Prolog Der schlimmste Anruf meines Lebens

2019 gab es mal eine ganz kurze Zeit, in der ich grübelte, ob ich mir nicht doch etwas vormache. Ob ich tief innendrin doch gar nicht so normal bin, wie ich immer glaubte. Ob ich das nicht immer nur mir und der ganzen Welt erzählte. Und ob meine fröhliche und lustige Art, die mir angeboren schien, nicht das typische Verhalten eines Clowns war. Des Clowns, der hinter seiner Maske ein trauriges Ich verbirgt. Und dessen Lustigsein eine Kompensation ist. Ein Verstecken des wahren Ichs. Oder sogar ein Bekämpfen innerer Dämonen.

Es ging mir damals über Wochen und Monate schlecht. Seelisch. Tatsächlich übermannten mich des Öfteren eine Traurigkeit, eine Dunkelheit und eine Hilflosigkeit, die ich nicht kannte. Ich war in passender Gesellschaft und in passenden Momenten durchaus gut drauf. Aber sobald ich alleine war, schien es, als habe jemand einen Stecker gezogen. Als werfe mir jemand eine schwarze Decke über den Kopf. Oder als rufe jemand lauthals: „Jetzt ist aber Schluss mit lustig.“

Und weil ich das alles nicht kannte, warf es mich zwischenzeitlich fast aus der Bahn. Mein Leben lang war ich immer nur dann traurig gewesen, wenn es in dieser Sekunde einen konkreten Grund gab. Ein verlorenes Fußballspiel oder eine andere sportliche Enttäuschung. Eine geplatzte Liebe. Eine schlechte Note. Sorgen um einen geliebten Menschen. Ja, und manchmal eben auch Zurückweisungen. Aber mit alledem bin ich immer gut fertiggeworden, die Probleme haben sich schnell in Luft aufgelöst und ich war der fröhliche alte Matze.

Diesmal hatte ich das Gefühl, in einer Abwärtsspirale zu sein, und ich kam da irgendwie nicht raus. Und in ganz schlimmen Momenten überfiel mich schon während des Fröhlichseins die Angst, dass nachher alles wieder anders sein wird. Dass die Traurigkeit mich wieder hinterrücks übermannen wird.

Heute weiß ich, dass ich eigentlich noch an gar keinem dramatischen Punkt war. Aber weil es mich so unvorbereitet traf und weil es so komplett wider mein Naturell war, zog es mir beinahe die Füße weg. Es überfiel mich im Schlaf, hielt mich fest im Schwitzkasten und hinterließ mich ratlos und hilflos. Weil ich nicht einmal genau wusste, was das eigentlich war. Also kamen kurzzeitig eben auch diese Gedanken: War ich also doch gar nicht so normal? War die Phase die Quittung für über 30 Jahre des unbewussten Selbstbelügens? Des Irrglaubens, ich sei normal und mein Kleinwuchs nun wirklich das geringste Problem? Auch diese Gedanken sorgten sicher dafür, dass ich mir schneller Hilfe suchte, als es die meisten anderen getan hätten. Dass ich das Problem schon im frühen Stadium viel größer machte, als es eigentlich war. Was im Nachhinein mein Glück war.

Ich hatte das Gefühl, ich rauschte mit einem Flugzeug aus 10.000 Metern auf den Abgrund zu und der harte Aufschlag sei nicht mehr allzu fern. Heute weiß ich – um im Bild zu bleiben –, dass ich wohl noch ein paar Tausend Meter Höhe hatte, als ich mir eingestand, Hilfe zu brauchen. Aber wie gesagt: Genau das war mein Glück. Denn heute geht es mir wieder richtig gut.

Ich suchte mir also Hilfe. Erst bei einem Sportpsychologen, dann bald bei einer Psychologin. Ich erzählte, erzählte und erzählte. Erst etwas zögerlich, bald sprudelte es wie ein Wasserfall aus mir heraus. Die Dame hörte geduldig zu, nickte zwischendurch immer wieder wissend und machte sich Notizen. Und wie es bei alledem wohl üblich ist, blickten wir auch zurück in meine Kindheit. Irgendwann stellte sich dann auch die Frage: Hat das alles vielleicht doch mit meiner Größe zu tun? Habe ich mir über 30 Jahre etwas vorgemacht? Habe ich mich selbst belogen? Holt mich nun alles ein? Nein, sagte meine Psychologin. „Nein, Herr Mester, ganz sicher nicht.“

Die Erleichterung stellte sich nicht gleich ein. Denn ich hatte mir diese Frage mein Leben lang nie so wirklich gestellt. Und nun, da sie auf dem Tisch war, wollte ich sie auch zufriedenstellend beantwortet haben. Doch die Psychologin versicherte mir mit fester Stimme, dass alles, was ich nun durchmache, völlig normal sei. Ich hatte eben in einem kurzen Zeitraum einige Dinge erlebt, die mich belasteten. Aber keines der Symptome sei schlimmer oder auch nur markant anders als bei normal großen Menschen. Und deshalb habe nach ihrer Erkenntnis nichts, was mich belastet, direkt oder indirekt mit meiner Größe zu tun. Wäre ich 1,90 Meter, würde es mir unter den gegebenen Umständen sehr wahrscheinlich genauso gehen.

Es dauerte ein paar Tage, bis sich die Worte in mir setzten. Bis ich sie wirklich tief und fest glaubte. Diese ungewohnten Zweifel hatten sich klammheimlich und hinterrücks in mich hineingeschlichen und dort breitgemacht. Und es dauerte nun auch eine Weile, bis sie geschlagen das Feld räumten. Als sie es taten, machte sich für einige Tage eine Euphorie in mir breit. Die aber noch nicht reichte, um mich von meiner dunklen Traurigkeit zu befreien. Was mir eben auch noch mal versicherte, dass die Probleme andere waren.

Und es war ja auch wirklich vieles passiert. Das Schlimmste von allem war der tödliche Autounfall von Janina, der Verlobten meines Bruders. Sie war gerade mal 26. Mein Bruder und ich haben ein sehr gutes Verhältnis. Und auch mit Janina habe ich mich richtig gut verstanden. Sie war für mich immer eine Bezugsperson. So etwas wie ein Anker. Mit ihr habe ich über sehr viele Dinge gesprochen. Sie war immer für mich da, hatte immer ein offenes Ohr und meist auch einen sehr guten Ratschlag.

Zudem lebten Janina und mein Bruder für mich den Prototyp einer glücklichen Beziehung. Eines Paares, das füreinander gemacht schien. Sie lernten sich früh kennen, schon in der Schule. Wussten schnell, dass sie zusammengehören. Nun, nach zehn Jahren Beziehung, hatten sie zwei Hunde, Emmy und Bruno, der Hausbau und die Hochzeit waren geplant und jedem in ihrem Umfeld war klar, dass das der logische und richtige Weg war. Die größte Frage in diesem Zusammenhang war die, wann ich Onkel werden würde.

Und dann kam dieser schreckliche Anruf. Es war der 10. Mai 2019. Ich war gerade ins Schwabenland gezogen, hatte morgens in Stuttgart trainiert und freute mich schon auf den Abend. Denn meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und Janina wollten mich in meinem Wohnort Esslingen am Neckar besuchen. Am Tag zuvor hatte ich eingekauft und wollte kochen, obwohl ich das grundsätzlich weder gerne mache noch gut kann. Aber für besondere Anlässe entwickele ich projektbezogen dann doch eine gewisse Freude daran.

Mitten im Training kam dann ein Anruf meiner Schwester, die völlig aufgelöst war. Es sei etwas Schlimmes passiert, schluchzte sie. „Janina hatte einen Unfall.“ Mehr brachte sie im ersten Moment nicht heraus. „Einen Unfall?“, fragte ich: „Was für einen Unfall? Was ist passiert?“ Für wahrscheinlich zwei, gefühlt aber 20 Sekunden herrschte Stille. Und dann sagte meine Schwester die schlimmsten Worte, die ich je in meinem Leben gehört habe: „Janina ist tot.“ Ich fühlte mich, als habe mich ein Blitz getroffen. Ich stand unter Schock. Aber für mich war sofort klar: „Alles klar, ich komme!“

Im Auflegen hörte ich noch, wie sie mir zurief, ich solle bloß vorsichtig fahren. Von Stuttgart bis ins Münsterland sind es immerhin fünf Stunden. Aber ich kannte nur noch ein Ziel. Ich schnappte mir meine Sporttasche, verabschiedete mich von meinem Freund und Trainingskumpel Niko Kappel sowie von meiner damaligen Freundin, die ebenfalls zur Trainingsgruppe gehörte, und stieg ungeduscht und in Trainingsklamotten ins Auto.

Während der Fahrt erlebte ich das komplette Kopfkino. Im einen Moment die totale Leere, im anderen Moment kullerten mir hemmungslos die Tränen herunter. Ich dachte an Janina, an meinen Bruder, an ihre Eltern und an meine Eltern, die sich wahrscheinlich Sorgen machten, ob ich unter diesen Umständen heil ankommen würde. Ich drehte die Musik auf, machte sie immer lauter und schließlich ganz aus, weil ich Musik nun nicht mehr ertragen konnte.

In Coesfeld angekommen, schloss ich meinen Bruder wortlos in die Arme. Minutenlang sagte keiner von uns beiden etwas. Wir trauerten einfach gemeinsam.

Mit einer solchen Geschichte umzugehen, ist unglaublich schwer. Weil du nicht darauf vorbereitet sein kannst. Und weil sie so unglaublich viele Ebenen hat. Du trauerst um einen Menschen, den auch du sehr gerne gemocht hast. Und du siehst um dich herum trauernde Menschen, die diesem Menschen noch näherstanden. Für die der Verlust im Alltag jede Sekunde spürbar ist und schmerzt. Und du leidest auch mit diesen, von dir so geliebten Menschen.

Das zweite Problem in dieser Phase war, dass ich gerade mit allen Hochs und Tiefs gegen das Ende einer langen Beziehung kämpfte. Es hatte alles wunderbar begonnen. Sie war zwar 1,82 Meter und damit genau neununddreißigeinhalb Zentimeter größer als ich. Doch am Anfang schien alles zu passen. Sie riss mich mit, sie verstand mich als Leistungssportler, meine Größe war für sie nie ein Thema. Um ihr nahe zu sein, zog ich sogar ins Schwabenland, wo ich des Öfteren mit Niko trainiert und sie so kennengelernt hatte. Irgendwann wurde aber leider klar, dass es in die falsche Richtung läuft. Wir taten uns gegenseitig nicht mehr gut, obwohl wir das doch so unbedingt wollten. Immer wieder kämpften wir uns nach oben, immer wieder gab es Rückschläge mit großer emotionaler Wucht. Und die Erkenntnis, es so sehr zu wollen, aber nicht in den Griff zu bekommen, war immer wieder eine Niederlage. Monatelang konnten wir nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander. Gingen uns auf die Nerven, kamen aber auch nicht voneinander los. Heute habe ich mit der Sache meinen Frieden geschlossen. Weil ich mir nichts vorwerfen kann.

Dazu habe ich diese Phase eben in Esslingen verbracht, weit ab von meinem gewohnten Umfeld. Ich bin ein lockerer Typ, der schnell Bekanntschaften schließt, aber in einer solchen Situation willst du nicht irgendwen um dich herum. Da helfen nur echte Freunde. Und so gesehen hatte ich hier nur Niko. Zumal ich mich ohnehin schwertat. Die schwäbische Mentalität, die mir so viel negativer und skeptischer vorkam als die rheinländische oder auch die westfälische, war nicht die meine. Außerdem war ich weit weg von meinem Bruder, dem ich in diesem Moment so gerne zur Seite gestanden hätte. Und zu dem ich später bei meiner Rückkehr in die Heimat dann auch gezogen bin. Meine sportlichen Leistungen litten auch. Und mein Leben als öffentliche Person war schon so ins Rollen gekommen, dass sich die Termine ballten. Ich nahm damals einfach alles an, weil ich alles miterleben wollte und noch nicht so filtern konnte, wie ich es heute tue. Es war ein Teufelskreis.

Doch wie gesagt: Ich habe den Absprung rechtzeitig geschafft. Bekam die Kurve ein gutes Stück vor dem harten Aufprall. Und bekam quasi obendrauf die Bestätigung dessen, was ich gedacht hatte, immer zu wissen und vielleicht bis dahin doch in erster Linie nur gehofft hatte: Dass ich eigentlich komplett normal bin.

Wobei, nein, normal bin ich keineswegs. Ich bin schon anders. Augenscheinlich. Nur etwas mehr als jeder tausendste Mensch in Deutschland ist offiziell kleinwüchsig. Normal ist bei mir somit schon mal grundsätzlich fast gar nichts. Fast alles ist anders. Manches ist schlechter, vieles sogar besser. Das meiste aber eben einfach nur anders. Und für mich hat sowieso jeder Mensch irgendeine Behinderung. Der eine hat eine Brille, die anderen sind groß, dick, dünn, was auch immer. Und ich werde Ihnen nachher auch noch erklären, warum ich Größe ab einem bestimmten Punkt ebenso für eine Behinderung halte wie Kleinwuchs.

Natürlich hat mich mein Kleinwuchs geprägt. Natürlich habe ich vielleicht ein paar Hänseleien mehr einstecken müssen. Habe bei der Bewältigung mancher Probleme mehr Kreativität entwickeln müssen. Habe mir ein paar Dinge mehr erlauben dürfen. Und so manchen Erfolg etwas mehr genossen, weil ich es Spöttern und Skeptikern gezeigt hatte. Das alles hat meinen Charakter zweifelsohne geprägt. Und dennoch bin ich sicher: So furchtbar anders wäre ich nicht, wenn ich 1,80 Meter groß wäre.

Dennoch habe ich mich entschlossen, Ihnen von meinem Leben zu erzählen. Von den kleinen und großen Widrigkeiten. Und von den Erfolgen. Vor allem aber von dem, was ich erleben durfte. Als Mensch. Wenn Sie so wollen als „normaler Unnormaler“. Als Sportler, der Höhen und Tiefen erlebt und die Welt gesehen hat. Als Lausbub. Als Optimist.

Manche sagen, ich sei ein Vorbild. Für Kleinwüchsige, für Behinderte im Allgemeinen. Das war nie etwas, was ich angestrebt oder wonach ich gelebt habe. Spätestens als ich in der Öffentlichkeit stand, war mir aber schon bewusst, dass viele mein Handeln auf alle Kleinwüchsigen übertragen würden. Und dass daraus eine große Verantwortung entsteht. Doch ich habe mein Handeln nie danach ausgerichtet. Weil ich mich nicht verstellen will. Weil ich authentisch sein will und sein muss. Weil ich so am glücklichsten bin. Und all den rund 100.000 Kleinwüchsigen in Deutschland, quasi als Nebeneffekt, so auch am meisten nutze.

Kindermund – Mein Leben als wandelndes Fragezeichen

„Mama, schau mal, da ist David, der Kabauter.“ „Mama, Mama, guck mal, das Kind da hat einen Bart!“ Es war lange Zeit schon gewöhnungsbedürftig für mich, das gebe ich offen zu, wenn Kinder hinter mir in Zimmerlautstärke über mich sprechen. Und das passiert ständig. Immer, mehrfach am Tag. Kinder tragen ihr Herz auf der Zunge. Und sie haben tausend Fragen. Und ich laufe in ihren Augen als wandelndes Fragezeichen durch die Welt. 99 Prozent der Kinder reagieren auf mich. Manche schauen nur, staunen, rätseln. Einmal ist ein Kind sogar mit dem Roller gestürzt, weil es mir so entgeistert nachgeschaut hat. Vor allem aber stellen die allermeisten Kinder Fragen. Ganz ungeniert. Aber nicht an mich. Sondern an ihre Eltern.

Als ich selbst noch ein Kind oder ein Jugendlicher war – die Formulierung „als ich klein war“ wäre bei mir etwas bizarr –, gab es solche Situationen nur vereinzelt. Wir waren alle Kinder, der eine etwas größer, der andere etwas kleiner. Und auch wenn man mir aufgrund der anderen Merkmale deutlich ansieht, dass ich kleiner bin, war es damals vielleicht nicht ganz so augenscheinlich. Nicht in einer Sekunde zu erfassen, wie es das später werden würde. Doch irgendwann war den Kindern klar, dass ich deutlich älter, aber nur unwesentlich größer bin als sie.

„Mama, schau mal, der kleine Mann da“, das höre ich jeden Tag. Oder auch: „Papa, schau mal, da läuft ein Zwerg.“ Am häufigsten höre ich die einfache Frage: „Warum ist der Mann da so klein?“ Die Reaktionen der Mütter und Väter sind dabei extrem unterschiedlich. Manche sind mit der Situation überfordert und verbieten ihrem Kind in panischer Hektik den Mund. „Schhht“, sagen sie und drücken ihnen den Zeigefinger auf die Lippen. Ich weiß nicht, ob sie wirklich glauben, dass ich das nicht mitbekomme. Und ob sie sich darüber Gedanken machen, dass nun sie es waren – und nicht ihr Kind –, die mir das Gefühl gegeben haben, nicht normal zu sein. Und dass sie vor allem ihrem Kind das Gefühl geben, diese armen, kleinen Menschen bloß nicht hören zu lassen, dass man sich fragt, warum sie klein sind. Manche lügen ihre Kinder auch einfach an: „Das ist kein kleiner Mann“, sagen sie: „Das ist ein Kind, das sieht nur älter aus.“ Und wenn die Kinder dann sagen: „Kein Kind hat einen Bart“, ziehen sie sie weg und sagen so was wie: „Schluss jetzt, Ende der Diskussion.“

Die meisten Eltern antworten gut, indem sie es als die normalste und einfachste Sache der Welt behandeln. „Das ist eben so“, sagen sie dann: „Es gibt große Menschen und kleine, dicke und dünne, alte und junge.“ Wenn sie merken, dass ich es mitbekommen, folgt oft ein fragender Blick zu mir herüber. Er will heißen: „War das okay so?“ Ich nicke dann kurz und freundlich und gehe weiter.

Sehr gut gefallen mir die Eltern, die antworten: „Ich weiß es nicht. Frag den Mann doch einfach selbst.“ Sie ziehen mich damit zwar in die Sache hinein, aber es ist mir lieber, wenn ich den Kindern Quatsch erzählen darf, als wenn sie es tun. Unter den Kindern dieser Eltern gibt es dann drei verschiedene Typen. Die einen klammern sich sofort an Mamis Bein, verstecken sich dahinter und genieren sich. Sie spreche ich dann manchmal von mir aus an, um ihnen zu zeigen: Vor mir braucht man keine Angst zu haben. Die zweite Gruppe Kinder, die meisten davon im Grundschulalter, überfällt mich derweil arg ungestüm und fragt mit einem herablassenden Unterton: „Ey du, warum bist du denn so klein?“ Auf solche neunmalklugen Naseweise habe ich keine Lust, und so antworte ich ihnen meist: „Was willst du denn? Ich bin doch größer als du.“ Meist reicht das schon, um sie abzuwimmeln.

Am liebsten sind mir natürlich die Kinder, die leicht scheu, aber doch neugierig, lieb und offen auf mich zukommen und mich in einem netten Ton und vorsichtig fragen. Für sie würde ich mir immer Zeit nehmen, und wenn es hundert an einem Tag wären. Meine liebste Antwort an sie ist aber dennoch eine lustige. Denn mit einem „Das ist halt so“ sind Kinder nicht zufriedenzustellen. Und biologische Erklärungen führen in dem Alter auch zu wenig – zumal ich nicht der Typ dafür wäre, diese liefern zu können. Also sage ich: „Das liegt daran, dass ich, als ich so alt war wie du, meinen Teller nicht immer leer gegessen habe.“ In diesem Moment schaue ich dann fragend zu den Eltern („Okay so?“) und ernte meist ein freudiges Lächeln oder einen in die Luft gereckten Daumen. Sie freuen sich in diesem Moment diebisch darüber, dass ihr Kind künftig wohl sogar den ungeliebten Spinat und den ekligen Rosenkohl bis auf den letzten Rest aufessen wird.

Natürlich sind nicht alle Kinder mit solch einer Antwort zu beruhigen. Einige glauben mir nicht, und daran ändert dann auch der kurzzeitige Schock über diese unerwartete Antwort nichts. „Quatsch“, sagen sie dann oft bockig: „Stimmt ja gar nicht.“ Ein Mädchen, es mag wohl so sieben gewesen sein, schrie mich sogar an. „Du lügst“, dann schlug sie mit dem rechten Arm wütend in die Luft, presste ihre Puppe mit dem linken an sich und spazierte mit dem festen Schritt eines Armeesoldaten von dannen.

Wie gesagt, im Großen und Ganzen komme ich mit diesen Situationen gut klar. Manchmal nerven sie, manchmal habe ich keinen Kopf dafür oder es wird mir einfach zu viel. Aber meistens habe ich Freude daran, mit den neugierigen Kindern zu kommunizieren.

Richtig schlimm finde ich das Getratsche und Getuschel in meinem Rücken aber auch heute noch bei einem ersten Date. Wenn ich eine Frau, vielleicht mit Mühe und Not, dazu überredet habe, mit mir auszugehen, droht diese Fragerei im Rücken alles kaputtzumachen. Und wenn ich das Glück hatte, dass für eine Frau das Problem meiner Größe zunächst keines war, dann wird sie in diesem Moment daran erinnert, dass es eben doch eines sein könnte.

Es ist nicht angenehm, wenn du mit einer Frau, die du für dich gewinnen willst, durch die Stadt läufst und plötzlich spürst du: Die Kinder hinter dir gaffen dich an, stellen ihren Eltern die altbekannten Fragen. In diesem Fall ergänzt durch die Variante: „Was macht die große Frau mit dem kleinen Mann?“ Du wolltest der Frau beweisen, dass alles kein Problem ist. Und plötzlich befindet ihr euch in dieser Ausnahmesituation. Und ich weiß: Sie bekommt das mit, so wie ich es mitbekomme. Dann befällt mich schlagartig der panische Gedanke: Wird sie das vergraulen? Wie wird sie damit umgehen, dass sie in dieser Sekunde darüber nachdenken muss, dass es so wohl immer sein wird, wenn sie mit mir durch die Stadt läuft? Wird sie es genauso gut ignorieren und in Teilen sogar lieb gewinnen können wie ich? Und wenn ja: Wie lange wird dies dauern?

Auch diese Angst habe ich im Laufe der Jahre in den Griff bekommen. Besser sie werden gleich damit konfrontiert, denke ich mir dann. Ganz frei machen von diesem Unwohlsein kann ich mich aber nicht. Denn du spürst: Hier passiert gerade etwas, hier beginnt etwas zu arbeiten in der Frau. Und es ist etwas, worauf du keinen Einfluss hast. Und spätestens, wenn ich dann spüre, dass ihre Stimmung kippt, dann kippt auch meine: Dann verfluche ich plötzlich diese kleinen Monster, die mir sonst mit ihrer Neugier und ihrer Offenheit doch so oft ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

Sie werden sich nun fragen: Wünschst du dir nicht ab und zu einfach deine Ruhe? Wünschst du dir nicht, einfach mal durch die Straßen gehen zu können, ohne angegafft zu werden? Meine Antwort: Nein, ich wünsche es mir nicht. Ich brauche dieses Aufsehen nicht, aber es gehört vom ersten Tag an zu meinem Leben dazu. Mal mehr, mal weniger, aber es war immer da. Nerven tun mich nur diejenigen, die nervig sind: frech, herablassend, beleidigend. Alle anderen ignoriere ich – oder ich erfreue mich an ihnen.

Kurioserweise sind die Reaktionen auf mich übrigens überall auf der Welt ähnlich. Der Sport hat mir schon viel von der Welt gezeigt. Ich war in China, in Indien, in Taiwan. Doch dort bin ich weder eine größere noch eine kleinere Attraktion als hier. Vor der Reise nach China hatte ich mich schon ein wenig damit beschäftigt. Man konnte überall lesen, dass es Behinderte in China schwer haben. Dass sie von den Eltern versteckt werden und ein behindertes Kind Schande über eine Familie bringt. Aber dort waren die Reaktionen nicht neugieriger oder herablassender als überall anders auf der Welt.

Gabi Mester: „Es ist das Normalste der Welt“

Ich muss zugeben: Im ersten Moment war die Nachricht für mich ein Schock. Mathias war ein Wunschkind, unser erstes, und im siebten Monat rechnet man eigentlich nicht mehr mit Problemen. Wenn man dann hört, dass das Kind behindert sein wird, ist das erst einmal keine schöne Nachricht.

Die kommenden zwei Monate waren auch nicht leicht. Wir haben viel nachgedacht und alles gelesen, was wir in die Finger bekamen. Es gab aber niemanden, mit dem wir reden konnten, denn wir kannten bis dahin niemanden, der ein kleinwüchsiges Kind hatte. Seltsam waren zu diesem Zeitpunkt die Tuscheleien in der Siedlung. Irgendwann war es herausgekommen, dass wir ein behindertes Kind bekommen würden, und dann verselbstständigten sich die Gerüchte und Geschichten.

Doch wir hatten uns bald mit dem Gedanken arrangiert und uns war bewusst, dass es sicher Schlimmeres gibt als ein kleinwüchsiges Kind. Für eine Abtreibung war es auch theoretisch zu spät, aber das wäre auch zu einem früheren Zeitpunkt nie und nimmer ein Thema geworden. Und ab dem Tag, an dem Mathias auf die Welt kam, war alles ganz normal. Für uns, und auch für alle Menschen in der Nachbarschaft. Natürlich gab es Dinge, auf die man bei einem kleinwüchsigen Kind besonders achten musste. Zum Beispiel, dass man den Kopf anders halten muss, weil dieser unverhältnismäßig schwer ist. Aber das lernten wir, so wie alle Eltern beim ersten Kind viele Dinge lernen müssen.

Bei der Geburt maß Mathias 48 Zentimeter. Das war eigentlich gar nicht so viel weniger als bei einem normal großen Kind. Doch man sah direkt, dass die Ärmchen und Beinchen deutlich kürzer waren. Und vor allem hinkte er von da an größentechnisch immer hinterher. Es dauerte, bis er zwei war, ehe er halbwegs laufen konnte, weil es auf den kleinen Beinchen eben einfach schwerer war.

Klar war uns, dass wir nicht der Verlockung nachgeben durften, ihm alles abzunehmen, nur weil er klein war. Das war natürlich besonders schwierig, weil er unser erstes Kind war, wir keine Erfahrung hatten und man dann viel mehr den Reflex hat, auf alles achten zu müssen. Aber wir wussten: Er musste sich erst einmal selbst bei allem durchbeißen, und er war auch durchaus in der Lage dazu. Wenn wirklich mal etwas nicht klappte, konnten wir ja immer noch eingreifen.

Aber Mathias war schon als Kind ein charmantes Schlitzohr. In der ersten Zeit im Kindergarten kam er zum Beispiel einfach durch die Tür rein und stellte sich hin. Dann kamen sofort alle auf ihn zugestürmt, nahmen ihm die Jacke ab und hingen sie auf. Dem Kleinen wollten alle helfen. Und er bedankte sich ja auch immer sehr artig. Bis wir irgendwann einschritten und sagten, dass damit Schluss sein muss. Sonst wäre all unsere Erziehung zur Selbstständigkeit für die Katz gewesen.

Das Haus umgebaut haben wir nicht. Es war so okay. Mathias kam überall ran, viele Maßnahmen wollte und brauchte er nicht. Nur die Lichtschalter, die Toilette und Türklinken haben wir etwas tiefer montiert. Und die Gläser stellten wir nach unten. Da mussten wir uns dann eben mal bücken, statt dass er klettern musste. Das war nur fair.

Grundsätzlich war es aber so, dass wir uns viel mehr sorgten als er selbst. Während wir uns Gedanken machten, ob dies oder jenes gutgehen könnte, war Mathias längst losgetigert und machte es einfach. Ihn störte seine Behinderung nicht, er dachte nie darüber nach. Es stimmt auch, dass er mich nie gefragt hat, warum er so klein ist. Ich hätte ihm auch nicht wirklich etwas sagen können. Uns wurde erklärt, es sei ein Gendefekt, aber Genaues wusste man nicht. Wahrscheinlich war man vor 35 Jahren auch einfach noch nicht so weit.

Aber für Mathias war seine Größe das Normalste der Welt. „Ich bin nicht behindert. Ich bin nur klein“, protestierte er, kaum dass er reden konnte. Und wenn ich im Grundschulalter mit ihm durch die Stadt lief und mich aufregte, weil die Menschen um uns rum starrten und tuschelten, sagte er nur: „Ach Mama, lass sie doch. Mir macht das nichts aus.“ Ich kann heute in solchen Situationen auch auf Durchzug stellen und weghören, aber ich habe viele Jahre dafür gebraucht.

Dass wir nach ihm noch weitere Kinder wollten, stand für uns zu jedem Zeitpunkt außer Frage. Natürlich haben wir die Ärzte gefragt, wie groß das Risiko sein würde, dass auch das zweite Kind kleinwüchsig werden würde. Aber abgesehen davon, dass dieses angeblich minimal war, hatten wir uns zuvor schon entschieden. Denn selbst wenn: Wir hatten ja erlebt, dass ein kleinwüchsiges Kind wahrlich kein Drama war. Und wenn das zweite auch so klein gewesen wäre, wäre Mathias wenigstens nicht alleine gewesen.

Grundsätzlich haben wir natürlich versucht, alle drei Kinder gleich zu behandeln. Aber in Gänze war das einfach gar nicht möglich. In mancher Hinsicht musste man einfach mehr auf ihn aufpassen oder ihm helfen. Wenn er zu Freunden ging, mussten wir berechnen, wann er etwa dort ankommt und kurz vorher anrufen, damit er überhaupt reinkam. Sonst hätte er stundenlang vor der Tür gestanden, weil er an die meisten Türklingeln nicht rankam.

Bei den Großeltern, Tanten und Onkels hatte er durchaus ein wenig den „B-Bonus“, wie seine Schwester mal schmunzelnd sagte – den Behinderten-Bonus. Dort wurde er schon verhätschelt. Für uns war es auch nicht leicht, dem sechs Jahre jüngeren Bruder zu erklären, warum der ältere Mathias auf den Schränken rumturnen durfte und er nicht. Aber ich denke, insgesamt haben wir das alles gut hinbekommen. Und seine Geschwister haben sich nie beschwert, dass sie benachteiligt würden, obwohl sie es sicher das eine oder andere Mal gedacht haben. Aber sie haben wohl erkannt, dass sich alles in einem Rahmen bewegte, der aufgrund der Umstände angemessen war.

Sehr schön ist für uns deshalb, heute zu sehen, dass die Kinder ein sehr gutes Verhältnis untereinander haben. Auch wir Eltern haben ein gutes und enges Verhältnis zu allen dreien, auch wenn sie mittlerweile alle flügge geworden sind.

Ein Außenseiter war er zum Glück nie. Sogar ganz im Gegenteil. Alle Menschen in der Siedlung akzeptierten und mochten ihn. Im Kindergarten war es sowieso nie kritisch, weil dort nur Kinder aus der Siedlung waren, die ihn alle kannten. Als er auf die höhere Schule kam, gab es zu Beginn einige Hänseleien, aber die hörten sehr schnell auch wieder auf. Der Sport gab ihm schon früh Selbstvertrauen, und er hatte seine große Clique, die Gold wert war. Auch weil sie immer alle auf ihn aufpassten. Und Mathias war einfach ein Junge wie alle anderen auch. Er hatte oft Quatsch im Kopf und baute oft Mist, aber nie wirklich schlimme Sachen.

Als Mathias auszog, war das natürlich kein einfacher Schritt. Für uns wie für ihn. Ich machte mir schon viele Sorgen, ob das alles klappen könnte. Das Wäsche machen, das Putzen und vor allem das Einrichten, Schränke aufbauen, Bilder aufhängen. Ohne dass jemand Gewehr bei Fuß stehen würde, wenn es nicht klappen würde. Aber auch da hat er sich keine Gedanken gemacht und es einfach umgesetzt. Insgesamt ist er sicher in vielem arg sorglos, es ist ja auch irgendwie seine Stärke, nicht alles totzugrübeln. Aber für eine Mutter ist es eben nicht beruhigend, wenn das Kind komplett ohne Angst und Scheu durch die Welt geht.

Was er allerdings nie wollte, war, auswärts zu schlafen. Immer wieder ging er zu Freunden, packte einen kleinen Rucksack und hatte das feste Vorhaben, dort zu übernachten. Doch spätestens um zehn oder halb elf rief die Mutter des Freundes an und bat, ihn abzuholen. Woran das lag, wissen wir nicht. Er war auch nicht panisch oder so, er wollte einfach nur nach Hause. Damals dachten wir: Er wird wohl nie zu Hause ausziehen. Den Sprung hat er dann irgendwann geschafft, aber der Abnabelungsprozess nach dem Umzug hat etwas länger gedauert. Anfangs stand er jeden Mittwoch auf der Matte, und das hat uns natürlich gefreut. Aber es war auch schön zu sehen, als er irgendwann komplett auf eigenen Beinen stand. Der Sport hat ihm dabei sicher wie bei vielem anderen sehr geholfen. Und er sah in der neuen WG in Leverkusen auch eine Aufgabe: Er musste sich um Marc kümmern. Der war ja schließlich behindert. Obwohl der sich auch nicht so fühlte. Er war ja nur sehbehindert.

Das Gefühl des „Normalseins“ war bei Mathias auch immer so ausgeprägt, dass er sich nie hätte vorstellen können, eine kleinwüchsige Freundin zu haben. Als er ein Teenager war, sind wir mit ihm zu einem Kleinwuchs-Treffen gefahren. Ich sagte im Auto eher beiläufig: „Vielleicht findest du dort ja ein nettes Mädchen.“ Er hörte sofort auf zu reden und schaute mich völlig entgeistert an. Sein Blick sagte: „Mama, traust du mir etwa nicht zu, eine normal große Freundin zu finden?“

Gefunden hat er solche inzwischen häufiger. Leider hat es nie furchtbar lange gehalten. Ob er mich irgendwann noch mal zur Großmutter macht, weiß ich nicht. Das ist aber auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass er eines Tages die Richtige findet. Und daran glaube ich, genau wie er, ganz fest.

Bei Mathias’ Wettkämpfen sind wir natürlich immer extrem nervös. Obwohl das Ergebnis für Eltern irgendwie zweitrangig ist. Sie sind stolz auf ihr Kind, egal, den wievielten Platz es am Ende belegt. Und natürlich schwingt auch immer eine Sorge mit. Die Kraftbelastung für seinen kleinen Körper ist schon enorm. Deshalb habe ich schon ein wenig gehofft, dass er nach Rio aufhören würde. Hätte er dort Gold gewonnen, hätte er es wahrscheinlich auch getan. Ziemlich zeitnah machte er uns aber klar, dass er weiterkämpfen wird. Ich akzeptierte das natürlich, es ist seine Freude, es treibt ihn an. Nun bin ich dennoch sehr froh, dass er nach dem Gewinn der Europameisterschaft im Juni 2021 in Polen seinen Rücktritt vom Leistungssport beschlossen hat.

Aber wenn wir ihn heute an der Seite von Angela Merkel oder dem Bundespräsidenten sehen, dann können wir gar nicht sagen, wie stolz wir auf ihn sind. Nicht mal nur auf den reinen sportlichen Erfolg, sondern vor allem auf die Tatsache, mit welchem Durchsetzungsvermögen er dort angekommen ist. Mein Mann und ich sitzen manchmal auf der Tribüne oder vor dem Fernseher und sagen uns: „Schon krass, was aus ihm geworden ist. Als wäre es das Normalste der Welt.“ Aber eigentlich wissen wir: Das ist es doch auch.

Gaby Mester, Jahrgang 1964, ist Mathias Mesters Mutter.

Ich bin nicht behindert. Ich bin nur klein!

Mit dem Begriff „behindert“ habe ich ehrlich gesagt ein Problem. Ich fühle mich nicht behindert im Sinne von übermäßig eingeschränkt. Wenn mich jemand plakativ als Behinderter anspricht, entgegne ich für gewöhnlich: „Ich bin nicht behindert. Ich bin nur klein!“

Ich kann schließlich alles. Und ich führe ein in meinen Augen komplett normales Leben. So normal, dass ich – auch wenn mir das vielleicht niemand glauben mag – meine Eltern vor der Arbeit an diesem Buch nie gefragt habe, weshalb ich überhaupt kleinwüchsig bin. Aber das Warum war zu keinem Zeitpunkt meines Lebens eine Frage, die mich bewegt hat. Es war einfach so, ich habe mich damit arrangiert. Vielleicht hätte mich das Warum beschäftigt, wenn es einen Hinweis darauf hätte geben können, was man dagegen tun kann. Aber mir war klar: Es war so, es ließ sich nicht ändern. Und ich war so, wie ich bin, zufrieden und glücklich. Auch schon ohne den sportlichen Erfolg, der sich erst Jahre später einstellte.

Dabei gab es in meiner Kindheit viele Erlebnisse, nach denen ich meine Größe hätte hinterfragen können. Zum Beispiel, als wir im Biologie-Unterricht über Hormone gesprochen haben. Der Lehrer erzählte irgendwas davon, was passiere, wenn sich dieses Hormon mit jenem nicht vertrage. Dann werde jemand kleinwüchsig. Für kurze Zeit war es still im Klassenraum, dann schauten mich alle an und plötzlich zeigten alle mit dem Finger auf mich. „Hier! Matze! Wir kennen ja einen!“, riefen dann alle wild durcheinander. Der Lehrer fragte mich, was denn bei mir konkret die Gründe für meinen Kleinwuchs wären. Ein solch „lebendes Beispiel“ habe man schließlich nicht immer zur Hand, um den Schülern etwas anschaulich zu vermitteln. Aber ich konnte ihm keine Antwort geben. Und ich habe meine Mutter auch an diesem Mittag nicht danach gefragt. Weil das Thema zwischen der dritten Stunde und dem Mittagstisch für mich schon wieder erledigt war.

Mein Wissen über meinen Kleinwuchs beschränkte sich auf die Tatsache, dass meine Eltern schon vor der Geburt wussten, dass ich kleinwüchsig werden würde. Aber ich habe zum Beispiel auch nie gefragt, ob es denn keine Therapie gegeben hätte. Es gibt ja Kinder, die sind einfach nur klein. Lionel Messi zum Beispiel hatte Wachstumsstörungen. Er war mit 13 auch erst 1,40 Meter groß. Doch bei ihm war es hormonell behandelbar. Heute ist er 1,70 Meter. Und das reicht ihm, um der beste Fußballer der Welt zu sein. Und wie ich nun sehe, reichen ein Meter zweiundvierzigkommafünf auch, um einer der besten Para-Speerwerfer der Welt zu sein.

Mir war klar: Ich muss schon zweifelsfrei kleinwüchsig sein, sonst hätten meine Eltern sicher etwas unternommen. Aber auch so ist alles in Ordnung. Ich denke, es gibt Männer von 1,65 Meter, die mit ihrer Länge ein größeres Problem haben als ich. Sie hadern wahrscheinlich öfter damit, warum sie so klein sind. Und ich, der noch mal zweiundzwanzigeinhalb Zentimeter kleiner ist, betrachte dies als die normalste Sache der Welt.

Ich dachte mir immer: Ich bin halt ein bisschen kleiner, das ist so, fertig. Auch wenn die logischste aller Erklärungen von vornherein wegfiel. Denn genetisch bedingt ist mein Kleinwuchs nicht, ich bin der erste meiner Art im gesamten Stammbaum.

Toll finde ich, dass meine Eltern sich auch nicht haben beirren lassen. Ich war ihr erstes Kind und nach mir haben sie noch zwei weitere bekommen. Auch das hat mir das Gefühl gegeben, dass ich nichts furchtbar Besonderes oder gar Abschreckendes war. Zwei Jahre nach mir kam meine Schwester zur Welt, vier weitere Jahre später mein Bruder. Und beide sind normalwüchsig. Melanie ist 1,61 Meter groß, Marco 1,80 Meter.

14 Jahre lang war ich auch mal nicht der Kleinste in der Familie, dann zogen irgendwann auch meine Cousins wieder vorbei. Aber das waren für mich keine schlimmen Momente. An den Tag, ab dem mein kleiner Bruder oder meine kleine Schwester größer waren als ich, kann ich mich nicht erinnern. Es waren keine einschneidenden Erlebnisse in meinem Leben. Was ich dafür umso erfreuter verfolgt habe, war die Tatsache, dass meine Oma – die ausgewachsen etwa 1,65 Meter maß – mir immer mehr entgegenkam und irgendwann fast so klein war wie ich. Im Alter wächst man ja in die umgekehrte Richtung. Irgendwann klagte Oma mal: „Ach Matze, ich werde immer, immer kleiner.“ Und ich antwortete: „Keine Angst, Oma. Es ist schön hier unten.“ Trotzdem hoffe ich, dass mir das Altersschrumpfen erspart bleibt. Schließlich ist da nicht mehr viel Luft.

Als ich mich nun näher damit beschäftigt habe, ist mir aufgefallen, wie verwirrend die Definition von Kleinwuchs ist. Manchen Einstufungen zufolge gelten Frauen unter 1,50 Meter als kleinwüchsig und Männer unter 1,65 Meter. Aber Danny de Vito (1,52 Meter), Prince (1,58) oder Bernie Ecclestone (1,59) sind trotz ihrer „Größe“ augenscheinlich nicht kleinwüchsig. Nach dieser Definition würden aber sogar Bruno Mars, Nicolas Sarkozy oder Silvio Berlusconi fast zu „uns“ gehören – sie alle messen auch nur 1,65 Meter. Aber es gibt eben einen Unterschied zwischen klein gewachsen und kleinwüchsig. Dieser Unterschied sollte mich später im Sport noch beschäftigen und kräftig ärgern. Dabei ist er zum einen einfach zu erklären und zum anderen eigentlich auch ganz leicht zu erkennen. Denn Kleinwüchsige sind nicht nur ein paar Zentimeter kürzer, sie haben auch andere Proportionen. Wobei bei mir zum Beispiel der Oberkörper völlig normal ist. Wenn ich sitze, komme ich mit den Beinchen nicht bis auf den Boden. Aber wer ab der Tischkante meinen Oberkörper sieht, denkt, ich sei normal groß. Ich bin eben ein Sitzriese. Kann auch nicht jeder von sich behaupten. Nicht einmal jeder Kleinwüchsige, denn es gibt ja unterschiedliche Auswüchse. Auch ein schönes Wort in diesem Zusammenhang.

Jedenfalls führte mein Sitzriesentum auch schon zu absurden Situationen. Wenn ich zum Beispiel am Tisch sitzend irgendwem vorgestellt wurde, dann aufstand und merkte, wie mein Gegenüber mit etwas entgleisten Gesichtszügen von oben bis unten an mir herunterschaute. Meist lasse ich dann einen Spruch ab, der die Situation entkrampft. So was wie: „Die Schuhe sind super, oder?“

Was mir auch erspart blieb, sind die oft extremen O-Beine mancher Kleinwüchsiger. Ein leichtes O habe ich, aber das ist minimal. Und meine Oma ist sich sicher, dass das vom Fußball kommt. Ich kenne Kleinwüchsige, die sich in ihrer Jugend die Beine operativ begradigen lassen mussten. Andere haben sich sogar operativ vergrößern lassen. Ich hatte mich auch mal kurz darüber informiert. Aber diese Menschen waren nach der OP ein Jahr eingeschränkt, weil es Stück für Stück geschehen muss. Und da habe ich mir gesagt: Der ganze Aufwand für 10 oder 15 Zentimeter? Vergiss es! Du hast eine OP, liegst ein Jahr rum und nachher ist es schlimmer als zuvor. Da hatte ich keine Lust drauf. Und wie gesagt: Ich habe unter meiner Größe nie so gelitten, dass ich nachhaltig dachte, ich müsste daran irgendwann etwas ändern.

Meine Form des Kleinwuchses heißt jedenfalls Achondroplasie. Und diese hat bestimmte Merkmale. Bei mir sind es die (leichten) O-Beine, ein Hohlkreuz, ein dicker Po, verkürzte Gliedmaßen und ein auffällig großer Kopf. Eigentlich ist mein Kopf normal groß, aber eben auch nur für normal große Menschen. In meinem Fall ist er demnach unproportional groß. Böse Zungen behaupten auch, ich habe O-Arme, doch die sehen sicher nur wegen der vielen Muskeln so aus. Fakt ist, dass mein Oberarm extrem verkürzt ist. Wodurch man dicke Muskeln einerseits schneller sieht. Sie andererseits aber auch schneller schmerzen, weil sie einfach nicht wissen, wohin.

Aber auch innerhalb derselben Behinderung gibt es noch einmal Unterschiede. Mein schon eingangs erwähnter Freund Niko Kappel zum Beispiel, der 2016 in Rio Paralympics-Gold im Kugelstoßen gewann, hat grundsätzlich dieselbe Behinderung wie ich. Aber er ist deutlich schwerer, obwohl er extrem gut austrainiert ist. Er hat einen größeren Kopf und auch einen größeren Hintern – womit ich ihn natürlich immer kräftig aufziehe. Und wenn wir zusammen Quatsch machen, sage ich immer zu ihm: „Ich fürchte, da wird man uns beide einen Kopf kürzer machen. Aber dann bin ich immer noch zwei Zentimeter größer als du.“