer wieder zwingen, aufmerksam zu bleiben und präzise den Ball zu schlagen. Und dann hatte das Match auch schon begonnen. Sie hatte beim Münzwurf verloren, und Alice drosch ihr den Ball entgegen. Die Münze war doch geworfen worden, oder? Warum konnte sie sich nicht daran erinnern? Wusch! Der Ball zischte wie eine Revolverkugel an ihrer linken Schulter vorbei, und sie berührte ihn nicht einmal. Ass. Erster Punkt an Alice. Die Menge jubelte so laut, wie die britische Etikette es zuließ.

Alice brauchte vier Minuten und dreißig Sekunden, um das erste Spiel zu gewinnen. Charlie ergatterte nur einen einzigen Punkt, und auch nur deshalb, weil Alice einen Doppelfehler machte. Konzentrier dich!, brüllte sie innerlich. Wenn du dich nicht endlich zusammenreißt, ist das Match in null Komma nichts vorbei! Willst du vom Centre Court fliegen, ohne es überhaupt zu versuchen? Nur Loserinnen geben auf! Loserin! Loserin!

Das mentale Schreien und Fluchen funktionierte: Charlie gelang es, ihren Aufschlag zu halten und den von Alice zu breaken. Schließlich führte sie 2:1 und kam endlich ins Spiel. Das flaue, flattrige Gefühl, das ihr vor dem Match so zugesetzt hatte, verschwand, und sie geriet in diesen herrlichen Flow, wo sie keine rutschenden Socken mehr spürte, keine Promis in der Royal Box mehr wahrnahm und auch das reservierte Klatschen und Anfeuern des britischen Publikums nicht mehr hörte. Es gab nur noch ihren Schläger und den Ball, und das Einzige, was zählte, war, wie beide aufeinandertrafen, Punkt um Punkt, Spiel um Spiel, schnell, kraftvoll und zielsicher.

Charlie gewann den ersten Satz 6:3. Am liebsten hätte sie sich schon gratuliert, aber das Match war natürlich noch längst nicht vorbei. Während des neunzig Sekunden dauernden Seitenwechsels zwang sie sich, in aller Ruhe das Wasser in kleinen, maßvollen Schlucken zu trinken. Selbst das erforderte mentale Disziplin, ihr ganzer Körper schrie nach großen, gierigen Schlucken, aber sie beherrschte sich. Als sie genug getrunken und drei Bissen von der Banane genommen hatte, durchwühlte sie ihre Schlägertasche und fischte ihre Reservesocken heraus. Es waren die gleichen, die sie jetzt trug, und eigentlich gab es keinen Grund zu glauben, dass sie damit anders spielen würde, aber Charlie wollte es trotzdem versuchen. Als sie die alten Socken auszog, erschrak sie. Ihre Füße waren rot und geschwollen, die kleinen Zehen blutverschmiert, und an den Fersen hatte sie riesige Blasen. An den Knöcheln hatte sie Blutergüsse von dem steifen Leder. Auf einmal schmerzten ihre Füße, als wäre ein Bus darübergefahren.

Die neuen Socken fühlten sich wie Schmirgelpapier an, und Charlie musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, die Schuhe wieder anzuziehen. Als sie sich unter enormen Schmerzen die Schnürsenkel festzog und zuband, erklärte die Stuhlschiedsrichterin die Wechselpause für beendet. Anstatt locker über den Platz zu joggen, um geschmeidig zu bleiben, humpelte sie zur Grundlinie. Ich hätte Schmerztabletten nehmen sollen, dachte sie, als sie zwei Bälle vom Balljungen entgegennahm. Aber vor allem hätte ich von vornherein die richtigen Schuhe anziehen sollen, verdammt!

Und zack! Schon öffneten sich die Schleusentore der Wut und lenkten sie ab. Warum zum Teufel hatte niemand vorausgesehen, dass man ihre Schuhe nicht absegnen würde? Und wo waren eigentlich die Nike-Leute? Es war ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie eine Spielerin für Wimbledon ausstatteten! Charlie warf den ersten, dann den zweiten Ball in die Luft, um aufzuschlagen. Doppelfehler. Wer war überhaupt für dieses verdammte Desaster verantwortlich? Sie wechselte wieder die Seite, lieferte einen viel zu schwachen Aufschlag und stand wie eine Salzsäule da, als Alice einen Vorhand-Winner direkt an ihr vorbeihämmerte. Tennisspieler sind abergläubisch. Wir tragen bei jedem Match die gleiche Unterwäsche. Wir essen jeden Tag das Gleiche. Wir tragen Glücksbringer, beten, singen Mantras und tun auch sonst alles Mögliche, um jedem, der gerade zuhört, zu erzählen, wie wahnsinnig toll es wäre, bitte wenigstens diesen Punkt, dieses Spiel, diesen Satz, dieses Turnier zu gewinnen. Charlies erster Aufschlag war kraftvoll und gut platziert, aber wieder war sie viel zu unbeweglich und nicht auf den Return von Alice vorbereitet. Sie erwischte den Ball zwar, schaffte es jedoch nicht, ihn so kraftvoll zurückzuschlagen, dass er übers Netz ging. 0:40. Das durfte ja wohl nicht wahr sein, dass sie bei ihrem ersten Match auf dem Centre Court, der größten, eindrucksvollsten Bühne, auf der sie je gespielt hatte, nicht ihre eigenen Schuhe tragen konnte! Also ehrlich! Wenn sie überhaupt mal neue Schuhe brauchte, verbrachten sie und ihr Team normalerweise Stunden damit, neue Sneakers auszusuchen und anzuprobieren – aber hey, jetzt trag halt einfach die hier, wird schon okay sein. Hallo? Das hier ist Wimbledon und kein Match in irgendeinem Kaff! Wumm! Wut schoss durch ihren Körper direkt in den Ball, den sie mindestens einen halben Meter hinter die Grundlinie schmetterte – und ehe sie sich versah, hatte sie das erste Spiel des zweiten Satzes verloren.

Charlie schaute zu ihrer Box hinüber, wo Marcy, ihr Vater und ihr Bruder Jake saßen. Ihr Vater erwiderte ihren Blick und lächelte automatisch, aber Charlie konnte selbst aus der Entfernung erkennen, wie beunruhigt er war.

Ihre Gegnerin schnappte sich einen Punkt nach dem anderen, und plötzlich lag Alice 5:2 in Führung. Charlie hatte nur noch einen Gedanken: oh mein Gott. Das war’s. Sie verlor gerade ihren zweiten Satz auf dem Centre Court, obwohl ihre Gegenspielerin auf der Rangliste dreißig Plätze unter ihr stand. Ein dritter Satz wäre die Hölle und einfach unmöglich. Das britische Publikum flippte regelrecht aus für seine Verhältnisse, es gab höflichen Applaus und sogar einige Zwischenrufe. Charlie versuchte, sich zu motivieren. Vergiss die Blasen, vergiss die Betonschuhe, vergiss deine Wut auf die Leute, die dafür verantwortlich sind, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Das alles ist jetzt egal. Schlag zu, schlag taktisch, schlag immer weiter. Sie umklammerte den Schläger, dann lockerte sie ihren Griff wieder, so wie sie es immer tat, um sich zu entspannen. Festhalten, locker lassen. Festhalten, locker lassen. Vergiss den ganzen Mist und hol dir den nächsten Punkt!

Charlie gewann das nächste Spiel und auch das folgende. Sie beruhigte sich wieder und dachte an nichts anderes, als den Ball zu schlagen und den nächsten Punkt zu holen. Als es im zweiten Satz 5:5 stand, wusste sie, dass sie das Match gewinnen konnte. Sie atmete tief durch und sammelte ihre verbleibende mentale Kraft, um die Schmerzen auszublenden, die jetzt von ihren Füßen in die Beine ausstrahlten. Krämpfe. Damit konnte sie fertigwerden, das war ihr schon unzählige Male gelungen. Konzentrieren. Schlagen. Parieren. Schlagen. Parieren. Schon führte sie 6:5 im zweiten Satz. Jetzt brauchte sie nur noch ein einziges Spiel, um den Satz zu gewinnen. Der Sieg war zum Greifen nah.

Alices erster Aufschlag hatte viel Spin, aber nur geringes Tempo, sodass Charlie ihn mühelos parieren konnte. Der nächste Aufschlag ihrer Gegnerin war wesentlich härter und flacher, aber Charlie schmetterte den Ball durch die Mitte. Sie feuerten den Ball ein paarmal hin und her, bis Alice zu einem Stoppball ansetzte. Charlie erkannte ihren nächsten Zug rechtzeitig und rannte, so schnell sie konnte, zum Netz. Den Schläger schon ausgestreckt, reckte sie sich nach vorn. Sie konnte es schaffen, sie wusste, dass sie es konnte. Sie war fast da, nur noch wenige Zentimeter trennten den oberen Teil ihres Schlägers vom Ball, sie musste den Ball nur ganz leicht berühren, um ihn zurück übers Netz zu befördern, als ihr rechter Fuß – der sich anfühlte, als hinge ein fünf Pfund schwerer Mehlsack daran – plötzlich wie ein Ski unter ihr wegglitt. Wenn sie ihre leichten und perfekt sitzenden Sneakers getragen hätte, hätte sie vielleicht den Ausrutscher kontrollieren können, aber mit dem schweren, klobigen Schuh schlitterte sie über den Rasenplatz wie über eine Eisplatte. Charlie ruderte mit den Armen, warf den Schläger weg, um ihren Sturz mit beiden Händen abzufangen, und dann – ratsch! Sie hörte es, bevor sie es spürte. Hatten die anderen das Geräusch auch mitbekommen? Ein lauter, fieser Knall wie von einer Peitsche, den sicher alle Leute im Stadion gehört hatten, aber falls doch nicht, Charlies darauffolgender Schrei entging garantiert niemandem.

Hart landete sie auf dem Boden, wie ein Kind, das vom Etagenbett fällt. Schmerzen durchschossen ihren Körper. Hinter dem Netz stand Alice mit teilnahmsvoller Miene. Verdammte Heuchlerin. Charlie stützte sich mit den Händen auf dem perfekt gemähten Rasen ab und versuchte, sich aufzusetzen, aber ihre Knöchel knickten um wie Papier. Die Stuhlschiedsrichterin hielt die Hand über das Mikrofon, lehnte sich vor und fragte Charlie, ob sie eine medizinische Pause brauche.

»Nein, schon gut«, brachte Charlie hervor. »Ich brauche nur einen Moment, dann kann es weitergehen.« Sie wusste, dass sie jetzt aufstehen und zurück in Position gehen musste. Sie konnte natürlich eine medizinische Pause nehmen, aber das galt praktisch als Mogelei; wenn man nicht gerade auf dem Platz verblutete, wurde von einem erwartet, dass man gefälligst die Zähne zusammenbiss. Als sie sich aufrichten wollte, schoss ihr der Schmerz von der linken Hand direkt in die Schulter. Nur noch zwei Punkte fehlten ihr zum Sieg. Beiß die Zähne zusammen! Steh auf!

Die Zuschauer applaudierten ihr, erst zurückhaltend, dann lauter. Sie war nicht die Favoritin, aber mit Sportsgeist kannten die Briten sich aus. Zum Dank hob Charlie die rechte Hand und beugte sich vor, um nach dem Schläger zu greifen. Dabei wurde ihr schwindelig, und der Schmerz fuhr ihr durchs Bein. Sie bekam allmählich Panik. War sie etwa ernsthaft verletzt? Würde sie ausscheiden? Oh Gott, was war das für ein schreckliches Geräusch, und wie lange wird es dauern, bis ich wieder fit bin? In acht Wochen finden schon die US Open statt …

Dann hörte sie die Stimme der Schiedsrichterin: »Ich gewähre Miss Silver eine dreiminütige medizinische Pause. Die Uhr läuft bitte ab … jetzt.«

»Ich habe keine medizinische Pause verlangt!«, rief Charlie wütend. »Mir geht es gut!«

Der Turnier-Cheftrainer eilte auf sie zu. Um ihn zu verscheuchen, sammelte Charlie ihre gesamte Kraft, um aufzustehen. Sie schaffte es tatsächlich, sich hinzustellen und umzuschauen. Sie sah, wie Alice kaum merklich lächelte und wie die Schiedsrichterin konzentriert auf die Turnieruhr an der Anzeigetafel schaute. Sie sah, wie David Beckham in der vordersten Reihe der Royal Box sein Handy checkte, ihre Verletzung interessierte ihn offenbar nicht die Bohne, und rechts, in ihrer eigenen Box, sah sie den panisch-besorgten Gesichtsausdruck ihrer Trainerin. Marcy beugte sich so weit vor, dass sie Gefahr lief herunterzufallen, und ihr Vater und Jake blickten drein, als wäre gerade jemand gestorben. Überall auf den Tribünen plauderten die Leute gut gelaunt, schlürften ihre Pimm’s und warteten darauf, dass das Match endlich weiterging. Der Trainer war nun bei Charlie. Seine kühle, starke Hand ergriff ihr pochendes Handgelenk – und dann, ohne Vorwarnung, wurde es schwarz um sie herum.