Buch
1834, ein kleines Dorf in Ostfriesland. Lene Vosskamp wächst in einer Fischerfamilie in bitterer Armut auf und muss schon als Kind schwere Schicksalsschläge hinnehmen. Doch dann gerät sie durch einen Fremden in den Besitz einer geheimnisvollen Münze, die sie berechtigt, in China mit Tee zu handeln. Fortan ist sie beseelt von dem Gedanken, sich aus ihren elenden Verhältnissen zu befreien und als erste Frau ein Tee-Imperium zu gründen. Für Lene beginnt eine gefahrvolle Odyssee, die sie über die Meere der Welt und in ferne Länder führt – und sie auf die Spur der Liebe ihres Lebens führt, die ihr einst in einer Weissagung prophezeit wurde …
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Elisabeth Herrmann
Der Teepalast
Roman
Originalausgabe
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ISBN: 978-3-641-24048-6
V002
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Allen Frauen vor uns gewidmet, die ein Nein nicht akzeptiert haben.
Wie Blumen öffneten sich die weißen Sahnewolken, verwoben sich in zarten Schleiern, stiegen auf und ab und sanken schließlich zurück in den dunklen Grund der Tasse.
»Und jetzt«, sagte die Großmutter und lächelte Bettina zärtlich an, »darfst du deinen Tee trinken.«
Vorsichtig hob das Mädchen die Tasse. Sie war aus Meißner Porzellan, so dünn und zart, dass man Angst bekam, sie würde schon vom Ansehen zerspringen. Bettina pustete und nahm einen kleinen Schluck.
»Uh. Ich brauche mehr Kluntjes.« Sie warf zwei Stück Kandiszucker nach, die das luftige Gemälde in der Tasse augenblicklich zerstörten.
Die Großmutter lehnte sich zurück. Dabei knarrte der alte Stuhl leise. Bettina liebte ihn, fast genauso heiß und innig wie ihre Großmutter. Auf alles andere im ersten Stock des großen, prächtigen Hauses wurde sorgsam geachtet, nur auf das Ächzen und Knarren dieses abgeschabten Stuhls nicht, der bestimmt schon eine Ewigkeit in der Bibliothek stand und den niemand anrühren durfte. Noch nicht einmal, um die schlimmsten abgesplitterten Stellen auszubessern. Ein seltsamer Stuhl, knorrig, eigensinnig, ganz anders als die hübschen Möbel aus Nussbaum und Kirsche, mit denen das Stadthaus der Vosskamps eingerichtet war. Und ganz zu schweigen vom Teepalast, dem Salon der Bremer Gesellschaft, die sich dort beim Tee traf. Um die Ecke war noch der Laden, mit dem Helene vor langer Zeit begonnen hatte, ihr Imperium aufzubauen. »Die Teekönigin« wurde sie von ihren Bewunderern genannt.
Aber es gab auch andere Namen, die hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurden. Anfangs war es für sie wohl nicht leicht gewesen. Wann immer Bettina über etwas stöhnte – die strengen Diktate des Hauslehrers, die Zimtschnecken vom Vortag, das mühsame Zuknöpfen der Stiefel, stets bekam sie zu hören: »Iss du mal das harte Brot, das deine Großmutter zerbeißen musste!«
Lange Zeit hatte sie geglaubt, Helene hätte sich zeit ihres Lebens von ungenießbaren Kanten ernährt. Jetzt, mit neun Jahren und fast schon erwachsen, verstand sie viel mehr. Ihr war bewusst, dass ihre Familie ein anderes Leben führte als das vieler Leute. Schon deshalb, weil ihnen ein prächtiges Haus an der Ecke zum Grasmarkt gehörte und damit auch der Teepalast, ein nach englischem Vorbild eingerichtetes Stadtcafé im Erdgeschoss. Am Eingang bestaunten die, die zum ersten Mal eintraten, die gewundenen Säulen und die goldverzierten Akanthusranken, und drinnen dann die Vitrinen mit den Kuchen und Torten, das funkelnde Silber, die internationalen Zeitungen und Magazine, das blank polierte Parkett und schließlich die Teekarte mit der größten Auswahl Norddeutschlands. Als geborene Vosskamp erkannte Bettina die einzelnen Sorten am Duft: den zarten chinesischen Oolong, den kräftigen Assam und eine ganz spezielle Mischung, Brennys, die Helene vor langer Zeit einmal von einer ihrer Reisen mitgebracht und ins Sortiment übernommen hatte.
Bettina setzte die Tasse ab. Zu heiß.
Ihre Großmutter machte es richtig: Sie schloss die Augen und schnupperte erst mal an ihrem Tee. Heute trug sie ein moosgrünes Kleid aus Seidentaft und ein dazu passendes Schultertuch. In ihren mattblonden Haaren glänzten silberne Strähnen. Sie waren im Nacken zu einem Knoten gesteckt. Weil sie darauf bestand, die Toilette selbst zu erledigen, sprangen immer ein paar widerspenstige Locken heraus. Und da das sanfte Licht der Lampe ihren Zügen schmeichelte, sah sie überhaupt nicht aus wie das ehrbar ergraute Haupt der Familie Vosskamp. Bettina fragte sich manchmal, wie ihre Großmutter wohl in jungen Jahren gewesen war. Alles, was sie aus dieser Zeit wusste, hatte mit bitterster Armut und unfassbaren Wagnissen zu tun. Und mit Dingen, die für eine Dame von Stand absolut unmöglich waren. Wenn tatsächlich einmal die Sprache darauf kam, intervenierte ihre Mutter sofort. »Nicht vor dem Kind!«
Was dazu führte, dass in Bettinas Fantasie ihre Großmutter alles gewesen sein konnte: Marketenderin, Räuberin, Piratin … Natürlich war sie nicht die Einzige, die sich darüber Gedanken machte. Das war einer der Gründe, warum die Vosskamps in der Bremer Gesellschaft eine Außenseiterrolle einnahmen, trotz ihres Reichtums. Denn er war nicht ererbt und nicht erheiratet, nicht durch königliche Gnaden oder glückliche Fügungen gewachsen, sondern einzig und allein durch meiner Hände harter Arbeit, wie Helene vielsagend hinterherschob, wenn es am Abendbrottisch um ein Haar spannend geworden wäre. Es musste also noch mehr geben, was dem Kind nicht zu Ohren kommen durfte.
»Ein kräftiger Tee aus Nordindien. Ich würde sagen, die Gegend um Darjeeling.«
Das Mädchen nickte. »Von dem haben wir ziemlich viel. Und dann haben wir noch grünen Tee und den mit Bergamotte, wie heißt er noch mal?«
»Earl Grey.« Ihre Großmutter stellte vorsichtig die Tasse ab. Der Stuhl knarrte schon bei dieser kleinen Bewegung. »Und wer hat ihm seinen Namen gegeben?«
»Ein britischer Premierminister.« Die Worte kamen wie aus der Pistole geschossen. Das wusste man, wenn man in diesem Haus aufgewachsen war.
»Sehr gut. Ein interessanter Mann, ein kluger Kopf. Habe ich dir schon erzählt, dass er die Sklaverei in den britischen Kolonien verboten hat? Nein? Und er hat der vermaledeiten Ostindien-Kompanie einen gehörigen Dämpfer versetzt. Charles Grey, 2nd Earl Grey …«
Ein versonnenes Lächeln erhellte die vielen kleinen Falten im Gesicht der Großmutter.
»Haben Sie ihn gekannt?«
Es gab niemanden, den ihre Großmutter nicht kannte. Im Haus der Vosskamps ging ein ziemlich buntes Volk aus und ein. Heute konnte es ein Admiral der britischen Flotte sein, morgen ein Trupp Theaterschauspieler, übermorgen … auch das gab es regelmäßig: Dienstbotentag. Dann ging die Großmutter hinunter in die Küche zu Magda, und beide saßen bis tief in die Nacht zusammen. Das war so in diesem Haus, seit hier Dienstboten arbeiteten.
Drei wendige Klipper gehörten zur Vosskamp-Flotte, dazu die Speicherhäuser am Hafen und ein Netz von Läden und Verkaufsstellen von Bremerhaven bis New York. Vosskamp-Tee trank man in den Häusern der Bauern genauso wie am Hof Königin Victorias, von wo aus Lady Bedfords Tea Time die Welt erobert hatte. Vosskamp nannte man in einem Atemzug mit Twinings und Fortnum & Mason und bis heute ging die Großmutter noch täglich ins Contor und ließ sich die Bücher vorlegen. Bettina, die von Anfang an vertraut war mit der rauen Seite des Lebens, mit dem Verlust von Schiffsladungen im Sturm oder einer Lagerfäule in den nassen Herbstwochen, hatte genauso fraglos den Luxus akzeptiert, in dem sie groß geworden war. Auch wenn Helene ihr immer wieder eintrichterte, dass sie diesen Wohlstand nicht als selbstverständlich ansehen sollte. Das allerdings stürzte sie in ernste Konflikte. Seine Herkunft nicht anzunehmen, war ja schon fast revolutionieren ! Jeder befand sich an dem Platz, an den der Herr ihn gestellt hatte. Sagte der Pfarrer. Sagten alle. Nur ihre Großmutter nicht. Die sagte, seinen Platz im Leben würde man sich selbst aussuchen.
Die ledergebundenen und goldgepunzten Buchrücken schimmerten geheimnisvoll, die Landkarten an den holzgetäfelten Wänden erzählten von fernen Welten. Die Bibliothek war ein Raum, in dem die Sehnsucht zu Hause war, in dem es nach Holz und Bienenwachs roch und in dem sich noch etwas befand, was Bettina nicht hätte beschreiben können. Geister vielleicht? Nein. Erinnerungen? Ja. Dabei war es kein altes Haus. Über dem Eingang stand die Jahreszahl 1867 gemeißelt – das Jahr von Bettinas Geburt.
»Oh ja, ich habe den Earl Grey gekannt … trink deinen Tee. So, wie die Friesen ihn trinken. Und nicht wie die Püppchen unten im Teepalast mit abgespreiztem Finger.«
Bettina gehorchte und nahm einen weiteren Schluck. Der schmeckte schon besser.
»Wie sah er aus?« Männerbeschreibungen waren eine der vielen Begabungen ihrer Großmutter, mit denen sie ganze Tischgesellschaften unterhalten oder vor Scham im Boden versinken lassen konnte. Aber an diesem Tag hatte sie sich wohl entschieden, zurückhaltend zu sein.
»Er war schon alt, als wir uns begegnet sind. Hager, asketisch, gesegnet mit einem Charakterkopf. Trotz der fortschreitenden Glatze. Ein paar Jahre vor seinem Tod war das, aber er blieb bis zuletzt ein Mann mit Grundsätzen. Und Moral. Was man nicht von allen hohen Herren behaupten kann. Ich habe ihm viel zu verdanken.«
»Was denn?«
»Trink.«
Noch ein Schluck. Der erdige, fast bittere Geschmack wurde nun durch die Sahne gemildert. Und dann … Bettina strahlte. »Jetzt wird es süß!«
»So ist das im Leben. So ist es oft. Erst ist es lange Zeit bitter, und man muss den Mund verziehen, aber mit etwas Glück ist der letzte Schluck das Beste, was es gibt.«
Bettina schloss die Augen und leerte die Tasse. Sahne, Zucker und warmer Tee verschmolzen zu einer einzigen Herrlichkeit. Als sie die Augen wieder öffnete, ruhte der Blick ihrer Großmutter mit einem Ausdruck auf ihr, den sie so noch nie gesehen hatte.
»Was ist? Hab ich was falsch gemacht?«
Diese Nachhilfestunden in der friesischen Teekultur hatten es in sich. Ihre Eltern sahen das nicht gerne, denn dadurch war ihre Tochter den unkontrollierten Einflüssen einer unkontrollierbaren Großmutter ausgesetzt. Aber Helene hatte darauf bestanden. Bettinas älterer Bruder Paul, ein stämmiger Bursche von zupackendem Wesen, hatte sich immer davor gedrückt. Bettina liebte diese Nachmittage. Sie hatte dann das Gefühl, irgendwie freier atmen zu können.
»Nein, Betty. Das hast du nicht. Ich musste nur gerade darüber nachdenken, was ich gesagt habe.«
»Das mit dem bitter und dem Besten?«
»Ja.«
Bettina stellte vorsichtig die Tasse ab, stand auf und machte einen Knicks. Dann beugte sie sich vor und hauchte der Großmutter einen Kuss auf die Wange. »Ich lasse Sie jetzt allein.«
Es war die Zeit des Nachmittags, zu der sich Helene gerne für eine Stunde zurückzog. Bettina wusste auch weshalb: weil sie dann in uralten, bröseligen Büchern blätterte und zerlöcherte Briefe las, und sie sie einmal, aus Versehen!, weil sie geglaubt hatte, die Bibliothek wäre leer, ganz versunken angetroffen hatte, mit einem sehnsüchtigen Lächeln, um dann ganz schnell die Schatulle zu schließen, in der sie das alte Zeug aufbewahrte.
»Danke, mein Kind. Dann sehen wir uns zum Dinner.«
»Jawohl, Großmutter.« Sie knickste und lief hinaus.
Helene strich über die schartigen Armlehnen des Stuhls. Der Gedanke, den sie beim Anblick ihrer Enkelin gefasst hatte, ließ sie nicht mehr los.
Sie stand auf. Ein Blick aus dem Fenster – Regen peitschte an die Scheiben. Auf See herrschte sicherlich Sturm, die Schiffe würden ihre liebe Not haben, einen sicheren Hafen zu erreichen.
Es war, als ob sie wieder das Salz auf den Lippen spüren konnte und die eisige Gischt auf ihrer Haut. Sie schloss die Augen und lehnte die Stirn an die kühle Scheibe. Ihre Gedanken wanderten zurück zu einem Mädchen, das vor langer Zeit in so einem Sturm jäh aus seinen Träumen gerissen worden war.
Auf dem kleinen Tisch neben dem Fenster lag eine einfache Schatulle aus Walnussholz. Jeder, der sie öffnete, wäre enttäuscht von dem, was er vorfinden würde: krümeliger Tee, der fast zu Staub zerfiel. Zimtstangen, die schon lange ihren Duft verloren hatten. Zu Papier verdorrte Blüten … Helene nahm die Schachtel und setzte sich damit vor den Kamin.
Der Wind heulte um die Ecken des Hauses. Das Feuer brannte hinunter, aber sie vergaß die Zeit, diese tückische Verräterin, die alles mit sich davontrug und nur Asche zurückließ. Wo war die Glut geblieben? Die verzehrende Leidenschaft, der Kampf ums Überleben, der wilde Triumph und diese entsetzlichen Verluste … davongetragen, in ein Sandglas gesperrt. Rieselnde Körnchen, die langsam, aber sicher alles unter sich begruben. Nur eines nicht. Die Erinnerung.