Emile Zola

Die Beute

La Curée: Die Rougon-Macquart Band 2

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2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1457-0

Inhaltsverzeichnis

I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.

II.

Inhaltsverzeichnis

Es war nach dem zweiten Dezember, als Aristide Rougon mit dem Instinkte der Raubvögel, die von Weitem das Schlachtfeld wittern, auf Paris herniederstieß. Er langte aus Plassans, einer Unterpräfektur des Südens an, wo sein Vater aus dem trüben Wasser der Ereignisse endlich eine schon seit langer Zeit angestrebte Steuereinnehmer-Stelle erreicht hatte. Nachdem er sich, noch jung an Jahren, einfältigerweise kompromittirt hatte, ohne Nutzen oder Ruhm davon zu haben, mußte er sich glücklich schätzen, daß er mit heiler Haut davongekommen. Wüthend über die erlittene Schlappe, langte er in Paris an, fluchte der Provinz, sprach von der Hauptstadt mit der Beutegier eines Wolfes und schwor, daß »er nicht mehr so dumm sein werde« und das giftige Lächeln, mit welchem er diese Worte begleitete, nahm auf seinen schmalen Lippen eine unheimliche Bedeutung an.

Er langte in den ersten Tagen des Jahres 1852 an. Er brachte seine Frau Angèle, eine blonde, langweilige Person, mit sich und setzte sie in einer kleinen, engen Wohnung der Rue Saint-Jacques ab, gleich einem lästigen Möbelstück, dessen er sich je schneller zu entledigen strebte. Die junge Frau hatte sich von ihrer Tochter, der kleinen vierjährigen Klotilde nicht trennen wollen, obgleich der Vater sie gerne bei seiner Familie zu Hause zurückgelassen hätte. Doch hatte er dem Wunsche Angèlens nur nachgegeben, als diese ihre Einwilligung ausgesprochen, ihren Sohn Maxime, einen Knaben von elf Jahren, im Colleg zu Plassans zurückzulassen, über den seine Großmutter zu wachen versprochen. Aristide wollte freie Hände haben; eine Frau und ein Kind däuchten ihm bereits eine erdrückende Last für einen Mann, der entschlossen war, über alle Gräben hinwegzusetzen, auf die Gefahr hin, sich die Rippen zu brechen oder in den Koth zu stürzen.

Noch am Abend seiner Ankunft, während Angèle mit dem Auspacken beschäftigt war, empfand er das dringende Verlangen, durch die Straßen von Paris zu stürmen, mit seinen schweren Schuhen eines Provinzbewohners auf dieses heiße Pflaster zu stampfen, aus welchem er seine Millionen hervorzuzaubern gedachte. Er nahm förmlich Besitz von der Stadt. Er schritt dahin, nur um zu gehen, längs des Fußweges einherwandernd, wie in einem eroberten Lande. Er hatte eine sehr deutliche Vorstellung der Schlacht, die er liefern wollte und es widerstrebte ihm gar nicht, sich mit einem gewandten Einbrecher zu vergleichen, der gleichviel ob durch List oder durch Gewalt sich in den Besitz seines Antheils an den gemeinsamen Reichthümern setzen will, den man ihm boshafterweise bisher vorenthalten. Hätte er das Bedürfniß einer Entschuldigung empfunden, so hätte er sein während zehn Jahren unterdrücktes brennendes Verlangen, sein jammervolles Provinzleben, vor Allem aber seine Fehler angeführt, für die er die ganze Gesellschaft verantwortlich machte. Zu dieser Stunde aber, in seiner Erregung des Spielers, der die begehrlichen Hände endlich auf das grüne Tuch legen kann, war er ganz der Freude hingegeben, einer Freude, die ebensoviel von der Befriedigung eines neidvollen Egoisten, als von den Hoffnungen des unbestraften Hallunken an sich hatte. Die pariser Luft berauschte ihn; durch das Rollen der Wagen hindurch meinte er die Stimmen aus Macbeth zu vernehmen, die ihm zuriefen: Du wirst reich sein! Zwei Stunden beinahe irrte er derart aus einer Straße in die andere, die Freuden eines Mannes genießend, der sich in seinem Laster wälzt. Seit dem glücklichen Jahr, das er als Student in Paris verbracht, war er nicht da gewesen. Die Nacht war hereingebrochen; immer höher flogen seine Träume bei dem lebhaften Lichte, welches aus den mächtigen Scheiben der Kaffeehäuser und Verkaufsläden auf die Straße fiel. Und ohne zu wissen, wohin ihn seine Schritte führten, setzte er seine Wanderung fort.

Als er den Kopf emporhob, befand er sich inmitten des Faubourg Saint-Honoré. In einer nahe gelegenen Gasse, der Rue de Penthièvre, wohnte ein Bruder von ihm: Eugen Rougon. Als Aristide nach Paris kam, hatte er hauptsächlich auf Eugen gerechnet, der als einer der thätigsten Agenten des Staatsstreiches, heute eine geheime Machtstellung innehatte. Er war ein kleiner Advokat, in dem ein großer Politiker stack. Einem Aberglauben, wie er bei Spielern nicht selten, Folge leistend, wollte er nicht an diesem Abend bei seinem Bruder vorsprechen, sondern kehrte langsam nach der Rue Saint-Jacques zurück, wobei er voll dumpfen Neides Eugens gedachte, seine noch vom Staube der Reise bedeckten armseligen Gewänder betrachtete und dann wie um sich selbst zu trösten, seine hochfliegenden Traume von Neuem aufnahm. Doch waren selbst diese Träume bittere geworden. Ein Bedürfniß nach Eroberung hatte ihn ins Freie getrieben, die Lebhaftigkeit der Straßen ihn mit Freude erfüllt und als er nun heimkehrte, befand er sich in gereizter Stimmung, hatte sein Unmuth noch zugenommen infolge des Glückes, welches er durch die Straßen rennen gewähnt, und in Gedanken machte er heiße Kämpfe mit, in welchen er diese Menschen, die ihn auf der Straße gestoßen und fast über den Haufen gerannt, voll hämischer Freude besiegte und hinterging. Niemals noch hatte er einen solchen Hunger, ein so wildes Verlangen nach Glanz und Reichthümern empfunden.

Früh am anderen Tage befand er sich bei seinem Bruder. Eugen bewohnte zwei große, kaum möblirte, unfreundliche Räume, welche Aristide erschreckten. Er hatte erwartet, seinen Bruder von Pracht und Luxus umgeben anzutreffen. Dieser arbeitete vor einem kleinen schwarzen Tische und begnügte sich bei seinem Anblicke lächelnd, mit seiner langsamen Stimme zu sagen:

»Ah! Du bist's? Ich habe Dich erwartet.«

Aristide war sehr ärgerlich. Er beschuldigte Eugen, er habe ihn vegetiren lassen und ihn nicht einmal eines guten Rathes gewürdigt, während er in der Provinz sein Leben verdämmerte. Er würde es sich niemals verzeihen, daß er bis zum zweiten Dezember Republikaner geblieben; dies sei seine offene Wunde, sein ewiger Gewissensskrupel. Eugen hatte ruhig wieder zu seiner Feder gegriffen und als Jener zu Ende gekommen, sagte er:

»Ach was, Fehler lassen sich gut machen und Du hast eine ganze Zukunft vor Dir.«

Er sprach diese Worte so entschiedenen Tones, begleitete dieselben mit einem so durchdringenden Blicke, daß Aristide den Kopf hängen ließ, deutlich fühlend, daß sein Bruder in der Tiefe seiner Seele lese. Dann fuhr dieser mit freundschaftlicher Offenheit fort:

»Du bist gekommen, damit ich Dich irgendwo unterbringe, nicht wahr? Ich habe bereits an Dich gedacht, doch noch nichts gefunden. Du wirst begreifen, daß ich Dich nicht an welchem Platze immer unterbringen kann. Du mußt eine Stelle erhalten, wo Du Deine Rechnung findest, ohne Gefahr für Dich oder mich ... Bitte, nicht aufbrausen, wir sind allein und können uns gewisse Dinge sagen ...«

Aristide entschloß sich zu lachen.

»Oh, ich weiß, daß Du intelligent bist,« fuhr Eugen fort; »und eine zweite zwecklose Dummheit nicht begehen wirst ... Sobald sich eine günstige Gelegenheit darbietet, werde ich Deiner bedacht sein. Solltest Du inzwischen etwas Geld benöthigen, so stehe ich Dir zu Diensten.«

Sie plauderten noch eine Weile über den Aufstand im Süden, welcher ihrem Vater das ersehnte Amt gebracht. Während ihres Plauderns kleidete sich Eugen an. Als er sich auf der Straße von seinem Bruder trennen wollte, hielt er ihn noch einen Augenblick zurück und sagte gedämpften Tones:

»Du würdest mir einen Dienst erweisen, wenn Du nicht in den Straßen herumstreichen, sondern daheim abwarten wolltest, bis ich die versprochene Stelle gefunden ... Es wäre mir unangenehm, wenn ich meinen Bruder in irgend einem Vorzimmer anträfe.«

Aristide hatte einen gewaltigen Respekt vor seinem Bruder, den er für einen ausnehmend klugen Kopf hielt. Er vergaß ihm sein Mißtrauen nicht, so wenig wie seine etwas derbe Offenheit; nichtsdestoweniger verschloß er sich gehorsam in seinen vier Wänden in der Rue Saint-Jacques. Er war mit fünfhundert Francs, welche ihm der Vater seiner Frau vorgestreckt, nach Paris gekommen. Nachdem die Uebersiedelungskosten bestritten worden, waren noch dreihundert Francs geblieben, mit denen man einen Monat auskommen konnte. Angèle war eine starke Esserin, außerdem meinte sie ihren Sonntagsstaat durch ein paar Meter malvenfarbener Bänder auffrischen zu müssen. Dieser der Erwartung gewidmete Monat däuchte Aristide endlos. Die Ungeduld verzehrte ihn. Wenn er sich an's Fenster setzte und unten die Riesenarbeit von Paris rumoren fühlte, so ward er von einem wahnsinnigen Verlangen erfaßt, mit einem Satze in diesen Schmelzofen zu springen, um daselbst mit seinen fieberhaft zuckenden Händen das Gold gleich weichem Wachs zu kneten. Er sog den noch unbestimmten Hauch ein, welchen die große Stadt zu ihm emporsandte, diesen Hauch des jungen Kaiserreichs, welcher bereits den Duft der Alkoven und Spielhäuser, den Dunst der Genüsse durch die Lüfte trieb. Die leichten Dünste, die zu ihm emporstiegen, sagten ihm, daß er sich auf der richtigen Spur befinde, daß das Wild vor ihm einher lief und daß die große kaiserliche Jagd, die Jagd nach Abenteuern, nach den Frauen und nach den Millionen endlich begonnen habe. Seine Nasenflügel zitterten, sein Instinkt der ausgehungerten Bestie fing sofort die Vorzeichen der heißen Jagd auf, deren Schauplatz die Stadt werden sollte.

Zweimal sprach er bei seinem Bruder vor, um diesen anzutreiben. Eugen empfing ihn zornig, erklärte ihm, daß er ihn nicht vergessen habe, daß aber gewartet werden müsse. Endlich erhielt er einen Brief mit der Aufforderung, sich in der Rue de Penthièvre einzufinden. Hochpochenden Herzens, als ginge es zu einem Liebesrendezvous, fand er sich daselbst ein. Er fand Eugen wieder vor seinem unvermeidlichen kleinen schwarzen Pulte sitzen, das in dem großen frostigen Zimmer stand, welches ihm als Bureau diente. Bei seinem Erscheinen hielt ihm der Advokat ein Papier mit den Worten entgegen:

»Gestern wurde Deine Sache erledigt. Du bist zum Wegeaufseher-Gehilfen im Stadthause ernannt worden und wirst ein Jahresgehalt von zweitausendvierhundert Francs beziehen.«

Aristide blieb unbeweglich stehen. Er war blaß geworden und griff nicht nach dem Papier, da er meinte, sein Bruder wolle sich über ihn lustig machen. Er hatte auf eine Anstellung mit wenigstens sechstausend Francs gerechnet. Eugen errieth, was in ihm vorging und sich ihm zuwendend, sprach er zornigen Tones, wobei er die Arme kreuzte:

»Bist Du von Sinnen? Du träumst wohl ungereimtes Zeug wie ein junges Mädchen? Du möchtest ein schönes Haus bewohnen, Dienerschaft haben, gut essen und trinken, in Sammt und Seide gekleidet gehen, in den Armen der Erstbesten schwelgen? Wenn wir Dich und Deinesgleichen gewähren ließen, so würdet Ihr die Kassen leeren, noch bevor sie voll geworden. Du, lieber Gott, habe doch ein wenig Geduld! Sieh, wie ich lebe und nimm Dir wenigstens die Mühe, Dich zu bücken, um ein Vermögen aufzulesen.«

Er sprach voll tiefer Verachtung über die schülerhafte Ungeduld seines Bruders. Seine rauhen Worte verriethen höheren Ehrgeiz, das Verlangen nach unbeschränkter Macht; dieses naive Begehren nach Geld und Reichthum mußte ihm niedrig und kindisch erscheinen. Sanfteren Tones, mit einem feinen Lächeln fuhr er fort:

»Gewiß; Deine Anlagen sind gute und ich will denselben nicht hinderlich sein. Leute wie Du sind kostbar und wir gedenken unsere guten Freunde unter den Gierigsten zu suchen. Sei nur unbesorgt; wir werden reiche Gastfreundschaft üben, damit die Hungrigsten gesättigt werden. Dies ist die einfachste Art und Weise, um zu herrschen ... Doch warte zumindest, bis der Tisch gedeckt ist und befolge meinen Rath: hole Dir Dein Essen selbst aus der Küche.«

Aristide behielt seine unzufriedene Miene bei; der liebenswürdige Vergleich seines Bruders vermochte ihn nicht versöhnlicher zu stimmen. Dies veranlaßt Jenen, zu einer neuerlichen zornigen Ermahnung anzuheben.

»Ich muß wohl bei meiner ersten Meinung bleiben,« rief er aus; »das heißt, Du bist ein Thor ... Alle Wetter! was hofftest Du denn, was dachtest Du, daß ich mit Deiner kostbaren Person anfangen würde? Du hattest ja nicht einmal den Muth, Deine Rechts-Studien zu beenden, sondern vergrubst Dich während zehn Jahre als armseliger Beamte einer Unterpräfektur und langst hier als übelberüchtigter Republikaner an, den der Staatsstreich allein zu bekehren vermochte ... Meinst Du etwa, es stecke bei einem solchen Leumunde das Zeug zu einem Minister in Dir? ... Oh! ich weiß, Du bist entschlossen, Dich mit allen Mitteln emporzuarbeiten! Dies ist allerdings ein großes Verdienst, ich gebe es ja zu und in Berücksichtigung desselben habe ich darnach getrachtet, Dich bei der Stadt unterzubringen.«

Er stand auf, drückte Aristide das Ernennungsschreiben in die Hand und fuhr fort:

»Da nimm; eines Tages wirst Du mir noch danken. Ich selbst habe die Stelle gewählt, denn ich weiß, welchen Nutzen Du aus derselben ziehen kannst... Du brauchst bloß zu sehen und zu hören. Wenn Du Verstand hast, wirst Du begreifen und danach handeln ... Und nun merke Dir, was ich Dir sage. Wir kommen in eine Zeit, in der jeder Erfolg möglich sein wird. Erwirb viel Geld, ich gestatte es Dir; doch nur keine Dummheiten, keinen Skandal gemacht, sonst lasse ich Dich verschwinden.«

Diese Drohung hatte die Wirkung, welche seine Versprechungen nicht herbeizuführen vermocht. Das ganze Fieber der Habgier Aristides entzündete sich bei dem Gedanken an die Reichtümer, von welchen sein Bruder sprach. Es war ihm, als ließe man ihn endlich sich in das Handgemenge stürzen, als hätte er die Erlaubniß erhalten, die Leute zu erwürgen, doch fein säuberlich, ohne zu viel Lärm zu erregen. Eugen gab ihm zweihundert Francs, damit er bis zum Ende des Monates sein Leben fristen könne.

Sodann blieb er eine Weile nachdenklich,

»Ich möchte meinen Namen ändern,« sagte er endlich. »Du solltest ein Gleiches thun ... Wir würden uns freier bewegen können.«

»Wie Du willst,« erwiderte Aristide ruhig.

»Du wirst Dich um nichts zu bekümmern haben, ich übernehme die Durchführung aller Formalitäten ... Willst Du den Namen Sicardot, den Deiner Frau annehmen?«

Aristide blickte zur Decke empor, während er den Namen silbenweise aussprach, wie um den Wohlklang desselben zu beurtheilen.

»Sicardot . . . Aristide Sicardot ... Meiner Treu, nein; das klingt läppisch und riecht ordentlich nach dem Bankerott.«

»So suche etwas Anderes,« sagte Eugen.

»Sicard ganz kurz wäre mir lieber,« nahm der Andere nach einer Pause von Neuem auf. »Aristide Sicard ... nicht schlecht ... wie? sogar ein wenig heiter ...«

Er dachte noch einen Augenblick nach und rief mit einem Male triumphirend aus:

»Ich hab's, ich hab's!... Saccard, Aristide Saccard! ... mit zwei c ... Hehe! der Name duftet nach Geld und man sollte meinen, man zähle lauter Hundertsousstücke.«

Eugen machte einen derben Scherz, indem er seinen Bruder verabschiedend, lächelnd zu ihm sagte:

»Ja man kann mit dem Namen ebenso leicht ins Zuchthaus wie in den Besitz von Millionen gelangen.«

Einige Tage später befand sich Aristide Saccard in den Bureaux des Stadthauses. Dort erfuhr er, daß sich sein Bruder eines bedeutenden Einflusses erfreuen müsse, um seine Ernennung mit Umgehung der gebräuchlichen Prüfungen durchzusetzen.

Für das Ehepaar begann nunmehr die gleichförmige Lebensweise der kleinen Beamten. Aristide und seine Frau nahmen ihre Gewohnheiten von Plassans wieder auf. Nur waren sie aus dem Traume plötzlicher Bereicherung gerissen worden und ihre beschränkten Mittel lasteten umso drückender auf ihnen, als sie dies für eine Probezeit ansahen, deren Dauer sie nicht abzuschätzen vermochten. In Paris arm sein, bedeutete zweifache Armuth. Angèle nahm das Elend mit ihrem bleichsüchtigen Gleichmuthe hin; sie verbrachte ihre Zeit in der Küche, oder auf der Erde liegend, um mit ihrer kleinen Tochter zu spielen und begann erst zu lamentiren, wenn sie beim letzten Zwanzigsousstück angelangt war. Aristide aber fügte sich nur mit den Zähnen knirschend diesem Elend, dieser jammervollen Existenz, in welcher er gleich einem eingeschlossenen wilden Thiere umherraste. Dies war für ihn eine Epoche unbeschreiblicher Leiden; sein Stolz blutete, seine unbefriedigten Wünsche peitschten ihn wie mit Geißelhieben. Seinem Bruder gelang es, sich als Abgeordneter des Arrondissements Plassans in die gesetzgebende Körperschaft entsenden zu lassen und dies vermehrte nur noch sein Leid. Er war sich der Ueberlegenheit Eugens zu sehr bewußt, um auf dieselbe eifersüchtig zu sein; aber er beschuldigte ihn, er habe für ihn nicht Alles gethan, was er zu thun im Stande gewesen wäre. Wiederholt zwang ihn die Noth, an Eugens Thür zu pochen, um eine kleine Geldanleihe zu machen. Eugen bewilligte dieselbe, warf ihm aber in herben Worten seinen Mangel an Willen und Ausdauer vor. Fortab wurde Aristide noch düsterer und verschlossener. Er gelobte sich, von Niemandem auch nur einen Sou mehr zu entlehnen und hielt getreulich Wort. In den letzten acht Tagen des Monats aß Angèle trockenes Brod unter Seufzern und Klagen. Diese Epoche vollendete die furchtbare Erziehung Saccard's. Seine Lippen wurden noch dünner als bisher; er war nicht mehr so dumm, wachend von seinen Millionen zu träumen; seine hagere Gestalt verhielt sich schweigend und drückte nur mehr einen Willen, eine fixe Idee aus, der er unablässig nachhing. Wenn er aus der Rue Saint-Jacques nach dem Stadthause eilte, so schlugen seine abgetretenen Stiefelabsätze klappernd auf das Pflaster und er hüllte sich in seinen abgeschabten Überrock wie in ein Gewand des Hasses, während seine Marderschnauze die Luft der Straßen witterte. Es war das eckige Antlitz des eifersüchtigen, neidischen Elends, welches man durch die Straßen von Paris streichen sieht, seinen Träumen von Glanz und Reichtümern nachhängend.

Zu Beginn des Jahres 1855 ward Aristide zum wirklichen Wegeaufseher ernannt. Als solcher bezog er ein Gehalt von viertausendfünfhundert Francs, Die Aufbesserung trat zu sehr gelegener Zeit ein, denn Angèle fiel täglich mehr ab und die kleine Klotilde war ganz bleich. Er behielt seine kleine, aus zwei Zimmern – dem mit Nußholzmöbeln eingerichteten Speisezimmer und dem in Mahagoni gehaltenen Schlafzimmer – bestehende Wohnung bei, blieb bei seiner streng sparsamen Lebensweise und vermied es, Schulden zu machen; das Geld Anderer wollte er nur haben, wenn er tief in demselben wühlen konnte. So belog er selbst seine Instinkte, indem er die wenigen Sous verachtete, die er jetzt mehr bezog, und blieb weiter auf dem Anstande. Angèle fühlte sich vollkommen glücklich. Sie konnte sich einigen Putz anschaffen und ihre Brosche täglich vorstecken. Der dumpfe Zorn ihres Gatten, seine düstere Miene, die Miene eines Mannes, der über die Lösung eines furchtbaren Problems nachdenkt, däuchte ihr nunmehr unerklärlich,

Aristide befolgte die Nachschläge Eugens: er hörte und sah. Als er sich bei seinem Bruder einfand, um ihm für seine Beförderung zu danken, erkannte jener den Umschwung, der sich in ihm vollzogen und er unterließ es nicht, ihn darob zu beglückwünschen. Der Beamte, den innerlich der Neid verzehrte, war schmiegsam und schmeichlerisch geworden. Binnen weniger Monate wurde er ein vollendeter Komödiant. Seine ganze südliche Schlauheit gelangte zur Geltung und er trieb die Kunst so weit, daß ihn seine Kollegen vom Stadthause für einen guten Jungen ansahen, dem die nahe Verwandtschaft mit einem Deputirten im vorhinein eine bedeutende Stellung sicherte. Diese Verwandtschaft zog ihm auch das Wohlwollen seiner Vorgesetzten zu. So genoß er denn eine Autorität, welche die Bedeutung seines Amtes überragte und ihm gestattete, gewisse Thüren zu öffnen und die Nase in gewisse Schriftstücke zu stecken, ohne daß diese Zudringlichkeit eine üble Auslegung erfahren hätte. Während zweier Jahre sah man ihn durch alle Korridore streichen, sich in allen Sälen aufhalten, tagsüber zwanzigmal aufstehen, um mit einem Kollegen zu plaudern, eine Meldung zu erstatten oder einen Gang durch die Bureaux zu machen, – Spaziergänge, die seine Arbeitsgenossen zu der Bemerkung veranlaßten: »Dieser verteufelte Provençale! Er kann nicht ruhig auf seinem Platze bleiben; der hat Quecksilber in den Beinen!« – In den Augen seiner Vertrauten galt er für einen Faullenzer und der würdige Mann lachte, wenn sie ihm den Vorwurf machten, sein Lebenszweck bestehe darin, der Verwaltung einige Minuten zu stehlen. Niemals beging er den Mißgriff, an den Thüren zu horchen; dagegen verstand er es so trefflich, unversehens die Thüren zu öffnen, mit einem Papier in der Hand, mit nachdenklicher Miene und so leisen, regelmäßigen Schrittes durch die Säle zu schreiten, daß ihm kein Wort der Unterhaltung entging. Dies war eine geniale Taktik und er brachte es so weit, daß man die Unterhaltung gar nicht mehr abbrach, wenn dieser pflichteifrige Beamte vorüberging, der sich stets im Schatten der Bureaux hielt und vollständig seiner Beschäftigung hingegeben schien. Ferner beobachtete er noch eine andere Methode; er war von der verbindlichsten Zuvorkommenheit, machte sich erbötig, seinen Kollegen zu helfen, wenn sie mit ihren Arbeiten im Rückstande waren und stets studierte er mit der größten Aufmerksamkeit die Register und sonstigen Schriftstücke, die sie ihm übergaben. Eine seiner kleinen Sünden war, mit den Bureaudienern Freundschaft zu schließen; ja, er ging so weit, ihnen die Hand zu reichen. Zwischen Thür und Angel stehend, ließ er sich mit ihnen in Gespräche ein, lachte mit ihnen, erzählte ihnen Geschichten und forderte derart ihre vertraulichen Mittheilungen heraus. Die wackeren Leute beteten ihn an, indem sie sagten: »Das ist Einer, der keinen Stolz kennt!« Gab es irgend einen Skandal, so war er der Erste, der davon Kenntniß erhielt. Und so kam es, daß das ganze Stadthaus nach kaum zwei Jahren keinerlei Geheimnisse mehr für ihn hatte. Das Personal desselben kannte er bis zum letzten Lampenanzünder und die Schriftstücke bis zu den Rechnungen der Wäscherinen.

Für einen Mann wie Aristide Saccard bot Paris zu dieser Zeit ein überaus interessantes Schauspiel. Das Kaiserreich war eben erst proklamirt worden, nach jener famosen Reise, während welcher der Prinz-Präsident den von Erfolg begleiteten Versuch gemacht hatte, den Enthusiasmus einiger bonapartistischer Departements anzufachen. In der Kammer und in den Zeitungen herrschte Ruhe. Die wieder einmal gerettete Gesellschaft beglückwünschte sich, ruhete aus, überließ sich einem Freudentaumel, denn eine kräftige Regierung beschützte sie und enthob sie der Nothwendigkeit, selbst zu denken und ihre Angelegenheiten zu ordnen. Die einzige große Sorge der Gesellschaft bestand darin, auf welche Weise man die Zeit ergötzlich todtschlagen solle. Wie sich Eugen Rougon so treffend ausgedrückt hatte, setzte sich Paris zu Tische und trieb beim Nachtisch flotte Späße. Die Politik verbreitete Schrecken, gleich einer gefährlichen Arznei. Die erschöpften Geister wendeten sich den Geschäften und den Vergnügungen zu. Wer etwas besaß, holte sein Geld hervor und wer nichts besaß, suchte in den Ecken nach vergessenen Schätzen. Es gab in der großen Menge ein dumpfes Beben, ein zunehmendes Klingen der Hundertsousstücke, das silberne Lachen der Frauen, das noch undeutliche Geräusch von Küssen und Tafelgeschirr. In der tiefen Stille der Ordnung, in dem Frieden der neuen Regierung machten sich gar liebliche Töne vernehmbar, goldene und wollüstige Verheißungen. Es schien, als ginge man vor einem jener kleinen Häuser vorüber, deren sorgfältig herabgelassene Vorhänge blos weibliche Schatten sehen und das Klingen der Goldstücke auf der Kaminplatte vernehmen lassen. Das Kaiserreich war im Begriffe, Paris zu dem Freudenhause Europa's zu stempeln. Diese Handvoll Abenteurer, die soeben einen Thron gestohlen, bedurfte einer abenteuerlichen Regierung, anrüchiger Geschäfte, verkaufter Gewissen, feiler Frauen und einer allgemeinen Versumpftheit. Und in der Stadt, in welcher das Blut des Dezember noch kaum getrocknet war, gedieh, anfänglich noch schüchtern, jener Freudenrausch, welcher das Vaterland in die Reihe der entehrten und verlotterten Nationen schleudern sollte.

Schon seit den ersten Tagen fühlte Aristide Saccard diese Fluth der Spekulation herannahen, deren Schauer alsbald ganz Paris überschwemmen sollte. Mit gespannter Aufmerksamkeit verfolgte er die Fortschritte, die dieselbe machte. Er befand sich in der Mitte des warmen Goldregens, welcher auf die Dächer der Stadt niederfiel. Auf seinen unablässigen Streifzügen durch das Stadthaus hatte er den umfassenden Plan zur Erweiterung und Verschönerung von Paris aufgegriffen, den Plan der Demolirungen, neuen Straßenzüge und der improvisirten Stadtviertel, des ungeheuren Aufgeldes bei Häuser- und Baugründeverkäufen, jenes Planes, welcher an allen Enden und Ecken der Stadt die Kämpfe der Interessen und den übertriebensten Luxus entfesselte. Von da an war seiner Thätigkeit ein Ziel vorgesteckt; zu dieser Epoche kehrte er den guten Jungen hervor. Er setzte sogar etwas Wohlbeleibtheit an und rannte nicht mehr gleich einer mageren Katze, die einer Beute nachstellt, durch die Straßen. In seinem Bureau wurde er gesprächiger und zuvorkommender denn je. Sein Bruder, den er von Zeit zu Zeit besuchte, beglückwünschte ihn ob der Geschicklichkeit, mit welcher er seine Rathschläge ins Praktische übertrug. Als das Jahr 1854 zu Ende ging, vertraute ihm Saccard an, daß er mehrere Angelegenheiten in Aussicht habe, zur Ausführung derselben aber ziemlich bedeutende Vorschüsse benöthige.

»Man sucht sich dieselben zu verschaffen,« sagte Eugen.

»Du hast Recht, ich werde suchen,« erwiderte er ohne jeden Aerger, dem Anscheine nach sogar ohne zu bemerken, daß sich sein Bruder weigerte, ihm diese ersten Vorschüsse zu bewilligen.

Diese ersten Mittel waren es indessen, die ihm jetzt keine Ruhe ließen. Sein Plan war entworfen und reifte mit jedem Tage mehr. Doch vermochte er die ersten paar tausend Francs nicht zu finden, ohne daß sein Wille darum erlahmt wäre. Er blickte den Leuten jetzt nur mehr gereizt und nervös ins Auge, als hätte er in dem erstbesten Passanten auf der Straße Jemanden gewittert, der ihm die gewünschten Gelder vorstrecken würde. Daheim führte Angèle ihre bescheidene, glückliche Lebensweise weiter, während er auf eine günstige Gelegenheit lauerte und sein gutmüthiges Lachen immer unfreundlicher tönte, weil diese Gelegenheit zu lange auf sich warten ließ.

Aristide hatte eine Schwester in Paris. Sidonie Rougon hatte einen Advokatengehilfen in Plassans geheirathet, der sich dann mit ihr in der Rue Saint-Honoré zu Paris niederließ, um einen Handel mit Südfrüchten zu betreiben. Als ihr Bruder sie daselbst aufsuchte, war der Gatte verschwunden und der Laden längst aufgegeben. Sie bewohnte jetzt in der Rue du Faubourg-Poissonnière ein aus drei Räumen bestehendes Halbgeschoß, hatte aber auch den sich unter ihrer Wohnung befindlichen Laden im Erdgeschoß gemiethet, einen engen, geheimnißvollen Laden, in welchem sie einen Spitzenhandel zu betreiben vorgab. Thatsächlich konnte man in einem gläsernen Schaukasten kleine Stückchen verschiedener Spitzenarten auf vergoldeten Messingstäben aufgehängt sehen; das Innere des Raumes aber glich infolge seines glänzenden Wandgetäfels einem Vorzimmer und zeigte keine Spur irgend welcher Waare. Thür und Schaufenster waren mit leichten Vorhängen versehen, die einerseits jeden unberufenen Blick von der Straße abwehrten, andererseits dem Laden das verschwiegene und verschleierte Aussehen eines Warteraumes verliehen, welcher gleichsam die Vorhalle zu einem unbekannten Tempel bildete. Nur selten sah man bei Frau Sidonie eine Klientin vorsprechen und in den meisten Fällen war sogar der Thürdrücker abgenommen. Der Nachbarschaft erzählte sie, sie gehe selbst ihre Spitzen reichen Damen zum Kaufe anbieten. Des Ferneren behauptete sie, Laden und Wohnung im Halbgeschoß, welche durch eine in der Mauer verborgene Treppe mit einander verbunden waren, nur gemiethet zu haben, um Beides besser ausnützen zu können. Thatsächlich verweilte die Spitzenhändlerin stets auswärts und man sah sie wohl zehnmal im Tage mit geschäftiger Miene heimkehren und wieder fortgehen. Im Uebrigen beschränkte sie sich nicht auf den Spitzenhandel; sie verwerthete ihr Halbgeschoß, indem sie dort die verschiedensten Dinge feilbot. Sie hatte daselbst Kautschuckgegenstände, als Mäntel, Schuhe, Galoschen veräußert; dann sah man daselbst eine neue Pommade zur Beförderung des Haarwuchses, orthopädische Apparate, eine automatische Kaffeemaschine, eine patentirte Erfindung, deren Vertrieb ihr viele Mühe verursachte. Als ihr Bruder sie aufsuchte, beschäftigte sie sich mit dem Vermiethen von Klavieren, mit welchen ihre Wohnung ganz angefüllt war; ein Piano stand sogar in ihrem Schlafzimmer, ein recht kokett eingerichtetes Gemach, welches mit der in den übrigen Räumen herrschenden Unordnung sehr auffallend kontrastirte. Sie betrieb ihre zwei Geschäfte mit vollendeter Methode. Die Klienten, die der im Halbgeschoß befindlichen Waaren halber vorsprachen, kamen und gingen durch das Thor, welches das Haus in der Rue Papillon hatte; man mußte in das Geheimniß der kleinen Treppe eingeweiht sein, um die zweifachen Geschäfte der Spitzenverkäuferin zu kennen. Im Halbgeschoß nannte sie sich Frau Touche, so wie ihr Gatte geheißen, während sie über die Thür des Ladens blos ihren Vornamen gesetzt hatte, demzufolge sie zumeist nur Frau Sidonie hieß.

Frau Sidonie war fünfunddreißig Jahre alt; doch kleidete sie sich mit solcher Sorglosigkeit, hatte in ihrem ganzen Gebahren so wenig Frauenhaftes an sich, daß man sie für bedeutend älter gehalten hätte. In Wirklichkeit hatte sie gar kein Alter. Stets trug sie ein schwarzes Kleid, welches durch den Gebrauch weißlich und fadenscheinig geworden und an den in den Gerichtssälen abgenützten Habit eines Advokaten erinnerte. Sie trug einen schwarzen Hut, der ihr bis in die Stirne reichte und ihr Haar verbarg, plumpe Schuhe an den Füßen und so trottete sie durch die Straßen, mit einem kleinen Korb am Arme, dessen Henkel mit Bindfaden umwickelt war. Dieser Korb, den sie niemals von der Hand ließ, barg eine ganze Welt in seinem Inneren. Wenn sie denselben öffnete, kam eine Musterkarte aller möglichen Dinge zum Vorschein: Notizbücher, Brieftaschen, vor Allem aber ganze Bündel gestempelter Papiere, deren unleserliche Schrift sie mit besonderer Geläufigkeit entzifferte. Sie vereinigte Makler und Gerichtsvollzieher in ihrer Person und hatte stets Proteste und gerichtliche Vorladungen bei sich. Wenn sie für zehn Francs Pommade oder Spitzen untergebracht hatte, so erschmeichelte sie sich die Gunst ihrer Klientin und machte sich zu deren Sachwalterin, indem sie an deren Stelle mit den Advokaten, Gerichtspersonen und Gläubigern unterhandelte. So barg denn ihr kleines Körbchen Wochen lang ganze Prozesse, die sie mit sich schleppte, um deren Willen sie sich die denkbar größte Mühe gab, Paris von einem Ende zum anderen durchwanderte, stets mit ihren gleichmäßigen ruhigen Schritten, ohne sich jemals eines Wagens zu bedienen. Nur schwer hätte man zu sagen vermocht, welchen Nutzen sie aus einer derartigen Beschäftigung zog; vorerst ging sie derselben aus reiner Liebe zur Sache nach, aus Neigung für nicht ganz lautere Angelegenheiten, aus Geschmack an Chikanen. Dann aber warf ihr dieselbe eine Menge kleiner Vortheile ab: Diners, die ihr hier und dort angeboten wurden, Zwanzig-Sousstücke, die sich rechts und links erwerben ließen. Das Beste an der Sache waren aber die vertraulichen Mittheilungen, die ihr von allen Seiten gemacht wurden und die ihr zu manch' unverhofftem Vortheil verhalfen. Da sie sozusagen bei fremden Leuten lebte, stets in die Angelegenheiten Anderer eingeweiht war, so bildete sie ein lebendes Nachschlagebuch von Gesuchen und Angeboten. Sie wußte, wo es eine Tochter gäbe, die sofort verheirathet werden mußte, eine Familie, die dreitausend Francs benöthigte, einen alten Herrn, der die dreitausend Francs vorzustrecken bereit wäre, doch nur gegen sichere Bürgschaft und hohe Zinsen. Aber auch delikatere Dinge waren ihr bekannt; so der Kummer einer schönen blonden Dame, die von ihrem Gatten nicht verstanden wurde und die sich darnach sehnte, verstanden zu werden; die geheimen Wünsche einer guten Mutter, die ihre Tochter gerne vortheilhaft untergebracht sehen wollte; die Geschmacksrichtung eines reichen Barons, der eine Vorliebe für kleine Soupers und sehr junge Mädchen hatte. Mit einem matten Lächeln setzte Frau Sidonie diese Gesuche und Angebote in Verkehr, legte zwei Meilen zurück, um die Leute einander näherzubringen; sie schickte den reichen Baron zu der guten Mutter, veranlaßte den alten Herrn, der bedrängten Familie die dreitausend Francs vorzustrecken, fand einen Tröster für die blonde Dame und einen wenig skrupulösen Gatten für die heirathsbedürftige Tochter. Dann aber hatte sie auch große Angelegenheiten, die sie offen eingestand und mit welchen sie den Leuten den Kopf voll schwatzte, wenn ihr dies von Vortheil schien: einen langwierigen Prozeß, mit welchem eine zu Grunde gerichtete vornehme Familie sie betraut hatte und eine Schuld, welche England noch aus den Zeiten der Stuarts an Frankreich zu entrichten hatte und die sich die aufgelaufenen Zinsen mitinbegriffen, auf drei Milliarden belief. Diese Schuld von drei Milliarden bildete ihr Steckenpferd; sie erläuterte die Sache mit einer Fülle von Einzelheiten, wobei sie einen ganzen Lehrgang der Geschichte vortrug und die Röthe der Begeisterung färbte dann ihre sonst wachsbleichen Wangen. Auf dem Gange zum Gerichtsvollzieher oder zu einer Freundin verkaufte sie zuweilen einen Kautschuckmantel, eine Kaffeemaschine, brachte sie ein Stück Spitze unter oder sie vermiethete ein Piano. Dies aber bildete ihre geringsten Sorgen. Darauf eilte sie rasch in ihre Niederlassung zurück, da eine Klientin versprochen, sich dort wegen Besichtigung eines Stückes Seidenspitze einzufinden. Die Klientin langte tatsächlich an und glitt wie ein Schatten in den schweigsamen, verhängten Laden. Und es war nichts Seltenes, daß zur selben Zeit ein Herr durch das Thor der Rue Papillon eintrat, um im Halbgeschoß die Klaviere der Frau Touche zu besichtigen.

Wenn sich Frau Sidonie kein Vermögen erwarb, so lag der Grund darin, daß sie häufig aus reiner Liebe zur Kunst arbeitete. Sie war eine Freundin der Prozesse, vergaß an die eigenen Angelegenheiten für die anderer Leute und ließ sich von den Gerichtsvollziehern aussaugen, was ihr übrigens einen förmlichen Genuß bereitete, den nur solche Leute zu würdigen wissen, die selbst Prozesse zu führen gewohnt sind. Von der Frau war in ihr keine Spur mehr vorhanden; sie war nichts weiter mehr als ein Geschäftsvermittler, eine Maklerin, die man zu jeder Tageszeit auf der Straße antreffen konnte und die in ihrem aller Welt bekannten Korbe die zweideutigste Waare mit sich führte, Alles kaufte und verkaufte, von Milliarden träumte und für eine begünstigte Klientin beim Friedensrichter um einen Nachlaß von zehn Francs bettelte. Klein, mager, blaß, in ihrem ewigen schwarzen Kleide steckend, war sie gänzlich zusammengeschrumpft und wenn man sie längs der Häuser dahineilen sah, hätte man sie für einen als Mädchen verkleideten Laufburschen angesehen. Ihr Gesicht hatte die fahle Farbe des gestempelten Papiers angenommen. Um ihre Lippen spielte ein mattes Lächeln, während ihre Augen in dem Gewirr der Geschäfte und Unterhandlungen aller Art verloren schienen, von welchen sie in Anspruch genommen war. Von bescheidenem, schüchternem Benehmen, roch sie nach dem Beichtstuhle und der Hebammenstube zugleich; sie gab sich sanft und mütterlich wie eine Nonne, die auf alle irdischen Neigungen Verzicht geleistet hat, doch Mitleid für die Leiden des Herzens empfindet. Sie sprach niemals von ihrem Gatten, so wenig wie von ihrer Kindheit, ihrer Familie, ihren Interessen. Einen Gegenstand gab es indessen, den sie nicht verkaufte und das war sie selbst; nicht etwa, als hätte sie sich darob Skrupel gemacht, sondern weil ihr der Gedanke an einen solchen Handel gar nicht kommen konnte. Sie war trocken wie eine Advokatenrechnung, kalt wie ein Wechselprotest, gleichmüthig und brutal wie ein Gerichtsdiener.

Saccard, der frisch aus seiner Provinz angelangt war, vermochte sich für's Erste nicht in die unergründlichen Tiefen der zahlreichen Geschäfte seiner Schwester zu versenken. Da er ehemals während der Dauer eines Jahres seinen Rechtsstudien obgelegen, sprach sie mit ihm eines Tages über die bewußten drei Milliarden, was ihm einen recht armseligen Begriff von ihrer Intelligenz gab. Sie fand sich eines Tages in dem bescheidenen Heim der Rue Saint-Jacques ein, schätzte Angèle mit einem Blick ab und ließ sich erst wieder sehen, wenn ihre Geschäfte sie nach dem Viertel führten oder sie das Bedürfniß empfand, ihre drei Milliarden zur Sprache zu bringen. Angèle glaubte an die englische Staatsschuld; die Maklerin bestieg ihr Steckenpferd und ließ es während einer Stunde lustig Kapriolen schlagen, daß das Gold von allen Seiten herbeizuströmen begann. Dies war sozusagen der Riß in diesem starken Geiste, der süße Wahn, mit welchem sie ihr Leben verschönte, das sie in schmählichem Handeln verbrachte, der magische Köder, an welchem sie sich sammt den leichtgläubigen Personen ihres Kundenkreises berauschte. Da sie überdies an ihrer Ueberzeugung festhielt, sprach sie über diese drei Milliarden schließlich wie über ihr persönliches Vermögen, welches ihr die Richter früher oder später dennoch zuurtheilen müßten und diese Zuversicht umgab ihren armseligen schwarzen Hut, auf welchem einige abgeblaßte Veilchen saßen, deren Stengel bereits den dünnen Messingdraht sehen ließ, mit einem wundersamen Glorienschein. Angèle riß die Augen weit auf. Wiederholt sprach sie ihrem Gatten gegenüber in Ausdrücken tiefer Verehrung über ihre Schwägerin, wobei sie behauptete, Frau Sidonie würde sie Alle vielleicht eines Tages reich machen. Saccard zuckte die Achseln; er hatte das Halbgeschoß und den Laden in der Rue Faubourg-Poissonnière besichtigt und daselbst blos die Anzeichen eines bevorstehenden Bankerotts wahrgenommen. Er wollte die Meinung Eugens über ihre Schwester erfahren; Der aber nahm eine ernste Miene an und beschränkte sich zu erwidern, daß er sie niemals sehe, aber wisse, daß sie sehr verständig sei, allerdings vielleicht auch ein wenig kompromittirend. Als aber Saccard einige Zeit nachher abermals in der Rue de Penthièvre vorsprach, glaubte er das schwarze Kleid der Frau Sidonie von seinem Bruder herauskommen und längs der Häuser dahineilen zu sehen. Er trat eilig näher, konnte das schwarze Kleid indessen nicht wiederfinden. Die Maklerin hatte eine jener schmiegsamen Gestalten, die unter der Menge verschwinden. Dieser Zwischenfall stimmte ihn nachdenklich und von da an widmete er seiner Schwester mehr Aufmerksamkeit. Bald hatte er auch herausgefunden, welche Arbeitslast auf diesem unscheinbaren, bleichen Geschöpfe ruhe, dessen Antlitz gar so nichtssagend dreinblickt. Er begann Achtung für sie zu empfinden. In ihren Adern floß das Blut der Familie Rougon. Er erkannte den Gelddurst, das Bedürfniß nach Ränken, welches bei seiner ganzen Familie charakteristisch war; nur war bei ihr das gemeinsame Temperament, dank der Umgebung, in welcher sie alt geworden, dank diesem Paris, in welchem sie sich des Morgens das harte Brod für den Abend erwerben mußte, in einer Weise entartet, daß dieser merkwürdige Hermaphroditismus des geschlechtlosen Weibes zum Vorschein kam, das Geschäftsmann und Kupplerin zugleich war.