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Nora Roberts

Abendstern

BUCH

Alles begann, als Caleb Hawkins, Fox O’Dell and Gage Turner zusammen ihren zehnten Geburtstag feierten: mit einer Mutprobe bei ihrem Campingausflug im Wald. Sie radelten zum »Pagan Stone« – einem angeblich verfluchten Heidenstein. Niemand weiß genau, was dort wirklich geschah, aber seitdem nennen es die Bewohner des kleinen Städtchen Hawkins Hollow in Maryland nur noch »Die Sieben«. Alle sieben Jahre am siebten Tag des siebten Monats erlebt die Stadt verrückte, eigenartige, manchmal auch furchterregende Dinge. Jetzt, 21 Jahre später, wollen Caleb, Fox und Gage der Sache auf den Grund gehen. Alleine – nur hat Caleb nicht damit gerechnet, dass plötzlich die – sehr attraktive – Reporterin, Quinn Black, in der Stadt auftaucht.

Bei ihren Recherchen zu einem Buch über unerklärliche Ereignisse ist Quinn auf den dunklen Fluch von Hawkins Hollow gestoßen. Schon bei ihrem ersten Besuch in der kleinen Stadt wird Quinns Welt ganz gehörig erschüttert: Sie wird sofort mitten in die unheimlichen Geschehnisse hineingezogen. Aber es ist vor allem der gut aussehende Caleb, der Quinn von ihren Recherchen ablenkt. Schnell wissen die beiden, dass sie für immer zusammengehören – doch noch ahnen sie nicht, welche großen Prüfungen ihre Liebe bestehen muss …

AUTORIN

Durch einen Blizzard entdeckte Nora Roberts ihre Leidenschaft fürs Schreiben: Tagelang fesselte 1979 ein eisiger Schneesturm sie in
ihrer Heimat Maryland ans Haus. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Zum Glück – denn inzwischen zählt Nora Roberts zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Mit derzeit ca. 280 Millionen verkauften Romanen weltweit, 124 »New-York-Times«-Bestsellern; monatlich ca. 2 Millionen Zugriffen auf ihre Homepage ist sie ein Phänomen.

Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht Nora Roberts seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane.

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.blanvalet.de und www.noraroberts.com

Vollständige Titelliste im Anhang des Buches

Nora Roberts

Abendstern

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Margarethe van Pée

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Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel

»Bloodbrothers« bei Jove Books, The Berkley Publishing Group,

a division of Penguin Group (USA) Inc., New York.

6. Auflage

Deutsche Erstausgabe Dezember 2008 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH, München.

Copyright © Nora Roberts, 2007

Published by arrangement with Eleanor Wilder

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008

by Blanvalet Verlag, München, in der

Verlagsgruppe Random House GmbH.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück, Garbsen.

Umschlaggestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

Redaktion: Regine Kirtschig

MD · Herstellung: René Fink

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-02764-3

www.blanvalet.de

Für meine Jungs,

die durch die Wälder streiften,

auch wenn sie es nicht durften.

Wo Gott einen Tempel hat,

hat der Teufel eine Kapelle.

Robert Burton

Die Kindheit zeigt den Mann

wie der Morgen den Tag.

John Milton

Prolog

Hawkins Hollow

Provinz Maryland

1652

Es kroch durch die Luft, die schwer wie nasse Wolle über der Lichtung hing. Durch die Nebelschwaden, die lautlos über den Boden waberten, glitt sein Hass. In der Hitze der Nacht kam es auf ihn zu.

Es wollte seinen Tod.

Während es sich seinen Weg durch die Wälder bahnte, die Fackel zum leeren Himmel gereckt, während es durch Flüsse watete, um das Dickicht herum, in dem sich die kleinen Tiere aus Angst vor seinem Geruch versteckten, wartete er. Höllenrauch.

Ann und das Leben, das sie in ihrem Leib trug, hatte er weggeschickt, in Sicherheit. Sie hatte nicht geweint, dachte er, während er die Kräuter, die er ausgewählt hatte, verstreute. Nicht seine Ann. Aber er hatte den Kummer in ihrem Gesicht gesehen, in den tiefen dunklen Augen, die er in diesem Leben und in allen anderen davor geliebt hatte.

Sie würde die drei Kinder gebären, aufziehen und unterrichten. Und von ihnen würde es, wenn die Zeit gekommen war, wieder drei geben.

Die Macht, die er besaß, würde er an sie weitergeben, an seine Söhne, die ihren ersten Schrei tun würden, lange nachdem diese Nacht vorüber war. Um ihnen die Waffen zu hinterlassen, die sie brauchten, riskierte er alles, was er hatte, alles, was er war.

Er vermachte ihnen sein Blut, sein Herz und seine Vision.

In dieser letzten Stunde würde er alles tun, um sie mit dem auszustatten, was sie brauchten, um die Last zu tragen und sich aufrecht ihrem Schicksal zu stellen.

Seine Stimme war stark und klar, als er Wind, Wasser, Erde und Feuer anrief. Die Flammen in der Feuerstelle flackerten, und das Wasser in der Schale brodelte.

Er legte den Opferstein auf das Tuch. Sein dunkles Grün war rot gesprenkelt. Er hatte diesen Stein in Ehren gehalten, wie alle vor ihm. Jetzt goss er Macht hinein, wie jemand Wasser in einen Becher gießt.

Er zitterte und schwitzte, und je stärker der Lichtring um den Stein wurde, umso schwächer wurde sein Körper.

»Für euch«, murmelte er, »Söhne der Söhne. Drei Teile von einem. In Treue, in Hoffnung, in Wahrheit. Ein Licht, vereint, um die Dunkelheit zu überwinden. Hier ist mein Gelübde. Ich werde nicht ruhen, bis das Schicksal erfüllt ist.«

Mit dem Athame, dem heiligen Dolch, ritzte er seine Handfläche, so dass sein Blut auf den Stein, ins Wasser, in die Flamme fiel.

»Blut meines Blutes. Hier harre ich aus, bis du zu mir kommst, bis du loslässt, was wieder in die Welt entlassen werden muss. Mögen die Götter dich behüten.«

Einen kurzen Augenblick empfand er Trauer. Nicht um sein Leben, dessen Sandkörner durch das Glas rannen. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Keine Angst vor dem, was nicht der Tod war. Er trauerte nur darum, dass er in diesem Leben seine Lippen nie wieder auf Anns Mund drücken würde. Dass er die Geburt seiner Kinder, die Kinder seiner Kinder nicht erleben würde. Er trauerte, weil er das kommende Leid nicht aufhalten konnte, auch in früheren Leben nicht hatte aufhalten können.

Er verstand, dass er nicht das Instrument, sondern nur das Gefäß war, das nach den Bedürfnissen der Götter gefüllt und geleert wurde.

Also stand er, erschöpft von seinem Werk, voller Trauer über den Verlust, vor der kleinen Hütte, neben dem großen Stein, um seinem Schicksal entgegenzutreten.

Es kam in Gestalt eines Mannes, aber er war nur eine Hülle. So wie sein eigener Körper eine Hülle war. Er nannte sich Lazarus Twisse, ein Ältester der »Gottesfürchtigen«. Er und seine Anhänger hatten sich in der Wildnis dieser Provinz niedergelassen, nachdem sie mit den Puritanern in England gebrochen hatten.

Im Schein ihrer Fackel musterte er sie jetzt, diese Männer und die eine, die kein Mann war. Sie waren in die Neue Welt gekommen, um Freiheit zu finden, dachte er, und doch verfolgten und vernichteten sie jeden, der ihrem engen, für sie einzig möglichen Weg nicht folgte.

»Du bist Giles Dent.«

»Der bin ich«, sagte er, »in dieser Zeit und an diesem Ort.«

Lazarus Twisse trat vor. Er trug den formellen schwarzen Rock der Ältesten. Sein hoher Hut mit der breiten Krempe ließ sein Gesicht im Dunkeln, aber Giles konnte seine Augen sehen, und in seinen Augen sah er den Dämon.

»Giles Dent, du und die Frau mit Namen Ann Hawkins seid angeklagt und für schuldig befunden der Zauberei und der dämonischen Praktiken.«

»Wer klagt uns an?«

»Bringt das Mädchen!«, befahl Lazarus.

Sie zogen sie nach vorne, ein Mann an jedem Arm. Sie war klein und zierlich, und ihr Gesicht war wachsweiß vor Angst. Man hatte ihr die Haare geschoren, und sie blickte ihn ängstlich an.

»Hester Deale, ist das der Mann, der dich verführt hat?«

»Er und seine Frau haben Hand an mich gelegt.« Sie sprach wie in Trance. »Sie haben unzüchtige Handlungen an meinem Körper vorgenommen. Sie kamen als Raben an mein Fenster, flogen nachts in mein Zimmer. Sie hielt mir den Hals zu, so dass ich nicht sprechen oder um Hilfe rufen konnte.«

»Kind«, sagte Giles sanft, »was haben sie mit dir gemacht?«

Voller Angst blickte sie ihn an. »Sie bezeichneten Satan als ihren Gott und opferten einen Hahn, dem sie den Hals durchschnitten. Sie zwangen mich, sein Blut zu trinken. Ich konnte sie nicht aufhalten.«

»Hester Deale, schwörst du Satan ab?«

»Ich schwöre ihm ab.«

»Hester Deale, schwörst du Giles Dent und der Frau Ann Hawkins ab?«

»Ich schwöre ihnen ab.«

Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich schwöre ihnen ab, und ich bete zu Gott, dass er mich erlösen möge. Ich bete zu Gott, dass er mir verzeiht.«

»Das tut er«, flüsterte Giles. »Du hast keine Schuld.«

»Wo ist die Frau Ann Hawkins?«, wollte Lazarus wissen, und Giles blickte ihn mit seinen klaren grauen Augen an.

»Du wirst sie nicht finden.«

»Tritt beiseite. Ich werde dieses Haus des Teufels betreten.«

»Du wirst sie nicht finden«, wiederholte Giles. Einen Moment lang richtete er seinen Blick auf die Männer und die wenigen Frauen, die hinter Lazarus standen.

Er sah Tod in ihren Augen und mehr noch, den Hunger danach. Das war das Werk des Dämons.

Nur in Hesters Augen sah er Angst oder Schmerz. Er nahm alles, was er geben konnte, und richtete seine Gedanken auf sie. Lauf weg!

Er sah, wie sie zusammenzuckte, zurücktaumelte, und wandte sich wieder zu Lazarus.

»Wir kennen einander, du und ich. Schick die anderen weg, lass das Mädchen frei, dann tragen wir es unter uns aus.«

Einen Augenblick leuchteten Lazarus’ Augen rot auf. »Du bist erledigt. Verbrennt den Hexer!«, schrie er. »Verbrennt des Teufels Haus und alles, was darin ist!«

Sie kamen mit Fackeln und Knüppeln. Giles fühlte, wie die Schläge auf ihn einprasselten, und er spürte die Wut des Hasses, die die schärfste Waffe des Dämons war.

Sie zwangen ihn in die Knie und steckten die Holzhütte in Brand. Wahnsinnige Schreie gellten in seinem Kopf.

Mit letzter Kraft griff er nach dem Dämon in dem Mann, dessen dunkle Augen rot leuchteten, als er sich von Hass, Furcht und Gewalt nährte. Er spürte, wie er triumphierte, so sicher seines Sieges und des Festmahls.

Er riss an ihm, durch die raucherfüllte Luft. Er hörte den Dämon vor Wut und Schmerz schreien, als die Flammen in sein Fleisch bissen. Und er hüllte ihn damit ein, als das Feuer sie verzehrte.

Mit dieser Vereinigung brach der Brand erst richtig los, erfasste und vernichtete alle Lebewesen im Tal.

Einen Tag und eine Nacht lang brannte es, wie der Bauch der Hölle.

1

Hawkins Hollow

Maryland

6. Juli 1987

In der hübschen Küche des hübschen Hauses in der Pleasant Avenue bemühte sich Caleb Hawkins, ruhig zu bleiben, während seine Mutter ihm Proviant für eine Campingtour einpackte.

In der Welt seiner Mutter brauchten zehnjährige Jungen frisches Obst, selbst gebackene Hafermehlplätzchen (die allerdings so übel nicht waren), ein halbes Dutzend hart gekochte Eier, eine Tüte Ritz-Cracker, mit Erdnussbutter bestrichen und zusammengeklappt, ein paar Sellerie- und Karottenstifte (iiih!) und herzhafte Sandwiches mit Schinken und Käse.

Außerdem noch eine Thermosflasche mit Limonade, einen Stapel Papierservietten und zwei Schachteln Pop-Tarts fürs Frühstück.

»Mom, wir verhungern da nicht«, beklagte er sich, als sie vor dem offenen Küchenschrank stand und überlegte, was sie noch vergessen haben könnte. »Wir sind doch nur bei Fox im Garten.«

Das war eine Lüge, und er verknotete sich fast die Zunge dabei. Aber wenn er ihr die Wahrheit sagte, würde sie ihn nie gehen lassen. Und, Mann, er war doch schon zehn. Beziehungsweise, er wurde es morgen.

Frannie Hawkins stemmte die Hände in die Hüften. Sie war eine zierliche, attraktive Blondine mit sommerblauen Augen und einer flotten Dauerwelle. Sie hatte drei Kinder, Cal war ihr Jüngster und ihr einziger Junge. »Lass mich noch mal in deinen Rucksack sehen.«

»Mom!«

»Liebling, ich will nur sichergehen, dass du nichts vergessen hast.« Ungerührt zog Frannie den Reißverschluss an Cals Rucksack auf. »Frische Unterwäsche, sauberes Shirt, Socken, gut, gut, Shorts, Zahnbürste. Cal, wo ist das Pflaster, das du mitnehmen sollst, und das Autan gegen die Insekten?«

»Mann, wir fahren doch nicht nach Afrika.«

»Das ist egal«, erwiderte Frannie und streckte gebieterisch den Zeigefinger aus, damit er die Sachen holte. In der Zwischenzeit zog sie eine Karte aus ihrer Tasche und steckte sie in den Rucksack.

Er war – nach acht Stunden und zwölf Minuten heftiger Wehen – genau eine Minute nach Mitternacht zur Welt gekommen. Jedes Jahr trat sie um zwölf an sein Bett, sah ihm eine Minute lang beim Schlafen zu und küsste ihn dann auf die Wange.

Jetzt wurde er zehn, und sie konnte dieses Ritual nicht einhalten. Ihre Augen brannten plötzlich, und sie wandte sich ab, um ihre makellose Küchentheke zu wienern, als sie ihn wiederkommen hörte.

»Jetzt habe ich aber alles, oder?«

Fröhlich lächelnd drehte sie sich um. »Okay.« Sie strich ihm über seine kurzen, weichen Haare. Er war als Baby so blond gewesen, aber seine Haare wurden immer dunkler, vermutlich würden sie hellbraun.

So wie ihre ohne die Hilfe von Clairol.

Frannie schob ihm seine Brille mit dem dunklen Rahmen auf die Nase. »Denk daran, dich bei Miss Barry und Mr O’Dell zu bedanken, wenn du ankommst.«

»Ja.«

»Und noch einmal, bevor du morgen wieder weggehst.«

»Ja, Ma’am.«

Sie nahm sein Gesicht in die Hände, blickte durch die dicken Linsen in die Augen, die vom gleichen ruhigen Grau wie die Augen seines Vaters waren. »Benimm dich anständig«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. »Viel Spaß.« Sie küsste ihn auf die andere Wange. »Und herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Baby.«

Normalerweise war es ihm schrecklich peinlich, wenn sie ihn Baby nannte, aber in diesem Moment gab es ihm ein gutes Gefühl.

»Danke, Mom.«

Er nahm den Rucksack auf den Rücken und ergriff den schweren Picknickkorb. Wie sollte er mit dem schweren Ding bloß die ganze Strecke bis nach Hawkins Wood radeln?

Die Jungs würden ihn bestimmt auslachen.

Er schleppte den Korb in die Garage, wo sein Fahrrad ordentlich an einem Gestell an der Wand hing. Mit zwei Gummiseilen von seinem Vater sicherte er den Picknickkorb auf dem Gepäckträger.

Dann sprang er auf sein Fahrrad und fuhr die kurze Einfahrt hinunter.

Fox zog das letzte Unkraut aus seinem Teil des Gemüsegartens und sprühte ihn mit der Brühe ein, die seine Mutter jede Woche zusammenmixte, um das Wild und die Kaninchen fernzuhalten. Die Kombination aus Knoblauch, rohem Ei und Cayennepfeffer stank so entsetzlich, dass er den Atem anhielt, als er sie auf die Reihen mit Busch- und Stangenbohnen, Karotten, Radieschen und Kartoffeln verteilte.

Er trat einen Schritt zurück, holte tief Luft und betrachtete sein Werk. Seine Mutter war ziemlich streng in puncto Gartenarbeit. Ihr ging es darum, dass man die Erde respektierte und mit der Natur im Einklang war und so.

Allerdings ging es auch ums Essen, weil eine sechsköpfige Familie ernährt werden wollte – und auch jeder, der vorbeikam. Deshalb verkauften sein Dad und seine ältere Schwester Sage an ihrem Stand Eier, Ziegenmilch, Honig und selbstgemachte Marmelade.

Er blickte zu seinem jüngeren Bruder Ridge hinüber, der zwischen den Gemüsereihen lag und mit dem Unkraut spielte, statt es auszureißen. Weil seine Mutter drinnen gerade damit beschäftigt war, seine Babyschwester zum Mittagsschlaf hinzulegen, war er für Ridge verantwortlich.

»Komm schon, Ridge, zieh das blöde Unkraut raus. Ich will endlich los.«

Ridge blickte seinen Bruder aus verträumten Augen an. »Warum kann ich denn nicht mitkommen?«

»Weil du erst acht bist und noch nicht einmal zwischen den blöden Tomaten Unkraut jäten kannst.« Verärgert begann Fox, selbst zu jäten.

»Kann ich wohl.«

Wie Fox gehofft hatte, begann Ridge mit Feuereifer zu arbeiten. Fox richtete sich auf und rieb sich die Hände an den Jeans ab. Er war groß und dünn, mit dichten braunen Haaren, die in Wellen um sein kantiges Gesicht fielen. Seine goldbraunen Augen leuchteten zufrieden auf, als er die Sprühflasche in die Hand nahm.

Er stellte sie neben Ridge. »Vergiss nicht, alles einzusprühen.«

Er ging quer durch den Garten, vorbei an den drei Mauerstücken und dem eingestürzten Kamin, den Überresten der alten Steinhütte in der Ecke des Gemüsegartens, die jetzt völlig von Geißblatt und wilder Trichterwinde überwuchert waren.

Er ging am Hühnerhaus mit den Hennen vorbei, am Ziegengehege, wo die beiden Ziegen gelangweilt herumstanden, und am Kräutergarten seiner Mutter, der direkt am Haus lag, das seine Eltern fast ausschließlich allein gebaut hatten. Die Küche war groß, überall standen Einmachgläser, Dosen mit Wachs und Schalen mit Dochten herum.

Fox wusste, dass sie für die meisten Leute in Hollow komische Hippies waren, aber das war ihm egal. Sie kamen ganz gut klar, und die meisten Leute kauften ihre Produkte gerne, Eier und Gemüse oder die Handarbeiten seiner Mutter. Sie engagierten auch seinen Vater, wenn es irgendwo etwas zu bauen gab.

An der Spüle wusch er sich rasch die Hände, bevor er sich in der großen Speisekammer nach etwas Essbarem umsah, das nicht gesund war.

Keine Chance.

Er müsste zum Supermarkt fahren – am besten zu dem am Stadtrand –, um Little Debbies und Nutter Butters zu kaufen.

Seine Mutter kam herein und warf ihren langen braunen Zopf, der über ihrer bloßen Schulter lag, zurück. »Fertig?«

»Ich ja. Ridge beinahe.«

Joanne trat ans Fenster. Automatisch hob sie die Hand, um ihrem Sohn über die Haare zu streichen.

»Ich habe Carob-Brownies und Gemüseburger, wenn du was mitnehmen möchtest.«

»Äh, nein danke. Ich brauche nichts.«

Er wusste, dass sie wusste, dass er Fleisch und weißen Zucker zu sich nehmen würde. Aber sie würde ihm keine Vorwürfe machen. Mom ließ einem in dieser Beziehung alle Freiheit.

»Viel Spaß.«

»Ja, bestimmt.«

»Fox?« Sie stand an der Spüle, und ein Sonnenstrahl fiel auf ihre Haare. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«

»Danke, Mom.« Er lief hinaus und schwang sich auf sein Fahrrad, um das Abenteuer zu beginnen.

Der alte Mann schlief noch, als Gage seine Vorräte in seinen Rucksack packte. Gage konnte ihn durch die dünnen Wände der vollgestopften kleinen Wohnung über dem Bowl-a-Rama schnarchen hören. Der alte Mann putzte dort die Böden, die Klos und was Cals Vater sonst noch so für ihn zu tun hatte.

Er wurde zwar morgen erst zehn Jahre alt, aber Gage wusste, warum Mr Hawkins den Alten beschäftigte, warum sie mietfrei hier wohnen konnten, wobei sein Vater angeblich als Hausmeister für das Gebäude fungierte. Sie taten Mr Hawkins leid – vor allem Gage, weil er der mutterlose Sohn eines alten Säufers war.

Er tat auch anderen Leuten leid, und das ging Gage gegen den Strich. Bei Mr Hawkins allerdings nicht. Er ließ sich sein Mitleid nie anmerken. Und wenn Gage auf der Bowlingbahn half, dann bezahlte Mr Hawkins ihn in bar. Er steckte ihm das Geld heimlich zu, mit einem verschwörerischen Zwinkern.

Er wusste, ach zum Teufel, jeder wusste, dass Bill Turner seinen Sohn von Zeit zu Zeit verprügelte. Aber Mr Hawkins war der Einzige, der Gage jemals gefragt hatte, was er wollte. Ob er die Polizei oder die Fürsorge holen sollte oder ob Gage lieber eine Zeit lang bei ihm und seiner Familie wohnen wollte?

Die Polizei und die Sozialarbeiter hatte er nicht gewollt. Sie machten alles nur noch schlimmer. Und er hätte zwar alles dafür gegeben, in dem schönen Haus bei Leuten zu wohnen, die ein anständiges Leben führten, aber er hatte Mr Hawkins nur gebeten, seinen alten Herrn bitte, bitte nicht zu feuern.

Er bekam weniger Prügel, wenn Mr Hawkins seinem Vater Arbeit gab. Außer natürlich, wenn Bill auf Sauftour ging und sich zuschüttete. Wenn Mr Hawkins wüsste, wie schlimm es in solchen Zeiten tatsächlich war, würde er wohl doch die Polizei rufen.

Also erzählte er es ihm nicht, und er lernte, Prügel wie die von gestern Abend gut zu verstecken.

Gage bewegte sich vorsichtig, als er aus dem Vorrat seines Vaters drei kalte Bier nahm. Die Striemen auf seinem Rücken und seinem Hintern waren noch wund und brannten wie Feuer. Er hatte mit den Schlägen gerechnet. Das passierte immer um seinen Geburtstag herum. Und am Todestag seiner Mutter wurde er auch immer verprügelt.

Das waren die beiden großen, traditionellen Termine. Zu anderen Zeiten kamen die Schläge überraschend. Aber wenn sein Vater Arbeit hatte, beschränkte er sich auf Knuffen und Schubsen.

Gage brauchte nicht besonders leise zu sein, als er das Schlafzimmer seines Vaters betrat. Wenn Bill Turner seinen Rausch ausschlief, hätte ihn höchstens der Einsatz der Feuerwehr geweckt.

Im Zimmer stank es nach Schweiß und kaltem Rauch, Gage verzog das Gesicht. Er nahm die halbvolle Schachtel Marlboro von der Kommode. Der alte Mann würde sich bestimmt nicht mehr daran erinnern, dass er noch Zigaretten gehabt hatte, das war also kein Problem.

Ohne Gewissensbisse öffnete er die Brieftasche seines Vaters und nahm sich drei einzelne Dollar und einen Fünfer heraus.

Er betrachtete seinen Vater, während er sich die Scheine in die Hosentasche stopfte. Bill lag breitbeinig auf dem Bett, ausgezogen bis auf die Boxershorts, und schnarchte mit offenem Mund.

Der Gürtel, mit dem er seinen Sohn am Abend zuvor bearbeitet hatte, lag neben seinem Hemd, seiner Jeans und seinen schmutzigen Socken auf dem Fußboden.

Einen Moment lang, einen winzigen Moment lang, stieg das wilde Verlangen in Gage auf, den Gürtel zu ergreifen und ihn fest über den nackten, schwabbeligen Bauch seines Vaters klatschen zu lassen.

Wie würde dir das wohl gefallen?

Aber dort auf dem Tisch, neben dem überquellenden Aschenbecher und der leeren Bierflasche stand das Bild von Gages Mutter, die ihn anlächelte.

Die Leute sagten, er sähe aus wie sie – die dunklen Haare, die grünen Augen, der volle Mund. Zuerst war es ihm peinlich gewesen, mit einer Frau verglichen zu werden. Aber in der letzten Zeit, seit das Foto von ihr die deutlichste Erinnerung an sie war, da er ihre Stimme nicht mehr hören oder sie riechen konnte, gab es ihm Kraft.

Er sah aus wie seine Mutter.

Manchmal stellte er sich vor, der Mann, der sich die meisten Abende sinnlos betrank, wäre nicht sein Vater.

Sein Vater wäre klug, tapfer und wagemutig.

Aber dann blickte er seinen Alten an und wusste, dass das Blödsinn war.

Er zeigte seinem Vater den Stinkefinger, als er das Zimmer verließ. Seinen Rucksack musste er in der Hand tragen. Bei den Striemen auf dem Rücken war nicht daran zu denken, ihn umzuhängen.

Er ging über die Außentreppe nach unten und hinters Haus, wo sein altes Fahrrad angekettet stand.

Trotz seiner Schmerzen musste er grinsen.

Für die nächsten vierundzwanzig Stunden war er frei.

Sie wollten sich am westlichen Stadtrand treffen, wo der Wald bis an die Straße reichte. Der Junge aus der Mittelschicht, das Hippie-Kind und der Sohn des Säufers.

Sie hatten alle drei am gleichen Tag Geburtstag, am siebten Juli. Cal hatte seinen ersten Schrei im Kreißsaal des Washington County Hospitals ausgestoßen, während seine Mutter keuchte und sein Vater weinte. Fox war im Schlafzimmer des alten Farmhauses direkt in die wartenden Hände seines lachenden Vaters geschlüpft, während Bob Dylan sang »Lay, Lady, Lay« und lavendelduftende Kerzen flackerten. Und Gage war in einem Krankenwagen, der die Maryland Route 65 entlangraste, zur Welt gekommen.

Gage war als Erster da. Er stieg ab und schob sein Fahrrad zwischen die Bäume, wo niemand es sehen konnte.

Dann setzte er sich auf den Boden und zündete sich seine erste Zigarette an diesem Tag an. Ihm wurde immer ein bisschen übel davon, aber der Akt des Anzündens entschädigte einen dafür.

Er saß da und rauchte und stellte sich vor, er befände sich auf einem Gebirgspfad in Colorado oder im heißen südamerikanischen Dschungel.

Irgendwo, nur nicht hier.

Er hatte gerade den dritten Zug genommen und vorsichtig inhaliert, als er ein weiteres Fahrrad näher kommen hörte.

Fox schob Blitz durch die Bäume. Sein Fahrrad hieß so, weil sein Vater Blitze auf die Stangen gemalt hatte.

In dieser Hinsicht war sein Dad ganz schön cool.

»Hey, Turner.«

»O’Dell.« Gage streckte ihm die Zigarette entgegen.

Sie wussten beide, dass Fox sie nur nahm, weil er sonst als Weichei gegolten hätte. Er nahm einen schnellen Zug und reichte sie Gage dann zurück. Gage wies mit dem Kinn auf die Tasche am Lenker von Blitz. »Was hast du dabei?«

»Little Debbies, Nutter Butters und TasteKake Pie, Apfel und Kirsche.«

»Toll. Ich habe drei Dosen Bud für heute Abend.«

Fox fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Kein Scheiß?«

»Nein, kein Scheiß. Mein Alter war voll. Das merkt der gar nicht. Ich habe auch noch was anderes. Das Penthouse vom letzten Monat.«

»Nicht dein Ernst!«

»Er versteckt es immer unter der schmutzigen Wäsche im Badezimmer.«

»Lass mal sehen.«

»Später. Wenn wir das Bier trinken.«

Sie blickten auf, als Cal mit seinem Fahrrad über den unebenen Weg kam. »Hey, Schweinekopf«, begrüßte Fox ihn.

»Hey, Arschlöcher.«

Nach dieser freundschaftlichen Begrüßung schoben sie ihre Fahrräder tiefer in den Wald hinein.

Als sie die Fahrräder sicher abgestellt hatten, packten sie ihre Vorräte aus.

»Himmel, Hawkins, was hat deine Mom dir denn alles eingepackt?«

»Wenn du Hunger bekommst, beschwerst du dich bestimmt nicht mehr.« Cals Arme konnten das Gewicht kaum noch tragen. Er warf Gage einen finsteren Blick zu. »Warum nimmst du eigentlich deinen Rucksack nicht auf den Rücken und hilfst mir?«

»Weil ich ihn trage.« Aber er klappte doch den Deckel des Korbes zurück und schob ein paar der Tupperware-Dosen in seinen Rucksack. »Pack auch welche ein, O’Dell, sonst brauchen wir noch den ganzen Tag, um zu Hester’s Pool zu kommen.«

»Scheiße.« Fox zog eine Thermosflasche heraus und stopfte sie in seinen Rucksack. »Ist es jetzt leicht genug für dich, Sally?«

»Halt’s Maul. Ich habe den Korb und meinen Rucksack.«

»Ich habe den Einkauf aus dem Supermarkt und meinen Rucksack.« Fox nahm seinen teuersten Besitz vom Fahrrad. »Du trägst das Radio, Turner.«

Gage zuckte mit den Schultern und ergriff den Ghettoblaster. »Dann suche ich auch die Musik aus.«

»Aber kein Rap«, erwiderten Cal und Fox unisono, aber Gage grinste nur und drehte so lange am Sender, bis er Musik nach seinem Geschmack fand.

Stöhnend machten sie sich auf den Weg zur Schlucht.

Das Laub war so dicht, dass die Sommerhitze hier im Schatten der hoch aufragenden Pappeln und Eichen nicht so schlimm war.

»Gage hat ein Penthouse«, verkündete Fox. Als Cal ihn nur verständnislos anstarrte, fügte er erklärend hinzu: »Die Zeitschrift mit den nackten Frauen, Blödmann.«

»Oh, oh.«

»Na, komm schon, Turner, hol sie raus!«

»Erst wenn wir unser Lager aufgeschlagen haben und das Bier aufmachen.«

»Bier!« Instinktiv warf Cal einen furchtsamen Blick über die Schulter, als ob auf einmal seine Mutter hinter ihm stünde. »Du hast Bier?«

»Drei Dosen«, bestätigte Gage. »Zigaretten auch.«

»Ist das nicht toll?« Fox boxte Cal in den Arm. »Das wird der beste Geburtstag, den wir je hatten.«

»Ja«, stimmte Cal ihm zu. Insgeheim jedoch starb er vor Angst. Bier, Zigaretten und Bilder von nackten Frauen. Wenn seine Mutter das jemals herausfand, bekäme er Stubenarrest, bis er dreißig wäre. Und da hatte er noch nicht einmal mitgezählt, dass er sie angelogen hatte und durch den Hawkins Wood marschierte, um beim ausdrücklich verbotenen Heidenstein zu zelten.

Wahrscheinlich würden sie ihn in sein Zimmer einsperren, bis er in hohem Alter starb.

»Mach dir nicht in die Hose.« Gage nahm den Rucksack in die andere Hand. »Das ist doch alles cool.«

»Ich mache mir nicht in die Hose.« Aber Cal zuckte doch zusammen, als ein fetter Eichelhäher aufflog und wütend keckerte.