Was bisher geschah

Der 17jährige Thorsten stößt gemeinsam mit seiner 16jährigen Cousine Kristin, genannt Krissi, und deren Freundin Karina, genannt Nietzi, in einem alten Gewölbe auf die Hinterlassenschaften der Zauberin Ledja. Ledja soll in einem unbekannten Land namens Ghandoya nicht nur einen unermesslichen Schatz versteckt haben, sondern auch das geheimnisvolle Buch von Godorrha, ein Buch, dessen Besitz unvorstellbare Macht bedeutet. Mit Hilfe des Zauber-Amuletts GRORR reisen die drei Jugendlichen nach Ghandoya, einer Welt, wie sie fremdartiger nicht sein kann. Sie treffen auf fremde, friedliche Wesen, sie sich Aguhl Bas nennen.

Schließlich führt sie der Weg zu dem Volk der Katas. Die Katas nehmen die drei gastfreundlich in ihrem Dorf auf. Gemeinsam mit dem jungen Kata Muino machen sich die drei auf den Weg zu den Lochbergen, der Ort, an dem der Schatz verborgen ist.

Unterwegs waren sie auf spinnenartige Kreaturen gestoßen, die sie fressen wollten. Diesen Kreaturen konnten die vier nur knapp entkommen. Auch vor einem riesigen Flugsaurier brachten sie sich in letzter Sekunde in Sicherheit. Sie fanden in einer großen Höhle Zuflucht, vor deren Eingang der Saurier nun auf sie lauert.

Suchend blickten sie sich um.

„Da.“ Kristins Stimme klang aufgeregt. Sie wies auf die gegenüberliegende Wand der fast kreisförmigen Felsenhalle.

„Da ist ein Durchgang.“

Der Durchgang, den Kristin meinte, war eindeutig nicht von der Natur geschaffen worden. Er sah aus, wie der Durchgang in eine andere Welt. Ein reichlich verschnörkelter Rundbogen krönte die etwa ein Meter breite und zwei Meter hohe Öffnung.

Zu beiden Seiten waren Säulen angedeutet, die über und über mit drachenähnlichen Wesen verziert waren. Das geheimnisvolle Tor führte in einen weiteren Gang hinein.

„Wir sind wirklich auf dem richtigen Weg“, sagte Karina und begab sich zu dem torartigen Durchgang.

Die anderen drei folgten ihr.

„Ich bin gespannt, wohin uns dieser neue Gang führen wird“, meinte Karina und machte den ersten Schritt durch den verzierten Torbogen.

„Halt“, sagte Muino plötzlich. „Nicht hinein gehen.“

Karina hielt im Schritt inne.

„Was ist denn los, Muino?“, fragte sie und trat wieder einen Schritt zurück.

Der junge Kata starrte wie gebannt auf die Verzierungen des Rundbogens.

„Wir dürfen da nicht reingehen.“

Thorsten trat neben Muino und blickte sich ebenfalls die Verzierungen über dem Durchgang an. „Warum denn nicht? Ich kann nichts Gefährliches erkennen.“

Muino machte einen Schritt zurück. „Ich habe euch doch von der alten Geschichte über Mola, dem Wasserungeheuer erzählt, eine Geschichte, die ich eigentlich für ein Märchen gehalten hatte. Doch Mola ist uns begegnet und es steht fest, dass es doch kein Märchen war. Ich erzählte euch auch von Barhisi Barhesa, dem geheimnisvollen Ort, den Mola bewacht.“

Der Kata deutete auf die Verzierung, die sich genau in der Mitte über dem Torbogen befand. Es war ein Kopf mit drei Gesichtern. Ein Gesicht blickte nach links, eines nach rechts und eines nach vorne. Oben auf dem Haupt wuchs eine kunstvoll herausgearbeitete Pflanze, die in der Kopfhaut verwurzelt schien. „Das hier“, sprach Muino weiter, „ist der Eingang von Barhisi Barhesa.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte Karina.

„In den alten Märchen heißt es, dass über dem Eingang von Barhisi Barhesa ein Kopf mit drei Gesichtern prangt, ein Kopf, auf dem Bigokraut wächst.“

„Was ist denn Bigokraut?“

„Es ist eine sehr giftige Pflanze, die überall in den Wäldern wächst.“

„Was bedeutet Barhisi Barhesa in eurer Sprache?“, wollte Kristin wissen. „Du hast es uns zwar schon erzählt, Muino, aber ich hab es schon wieder vergessen.“

„Es bedeutet, wer hinein geht, kommt nie mehr hinaus.“

Ehrfurcht lag in Muinos Stimme.

Als Muino das gesagt hatte, hörte man Karina laut schlucken.

„Ich geh da nicht rein“, sagte sie. „Wir müssen einen anderen Weg suchen.“

Thorsten holte tief Luft. „Sieh dich um, Karina. Erkennst du hier einen anderen Weg? Entweder gehen wir zu der schrecklichen Bestie, die vor dem Felsspalt auf uns lauert, zurück oder wir folgen diesem Gang. Wir haben eigentlich keine andere Wahl, als diesen Gang zu benutzen.“

„Ich geh dort nicht hinein“, wiederholte Karina.

„Aber Nietzi, diese Geschichte von Barhisi Barhesa ist doch nur ein Märchen“, versuchte Thorsten sie umzustimmen.

„Dieses Wasserungeheuer Mola war doch auch nur ein Märchen, ein Märchen, welches uns beinahe das Leben gekostet hätte.“

Karina blickte auf den unheimlich anmutenden Kopf mit den drei Gesichtern. In diesem Moment überkam sie das Gefühl, von diesem bedrohlich wirkendem Gebilde angestarrt zu werden.

„Wer hinein geht, kommt nie mehr hinaus“, kam es leise aus ihrem Mund.

„Wir werden dorthinein gehen müssen“, sagte Muino mit einem Mal.

Die anderen blickten ihn verwundert an.

„Warum hast du deine Meinung so schnell geändert?“, wunderte sich Kristin. „Gerade eben hast du doch noch gesagt, dass wir dort nicht hinein gehen sollen.“

„Weil Bolle Recht hat. Wir haben gar keine andere Wahl.“

„Und du weißt nicht, was Barhisi Barhesa sein könnte?“, fragte Kristin.

Muino schüttelte den Kopf. „Nein. In den alten Geschichten heißt es nur, dass es ein geheimnisvoller Ort ist.“

Ohne etwas zu sagen, machte Thorsten ein paar Schritte in den Gang. „Seht euch das an.“

Neugierig geworden folgten die anderen ihm. Sie erkannten sofort, was Thorsten meinte. Der etwa einen Meter breite Gang führte schnurgerade weiter. Die Wände waren glatt geschliffen und wirkten wie poliert. Es fiel Licht in den Gang, denn er war über seine gesamte Breite nach oben hin offen.

Die vier blickten staunend zur Öffnung hinauf.

„Das sind mindestens fünfzehn Meter bis da oben“, stellte Thorsten fest. „Da wir keine Möglichkeit haben, dort rauf zu kommen, haben wir keine andere Wahl, als diesem Gang zu folgen.“

„Na ja“, sagte Karina. „Da ich nichts sehe, was für uns gefährlich sein kann, werd ich mitgehen.“

Plötzlich ertönte das laute Gekreische des Flugsauriers.

Die vier zuckten erschrocken zusammen.

Ihre Blicke gingen spontan nach oben, doch es war nichts zu sehen.

„Das scheußliche Biest sitzt bestimmt noch vor dem Eingang und wartet darauf, dass wir wieder rauskommen“, meinte Kristin. „Und selbst, wenn es über uns fliegen und uns entdecken würde, hier sind wir sicher. Es hat keine Chance, uns hier unten zu schnappen. So lang ist sein Schnabel nicht.“

Kristin verzog mit einem Mal ihr Gesicht.

„Wenn ich an diesen ekelig stinkenden Schnabel denke, dann wird mir gleich wieder schlecht.“

Nun schritten sie vorsichtig los. Sie wirkten sehr angespannt.

Ihre Blicke richteten sich wachsam nach vorne. Thorsten führte die Gruppe an. Ihm folgten Kristin und Karina. Muino war der letzte in der Gruppe.

Nach ungefähr einhundert Meter Fußmarsch sah es so aus, als sei der Gang vor ihnen nach oben hin nicht mehr geöffnet. Sie gingen weiter und stellten bald fest, dass sie sich getäuscht hatten. Der Gang endete in einem kreisrunden, etwa zehn Meter durchmessenden Raum. Von diesem Raum aus verliefen sternförmig sechs weitere Gänge in alle Richtungen. Diese Gänge waren wieder nach oben hin offen.

Sie verließen den Gang und betraten das runde Gewölbe.

Kristin atmete tief durch. „Und nun? Welchen Gang sollen wir jetzt nehmen?“ Sie wirkte sehr unentschlossen.

„Da wir möglichst weit von diesem Untier weg wollen“, meinte Thorsten, „würde ich sagen, wir nehmen einen dieser Gänge.“

Er deutet nach vorne.

„Und welchen?“, fragte Kristin.

Keiner sagte etwas. Scheinbar wollte niemand die Verantwortung übernehmen.

Schließlich war es Karina, die Initiative ergriff. Sie ging auf einen der gegenüberliegenden Gänge zu und machte ein paar Schritte hinein. Dann wandte sie sich zu den anderen herum.

Muino, Thorsten und Kristin wirkten immer noch unsicher.

„Wollt ihr da Wurzeln schlagen?“

Kristin wunderte sich über ihre Freundin. Vor ein paar Minuten hatte sie noch große Angst und wollte nicht einmal den Durchgang mit dem Rundbogen betreten und jetzt war sie fest entschlossen, weiter zu gehen.

„Sag mal, Nietzi“, meinte Kristin, „warum willst du ausgerechnet diesen Weg gehen?“

Karina zuckte mit den Schultern. „Wenn jemand von euch einen besseren Vorschlag hat, dann sagt es.“

Natürlich hatte niemand einen besseren Vorschlag, denn eigentlich war es ganz egal, welchen der Gänge, von denen einer aussah wie der andere, sie folgten. Schließlich wusste keiner von ihnen, wohin diese Wege führen.

„Na dann“, sagte Thorsten und folgte Karina in den Gang.

Kristin und Muino taten es ihm nach.

Zu ihrem Erstaunen erreichten sie bald einen weiteren, runden Raum, von dem wiederum sternförmig sechs neue Wege ausgingen. Dieser Raum glich dem, aus dem sie gerade gekommen waren.

Dieses Mal überlegten die vier nicht lange, sondern folgten dem Gang, von dem sie glaubten, dass er ungefähr in die gleiche Richtung führte wie der Weg, aus dem sie kamen. Wiederum war es Karina, die Entschlossenheit zeigte und voranging.

Sie wunderten sich nicht, als sie nach ungefähr hundert weiteren Metern auf den nächsten runden Raum stießen, von dem wiederum sechs Gänge weiterführten.

„Ich würd gerne wissen, welchen Zweck all diese Gänge haben“, sagte Thorsten.

„Mich interessiert nur, wie wir hier wieder rauskommen“, meinte Kristin. „Aber wenn wir immer die gleiche Richtung einhalten, dann müssen wir ja zwangsläufig irgendwo einen Ausgang finden.“

Sie betraten den nächsten Gang, der ihrer Meinung nach in die bisher eingeschlagene Richtung verlief.

Bereits nach kurzer Zeit meinte Karina: „Ich erkenne vor uns schon den nächsten runden Raum.“

„Wie sollte es auch anders sein“, murmelte Thorsten.

Doch der nächste Raum war anders, als die anderen. Er war zwar genauso groß und genauso rund, doch es gab keinen weiteren Gang, dem man hätte folgen können.

„Es ist eine Sackgasse“, stellte Thorsten fest.

Kristin blickte sich um. „Ich vermute, dass die Erbauer dieser Anlage auch hier noch weitere Gänge in den Fels schlagen wollten. Aus irgendeinem Grund haben sie ihr Werk aber nicht vollendet.“

„Das wäre natürlich möglich“, sagte Thorsten.

Da die vier keine andere Wahl hatten, gingen sie sich wieder zurück. Als sie den Raum betraten, aus dem sie gekommen waren, wirkte Thorsten mit einem Mal unsicher. Er deutete auf die Stollen vor ihnen. „Wisst ihr noch, aus welchem dieser Gänge wir vorhin gekommen sind?“

Sie wussten, dass es einer der beiden gegenüberliegenden Gänge sein musste, aber welcher es genau war, das wussten sie nicht. Die Stollen sahen alle gleich aus.

„Es ist doch ganz egal“, sagte Karina. „Wir können sowieso nicht zurück, denn dort wartet diese hungrige Bestie auf uns.

Lasst uns den nächsten Gang ausprobieren.“

Ohne zu zögern nahm sie den nächsten Weg zu ihrer Linken. Die anderen folgten ihr.

Sie stießen schließlich auf den nächsten runden Raum. Hier gab es wieder überall Gänge, die weiterführten. Um die Richtung nicht zu verlieren, entschieden sie sich auch hier für einen der gegenüberliegenden Gänge. Ihr weiterer Weg verlief nun immer nach dem gleichen Schema, sie durchquerten den nächsten runden Raum und nahmen von den sechs möglichen Wegen immer einen der gegenüberliegenden.

Nachdem sie mittlerweile fünf weitere runde Räume durchquert hatten, erwies sich der von ihnen gewählte Weg erneut als Sackgasse. Die vier marschierten zurück und versuchten es mit einem anderen Gang.

„Das darf doch nicht wahr sein“, schimpfte Thorsten, als sie feststellen mussten, dass der erreichte Raum ebenfalls eine Sackgasse war.

„Seht doch mal, was da liegt“, sagte Kristin und deutete nach rechts.

Das, was Kristin entdeckt hatte, war ein Skelett, das Skelett irgendeines Tieres.

„Was für ein Tier wird das gewesen sein?“, fragte Thorsten und trat an die Knochen heran.

Karina trat neben ihn. „So, wie es aussieht, könnte es eine Art Eidechse gewesen sein.“

„Dann war es aber eine sehr große Eidechse“, meinte Thorsten.

„Dieses Skelett ist mindestens drei Meter lang sein.“

Thorsten begab sich zu der Stelle, an der sich der Schädel des Tieres befand. „Das war keine Eidechse.“ Er bückte sich und hob den etwa fünfzig Zentimeter langen Schädel auf. „Seht euch diese Zähne an. Dieses Tier muss richtig gefährlich gewesen sein.“

Alle Blicke waren nun auf den knöchernen Kopf gerichtet, den Thorsten in den Händen hielt. Die Zähne daran waren Furcht einflößend. Die größten, der etwas nach innen gebogenen Zähne, maßen gute fünf Zentimeter. Sie waren alle messerscharf und spitz, wie eine Nadel.

„Vielleicht sind es die Überreste eines Dinosauriers“, mutmaßte Thorsten. „Es ist durchaus möglich, dass hier in Ghandoya noch Tiere dieser Art leben.“

„Das glaub ich nicht“, meinte Karina. „Die Dinos sind schon lange ausgestorben.“

Thorsten blickte sie an. „Und was ist mit diesem riesigen Flugsaurier? Diese schreckliche Bestie war bestimmt keine Fata Morgana“, Thorsten hielt demonstrativ den Schädel hoch.

„Warum sollten dann nicht auch solche Tiere hier existieren?“

„So einem Vieh möchte ich nicht im lebendigen Zustand begegnen“, meinte Kristin.

„Ich auch nicht“, stimmte Karina ihr zu.

„Wir können nur hoffen“, sagte Muino, „dass es hier in diesen Gängen keine lebenden Tiere dieser Art gibt.“

„Daran hab ich gar nicht gedacht“, kam es ängstlich aus Karinas Mund.

Sie schluckte. Dann drehte sie sich um und blickte in den Stollen zurück, aus dem sie gekommen waren. „Wenn so ein Tier jetzt durch diesen Gang kommen würde, dann wären wir verloren.“

Thorsten wusste nicht warum, aber ihm war in diesem Moment danach, Karina zu erschrecken. Er hob den Schädel hoch und hielt ihn hinter Karinas Kopf. Dann zog er den Unterkieferknochen nach unten, so, dass das mit den scharfen Zähnen bewaffnete Maul weit offen stand.

„Nietzi, dreh dich mal um.“

Als Karina sich umwandte, ertönte Thorstens lautes „Buuuh!“ Sie blickte auf die grauenhaft wirkenden Zähne des Tieres, die sich nun unmittelbar vor ihrem Gesicht befanden.

Karina zuckte zusammen und schrie erschrocken auf. Dann schlug sie Thorsten im Affekt den Schädel aus der Hand. Dieser krachte auf den Boden und zersplitterte in viele Teile.

„Du Blödmann!“, schrie sie Thorsten an. „Du hast wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank!“

Thorsten lachte, doch Karina fand diesen Scherz überhaupt nicht komisch.

„Lass dir nie mehr so etwas einfallen“, fauchte sie Thorsten an.

Kristin trat an ihre beste Freundin heran. „Beruhige dich wieder, Nietzi. Jungen sind halt manchmal etwas blöd. Wahrscheinlich können sie nicht mal etwas dafür.“

Thorsten überkam nun ein schlechtes Gewissen. Er trat nun auch an Karina heran und legte seine Hand auf ihre Schulter.

„Entschuldige, Nietzi. Ich konnte nicht ahnen, dass ich dir damit so einen Schrecken einjagen würde.“

„Was hast du denn gedacht? Hast du etwa geglaubt, dass ich so abgebrüht bin und mich von so einem grässlichen Maul nicht beeindrucken lasse? Das sollte mal jemand bei dir machen.

Dann würde ich gerne dein blödes Gesicht sehen.“

„Entschuldige, Nietzi“, wiederholte Thorsten. „Ich weiß wirklich nicht, was mich da geritten hat.“

„Dann sieh bloß zu, dass dich nicht noch mal etwas reitet. Dann wirst du nämlich dein blaues Wunder erleben.“

Sie blickte nach unten auf den zerschmetterten Schädel. Die scharfen Zähne lagen überall auf dem Boden verteilt herum.

Muino hatte die ganze Zeit über geschwiegen. „Hört doch mit der Streiterei auf“, sagte er schließlich. „Streit ist nichts Gutes.“

Karina blickte ihn an. Dann lächelte sie. „Du hast Recht, Muino. Lasst uns diese Sache vergessen und weitergehen.“

Sie begaben sich zurück und wählten wiederum den nächsten Gang zu ihrer Linken. Dieser Gang führte sie wieder in einen Raum mit Abzweigungen.

Es dauerte nicht lange, und die vier hatten endgültig die Orientierung verloren. Mal stießen sie auf Wege, die weiterführten und dann wiederum fanden sie nur Sackgassen vor. In einem der Räume erwiesen sich sogar fünf der Gänge als Sackgassen.

„Hat von euch jemand noch eine Ahnung, in welche Richtung wir eigentlich müssen?“, fragte Karina.

Als Antwort erhielt sie nur Kopfschütteln.

„Wir haben uns verlaufen“, stellte Thorsten fest. „Wir befinden uns scheinbar in einem riesigen Labyrinth.“

„Barhisi Barhesa“, murmelte Muino. „Wer hinein geht, kommt nie mehr hinaus.“

„Genauso, wie dieses Tier, von dem wir das Skelett gefunden haben“, meinte Kristin.

„Hoffentlich werden nicht auch unsere Skelette einmal hier herumliegen“, sagte Karina.

Ziellos führte sie der Weg weiter. Sie wussten nicht mehr, wie viel runde Räume, Sackgassen und Gänge sie bereits durchquert hatten, als sie nach langer Zeit erneut in einer Sachgasse landeten.

„Seht euch das an“, sagte Karina und deutete auf den Boden.

Vor ihnen lag wieder ein Skelett. Es war dasselbe Skelett, vor dem sie schon einmal gestanden hatten. Sie erblickten auch den Schädel, der zersplittert auf dem Boden lag.

„Wir sind im Kreis gelaufen“, stellte Thorsten fest.

Ungläubig schüttelte Kristin den Kopf.

„Wir werden in diesem Labyrinth umkommen“, sagte sie leise.

Kristin begann zu weinen.

Karina nahm sie in den Arm und drückte sie an sich.

„Wir werden es schon schaffen“, versuchte sie, ihre Freundin zu trösten.

Thorsten schaute nach oben. Dort fiel über die gesamte Größe des Raumes das Tageslicht ein, dort war die rettende Außenwelt, so nah und doch so unerreichbar fern. Sein Blick ging wieder auf das Skelett. Dieses Tier muss in der gleichen Lage gewesen sein, wie sie. Es hatte den Ausgang nicht gefunden und war in diesem Labyrinth verhungert. Dann kam Thorsten aber der Gedanke, dass dieses Tier auch oben auf den Felsen gelebt haben könnte und von dort aus in die Tiefe gestürzt war. Bei diesem Sturz könnte es sich das Genick gebrochen haben.

„Ich hab `s“, sagte er plötzlich. „Ich weiß, wie wir einen Weg finden können.“

Die anderen blickten ihn erstaunt an.

„Und wie?“, wollte Karina wissen.

„Wir machen es, wie Hänsel und Gretel.“

Karina hob ihre Augenbrauen. „Schön“, sagte sie sarkastisch.

„Ich hoffe, du hast auch genug Brotkrümel dabei.“

Muino verstand nicht, wovon Thorsten und Karina sprachen.

„Was ist denn Hänsel und Gretel?“, wollte er wissen. „Und warum soll man Brotkrümel dabei haben?“

„Das ist ein Märchen aus unserer Welt“, erklärte Thorsten.

„Zwei Kinder sind durch einen dichten Wald gelaufen und haben ihren Weg mit Brotkrümel bestreut.“

„Und warum haben sie das getan?“

„Damit sie sich nicht verlaufen und ihren Rückweg finden konnten.“

„Nur leider“, warf Karina ein, „haben sie sich doch verlaufen, weil die Vögel alle Brotkrümel aufgefressen hatten.“

„Jetzt hört mir doch bitte mal zu“, sagte Thorsten. „Wenn wir es so machen, wie ich es mir vorstelle, dann finden wir auf jeden Fall hier raus. Zumindest finden wir den Durchgang, durch den wir dieses Labyrinth betreten haben.“

„Und was genau hast du vor?“ Karina stellte diese Frage mit einem Unterton, aus dem man schließen konnte, dass sie immer noch etwas sauer auf Thorsten war. Sie hatte die Aktion mit dem Schädel noch nicht vergessen.

Dann erklärte Thorsten seinen Plan: „Wir werden Knochen von diesem Tierskelett nehmen und in kleine Stücke brechen. Dann stecken wir uns so viel dieser Knochenstücke in die Taschen, wie wir hineinbekommen. Sicherheitshalber nimmt jeder zusätzlich noch zwei Hände voll Knochenstücke mit. Die Knochen legen wir in die runden Räume, und zwar in die Stollenausgänge, aus denen wir kommen und in die Stolleneingänge, in die wir wieder hineingehen. Auf diese Weise können wir ausschließen, einen Weg zweimal zu benutzen. So werden wir zwangsläufig einen Ausgang finden.“

„Das ist eine sehr gute Idee“, sagte Muino.

„So viel Grips hätte ich dir gar nicht zugetraut“, meinte Karina zu Thorsten. „Allerdings wird dein Plan so nicht funktionieren.“

„Und wieso nicht?“, wollte Thorsten wissen.

„Weil wir nur die Gänge, die wir betreten, mit Knochenstückchen markieren dürfen. Stollen, aus denen wir hinauskommen, dürfen wir nicht markieren.“

„Und warum nicht?“

„Weil das unlogisch ist. Wenn wir einen dieser runden Räume verlassen, hinterlassen wir mit diesem Raum noch weitere sechs unerforschte Stollen. Markieren wir also den nächsten Ausgang, dann fehlen uns diese sechs Gänge, weil wir einen Stollen, in dessen Eingang ein Knochenstückchen liegt, nicht mehr betreten werden.“

Thorsten nickte. „Hört sich kompliziert an, aber du hast Recht. Daran hab ich gar nicht gedacht.“

„Siehst du“, meinte Karina. „Trotzdem ist deine Idee gut. Ich wüsste allerdings, wie man diese Idee noch verbessern könnte.“

„Verbessern?“

„Ja.“

„Und wie?“

„Indem wir die Wege, die sich als Sackgassen entpuppen, mit zwei Knochenstücke kennzeichnen. Auf diese Weise wissen wir, welche Wege wir auf keinen Fall mehr benutzen brauchen.“

„Das ist ebenfalls eine gute Idee“, sagte Muino.

Die vier nahmen nun so viel Knochenstücke mit, wie sie tragen konnten. Dann zogen sie los.

„Es wird allerhöchste Zeit, dass wir hier rauskommen“, meinte Thorsten. „Ich bekomme nämlich langsam Hunger.“

Karina schüttelte den Kopf. „Wie kann man jetzt nur ans Essen denken.“

Wie geplant, legten sie nun überall Knochenstücke aus. Nach einiger Zeit durchquerten sie immer häufiger runde Räume, in denen nur noch ein Gang ohne Knochenmarkierung war.

Sie wussten nicht, wie lange sie schon durch das Labyrinth geirrt waren, als sie erneut einen Raum betraten, in dem es nur noch einen einzigen unerkundeten Gang gab, ein Gang, der sich aber auch als Sackgasse erwies. Dieser Stollen war allerdings anders, als die anderen. Das Ende des Ganges war oben geschlossen. Es fiel kein Tageslicht mehr hinein. Der runde Raum, in dem der Weg endete, lag im Halbdunklen.

„Das war es dann wohl“, sagte Thorsten resigniert.

Karina blickte ihn an. „Anscheinend war dein Plan mit den Knochenstückchen doch nicht so gut. Deine Hänsel und Gretel Taktik ist nicht aufgegangen.“

Thorsten schüttelte den Kopf. „Ich versteh das einfach nicht.“

„Ich versteh das auch nicht“, meinte Kristin. „Normalerweise hätten wir wenigstens den Raum wieder finden müssen, in dem diese Hände an den Wänden waren.“

„Barhisi Barhesa“, murmelte Muino.

„Barhisi Barhesa“, wiederholte Karina höhnisch. „Wer hinein geht, kommt nie mehr hinaus. Ich kann es nicht mehr hören.

Sollen wir jetzt etwa hier sitzen bleiben und warten, bis uns der Hungertod dahinrafft?“ Bitterkeit und Verzweiflung lag in ihrer Stimme. „Das Tierskelett lag genau in so einem Raum, in dem wir jetzt stehen und genau in diesem Raum werden auch unsere Skelette bald liegen.“

„Wir geben nicht auf.“ Thorsten klang entschlossen. „Irgendwo muss es noch Gänge geben, die wir nicht erkundet haben. Also, lasst uns jetzt zurückgehen und diese Gänge suchen.“

Sie wandten sich um, und wollten den Raum gerade verlassen, als Karina ein lautes „Halt!“ von sich gab.

„Seht doch“, sagte sie. „Da ist noch ein Durchgang.“

Jetzt sahen es alle. Das wenige Licht, welches in den runden Raum einfiel, leuchtete nur den vorderen Bereich etwas aus.

Deshalb hatten sie den Durchgang, der im Schatten verborgen lag, nicht sofort erkannt.

„Das muss der Ausgang sein.“ Euphorie schwang in Karinas Stimme mit.

„Das glaub ich auch“, sagte Thorsten. „Die Erbauer dieses Labyrinths haben extra dafür gesorgt, dass nur wenig Licht in diesen Raum fällt. Jeder, der durch den Gang kommt sieht, dass es eine vermeintliche Sackgasse ist. Normalerweise geht man dann wieder zurück. Diesen Ausgang kann man nur erkennen, wenn man den Raum betritt, und selbst dann ist der Durchgang kaum auszumachen.“

„Hoffentlich ist es auch der Ausgang“, meinte Kristin skeptisch.

„Was soll es denn sonst sein?“, wunderte sich Karina über die pessimistische Aussage ihrer Freundin.

Kristin zuckte mit den Schultern. „Vielleicht der Durchgang zum nächsten Labyrinth?“

„Mal den Teufel nicht an die Wand.“

Der neu entdeckte Gang war stockfinster. Die vier tasteten sich vorsichtig hinein.

„Man sieht die Hand vor Augen nicht“, sagte Kristin.

„Wir werden hintereinander gehen“, meinte Thorsten. „Ich gehe vor und ihr folgt mir. Dabei legt jeder eine Hand auf die Schulter des Vordermannes. Das ist das Sicherste. So können wir uns nicht verlieren.“

Genau so, wie Thorsten es vorgeschlagen hatte, gingen sie weiter. Thorsten tastete sich vorsichtig mit kleinen Schritten und weit nach vorne ausgestreckten Armen durch die absolute Finsternis, die sie nun umgab.

„Stopp“, sagte er plötzlich. „Hier ist eine Stufe.“

Diese Stufe erwies sich als der Beginn einer steinernen Treppe, die kreisförmig nach oben führte.

„Das erinnert mich an die Wendeltreppen, die wir beim Abstieg vom Oberland benutzt haben“, meinte Thorsten.

„Vielleicht sind die Erbauer all dieser Treppen ja die gleichen“, vermutete Karina.

Sie begannen mit dem Aufstieg.

Die Stufen unter ihren Füßen waren sehr unregelmäßig. Einige waren breit und andere nur ganz kurz, so kurz, dass man gerade soeben die Fußspitze aufsetzen konnte.

Als Kristin von einer dieser kurzen Stufen abrutschte, hörte man sie laut fluchen: „Egal welche Idioten solch krumme Treppen gebaut haben, sie hätten einige Fenster hier einbauen sollen. Dann könnte man wenigstens sehen, wohin man tritt.“

„Die Erbauer sind wahrscheinlich nur mit Fackeln hier hindurch gegangen“, warf Karina ein.

„Wer weiß“, sagte Thorsten, „vielleicht hatten sie ja auch schon Taschenlampen.“

„Was sind Taschenlampen?“, wollte Muino wissen.

„Es ist etwas, womit man in der Welt, aus der wir kommen,

Licht machen kann“, antwortete Kristin. „Wir hätten uns ein paar Taschenlampen mitnehmen sollen. Dann könnte man wenigstens sehen, wohin man tritt.“

„Es hätte nicht viel genutzt“, meinte Thorsten.

„Warum nicht?“

„Weil alle Sachen, die wir mitgenommen hatten, samt dem Boot in den Fluten des Wasserfalls verschwunden sind. Dort wären mit Sicherheit auch die Taschenlampen gelandet.“

Kristin wusste, dass Thorsten Recht hatte.

So tasteten sie sich immer weiter nach oben. Dabei ließen sie ihre Hände an der Wand entlang gleiten.

Die Wände unter ihren Fingern wurden immer feuchter und glitschiger.

„Das ist ja ekelig“, sagte Karina.

„Ich glaube“, meinte Thorsten, „es ist Moos, welches hier überall an den Wänden wächst.“

„Mir ist ganz egal, was es ist“, hörte man Karina sagen. „Es ist und bleibt ekelig.“

„Riecht ihr das auch?“, fragte Muino nach einiger Zeit.

„Was riechst du denn?“, wollte Thorsten wissen.

„Es riecht komisch.“

Thorsten und die beiden Mädchen schnupperten, doch sie konnten keinen außergewöhnlichen Geruch feststellen. Das gaben sie auch Muino zu verstehen.

„Aber ihr müsst es doch riechen. Es ist sogar ein sehr intensiver Geruch.“

Noch einmal zog Thorsten kontrollierend die Luft durch seine Nase.

„Ich rieche nichts. Wahrscheinlich habt ihr Katas einen besseren Geruchssinn als wir.“

Es war, als wollte die Wendeltreppe kein Ende nehmen.

Nach einigen Minuten des Treppensteigens nahmen auch Karina, Kristin und Thorsten den Geruch wahr, den Muino schon vorher festgestellt hatte. Es war ein aufdringlicher, süßlicher Geruch, der, je weiter sie emporstiegen, immer intensiver wurde.

„Ich ahne jetzt, was hier so riecht“, sagte Kristin. „Es ist dieses glitschige Zeug, was hier überall an den Wänden wächst.“

Die anderen merkten sehr schnell, dass Kristin mit ihrer Ahnung richtig lag, denn auch ihre Finger, mit denen sie sich an den Wänden entlang tasteten, hatten diesen Geruch angenommen.

Dann erkannten sie ein schwaches Licht, welches von oben einfiel.

„Endlich“, kam es erleichtert aus Thorstens Mund. „Diese Dunkelheit hat gleich ein Ende.“

Mit jedem Schritt nach oben wurde es heller. Bald konnten sie die unregelmäßig ausgearbeiteten Stufen, die sie vorsichtig erklommen, genauer erkennen, und sie sahen auch das, was die Wände rundherum überzog. Es war eine moosähnliche, glitschige Masse von einer purpurroten Färbung.

„Kennst du so etwas?“, wollte Karina von Muino wissen.

„Nein“, war die knappe Antwort.

Thorsten kratzte etwas dieser Masse mit den Fingern ab und begutachtete sie.

„Es sieht zwar aus, wie Moos“, stellte er fest, „aber es fühlt sich an, wie ein breiiger Schleim. Das Zeug riecht so ähnlich, wie Kräuterbonbons.“

Auch Muino nahm etwas von der purpurroten Masse in die Finger. „Es ist keine Pflanze.“

„Seht euch das hier an“, sagte Thorsten und deutete auf die etwas höher gelegene Wand. „Es sieht so aus, als hätte hier jemand diese Masse von der Wand gekratzt.“

Nachdem die anderen, die hinter ihm die Stufen emporstiegen, seine Position erreicht hatten, sahen sie, was Thorsten meinte.