Für Träumer.

Wie dich und mich.

PROLOG

LICHT DES MONDES

Die Ereignisse in Silvina, der Provinz des Waldes, hatten das Land Sirion und seine Herrscherinnen und Herrscher, die Gotteskinder, daran erinnert, dass die Gefahr noch nicht vorüber war. Die Atheos waren zurückgekehrt. Eine alte Macht, bestehend aus Abtrünnigen und Verbrechern, die die geltende Weltordnung Sirions und seine Herrscher nicht anerkannten, war bereit, sich zu erheben und gegen die Gotteskinder in den Krieg zu ziehen. Doch das war nicht das einzige Sonderbare, was in Sirion, dem Land der Götter, vor sich ging.

Der Blutmond brachte etwas Unglaubliches mit sich. Viele Meilen entfernt von dem heruntergekommenen Gutshof, auf dem Celeste und Nathaniel gegen die Atheos gekämpft hatten, erwachte eine Insel, die dem Glauben nach verflucht war, wieder zum Leben. Zwischen weiß gekleideten Frauen, die einen mysteriösen Tanz vollführten, und einer Ordensschwester, die kniend den Mond anbetete, saß eine junge Frau in einer aus Holz gefertigten Wanne. Sie sah verträumt dem vollen Mond entgegen.

»Wie es wohl sein wird, ihn nach all den Jahren wiederzusehen? Ob er sich noch an mich erinnert?« Vergnügt plantschte sie im Wasser herum und strich sich eine ihrer langen schwarzen Strähnen hinters Ohr. Ihr Herz schlug bei dem Gedanken an ihn schneller. Sie konnte es kaum erwarten, endlich wieder sein Gesicht zu sehen.

»Wie könnte er dich vergessen? Du warst seine erste Liebe«, sagte ihre Schwester und blickte dann Richtung Himmel.

Die junge Frau lächelte. Ja, das war sie. Sie waren Kinder gewesen, aber das, was sie für ihn empfunden hatte, war aufrichtige Liebe gewesen. Und er hatte dasselbe gefühlt.

»Und hoffentlich auch seine letzte«, es war nur ein leises Flüstern, voller Hoffnung, doch ihre Schwester hörte sie und nickte.

»So wird es sein.« Sie sah dem Mond entgegen, anschließend fiel der Blick aus ihren blauen Augen auf das Mädchen im Wasser.

»Es ist so weit.«

Der Vollmond am Himmel färbte sich rot, ebenso wie das Wasser in der Wanne. Die Kerzen, die auf dem Wasser schwammen, flackerten hell auf und brachten die schneeweiße Haut des Mädchens zum Leuchten. Eine Macht erfasste die im Wasser Sitzende, wie sie sie noch nie zuvor verspürte hatte. Das Blut in ihren Adern pulsierte, ihr Herz schlug in einem viel zu schnellen Takt und ihre Augen funkelten wie die Sterne am Himmel. Zwischen ihren Schulterblättern durchfuhr sie ein gleißender Schmerz, aber sie schwieg. Sie war bereit, allen Schmerz der Welt zu ertragen. Für ihre Bestimmung. Für ihre Göttin. Für ihn.

Als das Kribbeln nachließ, strich sie ihre Haare über die Schulter nach vorn und entblößte damit ihren nackten Rücken. Eine geschwungene Triskele zierte die schneeweiße Haut zwischen den Schulterblättern. Das Zeichen der Götter.

»Glückwunsch, Schwester. Es ist vollbracht. Bist du bereit, an die Seite deines Liebsten zurückzukehren?« Sie bedachte das Mädchen mit einem wissenden Lächeln.

»Der Mond gehört nun einmal an die Seite der Sonne.«

Diese Worte waren wie flüssiges Glück, das durch ihre Adern floss. Sie erhob sich aus der Wanne. Wasser lief ihren nackten Körper hinab und das Mondlicht schimmerte auf ihrer Haut.

»Bald gibt es im ganzen Land etwas zu feiern. Die Geburt der neuen Tochter des Mondes«, verkündete ihre Schwester.

In diesem Moment, in einem anderen Teil des Landes, keimte ein Baum und eine blutrote Blüte kam zum Vorschein. Adela, der Baum der Stille, begann zum ersten Mal seit 250 Jahren wieder zu blühen.

KAPITEL 1

EIN NEUER ANFANG

Celeste

Es war nicht das erste Mal, dass sie neben dem Grabstein aufwachte. Die Sonne erschien hinter den Türmen des Palastes und tauchte die kleine Wiese der königlichen Gärten in warmes Licht. Celeste saß steif neben dem schlichten, weißen Stein. Kein Marmor, keine Verzierungen, nicht einmal Blumen verrieten die Bedeutung des Steins. Nur ein Name war hineingeritzt worden. Estelle.

Für ihren Vater, ein Anführer der Atheos und der Mann, der hinter dem Überfall auf den Palast von Silvina steckte, hatte Celeste keine Gedenkstätte errichten wollen. Wenn es nach ihr ginge, konnte dieser Mann in der Hölle verrotten. Bis zum Schluss hatte er auf Seiten der Atheos gestanden, während Estelle versucht hatte, Celeste zu retten. Und dafür hatte sie mit ihrem Leben bezahlt.

Die Erinnerungen an jene Ereignisse hinderten Celeste nachts am Schlafen. Zu oft erwachte sie schweißgebadet und mit einem Schrei auf den Lippen. Der Anblick ihrer sterbenden Mutter hatte sich in ihren Kopf eingebrannt, sie war nicht fähig, ihn zu vergessen. Doch innerhalb der Mauern des Palastes konnte sie nicht trauern. Zu tief saßen die Scham und das schlechte Gewissen, dass sie Tränen um eine Atheos vergoss.

Die anderen beiden Priesterinnen, Malia aus Sirena und Linnéa aus Silvina, König Miro und ihr Vormund Simea hatten ihr versichert, dass es jedem Kind gestattet war, um den Verlust der Eltern zu trauern. Aber das stimmte nicht. Celeste sah die Wahrheit in den Auren der Bediensteten und der Adelsleute. Ihre Gabe als Gotteskind des Himmels verriet ihr die Wesenszüge und Absichten der Menschen. Und die verurteilten sie. Sie war die Brut von Verrätern und das säte Zweifel in den Herzen der Menschen. Einen Zweifel, den Celeste nachvollziehen konnte. Auch sie selbst wusste nicht, wie sie mit diesem Wissen umgehen sollte. Warum hatten die Götter die Tochter von Verrätern berufen? Warum hatten sie ihr eine solche Bürde auflasten müssen?

»Vielleicht solltest du das nächste Mal eine Decke mitbringen«, Celeste hörte deutlich die Belustigung in der tiefen Stimme. Jedes Mal, wenn sie die Nacht in den Gärten verbrachte, kam er am nächsten Morgen, um sie abzuholen. Und jedes Mal maßregelte er sie.

»Du bist schon wieder allein hergekommen. Ich dachte, wir hätten vereinbart, dass du mich weckst?«

Celeste sah zu ihm auf. Er lehnte mit verschränkten Armen an einem Baumstamm. Die dunkelblonden Haare fielen ihm ins Gesicht und die aufgehende Sonne ließ seine grünen Augen strahlen. Er sah perfekt aus, wie immer.

»Nein, du hattest beschlossen, dass ich dich wecke. Ich habe dem niemals zugestimmt. Und ich brauche keine Decke. Es ist Sommer und die Nächte sind mild«, Celeste wandte sich ab, damit er ihr zartes Lächeln nicht sah.

Nathaniel schüttelte grinsend den Kopf, bevor er sich vom Baum abstieß und auf sie zukam. Er blieb direkt hinter ihr stehen und legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Alles in Ordnung?«, es war immer dieselbe Frage und Celeste gab ihm jedes Mal dieselbe Antwort.

»Mir geht es gut.«

Sein Daumen strich über die nackte Haut ihres Halses und ein Schauer lief über ihren Rücken.

»Ich weiß, dass es dir nicht gut geht.«

»Ich werde wohl nie schaffen, dich hinters Licht zu führen, oder?«

»So ist es.«

Wieso hatte Ilias, der Gott der Sonne, ihn ausgerechnet mit der Gabe segnen müssen, eine Lüge zu erkennen? Celeste war nie eine gute Lügnerin gewesen, auch wenn sie in den vergangenen Wochen besser geworden war. Doch in Gegenwart von Nathaniel war sie machtlos. Er spürte jede ihrer Unwahrheiten sofort.

»Willst du darüber reden?«, er ging hinter ihr in die Hocke und Celeste lehnte sich an ihn. Sie hatte gedacht, dass sich ihre Beziehung nach der Rückkehr in die Hauptstadt ändern würde. Dass sie zu dem Davor zurückkehren würden. Keine Berührungen, keine Küsse. Stattdessen Streitereien und Gestichel. Aber dem war nicht so. Seit ihrer Gefangenschaft hatte sich die Beziehung zwischen ihnen verändert.

Celeste schüttelte den Kopf und ergriff seine Hände. Sie ließ ihre Finger sanfte Kreise auf seinem Handrücken ziehen. Nathaniel seufzte.

»Irgendwann musst du darüber reden. Wenn nicht mit mir, dann mit jemand anderem.«

»Worüber beschwerst du dich? Normalerweise bist du froh, wenn ich mal nichts zu sagen habe.« Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, in dem sich die Mundwinkel wieder hoben. Es war leicht, mit ihm zu reden, mit ihm zu lachen. Niemals hätte Celeste sich vorstellen können, dass es einmal so zwischen ihnen sein würde.

Nathaniel stieß sie an und instinktiv ergriff sie seine Hände wieder fester.

»Das stimmt nicht. Ich bin froh, wenn du nichts zu meckern hast. Also, genug geschwiegen. Rede mit mir.«

Dieses Mal war es Celeste, die seufzte. Sie wusste nicht, ob sie bereit war, über ihre Gefühle zu sprechen. In ihrem Inneren herrschte Chaos, das sie nicht ordnen konnte.

»Was willst du hören? Ich habe herausgefunden, wer meine Eltern sind. Und jetzt sind sie beide tot.«

Auch wenn die Geschehnisse drei Wochen zurücklagen und jeder der Beteiligten allmählich zu seinem normalen Alltag zurückkehrte, konnte Celeste sie noch nicht verarbeiten. Zu unwirklich war die Tatsache, dass sie das größte Geheimnis in ihrem Leben gelüftet hatte. Ob zu ihrer Zufriedenheit oder nicht, spielte dabei keine Rolle.

»Estelle ist für dich gestorben«, seine Stimme war sanft und seine Arme schlossen sich um sie. Celeste blickte auf den weißen Stein mit dem Namen ihrer Mutter.

»Das ändert nichts. Sie stand auf der falschen Seite und hätte sie mich nicht davor bewahrt, getötet zu werden, dann wäre sie mit ihnen mitgegangen. Wer kann schon sagen, welche Rolle sie wirklich in ihren Reihen gespielt hat?«

Celeste vermutete, dass ihre Mutter tiefere Verbindungen zu den Anführern der Atheos gepflegt hatte, als ihnen bewusst war. Doch sie würden es niemals herausfinden.

»Natürlich ändert das etwas. Glaubst du wirklich, sie hätte den Pfeil abgefangen, wenn sie überzeugt auf der Seite der Atheos gestanden hätte? Oder dass sie dafür gesorgt hätte, dass die Armee des Königs uns findet?«

Celeste schüttelte den Kopf.

»Das hat sie nicht für mich oder für die Gotteskinder getan. Ich habe ihre Aura gesehen. Sie bereute gar nichts. Ich glaube vielmehr, dass sie den eigentlichen Plan der Atheos nicht gefährden wollte.«

Estelle hatte ihren eigenen Mann verraten. Für die Atheos. Da war sich Celeste sicher. Diese Frau hatte es nicht gekümmert, dass die Atheos Menschen gefangen nahmen und töteten. Warum sollte es sie also tangieren, wenn eines der Gotteskinder starb? War es nicht ohnehin genau das, was die Atheos wollten? Den Untergang aller Gotteskinder. Auf welche Weise auch immer.

»Hör auf, dir das einzureden. So schwarz-weiß ist die Welt nicht. Immerhin rettete sie dir zweimal das Leben.« Seine Lippen lagen direkt über ihrem Ohr und Celeste schloss die Augen. Wenn er so nah bei ihr war, gab es vieles, was sie tun wollte. Über ihre Mutter zu sprechen, gehörte nicht dazu. Sie hatte sich an seine Nähe gewöhnt, an seinen Geruch und seine Wärme.

»Das sagst du nur, weil du dich selbst in Grautönen siehst.«

»Exakt. Ich war auch mal auf der falschen Seite, erinnerst du dich?«

Celeste drehte sich in seinen Armen, sodass sie sein Gesicht sehen konnte. Ein Funkeln lag in seinen grünen Augen und sie musste lachen.

»Wie könnte ich das vergessen? Du hast mich von einem Dach gestoßen.«

»Aber nur, um dir das Leben zu retten. Du könntest ruhig etwas Dankbarkeit zeigen.«

Sie zog eine Augenbraue hoch und sah ihn stirnrunzelnd an. Dankbarkeit? War das ein Scherz? Wenn sie an jenen Tag zurückdachte, war Dankbarkeit das Letzte, was ihr in den Sinn kam. Aber das Leuchten seiner Augen und das Grinsen, das seinen Mundwinkel umspielte, weckten ganz andere Gefühle in ihr. Celeste lehnte sich vor und presste ihre Lippen auf Nates Mund. Er schmeckte nach Kaffee und erwiderte den Kuss mit einer Heftigkeit, die ihr den Atem raubte.

Hier in den Gärten des Palastes konnten sie die Nähe zulassen. Doch sobald sie in die Öffentlichkeit traten, mussten sie ihre Rollen spielen. Nate war der zukünftige König und sie als Priesterin eine seiner potenziellen Bräute. Auch wenn Celeste seit den Geschehnissen in Silvina als Nathaniels Favoritin betrachtet wurde, wollten sie ihre Zuneigung nicht öffentlich zur Schau stellen. Es war eine Regel, die Celeste selbst aufgestellt hatte.

Und sie brach sie nur zu gern. Hielt sie sich sonst an jede Anweisung und ging ihren Pflichten nach, war ihr das Gefühl von Nathaniels Lippen auf ihren jeden Verstoß wert.

Viel zu schnell löste er sich von ihr und lächelte sie entschuldigend an.

»Wir müssen vorsichtiger sein.«

Nathaniel stand auf und zog sie zu sich hoch. Er überragte sie um einen Kopf, sodass Celeste zu ihm hochschauen musste. Mit gerunzelter Stirn sah er zu ihr hinab und strich ihr dann eine rote Strähne hinters Ohr.

»Du solltest wirklich mit jemandem darüber reden.« Er räusperte sich und zog sie in seine Arme.

»Ich finde unsere Regel übrigens sinnlos. Warum soll ich dich nicht in der Öffentlichkeit küssen? ES ist ja nicht so, als wären wir uns nicht bereits versprochen.«

Lachend sah sie ihn an und betrachtete dann stirnrunzelnd ihre ringlosen Finger.

»Das sind wir doch gar nicht oder ich habe den Teil mit dem Antrag nicht mitbekommen? Es gibt noch zwei weitere Frauen, die als deine potenziellen Bräute infrage kommen. Und darum gehört es sich für uns nicht, uns in der Öffentlichkeit zu küssen.«

Als zukünftiger König musste Nathaniel unter einer der Priesterinnen seine Braut auserwählen. Und diese Entscheidung musste binnen eines Jahres getroffen werden. Es waren erst wenige Monate vergangen, seit er berufen worden war. Die Zeit, in der er eine Entscheidung treffen musste, würde erst kommen.

»Erzähl mir nicht, dass sich jeder König an diese bescheuerte Regel gehalten hat. Als ob auch nur einer von ihnen ein Jahr gewartet hätte, bevor er eine der Priesterinnen geküsst hat. Falls es nur beim Küssen geblieben ist.«

Celeste wandte den Blick ab. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Für Nathaniel war dieses Thema vollkommen normal und wenn es nach ihm ginge, wären sie schon wesentlich weiter gegangen. Aber Celeste war eine Priesterin. Man erwartete von ihr, keusch in die Ehe zu gehen.

»Du könntest dich umentscheiden«, sagte sie leise und hielt ihren Blick auf Nathaniels Brust gerichtet. Das machte ihr am meisten Angst. Auch wenn einige sie bereits als Nathaniels Verlobte betrachteten und sie heimliche Küsse tauschten, konnte Nathaniel es sich noch immer anders überlegen. Er konnte sie jederzeit fallenlassen. Und bis heute war sie sich nicht sicher, ob sie nicht vielleicht genau das sogar wollte. Sie selbst war auch noch nicht bereit, sich ganz auf Nate einzulassen.

»Ebenso wie du. Vielleicht entscheidest du dich am Ende für Kiah oder Elio. Dann muss ich schauen, wo ich bleibe.«

Entsetzt sah Celeste zu ihm auf, doch Nathaniel lachte bereits.

»Kiah? Ist das dein Ernst?« Allein der Gedanke, sich an Kiah binden zu wollen, war absurd. Und ihr Kopf sagte ihr noch etwas, nämlich, dass sie eigentlich nie vorgehabt hatte, sich überhaupt zu binden. Auch nicht an den zukünftigen König.

»Glaubst du etwa nicht, dass ihr gut zusammenpassen würdet?« Er grinste. Celeste widerstand dem Drang, ihn vor die Brust zu stoßen. Wenn sie allein waren, wollte sie die Zeit genießen. Die Kabbeleien konnten sie auch in der Öffentlichkeit austragen.

»Das ist nicht witzig. Aber wenn ich Elio nehme, wen nimmst du dann? Linnéa?« Eigentlich wollte Celeste sich nicht vorstellen, wie er eine andere erwählte. Aber seine Augen und seine Stimme verrieten ihr, dass er es nicht eine Sekunde lang ernst meinte, sodass sie sich wagte, auf seinen Scherz einzugehen.

»Dann müsste ich ja bei Lyndon um ihre Hand anhalten. Lieber nicht. Dieser Mann beschützt seine Kinder viel zu sehr.«

»Das könntest du dir bei mir sparen.« Über den Tod von Manuel, ihrem Vater, zu sprechen, machte ihr nicht im Geringsten etwas aus. Manchmal erwischte sie sich sogar bei dem Gedanken, dass sie sich wünschte, Nathaniel hätte ihn getötet.

Nathaniel wurde still und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sie waren in den letzten Wochen gewachsen und er musste sie wieder schneiden lassen.

»Ich hoffe, ich werde niemals erfahren, wer mein Vater ist. Unwissenheit ist besser als das hier.«

Celeste konnte ihm nur zustimmen. Die Unwissenheit hatte all die Jahre über schwer auf ihr gelastet. Nicht zu wissen, wer ihre Eltern waren oder warum sie sie abgegeben hatten, hatte Wunden hinterlassen. Doch die waren nicht zu vergleichen mit der Leere, die sie nun empfand.

Nathaniels Blick wanderte gen Himmel. Die Sonne war aufgegangen und ihre warmen Strahlen erhellten die Stadt.

»Wir müssen los.«

Verwirrt sah sie zu ihm auf.

»Was meinst du?«

»Der eigentliche Grund, warum ich zu dir kam, ist, dass König Miro den Kronrat einberufen hat.« Nathaniel fuhr mit den Händen über ihre Arme.

»Was ist der Anlass?«, fragte sie skeptisch.

»Er will über die Atheos reden und über das weitere Vorgehen. Und dieses Mal will er niemanden außen vor lassen. Also, was hält die Favoritin des Königs davon, in den Palast zurückzukehren?« Er sah sie mit einem spitzbübischen Grinsen an, doch Celeste schüttelte den Kopf. Auch wenn sie sich sehr gut mit Miro verstand, glaubte sie nicht daran, dass er sie mehr als Königin sah als eine der anderen Priesterinnen. »Ich bin nicht die Favoritin des Königs.«

»Stimmt. Du bist die Favoritin des Prinzen und das ist alles, was zählt.«

***

Nathaniel

Nathaniel beobachtete Celeste aus den Augenwinkeln. Sie hatte sich verändert. Seit sie herausgefunden hatte, woher sie kam und wer ihre Eltern waren, war sie nicht mehr dieselbe. Und er machte sich Sorgen um sie. Dass sie die Nächte neben dem Grab ihrer Mutter verbrachte, war die eine Sache, aber dass sie mit niemandem über die Vorkommnisse sprach, ärgerte ihn. Er hatte ihr zwar gesagt, dass sie nicht mit ihm darüber reden müsse, aber eigentlich wollte er genau das.

Nate hatte sich entschieden. Auch wenn ihre Beziehung noch frisch war und sie noch nicht offen darüber gesprochen hatten, sondern ihren »Tanz« des Kennenlernens tanzten. Aber er war niemand, der zweigleisig fuhr und er wollte es mit Celeste versuchen. Dazu gehörte auch, dass sie sich vertrauten. Celeste hatte Probleme und sie musste darüber reden. Und zwar mit ihm.

Die bevorstehende Ratssitzung würde den Zustand der Priesterin nicht verbessern. Im Gegenteil. Nate wusste, dass seit dem Überfall und ihrer Entführung durch die Atheos die wildesten Gerüchte die Runde machten. Doch bisher schien kaum jemand von Celestes tatsächlicher Verbindung zu den Rebellen zu wissen. Und das sollte auch so bleiben. Sie konnte nichts für die Taten ihrer Eltern, doch es lag in der Natur des Menschen, dass er Familienmitglieder schnell über einen Kamm scherte. Törichte Narren, schoss es ihm durch den Kopf.

Nate musste jetzt aber versuchen, seine Gedanken zu konzentrieren auf die Ratssitzung, die seine ungeteilte Aufmerksamkeit verlangte. Gemeinsam mit dem Rotschopf machte er sich dorthin auf den Weg.

Im Saal angekommen, setzte sich sich ihm gegenüber, flankiert von Simea und Lord Adrian. Der Kronrat tagte nicht im Palast des Königs, wo sie während ihres Aufenthalts in Solaris lebten, sondern im Palast des Volkes, einem imposanten Gebäude aus weißem Marmor, wo die Minister von Sirion ihrer Arbeit nachgingen. Hier arbeitete auch Nate darauf hin, in König Miros Fußstapfen zu treten.

Der Prinz warf Miro einen verstohlenen Seitenblick zu. Die vergangenen Ereignisse hatten das Gesicht des Königs gezeichnet. Er wirkte älter als noch vor wenigen Wochen. Erschöpfter.

Die anderen Ratsmitglieder, die Minister und Berater des Königs sowie die Septas und Septons der Provinzen, wirkten ebenso ausgelaugt. Die Provinzen des Landes wurden von je einer Priesterin regiert. Ihr unterstand die Septa oder der Septon, die als oberste Ordensschwester oder –bruder alle Belange, die den Glauben einer Region betrafen, regelten, während die Priesterin sich auch um Politik, Finanzen und Wirtschaft zu kümmern hatte. Yakim, der hohe Septon von Solaris, saß zur Linken des Königs, Nate wurde der Platz zu Miros Rechten zugeteilt.

Mit einem Räuspern brachte König Miro das Gerede zum Verstummen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Nate wusste, dass es seit dem Überfall auf den silvinischen Palast einige solcher Treffen gegeben hatte, aber weder er noch die Priesterinnen waren dazu eingeladen gewesen. Der König hatte jeden, der den Angriff der Atheos auf den silvinischen Palast, das anschließende Gemetzel sowie die Entführung durch die Rebellen miterlebt hatte, schonen wollen. Jeder hatte ein Recht auf eine Atempause. Und jeder von ihnen hatte sie gebraucht. Am dringendsten wohl Celeste.

»Ihr wisst alle, weshalb wir hier sind. In den letzten Wochen nach dem Angriff auf den silvinischen Palast ist es still um die Atheos geworden. Wir wissen aus zuverlässigen Quellen«, der Blick des Königs wanderte zu Nate, »dass die Verantwortlichen für diesen Überfall Abtrünnige der Atheos waren. Ihre eigenen Leute haben sie an uns verraten und nur so war es uns möglich, die Gotteskinder und ihre Begleiter zu retten.«

Miros Blick aus den grauen Augen blieb an jedem einzelnen Ratsmitglied hängen. Ein Sturm tanzte in ihnen. Wild und ungezähmt. Die Wut des Königs über seine eigene mangelnde Vorsicht und die Tatsache, dass man ihn gezwungen hatte, zuzusehen, während sein Volk diesen Männern ausgeliefert gewesen war, war nur allzu verständlich. Nate hatte dieselbe Wut empfunden. Nur der Glaube, dass die Atheos früher oder später das bekamen, was sie verdienten, und dass er es sein würde, der sie zur Rechenschaft ziehen würde, ließ ihn diese Wut im Zaum halten.

»Seit über 150 Jahren lebt Sirion in Frieden. Nie hat es erwähnenswerte Aufstände oder Rebellionen gegeben. Bis heute. In diesem Jahr hat sich alles verändert. Die Atheos, eine Gruppe, die jedem von uns ein Begriff ist, sind aus ihren Löchern gekrochen und terrorisieren erneut unser Land. Es liegt an uns, das Volk zu beschützen.« Miro beendete seine Rede und sah erwartungsvoll in die Gesichter der Anwesenden.

Es war Lord Pim, der Justizminister, der sich zuerst zu Wort meldete.

»Majestät, ich bleibe bei der Meinung, dass wir die Ersten sein sollten, die handeln. Wir sollten nicht noch einmal auf einen Schlag von ihnen warten. Wir waren unvorbereitet und das war ihr Vorteil. Wir sollten agieren, statt nur zu reagieren.« Der Justizminister schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein bulliger Körper betonte jedes einzelne seiner Worte. Auch ihm war die Wut über den Vorfall anzusehen.

»Wie wollt Ihr das anstellen? Wir wissen nicht, wo sich die Atheos aufhalten, geschweige denn, wer ihre Mitglieder sind. Es wäre wie die Nadelsuche im Heuhaufen«, Lady Marin schnaubte. Obwohl sie die Ministerin für soziale Angelegenheiten war, ruhte in ihren Augen eine Kälte. Nathaniel hatte sich ihr bisher nicht annähern können.

»So groß ist Sirion nicht«, entgegnete Pim und hielt dem eisigen Blick der Ministerin stand.

»Sie können sich nicht völlig unbemerkt verstecken. Irgendjemand muss etwas gesehen haben. Eine so große Organisation kann sich nicht wie Schatten bewegen.«

»Ihr müsst Euch über die Kosten eines solchen Unterfangens bewusst sein. Die Suche nach dieser Gruppe kann nur vom Militär und der Marine durchgeführt werden und die Unterhaltung dieses Suchtrupps wäre enorm. Das Land kann sich solche Ausgaben auf Dauer nicht leisten«, schaltete sich nun Lord Lamont ein. Der Finanzminister erschien wie immer sehr penibel. Seine Stimme klang etwas zu spitz und definitiv provozierend. Wie ein solcher Mann zwei unglaublichen Kindern hatte das Leben schenken können, war Nate ein Rätsel. Kiah und Nike vertraute er bedingungslos, doch ihrem Vater konnte Nate nichts abgewinnen.

»Ewig wird die Suche nicht dauern. Nur solange, bis wir diese Mistkerle gefunden und zur Strecke gebracht haben«, brummte Emir. Der Admiral der königlichen Armee blickte direkt zum König.

»Die Soldaten und selbst die Rekruten sind ganz heiß darauf, die Atheos zu finden. Sie brauchen eine Aufgabe, sonst drehen sie durch. Wenn das Land angegriffen wird, muss das Militär die Erlaubnis haben, etwas dagegen tun zu dürfen. Seit Wochen sitzen sie nur herum und warten darauf, dass wir eine Entscheidung treffen.«

Einige der Anwesenden nickten, darunter Pim, der Arzt Lord Chalid und Malia, die Priesterin von Sirena. Die Fronten in dieser Diskussion waren nun klar definiert. Die Frage war nur, welcher Seite sich König Miro anschließen würde. Der, die abwarten oder der, die handeln wollte. Nate hatte sich bereits für eine Partei entschieden. Er hoffte nur, dass Miro dieselbe wählen würde.

»Eine Suche durch das Militär und die Marine würde das ganze Land in Panik versetzen. Es ist unsere Aufgabe, das Volk zu schützen und ein offener Krieg gegen die Atheos dient diesem Zweck nicht. Die Bevölkerung würde in Angst verfallen. Das können wir nicht zulassen«, Lord Venn sah in die Runde. Er war erst vor Kurzem in den Kronrat berufen worden, aber als Minister für Verteidigung betraf ihn die anstehende Entscheidung besonders. Nate verstand sein Argument, aber es überzeugte ihn nicht.

»Lord Venn, ich kann Euren Standpunkt verstehen und der Schutz des Volkes sollte immer an erster Stelle stehen, da habt Ihr meine absolute Zustimmung. Aber Angst und Panik haben sich längst unter der Bevölkerung ausgebreitet. Nicht nur das Militär hofft auf eine Entscheidung unsererseits. Auch das Volk will, dass wir endlich etwas unternehmen«, sprach Celeste mit fester Stimme. Sie saß hocherhobenen Hauptes auf ihrem Platz. Lord Adrian, Gesandter von Samara, und Simea, die neben ihr saßen, neigten zustimmend die Köpfe.

Nate beobachtete die rothaarige Priesterin, die als erstes Gotteskind in dieser Runde das Wort ergriffen hatte. Sein Mundwinkel hob sich kaum merklich nach oben. Sie war seiner Meinung, genau, wie Nate es sich erhofft hatte. Stolz flammte in seiner Brust auf.

»Diese Panik würde sich durch einen Krieg allerdings noch verstärken, Mylady«, Venn sprach voller Sanftmut und sah Celeste freundlich an. Doch der Blick der Priesterin blieb hart. Nate mochte neu in diesem Amt sein, aber Celeste war es nicht. Miro selbst hatte ihm erzählt, wie verantwortungsvoll sie ihren Pflichten nachging.

»Nicht nur das. Bei einem offenen Krieg wären wir im Nachteil. Die Atheos wissen, wo unsere Schwachstellen sind. Sie wissen allgemein zu viel über uns. Sie haben Lebensmitteltransporte überfallen, egal, wie oft wir die Routen geändert haben, sie wissen, wo unsere Militärstützpunkte sind und vermutlich kennen sie auch die Pläne der königlichen Flotte. Und, als wäre das nicht genug, wussten sie zu jeder Zeit, wo sich die Gotteskinder aufhielten. Aber wir, wir wissen nichts über sie.« Lady Marin sah Celeste herablassend an, doch der Rotschopf lächelte nur.

»Ich habe nie von einem offenen Krieg gesprochen, Ministerin. Und Ihr irrt, wenn Ihr glaubt, dass wir nichts über die Atheos wissen. Es gab Anschläge an zwei verschiedenen Orten. Was hatten diese Orte gemeinsam?« Celeste blickte in die Runde. Nate las in einigen Gesichtern Verwirrung, Misstrauen hingegen bei Marin und Lamont.

»Bei beiden Anschlägen waren die Gotteskinder anwesend. Bei beiden Anschlägen waren sie das Ziel.« Es war Yakim, der die Stille brach. Nate schielte zu ihm hinüber. Die dunkle Haut und die ebenso dunklen Haare bildeten einen starken Kontrast zu seinem strahlendweißen Lächeln.

»Ihr wollt die Gotteskinder als Köder benutzen. Haltet Ihr das für klug, Mylady?«

Celeste schüttelte den Kopf.

»Das ist gar nicht notwendig. Gegen Ende des Jahres muss unser Prinz die Entscheidung für eine Priesterin treffen. Und zwar hier in der Hauptstadt Solaris. Wir haben unsere Reise nun schon für einen Monat unterbrochen. Der Hofstaat sollte endlich weiter nach Sirena reisen, damit der Prinz auch die Heimatprovinz von Priesterin Malia kennenlernen kann. Und so schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe«, Celeste verschränkte ihre Finger miteinander und lehnte sich vor.

»Das Volk wird sich beruhigen, weil alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Und die Atheos werden sich provoziert fühlen und entweder schon in Sirena zuschlagen oder erneut hier in Solaris, wie bei dem versuchten Anschlag auf König Miro. Wir müssen nur auf sie warten. Aber dieses Mal werden wir gewappnet sein.«

Nate fing Celestes Blick auf. Ihre Karamellaugen glühten. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug und ein Gefühl von Ehrfurcht sich in seiner Brust ausbreitete.

»Ich halte den Vorschlag von Lady Celeste für sinnvoll«, sprach Lord Karim.

»Man erwartet von Nathaniel binnen neun Monaten, eine Braut zu erwählen und diese Chance müssen wir ihm geben. Die Atheos werden uns beobachten. Uns alle. Also, warum nutzen wir das nicht aus?«

»Weise Worte, mein Freund«, stimmte Lord Adrian zu.

»Um weniger Aufsehen zu erregen, würde ich vorschlagen, dass die Rekruten die Gotteskinder begleiten, um für ihre Sicherheit zu garantieren. Die erfahrenen Soldaten könnten in der Zwischenzeit den Spuren der Atheos nachgehen und die Städte bewachen.« Adrian war ein kluger Mann, der niemals voreilige Entscheidungen traf. Da selbst er sich dieser Meinung anschloss, bestärkte sich Nates Gefühl, dass sie das Richtige taten.

»Wir würden außerdem den Zeitplan wieder aufnehmen und den Schein wahren, dass dem Land keine Gefahr droht. Gleichzeitig wären wir aber bereit, auf jede Bedrohung zu reagieren«, ergänzte Chalid mit ruhiger Stimme.

Nate grinste und sah dann abwartend zu Miro hinüber. Der König schien über die Vorschläge der Ratsmitglieder nachzudenken. Dann straffte er sich, hob den Kopf und verkündete mit fester Stimme seine Entscheidung:

»Dann ist es also entschieden. Wir werden nicht nach den Atheos suchen, sondern sie zu uns kommen lassen. Der Schutz jedes Gotteskindes wird verstärkt. Lord Karim und Lord Venn werden für die Sicherheit des Volkes garantieren. Lord Emir und Lord Adrian kümmern sich um die Einteilung der Streitkräfte. Es darf nicht danach aussehen, als würden wir das Militär aufrüsten, aber genau das wird der Fall sein.«

Die Lords nickten. Ebenso die drei Priesterinnen. Nate war froh, dass Miro Celestes Vorschlag zugestimmt hatte. Es war ein vernünftiger Einfall gewesen. Sie konnten gar nicht anders agieren, ohne Misstrauen in der Bevölkerung zu streuen.

Ein Klopfen ließ alle Anwesenden gleichzeitig zur Tür schauen. Als der König den Störenfried hereingebeten hatte, ruhten alle Augen auf dem Diener, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat.

»Majestät, bitte entschuldigt die Störung, aber an der Stadtmauer gibt es ein Problem.«

Die Augen des Königs wurden schmal und auch Nates Miene verfinsterte sich. Was gab es nun schon wieder für Schwierigkeiten? Sie hatten bereits genug davon.

»Was für ein Problem?«, fragte Miro stirnrunzelnd.

Der Diener schluckte, Schweißtropfen bedeckten seine hohe Stirn und ihm war sichtlich unwohl in seiner Haut.

»Mein König, vor den Toren der Stadt wartet eine Gruppe von Frauen, die behaupten, Anhängerinnen der Mondgöttin zu sein. Unter ihnen ist eine junge Frau, die eine Audienz bei Euch verlangt.«

Nates Augen weiteten sich bei den Worten des Dieners. Ein Raunen ging durch den Saal und es wurde leise getuschelt. Doch der Bote schien seine Nachricht noch nicht vollends überbracht zu haben. Er räusperte sich und sämtliche Augen flogen zurück zu ihm.

»Da ist noch etwas, mein König: Diese Frau behauptet, sie sei die Tochter des Mondes.«

KAPITEL 2

BILDER DER VERGANGENHEIT

Celeste

Die Fanfaren hallten in den Straßen von Solaris wider. Die Ankunft der fremden Gäste hatte sich wie ein Sturm verbreitet. Trotz der Anweisung des Königs, dass die Anhängerinnen zuerst zum Palast gebracht werden und dabei so wenig Aufsehen wie möglich erregen sollten, feierten die Menschen in den Straßen ihre Ankunft. Der Kronrat stand auf der Palasttreppe und wartete auf die Neuankömmlinge. Ganz vorn standen König Miro und Nathaniel, Celeste und die anderen beiden Priesterinnen in der Reihe dahinter.

Celeste wusste nicht, was sie von dieser Neuigkeit halten sollte. Dass es noch Anhänger der Mondgöttin gab, war nicht undenkbar. Manche Bewohner des Landes hatten die alten Sitten, Bräuche und Sagen nicht vergessen. Sie wussten noch, dass es ursprünglich vier Göttinnen gegeben hatte und war es noch so lange her. Aber ein weiteres Gotteskind? Eine neue Tochter des Mondes und das nach über hunderten von Jahren? Wie sollte das möglich sein?

Wenn sie ehrlich war, befürchtete Celeste, dass es sich dabei um eine List handelte. Ein Manöver ihrer Feinde. Das Königshaus war verwundbar. Sie hatten sich noch nicht von dem Überfall in Silvina erholt. Es wäre eine günstige Gelegenheit für die Atheos, jetzt zuzuschlagen.

Eine Hand schob sich in ihre. Celeste sah auf und starrte in Malias Gesicht. Die Haut der Priesterin war eingefallen und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Seit ihrer Ankunft in der Hauptstadt hatte Celeste kaum Zeit mit den anderen Priesterinnen verbracht. Zu sehr war sie von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen eingenommen gewesen. Da war kein Platz für weitere Sorgen. Doch in diesem Moment, in dem sie Malia betrachtete und ihr so nah war, verspürte sie nichts anderes als Sorge um ihre Freundin, die nicht mehr die schöne und starke Priesterin aus Sirena war. Malia sah unglücklich aus, niedergeschlagen und auf eine Art gebrochen, die Celeste den Atem raubte.

»Geht es dir gut?«, Celestes Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und sie spürte, wie sich die Schuldgefühle in ihr ausbreiteten, weil sie diese Frage erst jetzt stellte.

Malia nickte kaum merklich.

»Und dir?«, erklang ihre brüchige Stimme. Auch Celeste nickte. Dabei wusste sie, dass es weder ihr noch Malia gut ging. Sie hatten beide in den letzten Wochen zu viel erlebt. Manchmal wusste Celeste gar nicht mehr, wie sich Glück anfühlte, wenn sie an die Geschehnisse auf dem Gutshof zurückdachte. Und auch Malia musste es so ergehen. Sie hatte mitansehen müssen, wie man ihre Zofe misshandelte. Wie man ihr wehgetan hatte, sie geschlagen und geschändet hatte. Von allen Beteiligten hatte Nami am meisten mitgemacht. Den schlimmsten Schmerz erlebt, den eine Frau erleben konnte.

»Wird es besser?« Celeste musste nicht deutlicher werden. Malia wusste auch so, von wem sie sprach.

»Die Blessuren und Schrammen sind verheilt, aber sie spricht kaum. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihr helfen soll. Ich wünschte, meine Heilkräfte wären nicht nur physischer Natur. König Miro hätte ihr helfen können, ich kann es nicht.«

Malia so voller Schmerz zu sehen, brach Celeste das Herz. Sie zog die dunkelhaarige Priesterin in ihre Arme und versuchte, ihr Trost zu spenden. Trost, den sie beide dringend brauchten.

»Mach dir keine Vorwürfe. Nichts von alldem ist deine Schuld. Du tust alles in deiner Macht Stehende, um ihr zu helfen. Nami braucht Zeit. Sie wird sprechen, wenn sie so weit ist.« Zumindest hoffte Celeste das. Aber was wusste sie schon? Niemand konnte den Zustand, in dem sich Nami befand, nachempfinden. Und niemand wusste, wie viel Zeit ins Land ziehen musste, damit solche Wunden heilten. Oder ob sie jemals heilten. Die einzige Person, die Nami hätte helfen können, hatte am Tag der Sonne ihre Kräfte verloren. In dem Moment, als Nathaniel berufen wurde. Miro war von Ilias mit der Gabe der Heilung beschenkt worden. Doch im Gegensatz zu Malia war der König in der Lage gewesen, seelische Wunden zu heilen. Nun blieb ihnen nur noch Linnéa. Durch eine Berührung war es ihr möglich, Namis Schmerzen nachzuempfinden und bis zu einem gewissen Grad zu kontrollieren. Celestes Blick huschte kurz zu Linnéa hinüber, die neben Malia stand und gebannt auf die Ankunft der Gäste wartete. Aber wenn Celeste ehrlich war, wollte sie nicht, dass die zarte, unschuldige Linnéa dieselben Ängste durchstehen musste wie Nami. Keiner sollte das müssen.

»Doch, das ist es. Man hat ihr meinetwegen all das angetan.«

Celeste hörte die Tränen in Malias Stimme, bevor sie sie in den braunen Augen schimmern sah. Sie drückte Malia fester an sich.

»Sag so was nicht. Du kannst nichts für das, was geschehen ist, also hör auf, dir das einzureden. Wir werden Nami helfen. Sie wird wieder ganz die Alte sein. Vertrau mir.« Auch Vertrauen war etwas, was sie in Zeiten wie diesen nur zu gut gebrauchen konnten.

Malia löste sich aus Celestes Armen und strich sich über die tränennassen Wangen.

»Heilige Göttin, da passiert einmal im Jahrhundert etwas Spannendes und ich schaffe es, gerade an diesem Tag wie ein gerupftes Huhn auszusehen.« Sie lächelte schwach und Celeste erwiderte das Lächeln. Es schien so, als bestünde immerhin die Hoffnung, dass auch Malia wieder die Alte werden könnte. Das waren gute Nachrichten. Ein Lächeln bedeutete Hoffnung.

»Selbst als gerupftes Huhn stellst du alle anderen in den Schatten.« Celeste strich Malia eine der dunklen Haarsträhnen hinters Ohr. Die Locken waren etwas wirr, doch das schmälerte nicht im Mindesten Malias Schönheit.

»Welch wahre Worte. Und doch denkt Nate ganz anders darüber«, Malia zwinkerte ihr zu und Celeste schoss die Röte ins Gesicht. Die Tochter des Meeres lachte bei diesem Anblick.

»Ach, komm schon. Mir kannst du es doch sagen. Ich weiß sowieso nicht, warum wir diesen Unsinn noch fortsetzen sollen. Er hat sich doch schon längst entschieden.« Malia machte eine wegwerfende Handbewegung, doch diese Unbeschwertheit sprang nicht auf Celeste über. Sie spürte bei Malias Worten keine Erleichterung, weil sie ihre Zuversicht nicht teilte. Sie konnte es nicht. Denn egal, was Malia sagte, die Wahrheit war, dass Nathaniel noch bis zum nächsten April blieb, um seine finale Entscheidung zu treffen. Und es war gerade einmal August. In dieser Zeit konnte noch viel passieren.

In seiner Gegenwart verspürte Celeste so etwas wie Glück und Zufriedenheit, aber wer sagte, dass diese Gefühle von Dauer waren? Wenn sie eines in den letzten Wochen gelernt hatte, dann, dass sich alles jederzeit ändern konnte. Nichts im Leben war gewiss oder vorhersehbar und so etwas wie eine Garantie gab es nicht.

»Noch ist die Zeit des Reisens nicht vorbei.« Celeste schaffte es nicht, die Resignation aus ihrer Stimme zu verbannen.

Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als eine schlichte Postkutsche auf den Schlosshof fuhr. Das gesamte Gefolge des Palastes schien den Atem anzuhalten. Voller Neugierde beobachteten alle Anwesenden das Fuhrwerk. Es wurde getuschelt und gemunkelt und keiner konnte es erwarten, dass sich die Türen der Kutsche öffneten.

Das tat dann endlich ein Diener und heraus trat eine Frau in einem schwarzen Gewand. Ihre dunkle Haut hob sich kaum von der Farbe des Kleides ab und die Kapuze verbarg einen Großteil ihrer dunklen Haare, die zu unzähligen Zöpfen geflochten waren. Doch das Auffälligste an ihr war die Bemalung ihres Gesichts. Über Stirn und Nase war ein roter Streifen gezogen und zwei weiße Halbmonde zierten ihre Schläfen. Ihre schwarzen Augen musterten die Menge und Celeste lief ein eisiger Schauer über den Rücken.

Die Frau trat einige Schritte zur Seite und gewährte so fünf weiteren Frauen den Ausstieg aus der Kutsche. Alle fünf waren in weiße Gewänder gehüllt, mit Kapuzen, die ihnen tief in die Stirn fielen.

König Miro trat vor, gefolgt von Espen, seinem Leibwächter, der die Neuankömmlinge nicht aus den Augen ließ. Seit dem Attentat war der Schutz der Gotteskinder verstärkt worden. Aber wenn Celeste ehrlich war, fühlte sie sich durch die Anwesenheit der Soldaten nicht sicherer. Viel eher erinnerten sie sie erst daran, dass sie sich in Gefahr befand. Und das an jedem einzelnen Tag.

»Herzlich willkommen in Solaris. Man sagte uns, Ihr wärt von Sohalia zu uns gekommen und die letzten verbliebenen Anhängerinnen der Mondgöttin Selinda.« Miro machte eine einladende Handbewegung und schenkte der Frau in schwarz ein von Herzen kommendes Lächeln. Doch sie erwiderte es nicht. Ihr Blick blieb hart und sie musterte den König abschätzig.

»Danke für die Gastfreundschaft. Im Gegensatz zu unseren Brüdern und Schwestern vom Festland haben wir die Göttin nicht vergessen.« Ihre Stimme war kehlig und rau. Der anklagende Ton in ihr war nicht zu überhören und ein Raunen ging durch das königliche Gefolge.

»Ich kann Euch versichern, dass auch wir Selinda nicht vergessen haben. Die Göttin wohnt in den Herzen eines jeden Bürgers von Sirion, ganz gleich, ob sie sich uns zeigt oder nicht. Ein Land vergisst nicht.«

Celeste verzog bei den Worten des Königs das Gesicht. Vielleicht dachte Miro wirklich, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen, doch sie galten nicht für die Bevölkerung des Landes. Die meisten Bewohner von Sirion hatten den Glauben an die Mondgöttin längst verloren. Viele Kinder wussten nicht einmal mehr, dass es sie gegeben hatte. Die bemalte Frau schien es wie Celeste zu sehen, denn ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich.

»Wenn Ihr das sagt, Majestät.«

»Seid Ihr die oberste Ordensschwester von Sohalia?«, wollte der König wissen.

Die bemalte Frau nickte.

»Mein Name ist Zahira, ich bin die Anführerin unseres kleinen Zirkels und diene Selinda bereits mein ganzes Leben.«

»Sagt mir, Zahira, wie kann es sein, dass kein Schiff und kein Rabe es bis nach Sohalia geschafft haben? Wie konnten wir den Kontakt zu Eurer Insel verlieren? Und warum habt Ihr den Kontakt zu uns nicht gesucht?« Die Stimme des Königs war weiterhin freundlich, doch das Misstrauen in ihr war deutlich herauszuhören. Es waren ein paar der Fragen, die sich jeder einzelne von ihnen stellte. Viele Jahre lang hatte man versucht, Sohalia und seine Bewohner zu erreichen. Doch jeder Versuch war gescheitert.

Zahiras Augen wurden schmal.

»Nur die Göttin allein entscheidet, wer seinen Fuß auf ihre Insel setzen darf. Sie ist die Herrscherin über die Gezeiten, wenn sie nicht will, dass jemand ihre Insel betritt, dann weiß sie dies zu verhindern.«

Celeste tauschte einen Blick mit Malia. Irgendetwas an dieser Geschichte kam ihr seltsam vor. Wenn die Göttin des Mondes wirklich verhinderte, dass die Insel betreten werden konnte und sich hunderte von Jahren niemandem gezeigt hatte, warum hatte sie dann ausgerechnet jetzt eine neue Tochter berufen und gab sich wieder zu erkennen?

Miro nickte.

»Ich verstehe. Und wie kommt es, dass Ihr nun hier seid? Was brachte Euch dazu, das Festland zu betreten?«

Zahira betrachtete alle Anwesenden der Reihe nach. Der Blick aus ihren schwarzen Augen blieb bei den Priesterinnen hängen. Sie legte den Kopf schief und musterte jede von ihnen eindringlich.

»Am Tag des Blutmondes sprach die Göttin zu uns und berief eine aus unseren Reihen als ihre neue Tochter. Es ist an der Zeit, dass der Mond auf die Erde zurückkehrt und seinen rechtmäßigen Platz einnimmt.« Sie deutete auf eine Frau in der Mitte der weißgekleideten Gestalten. Die Frau trat einige Schritte vor und stellte sich neben Zahira. Die Kapuze verdeckte ihr Gesicht, doch darunter schauten lange, schwarze Haare hervor, die ihr bis zur Taille reichten.

»Selinda ist bereit, an die Seite ihres Bruders und ihrer Schwestern zurückzukehren. Vergessen ist die Trauer und die Schuld. Die Gotteskinder sollen wieder gemeinsam über Sirion herrschen und seinem Volk mit Güte und Weisheit zur Seite stehen. Im Namen der Göttin Selinda, Herrscherin über Sohalia, verkünde ich Euch die Geburt der neuen Tochter des Mondes.«

Das Mädchen streifte die Kapuze ab. Die tintenschwarzen Haare umrandeten ein schneeweißes Gesicht. Und ein Blick aus eisblauen Augen schweifte umher. Sie verneigte sich vor König Miro.

»Majestät, mein Name ist Selena.«

Der König reichte ihr eine Hand und hauchte einen sanften Kuss auf ihren Handrücken.

»Es freut mich, Euch kennenzulernen, Kind. Sagt mir, ist es wahr? Wurdet Ihr von der Mondgöttin berufen?«

Das Mädchen tauschte einen kurzen Blick mit Zahira, bevor es den Umhang, der um ihre Schultern lag, zu Boden gleiten ließ. Das weiße Kleid darunter verhüllte ihre Gestalt kaum. Teile des Bauches waren frei und auch der Rücken war nicht von Stoff bedeckt. Das Mädchen nahm mit ihren Händen die schwarzen Haare nach vorn zusammen und drehte sich um.

Ein Raunen ging durch die Menge und vereinzelnd hörte man jemanden nach Luft schnappen. Zwischen den Schulterblättern prangte das Zeichen der Götter: eine geschwungene Triskele, die die Weltordnung von Sirion repräsentierte. Götter, Gotteskinder und Menschen. Ein unzerstörbares Band.

Als die junge Frau sich wieder umdrehte, verneigte Miro sich vor ihr.

»Es ist mir eine Ehre, Euch in Solaris willkommen heißen zu dürfen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was es für mich und dieses Land bedeutet, dass Selinda uns ihre Tochter geschickt hat.«

Mit einer Geste winkte Miro Celeste, Malia und Linnéa herbei, die daraufhin an seine Seite traten. Celeste betrachtete die junge Frau mit der schneeweißen Haut und den schwarzen Haaren. Doch die eisblauen Augen der Priesterin schienen sie nicht wahrzunehmen. Zu sehr waren sie von etwas anderem abgelenkt. Oder besser jemandem.

Selenas Blick lag einzig und allein auf Nathaniel. Und erst jetzt bemerkte Celeste, dass auch er sie mit großen Augen ansah. Er war blass geworden und sein ganzer Körper war angespannt. Er betrachtete Selena, als stünde ein Geist vor ihm, doch sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, das ihre eisblauen Augen strahlen ließ. Ihre Stimme erklang und erinnerte Celeste an ein Glockenspiel. Hell und melodisch. Und so einnehmend, dass Celeste ein Schauer über den Rücken lief.

Die Tochter des Mondes ging noch zwei Schritte auf Nathaniel zu, neigte den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen.

»Es ist viel Zeit vergangen, aber es ist schön, dich wiederzusehen, Nathaniel.«

***

Nathaniel

Ihm blieben sämtliche Worte im Halse stecken. Nate traute seinen eigenen Augen nicht. Welches Spiel wurde hier gerade gespielt? Wie konnte das sein? Mit weitaufgerissenen Augen sah er die Frau vor sich an. Sie hatte sich nicht verändert. Die schwarzen Haare, die ihr über den Rücken flossen. Die helle Haut, die ihn an Schnee erinnerte, und die gletscherblauen Augen, mit denen sie jeden gefangen nahm. Wie lange war es her, dass er ihr gegenübergestanden hatte? Acht Jahre? Oder waren es doch schon zehn? Nate wusste es nicht. Die Erinnerung an sie und die gemeinsame Kindheit war mit der Zeit verblasst.

Er spürte, wie sich die Blicke der Anwesenden in seinen Rücken bohrten. Besonders ein Blick aus karamellfarbenen Augen. Dieser warme Ton, der das komplette Gegenteil zu Selenas blauen Augen war. Nate wollte das Wort ergreifen, wollte sie fragen, was sie hier tat und wie sie zu der geworden war, die sie vorgab zu sein. Doch er konnte nicht. Seine Kehle war trocken, sein Kopf leer. Alles, was er konnte, war, diese fremde und doch so vertraute Frau vor sich anzustarren.

Das Lächeln breitete sich weiter auf ihrem blassen Gesicht aus.

»Brich mir bitte nicht das Herz, indem du sagst, dass du dich nicht an mich erinnerst.« Ihre Stimme war so melodisch, wie er sie in Erinnerung hatte. Zart, sanft und doch einprägsam.

Hinter sich hörte er, wie jemand scharf die Luft einzog. Vermutlich Malia. Doch damit konnte sich Nate gerade nicht beschäftigen. Er konnte die Gefühle, die wie ein Sturm in ihm tobten, nicht in Worte fassen. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Und gleichzeitig gefror das Blut in seinen Adern zu Eis. Wie der erste Atemzug, wenn man zu lange unter Wasser gewesen ist. Und das alles gleichzeitig. Seine Vergangenheit hatte ihn eingeholt und stand nun in Form einer Frau vor ihm, die er bereits angefangen hatte, zu vergessen.

»Nathaniel?«, es war die Stimme von König Miro, die ihn aus seiner Starre befreite. Ein Ruck ging durch Nates Körper und völlig perplex sah er erst den König und dann wieder Selena an.

Sie legte den Kopf schief und zog eine der dunklen Augenbrauen nach oben. Das Lächeln lag noch immer auf ihren Lippen, doch ihm kam es so vor, als würde sie etwas in seinen Augen suchen, was sie nicht finden konnte. Und Nate wusste auch, was es war. Wiedersehensfreude.

Er räusperte sich und deutete eine Verbeugung an.

»Es ist uns eine Ehre, die Tochter des Mondes in Solaris willkommen heißen zu dürfen.« Seine Worte klangen genauso steif, wie er sich fühlte.

Gemurmel wurde hinter ihm lauter. Doch Nate ignorierte es. Auf diese Begegnung war er nicht vorbereitet gewesen. Und doch stand Selena vor ihm. Und sie war enttäuscht von ihm. Zum zweiten Mal in ihrem Leben konnte Nate ihr nicht das geben, was sie wollte und brauchte.

»Wie es scheint, hat es dem Prinzen die Sprache verschlagen«, sagte Lord Adrian und legte eine Hand auf Nates Schulter. Dankbar sah Nate zu dem Lord auf. Adrian sah ihn wissend an, obwohl sich Nate nicht vorstellen konnte, dass er auch nur die leiseste Ahnung hatte, was in diesem Moment in ihm vorging.

»Wie wäre es, wenn man der Priesterin und ihrem Gefolge die Zimmer zeigt? Anschließend werden die Gotteskinder zum Tee im Salon erwartet.« Lord Adrian war ganz der Diplomat und Nate war ihm in diesem Moment dankbar dafür. Von ihm hatte man erwartet, die Gäste zu begrüßen und er hatte auf ganzer Linie versagt. Sein Versagen hätte ihn ärgern sollen, aber das tat es nicht. Sein Ärger wurde von Erinnerungen überschattet, die ihm nun im Kopf herumschwirrten.