Vom Wunsch zur Wirklichkeit
Kennst du das? Theoretisch weißt du, wie du mit deinem Kind umgehen möchtest: zugewandt, achtsam, bedürfnisorientiert. Du weißt, dass Schimpfen Quatsch ist, Ungeduld nicht weiterhilft und Schreien gar nicht geht. Und doch passiert es dir. Immer wieder, jeden Tag.
Nina C. Grimm zeigt, woran unsere guten Ansprüche so oft scheitern und warum es sich lohnt, die Herausforderungen unseres Familienlebens als Einladung zu betrachten. Mit psychologischem Fachwissen und Methoden der Achtsamkeit hilft sie uns, alte Muster zu durchbrechen, Vertrauen in unsere Fähigkeiten als Eltern zurückzugewinnen und unseren Kindern die Hand zu reichen, die sie gerade brauchen. So gelingt Erziehung authentisch und ohne Druck.
Dieses Buch holt Eltern ab, die mit ihrem Latein am Ende sind.
Und zwar da, wo sie stehen: mitten in den Herausforderungen
des Familienalltags. Um sie dorthin zu bringen, wo sie
wahrhaftig zuhause sind.
Isabel Huttarsch, Psychologin und Gründerin
von »MINDFULmothering«
Mit einem Vorwort von Nora Imlau
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Redaktion: Diane Zilliges
Satz + E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-27801-4
V002
www.koesel.de
Inhalt
Vorwort von Nora Imlau
Prolog
Alles beginnt mit dir. So was wie eine Einführung
Wie du dieses Buch nutzen kannst
Dein Grund und Boden
Achtsamkeit
Akzeptanz
Die Geschenke deiner Konflikte
Wo willst du hin?
Dein Ausgangspunkt
Dein Ziel
Deine Brücke zwischen Theorie und Praxis
Selbstbeziehung
Du bist der Kirschbaum
Was brauchst du, um zu erblühen?
Selbstbeziehung im Alltag etablieren
Die Angst, ein Egoist zu sein
Selbstbeziehung in Konfliktsituationen
Praxisraum: Was du konkret tun kannst
Auf den Punkt gebracht
Vertrauen
Viele Stimmen, aber keine Ahnung?
Vertrauen in dich
Praxisraum: Was du konkret tun kannst
Vertrauen in dein Kind
Praxisraum: Was du konkret tun kannst
Auf den Punkt gebracht
Präsenz
Was dich von deiner Präsenz trennt
Praxisraum: Was du konkret tun kannst
Auf den Punkt gebracht
Verantwortung
Psychotherapie frei Haus
Trigger identifizieren
Einen Wundverband anlegen
Aufbruch zu neuen Ufern
Werde zur Regisseurin deines Lebens
Praxisraum: Was du konkret tun kannst
Auf den Punkt gebracht
Alles zusammenbringen
Alte Muster Schritt für Schritt durchbrechen
Von der Reaktion zur Antwort
Der Schlüssel zum Zwischenraum
Das ganze Geheimnis
Absicht
Nachsicht (mit dir selbst) x 10
Wenn das alles nicht klappt
Eine neue Konfliktkultur
Erste Schritte in Richtung Frieden
Und dann? Wirklich für Frieden sorgen
Geh auf dein Kind zu
Öffne dich
Lass Raum für Gefühle
Deine Botschaft an das Kind bringen
Gemeinsam Alternativen erarbeiten
Offene Fragen
Rege einen Perspektivwechsel an
Und jetzt: Etwas Schönes!
Führung
Findet euren Polarstern
Bewusste Regeln
Worum geht es eigentlich?
Aus Regeln werden Werte
Regelbrüche und Konsequenzen
Das muss doch Konsequenzen haben?!
Warum Strafen zwar funktionieren, aber nichts bringen
Authentische Konsequenzen
Der Familienrat
Herausforderungen meistern
Alltägliche Hürden
Mein Kind kommt nicht zur Ruhe
Nicht mal abends Zeit für mich …
Mein Kind hört nicht auf mich
Mein Kind kann doch nicht nackt raus?!?
Ständiges Drama ums Zähneputzen
Meine Grenzen und ich
Mein Kind akzeptiert meine Grenzen nicht
Wohin mit meiner Wut?
Ich habe ein schlechtes Gewissen
Ich kann nichts und niemandem mehr gerecht werden
Geschwister
Sobald es still wird, setzen sie etwas unter Wasser
Was tun bei Konkurrenzverhalten?
Aggression unter Geschwistern
Partnerschaft
Mein Partner sieht das aber leider anders …
Eltern sein, Paar bleiben – aber wie?
Bedürfnisse kommunizieren
Erwartungen Dritter
»Oma, du bist ein Arschloch!«
»Sag Entschuldigung!«
Wutanfälle in der Öffentlichkeit
Nachwort
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Für meine wundervollen Kinder.
Ohne euch wäre ich nicht die, die ich heute bin.
In Liebe und tiefer Dankbarkeit
Mami
Vorwort von Nora Imlau
Als ich zum ersten Mal Mutter wurde, wusste ich genau, wie ich mit meinem Kind umgehen wollte: liebevoll, geduldig und zugewandt, dabei konsequent und klar. Das konnte doch so schwer nicht sein? Es dauerte nicht lange bis zum ersten Sündenfall: Genervt und übermüdet meckerte ich mein weinendes Baby an. Und dabei sollte es nicht bleiben. Mit wachsendem Entsetzen stellte ich fest, dass zwischen all meinen guten Vorsätzen und der Realität mit meinem Kind immer öfter ein schier unüberwindbarer Graben zu liegen schien. Ich wollte geduldig sein, und verlor doch die Nerven. Ich wünschte mir Harmonie, und bekam stattdessen Wut. Ich dachte, ich könnte meinem geliebten Kind niemals wehtun, und ertappte mich gleichzeitig dabei, wie ich es manchmal fester anpackte als notwendig, wenn es sich mal wieder nicht wickeln lassen wollte. Einfach, weil ich so genervt war.
Das war der Punkt, an dem ich ahnte: Wenn ich die Mutter sein will, die ich wirklich sein will, liegt eine Menge Arbeit vor mir. In den folgenden Jahren erarbeitete ich mir mühsam aus zig verschiedenen Quellen Wege, meine Ideale mit meinem tatsächlichen Handeln zumindest einigermaßen in Einklang zu bringen. Wie viel leichter wäre das gewesen, hätte es damals schon dieses Buch gegeben!
Denn die erfahrene Psychologin und Mutter Nina C. Grimm hat in diesem grundlegenden Ratgeber endlich umfassend und leicht verständlich zusammengetragen, was Eltern brauchen, um vom Wünschen ins Tun zu kommen. Einfühlsam beschreibt sie die Fallstricke moderner Elternschaft mit ihren mannigfaltigen Herausforderungen, und zeigt ganz konkrete Wege auf, mit Stress und Überforderung umzugehen und feinfühliger und fürsorglicher zu werden – zuallererst uns selbst gegenüber. Denn das wahre Geheimnis eines gelingenden Familienlebens liegt nicht in den allgegenwärtigen Erziehungstipps, sondern in einer tief in uns verankerten Haltung der liebevollen Zugewandtheit, die bei unserem Umgang mit uns selbst beginnt.
Man merkt jeder Zeile dieses Buches an, dass hier nicht nur eine Beziehungsexpertin schreibt, sondern auch eine Frau, die selbst in ihrer Mutterschaft schon viele Höhen und Tiefen durchschritten hat. Die Verständnis hat, wenn Eltern hinfallen und an ihren eigenen Idealen scheitern. Und die ihnen in Momenten größter Zweifel nicht mit erhobenem Zeigefinger den Weg weist, sondern ihnen solidarisch die Hand reicht und ihnen hilft, sich aufzurichten, sich den Staub von der Hose zu klopfen und erhobenen Hauptes weiterzugehen, aller Fehler und Unperfektheiten zum Trotz.
Nachdem sich die Erziehungsratgeber der vergangenen Jahre immer stärker den Bedürfnissen unserer Kinder zugewandt haben, ist dieses Buch eine dringend notwendige Ergänzung, die die Bedürfnisse der Eltern in den Fokus rückt. Denn nur wenn wir Großen haben, was wir brauchen, können wir auch dauerhaft und verlässlich für unsere Kleinen da sein. Deshalb ist es so wertvoll, dass Nina C. Grimm ganz konkrete alltagstaugliche Handlungsimpulse gibt, die Eltern helfen, ihre eigenen Bedürfnisse überhaupt erstmal wieder zu spüren sowie ihre persönlichen Grenzen zu erkennen und auch im stressigen Familienalltag zu wahren. Dabei bleiben ihre Tipps nicht an der Oberfläche, sondern wirken bis in die tiefsten Sedimentschichten unseres Fühlens und Handelns hinein.
Denn Elternstress ist eben nichts, was sich mit einer Tasse Tee oder einer halben Stunde Mandalamalen einfach wegzaubern lässt. Denn er wurzelt nicht nur in unserem herausfordernden Alltag heute, sondern auch in unseren eigenen frühesten Prägungen und damit auch in uralten schmerzvollen Erfahrungen, die unterbewusst immer noch immer in uns nachwirken. Sich diesen Einflüssen aus unserer Vergangenheit zu stellen, erfordert Mut und Kraft. Doch mit der so fachkundigen wie feinfühligen Begleitung durch dieses Buch können sich Eltern vertrauensvoll auf diese Reise zu sich selbst einlassen – und dabei den Weg in ein Familienleben entdecken, das Spaß macht, erfüllt und in dem alte Wunden langsam heilen können.
Von Herzen viel Freude mit diesem wunderbaren Buch wünscht
Nora Imlau
Prolog
»GOTTVERDAMMTE SCHEISSE!«, schoss es durch ihren Kopf und »JETZT HÖR AUF!!!«, donnerte über ihre Lippen, während zeitgleich das Kleinkind vor ihr in Tränen ausbrach. Natürlich machte es das nicht besser. Natürlich ging es dadurch nicht schneller. Und natürlich wusste sie das. Sie wusste, dass Schreien nichts bringt. Sie wusste, dass sie das eigentlich nicht mehr wollte. Und dennoch überkam es sie. Wie ein wildes Tier. Dem sie scheinbar hoffnungslos ausgeliefert war. Denn obwohl sie ihren Fehltritt eigentlich bemerkte, noch während sie motzte, konnte sie nicht aufhören. Und hätten wir sie fünf Minuten später danach gefragt, wäre sie sehr wahrscheinlich voller Schuld und Scham im Erdboden versunken.
Diese Mutter – … war ich! Nina, 2015.
Kennst du das auch?
Kennst du auch diese Lücke zwischen Theorie und Praxis? Hast du viele tolle Bücher rund um das Thema Erziehung gelesen und spannende Seminare dazu besucht, allesamt bereichernd und gewinnbringend? Und eigentlich hast du eine ziemlich klare Vorstellung davon, wie du dir dein Familienleben wünschst? Achtsam. Bedürfnisorientiert. Gewaltfrei. Artgerecht. Und wie sie alle heißen. Doch in den entscheidenden Momenten ist all dein Wissen und sind all deine guten Vorsätze wie weggeblasen?
Herzlich Willkommen im Club!
Ich hatte 2015 einen Master in Psychologie. Ich hatte tagelang auf Meditationskissen gesessen. Ich hatte mindestens zehn hippe Erziehungsratgeber gelesen. Und mindestens genauso viele Seminare, Vorträge und Fortbildungen dazu besucht. Ich wusste so viel! Und stand dennoch brüllend vor meinem zuckersüßen und vollkommen unschuldigen Kleinkind … Scheiße nochmal – wie kann das sein??? Wie kann es sein, dass dieser Sog alter Muster so unendlich stark ist?
Es entlastete mich natürlich ein Stück weit zu wissen, dass ich damit nicht allein war. Vielleicht geht es ja dir »zufällig« gerade genauso oder zumindest so ähnlich. Mir begegneten jedenfalls schon damals, sowohl im privaten als auch im beruflichen Kontext, immer wieder Menschen, die genau wussten, dass ihr Verhalten eigentlich ziemlich Banane ist. Und es dennoch nicht sein lassen konnten.
Nun entspricht es meinem Naturell und ein Stück weit auch meiner Berufung, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen. Und die Tatsache, dass es eben nicht nur mir, sondern so vielen Menschen so ging, weckte meinen Ehrgeiz. Ich wollte es verstehen! Ich wollte es lösen! Ich wollte diese Lücke, meine Lücke, endlich, endlich schließen! Und so begann ich zu suchen. Ich suchte nach Büchern, nach Seminaren, die mir die Frage nach dem ultimativen Transfer endlich beantworteten … Und fand nichts. Ich fand nichts!
Das war die Geburtsstunde dieses Buches. Entsprungen aus meiner eigenen Sehnsucht. Basierend auf meinen eigenen Herausforderungen, untermauert von meiner Expertise als Wissenschaftlerin, Psychologin und angehende Psychotherapeutin und mittlerweile an sieben Jahren Mutterschaft erprobt.
Ich habe das Wissen unterschiedlichster Disziplinen zusammengetragen und für den Familienalltag übersetzt. Um Familie endlich so leben zu können, wie es theoretisch längst klar ist.
Ich wuchs mit dem Buch und das Buch wuchs mit mir. Denn mein Ziel brachte mich auf einen Weg. Einen Weg, der mich alten Prägungen entwachsen ließ und auf dem es Muster zu durchbrechen und alten Schmerz zu lindern galt – um zu der zu werden, die ich wirklich-wirklich bin. Und um zu erkennen, dass alles gut ist, so wie es ist. Selbst oder gerade, wenn es aktuell herausfordernd ist.
Der Türöffner dafür war der Blick in die Augen meiner Tochter.
Kannst du dich noch an das Wunder erinnern, das du bestaunt hast, als dein Kind frisch geboren war? Dieses Wunder ist immer noch da. Selbst wenn es gerade von Wutanfällen oder Selbstzweifeln verdeckt wird. Dieses Wunder ist immer da. In mir, in dir, in deinem Kind und in jeder Herausforderung, die ihr miteinander habt.
Wenn wir es uns erlauben, wieder in Kontakt zu kommen mit diesem Wunder, das uns alle eint, wird Erziehung zur Abenteuerreise. Konflikte werden zu Geschenken. Und der Alltag zu einer Liebeserklärung.
Ich bin diesen Weg selbst gegangen. Und mein Herz tanzt, weil ich ihn auch dir mit diesem Buch zugänglich machen darf. Wenn du möchtest, betrachte dieses Buch als eine persönliche Einladung, dich gemeinsam mit mir auf einen Weg zu machen. Lass uns gemeinsam Brücken schlagen – zwischen Theorie und Praxis. Damit eine gute Idee tatsächlich zum Leben erweckt wird! Für mich ist das ein Aufbruch in die friedvollere Welt von morgen.
Und alles beginnt mit dir.
Schön, dass du da bist!
Deine Nina
Alles beginnt mit dir.
So was wie eine Einführung
Vielleicht fragst du dich gerade, warum und wie und wieso überhaupt es mit dir beginnen sollte, wenn dein Kind dich auf irgendeine Art und Weise herausfordert. »Was hat es denn mit mir zu tun, wenn mein Kind meine Grenzen nicht toleriert? Und ist es dann nicht einfach eine logische Konsequenz, dass ich irgendwann wütend werde? Klar tut es mir im Nachhinein leid, wenn ich dann schimpfe – aber was genau hat es mit mir zu tun?«
Lass uns das kurz genauer anschauen:
Ist es dir auch schon mal so gegangen, dass du dich mit deinen Herausforderungen an eine Freundin gewandt oder Google befragt hast und dir dann der neuste Erziehungsratgeber, ein spannender Blog oder hippe Influencer empfohlen wurden? Die du dir natürlich angeschaut hast, denn du willst ja etwas verändern. Und so, wie es dort beschrieben wurde, klang es nicht nur toll, sondern eigentlich auch ganz einfach:
Ruhig bleiben! Einfach drei Mal tief atmen.
Bloß nicht schimpfen!! Loben am besten auch nicht.
Und natürlich Selbstfürsorge – ganz wichtig!!
Leuchtet total ein! Der Verstand sagt Ja, das Herz sagt Ja und da ist wirklich die aufrichtige Ambition, etwas verändern zu wollen.
Doch dann, im entscheidenden Moment – wutsch! – fällst du wieder zurück ins alte Muster. Und auf einmal sieht das, wovon du theoretisch überzeugt bist, in der Praxis ganz anders aus?
Spätestens wenn wir das, wovon wir eigentlich überzeugt sind (beispielsweise nicht mehr so viel zu schimpfen), nicht leben können (und trotzdem maulen), wird klar: In diesen Situationen wird etwas aktiviert, das unser Verhalten fernab von unserer elterlichen Vernunft steuert.
Und dieses »Etwas« beginnt mit dir.
Das Tolle ist: Während sich manche Menschen dieses »Etwas« in vielen Stunden Psychotherapie hart erarbeiten müssen, bekommen wir Eltern es von unseren Kindern auf dem Silbertablett serviert:
Unsere eigenen Baustellen! Mit uns selbst. Mit dem Leben.
Alte Wunden. Alte Glaubenssätze und alte Muster.
Sodass jeder Streit, jeder Konflikt mit unseren Kindern potenziell die Gelegenheit mit sich bringt, dem alten Kladderadatsch ein Stückchen mehr zu entwachsen. Und zu uns selbst zu erwachsen.
Genau an diesen Punkt möchte ich mit dir in diesem Buch gehen – ich möchte dieses »Scheitern« erhellen. Ich möchte die Negativbewertung von Schwierigkeiten mit einem Fragezeichen versehen und die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass eben diese Herausforderungen ein besonderes Geschenk sind, das die Elternschaft mit sich bringt. Und so lade ich dich im ersten Teil des Buches dazu ein, die negative Bewertung von Herausforderungen aufzuweichen, um stattdessen die Grundhaltung zu kultivieren, dass unsere alltäglichen Herausforderungen eine wundervolle Gelegenheit sind, um uns bewusst für einen neuen Weg zu entscheiden. Um diesen Weg zielführend beschreiten zu können, brauchen wir natürlich vor allem eins: ein Ziel! Daher werden wir uns im ersten Teil auch mit der Frage befassen, wohin du eigentlich möchtest.
Ausgestattet mit dieser Grundhaltung und verbunden mit deinem Ziel werden wir dann im zweiten Teil des Buches deine Brücke zwischen Theorie und Praxis schlagen. Für diese Brücke braucht es ein solides Fundament – Selbstbeziehung – sowie drei Säulen: Vertrauen, Präsenz und Selbstverantwortung.
Wenn wir alte Muster durchbrochen haben und dank unserer wundervollen Brücke an neuen Ufern angekommen sind, gilt es als Nächstes, neue Wege zu erkunden und dann auch tatsächlich zu gehen. Neue Verhaltensweisen wirklich nachhaltig zu kultivieren. Und genau dabei unterstützt dich der dritte Teil dieses Buches.
Im vierten Teil des Buches sprechen wir gemeinsam darüber, wie wir Konflikte innerhalb der Familie auf eine Art und Weise lösen und klären können, damit dieser Prozess am Ende für alle gewinnbringend und zielführend ist.
Im fünften Teil gehen wir in deinen Alltag und schauen gemeinsam darauf, wie du all dieses Wissen auf unterschiedliche Bereiche deines Familienalltags anwenden kannst.
Wie du dieses Buch nutzen kannst
Als Verhaltenstherapeutin ist es mein Herzenswunsch, dich mit diesem Buch in deine eigene Erfahrung zu bringen. Daher werde ich dich immer wieder zu praktischen Übungen, Meditationen, Reflexionen und kleineren Impulsen einladen. Meine Empfehlung an dich ist, dieses Buch chronologisch zu lesen, da die Kapitel aufeinander aufbauen und sich jeweils gegenseitig noch vertiefen.
Der letzte Teil »Herausforderungen meistern« ist ein Nachschlagekapitel. Auch wenn ich mich hier auf die im Buch erarbeiteten Kompetenzen beziehe, sind die jeweiligen Teile dort selbsterklärend. Sie kannst du je nach Anlass und Interesse auch einzeln (nach)lesen.
Wenn du möchtest, betrachte dieses Buch als einen Reiseführer. Für eine Reise, die dich dir selbst und dem (Familien-)Leben, das du dir wünschst, näherbringen wird. Und wie es bei einer echten Reise so ist, wird es Passagen geben, die du genießt, wo du lachst und alles toll findest. Und dann wird es Abschnitte geben, die dich vielleicht nerven oder fordern. Als Psychotherapeutin möchte ich dich von ganzem Herzen dazu einladen, gerade diesen Stellen deine Aufmerksamkeit zu schenken. Denn meistens sind es genau die Abschnitte, die den Stoff beinhalten, den du tatsächlich brauchst, um alten Mustern zu entwachsen und zu der oder dem zu erwachsen, die oder der du tatsächlich bist.
Ein guter Zeitpunkt, die Geschlechterfrage in der Ansprache aufzugreifen: Zugunsten des Leseflusses werde ich mich in diesem Buch auf das weibliche Geschlecht begrenzen. Warum das weibliche? Statistiken zeigen, dass sich immer noch mehr Frauen mit dem Genre Erziehung befassen. Somit ist die Wahrscheinlichkeit schlichtweg höher, dass dieses Buch von einer Frau in der Hand gehalten wird. Falls du ein Mann bist: Schön, dass du da bist! Ich finde es wundervoll, dass du dich mit dem Thema beschäftigst! Bitte erzähl anderen Vätern davon und ermutige sie, sich auch mit der Thematik zu befassen. Ihr seid wichtig! Und eure Kinder brauchen euch!
Ich möchte dich zu guter Letzt noch dazu einladen, dir ein separates Notizbuch anzulegen, das du parallel zu deinem Buch-Leseprozess führen kannst. Denn ich werde dich an vielen Stellen einladen, Fragen zu reflektieren, und es wird viele praktische Übungen geben, deren Erfahrungen es wert sind, festgehalten zu werden. So wirst du am Ende dieses gemeinsamen Weges quasi dein eigenes kleines Buch geschrieben haben, das dir deine persönliche Route zu deiner Wunschfamilie aufzeigen wird. Außerdem trägt Schreiben auch ganz wesentlich dazu bei, dass dich deine Erkenntnisse tatsächlich durchdringen. Sodass eine gute Idee schließlich zum Leben erweckt werden kann.
Legen wir los?
Dein Grund und Boden
Lass uns zu Beginn darauf blicken, wie wir einen soliden Grund und Boden für deine Brücke zwischen Theorie und Praxis erschaffen können: Er entsteht durch die Art und Weise, wie du den Herausforderungen deines Lebens begegnest. Und dabei unterstützt dich Achtsamkeit.
Achtsamkeit
Achtsamkeit ist mittlerweile in aller Munde und das zu Recht. Denn seit Jon Kabat-Zinn diese Praxis für die westliche Kultur zugänglich machte, erwies sie sich in ganz vielen unterschiedlichen Bereichen als sehr wirksam,1 sodass sie nach und nach Einzug hielt in die Psychologie und Psychotherapie, in die Wirtschaft und schließlich auch in den Mainstream. Und auch wenn – oder gerade weil – über Achtsamkeit so viel gesprochen wird, möchte ich dir an dieser Stelle eine kurze Definition vorstellen. Einfach, damit wir eine gemeinsame Idee davon haben:
Achtsamkeit ist eine bewusste Ausrichtung auf den gegenwärtigen Moment, auf das, was gerade tatsächlich ist. Dabei geht es vor allem darum, ein Gewahrsein für die eigenen inneren Regungen (Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen) zu gewinnen, ohne diese zu bewerten (gut/schlecht, angenehm/unangenehm) oder sich gar mit ihnen zu identifizieren (»Ich bin wütend« wird zu: »Ich fühle Wut«). Schließlich übt man sich darin, innere Regungen loszulassen und sich mit einem klaren Geist den Dingen zuzuwenden. So ist Achtsamkeit viel mehr eine innere Haltung als einfach nur eine Technik.
Der immense Einfluss meiner Gedanken und die Kraft der Achtsamkeit wurden mir das erste Mal so richtig bewusst, als ich mit meinem Mann nach dem Studium ein halbes Jahr in Indien verbrachte, wo wir ein zehntägiges Vipassana-Retreat »saßen« (wie man im Meditationsjargon sagt – denn tatsächlich sitzt man sehr viel und meditiert! … Eigentlich nonstop). Das Zentrum war im Norden des Landes, in einem kleinen Ort in den Ausläufern des Himalaja-Gebirges. Obwohl es erst Spätsommer war, war es vor allem in den frühen Morgenstunden recht kühl. So kam ich zur ersten Meditation um fünf Uhr morgens bereits fröstelnd auf meinem Kissen an. Während der Meditation bemerkte ich, wie eiskalt meine Füße waren. Und in mir ging es ab: »Hoffentlich kriege ich keine Erkältung … Das wäre eine Katastrophe! Dann kann ich das Retreat nicht bis zum Ende mitmachen. Wie soll ich denn mit verstopfter Nase meditieren? … Hoffentlich krieg ich kein Fieber … Die Trekkingtour nächste Woche müsste damit dann auch ausfallen … Scheiße, ist das kalt ... Mir ist viel zu kalt … Heizen die hier etwa gar nicht?!??« Und so weiter und so weiter. Meine Schultern, meine Stirn und mein Kiefer waren genauso verkrampft wie meine Gedanken.
Und dann, Guru sei Dank, kam da plötzlich ein Gedanke unter all den vielen anderen an die Oberfläche. Ein Gedankenblitz, der die Worte Goenkas (so hieß der Guru) auf meinen Bewusstseinsradar schmetterte: »You just observe!« – »Das Einzige, was du zu tun hast, ist zu beobachten!« Einfach beobachten … und es machte Klick! Auf einmal wurde ich ruhig. Als wäre ein Schalter umgelegt worden. Und die kalten Füße wurden einfach zu kalten Füßen.
Es war für mich so eindrücklich zu erleben, wie sehr sich mein kompletter Gesamtzustand veränderte, als ich es schaffte, meine Gedanken zwar wahrzunehmen, aber nicht mehr darauf einzusteigen. Sie »einfach« zu registrieren, um mich dann dem zuzuwenden, was da sonst noch so war: Stirn in Falten. Spannung im Kiefer … Okay – loslassen! Was noch? Ach ja, die kalten Füße! Ein ziemlich kalter großer Zeh. Ein etwas weniger kalter kleiner Zeh. Und ziemlich wohltemperierte Fußsohlen und Fersen … Und plötzlich hatte ich eine Wahl, was ich aus den kalten Füßen machte. Drama oder Lernfeld? So saß ich also mit meinen kalten Füßen und beobachtete meine Gedanken dazu – und wurde übrigens nicht krank!
Dass meine Füße damals im Norden Indiens kalt waren, war ein Fakt. Eine Tatsache, die sich nicht leugnen ließ. Doch inwiefern das meinen Gesamtzustand prägte, war ganz maßgeblich davon abhängig, was ich innerlich daraus machte. Ich hätte mich eine Stunde lang dem Lärm in meinem Kopf hingeben können. Der Angst vor der Erkältung. Dem Verfluchen dieser Idee, überhaupt hierhergekommen zu sein. Und – schwups – hätte ich eine furchtbare Stunde gehabt und wäre angestrengt aus der Meditation gekommen. Indem ich meine Gedanken und Gefühle beobachtete, ohne mich davon einnehmen zu lassen, löste sich etwas in mir. Und ich konnte klarer auf das blicken, was da fernab meines gedanklichen Dramas war: einfach nur kalte Füße.
Gut, und … ähm … was hat das jetzt alles mit Familie und mit den Herausforderungen des Alltags zu tun, Nina?
Dein Kind durchläuft gerade eine anstrengende Phase? Dann ist das eine Tatsache. Du reagierst darauf, zumindest gelegentlich, auf eine Art und Weise, die dir eigentlich missfällt? Dann ist auch das ein Fakt. Deine innere Ausrichtung entscheidet nun, ob daraus ein Drama oder ein Lernfeld wird. Und die Techniken der Achtsamkeit unterstützen dich dabei, in eine Haltung zu finden, die dich ermächtigt, zu wählen, wie du auf die äußeren Umstände antwortest, anstatt impulsiv darauf zu reagieren.
Lass uns zur Verdeutlichung ein konkretes Beispiel aus dem Familienalltag nehmen:
Max (2) wirft sich trotzig auf den Boden, weil er keine Schokolade mehr bekommt.
Was löst das gedanklich bei seiner Mutter aus?
Sie denkt: »Du undankbares Ding, du hast doch schon so viel bekommen!« Oder: »Ich kann ihm einfach nicht gerecht werden. Nie ist es genug …«
Kennst du sowas? Mir ist es wichtig, zuallererst zu sagen, dass es schlichtweg menschlich ist, wenn sich solche oder ähnliche Gedanken in dir regen. Das macht dich nicht zu einer schlechten Mutter. Entscheidend ist, wie du mit diesen Gedanken umgehst. Welche Bedeutung schreibst du ihnen zu? Nimmst du sie für bare Münze? Lässt du dich von ihnen leiten? Lässt du dich von ihnen einnehmen? Dann kommt es sehr wahrscheinlich in irgendeiner Form zu einem Konflikt, entweder mit deinem Kind oder mit dir selbst.
Einer der Kernthesen der Achtsamkeit kann an dieser Stelle helfen: Gedanken sind nichts weiter als flüchtige Erscheinungen an der Oberfläche unseres Bewusstseins. Und wir können wählen, ob wir auf diesen Gedankenzug aufsteigen – oder eben nicht. Wenn du erkennst: »Aha – da kommt so ein fieser Gedanke. Aber ich muss darauf nicht einsteigen. Ich kann ihn loslassen«, kannst du deinen Blick neu ausrichten. Und dich für das öffnen, was neben diesem einen Gedanken noch alles so da ist. Und plötzlich siehst du in dem schokoverschmierten Monster vielleicht ein ziemlich müdes Kind. Oder ein besonders willensstarkes Kind, das sehr genau weiß, was es möchte. Oder deine eigene Erschöpfung – und die Unlust, über Schokolade streiten zu müssen … Und – tatataaaa – schon hast du ein komplett neues Feld an möglichen Antworten auf die aktuelle Herausforderung.
Fakt ist, dass wir als Menschen in jedem Moment durch unfassbar viele Reize beeinflusst werden – innere wie äußere. Achtsamkeit unterstützt uns dabei, uns in dem ganzen Lärm bewusst auszurichten. Sie schenkt uns eine Wahl:
Was mache ich aus den kalten Füßen?
Was mache ich aus meinem wütenden Kind?
Lasse ich mich von meinen Gedanken wegtreiben? Oder richte ich mich aus und wähle zu antworten, anstatt blind zu reagieren?
Aus der Kognitiven Verhaltenstherapie wissen wir, dass es unsere Gedanken sind, die aus den herausfordernden Momenten unseres Alltags einen Stressmoment machen. Und Achtsamkeit hilft uns, uns so auszurichten, dass wir selbst im größten Chaos Familie so leben können, wie wir es uns wirklich-wirklich wünschen. Und genau das werden wir gemeinsam in diesem Buch aufgreifen. Ich beziehe mich hier im Wesentlichen auf Techniken, die in der Achtsamkeitsphilosophie verwurzelt sind und sich in der sogenannten dritten Welle der Kognitiven Verhaltenstherapie sehr bewährt haben.2 Diese »dritte Welle« ist eine neue Strömung innerhalb der etablierten Kognitiven Verhaltenstherapie, in der sich rund um die Jahrtausendwende unterschiedliche Ansätze formierten, die sich unter anderem auf zentrale Achtsamkeitstechniken stützen und beziehen.
Lass uns deine guten Ideen zum Leben erwecken! Und mit Achtsamkeit beginnt der Weg. Denn Achtsamkeit unterstützt dich dabei, die negative Bewertung von deinen Konflikten aufzuweichen, um sie als Chance betrachten zu können.
Akzeptanz
Eine weitere wesentliche Grundlage für unsere gemeinsame Reise ist die Art und Weise, wie wir den Herausforderungen unseres (Familien-)Lebens begegnen. Gerade in Konflikten.
Wie ist es bei dir? Welche Gedanken gehen dir durch den Kopf, wenn du an den letzten Streit mit deinem Kind denkst?
Ist es sowas wie: »Wow! … Ach, schön! Einfach schön, dass wir uns endlich mal wieder gestritten haben!«?
Sehr wahrscheinlich nicht, oder?
Warum haben Konflikte eigentlich so einen schlechten Ruf? Warum mögen wir sie so ungern, ja, versuchen sie sogar zu vermeiden?
Ist doch vollkommen klar, denkst du jetzt wahrscheinlich. Warum sollte ich etwas mögen, was mich stresst, was mich Kraft kostet? Was nervt, zehrt und Zeit raubt???
Hier können wir gleich die Achtsamkeit zu Rate ziehen, denn ihre zugrunde liegende Philosophie erklärt das sehr schön: Wir alle haben die menschliche Tendenz, ein Verlangen nach den Dingen zu entwickeln, die uns gefallen. Davon wollen wir immer mehr. Und wir entwickeln eine Ablehnung gegen das, was uns widerstrebt. Das wollen wir tunlichst vermeiden und so wenig wie nur möglich davon in unserem Leben haben. Und da Konflikte nun mal meist damit einhergehen, dass uns etwas oder jemand widerstrebt, ist die Ablehnung von Konflikten sehr plausibel.
Das Problem ist nur, dass wir dadurch immer in einer gewissen Abhängigkeit stehen. Wenn in unserer Familie gerade alles harmonisch ist, geht es uns gut. Und wenn unser Kind uns mit DUPLO-Steinen bewirft, Türen knallt oder nicht mehr mit uns redet, geht es uns nicht gut. Unser Wohlbefinden steht also in Abhängigkeit zu dem, was im Außen passiert.
Ein angestrebtes Ziel der Achtsamkeit ist es, ein neues Maß an innerer Freiheit zu gewinnen, indem wir uns von dieser Abhängigkeit lösen. Das gelingt durch ein Aufweichen von Bewertungen wie »gut« oder »schlecht«. Stattdessen beobachten wir neutral, was sich ereignet. Aus dieser Zeugenperspektive können wir gelassener auf die Welt blicken. Dann versetzen uns Konflikte auch nicht mehr in Rage! Dann sind wir frei.
Das klingt ziemlich erstrebenswert, oder?
Nur betrachte ich, ganz ehrlich gesagt, meine persönliche Chance, in diese Art von Erleuchtung zu finden, unter meinen aktuellen Lebensumständen als eher mäßig. Daher tut es mir gut, diese Erleuchtung zwar als schönes Ziel anzuvisieren, mir aber auf den Weg dorthin Zwischenziele zu setzen. Und genau die möchte ich an dieser Stelle mit dir teilen:
Ein ganz wichtiger erster Schritt ist, überhaupt zu bemerken, dass du bewertest. Der Moment, in dem du realisierst, dass du in einer negativen Bewertung gefangen bist (»Dieses undankbare Biest!«, »Das ist doch alles Scheiße!«) ist ein Geschenk. Denn er ermöglicht es dir, deine Scheuklappen zu öffnen und dich für das zu öffnen, was neben dieser einen negativen Bewertung noch alles da ist.
Außerdem hilft es mir, wenn ich mir anschaue, warum ich die Dinge denn überhaupt so schlecht bewerte (das hilft übrigens meist schon beim Loslassen der Ablehnung). Stattdessen richte ich mein Augenmerk auf das, was mir die Situation schenkt. Was sie mich lehrt. Wie mir die Situation dient. Und aus dieser Perspektive heraus schneiden Konflikte auf einmal ziemlich gut ab.
Die Geschenke deiner Konflikte
Echte Beziehung
Ein Konflikt schenkt uns immer die Möglichkeit, mehr über unser Gegenüber zu erfahren. Warum wird er gerade wütend? Was verletzt sie? Was ist der Schmerzpunkt? Was hätte sie gebraucht, um sich sicher zu fühlen? Wie kann ich mein Anliegen künftig zum Ausdruck bringen, sodass er es auch annehmen und berücksichtigen kann?
Hier beginnt echte Beziehung. Es mag bequemer sein, nebeneinanderher zu leben. Doch wer sich berührt, erzeugt eben auch Reibung. Ja, wo Bindung ist, ist Reibung. Schlussendlich sind Konflikte also ein Ausdruck der engen Verbundenheit, die wir miteinander haben.
Klarheit über dein Wertesystem
Wenn uns etwas missfällt, dann meist auch deswegen, weil es in Konflikt zu einem unserer (meist unbewussten) Werte steht. Reagierst du beispielsweise genervt, wenn eine Bitte nicht berücksichtigt wurde, liegt das sehr wahrscheinlich auch daran, dass der Wert Respekt eine wichtige Rolle für dich spielt und in diesem Fall übergangen wurde. Das heißt, ein Konflikt schenkt dir potenziell auch immer einen Einblick in dein Wertesystem. Und hier verbirgt sich so ein kostbares Geschenk! Denn ein klar und bewusst definiertes Wertesystem kann dir wie ein guter Kompass dienen. Er weist dir die Richtung, wenn du dich verloren fühlst.
Wunde Stellen werden offenbar
Äußere Umstände oder ein Gegenüber vermögen uns nur dann in ein inneres Ungleichgewicht zu versetzen, wenn er, sie oder es einen wunden Punkt in uns trifft. Wie lässt es sich sonst erklären, dass das chaotische Kinderzimmer deinen Partner kalt lässt, dich selbst aber in Rage versetzt? Jede einzelne Auseinandersetzung, in der du stark emotional involviert bist, zeigt dir eines der Themen auf, mit denen du noch nicht im Frieden bist. Und damit serviert dir jeder einzelne Konflikt die Möglichkeit, in ein Persönlichkeitswachstum einzutreten, auf dem Silbertablett.
Ein triftiger Grund zur Veränderung
Wir Menschen brauchen häufig das Unangenehme im Außen, das so gnadenlos an unserer Tür rüttelt, bis wir uns schließlich in Bewegung setzen müssen. Konflikte sind dieses Unangenehme im Außen; sie holen uns raus aus unserem Alltagstrott, rütteln einmal ordentlich an uns und zeigen uns, was noch nicht ganz stimmig ist. Und damit haben wir aus psychotherapeutischer Sicht die perfekte Grundlage, um etwas zu verändern.
Summa summarum doch eigentlich eine ziemlich coole Sache, oder?
Konflikte innerhalb der Familie sind so sicher wie das Amen in der Kirche. Es ist also kein erstrebenswertes, geschweige denn realistisches Ziel, die Reibereien komplett aus der Familie zu verdammen. Lass uns stattdessen viel lieber Frieden mit dem Unumgänglichen schließen. Lass uns die Negativbewertung von Konflikten innerhalb unserer Familie aufweichen und uns für das Potenzial öffnen, das sie mit sich bringen.
Wenn du möchtest, lass uns kühn sein und dem Ganzen sogar ein wenig die Ernsthaftigkeit nehmen. Was gäbe es zu verlieren, wenn wir unsere Herausforderungen spielerisch betrachten würden? Ich weiß, es ist Teil unserer Kultur und damit der Tenor einer ganzen Gesellschaft, das Leben mit einer gewissen Ernsthaftigkeit anzugehen – und Dinge wie Kindererziehung erst recht. Aber jetzt mal wirklich: Was haben wir denn zu verlieren, wenn wir den Ernst ein wenig an die Seite stellen und stattdessen etwas mehr Spiel in unser Leben kommen lassen? Spiel im Sinne von Freude am Prozess. Verbunden mit dem Wissen, dass es in einem Spiel eben ganz häufig die Herausforderungen sind, die dem Ganzen eine gewisse Würze verleihen.
Was würde sich an deinem Familienleben verändern, wenn du deine Schwierigkeiten als Teil des Spiels willkommen heißen würdest?
Ich möchte hier nun nicht den Eindruck erwecken, dass ich bei jeder Streiterei freudvoll jubiliere: »Jaaa! Endlich! Da ist sie wieder! Meine Chance zum Wachstum!!« Natürlich verliere ich mich. Was sich aber verändert, ist die Dauer an Zeit, die ich im Trüben fische. Ich schaffe es schneller und schneller, aus meinem Drama auszusteigen und wieder klar auf die Situation zu blicken. Durchzuatmen. Und zu nutzen, was sich da präsentiert. Für mich persönlich, für meine Kinder, für meine Familie.
Also streitet euch. Haut euch ruhig mal die Köpfe ein. Und danach: Vertragt euch wieder. Und lernt gemeinsam daraus. Eure Konflikte sind eine so kostbare Grundlage, um sich mit der Frage zu beschäftigen, was ihr denn eigentlich wollt! Denn wir haben häufig die Tendenz, darauf zu schauen, was wir nicht wollen. Aber wo willst du denn eigentlich hin?
Wo willst du hin?
Wenn wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir Familie so leben können, wie wir es wirklich-wirklich möchten, macht es natürlich Sinn, sich mit der Frage zu befassen, was wir denn eigentlich wirklich-wirklich möchten. Denn selbst das klügste Navi braucht zur Berechnung der Route hin zu deiner Wunschfamilie zwei Koordinaten: den Ausgangspunkt und das Ziel. Lass uns daher diese beiden Punkte ein wenig näher anschauen.
Dein Ausgangspunkt
Wenn du mit beiden Füßen auf deinem Ausgangspunkt angekommen bist, hast du gute Bedingungen, um sicheren Schrittes in Richtung Wunsch-Familienleben loszugehen. Daher möchte ich dich an dieser Stelle einladen, deinem aktuellen Status quo ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn du möchtest, fühl dich ganz herzlich eingeladen, die folgenden Fragen für dich zu beantworten:
Ein Experiment
Tue in den nächsten 24 Stunden nichts, als dort anzukommen, wo du jetzt gerade stehst. Stell für einen Tag alle Bemühungen, etwas verändern zu wollen, beiseite. Erlaube dir für die kommenden 24 Stunden, nichts tun zu müssen, keinen Plan und keine Strategie haben zu müssen.
Lass uns kühn werden und vielleicht – und das bitte nur für einige Augenblicke! – sogar damit experimentieren, wie es wäre, dir zu erlauben, deine aktuelle Herausforderung so richtig gut zu finden. Weil du in dem Wissen sein kannst, dass genau diese Herausforderung die Basis für eine Veränderung sein wird.
Was macht das mit dir?
Wahrscheinlich war es bisher so, dass du die Schwierigkeit am liebsten einfach sofort weggehabt hättest. Und vielleicht ist der Gedanke, voll in der Schwierigkeit anzukommen, für dich auch absurd. Denn schließlich möchtest du ja etwas verändern. Warum also zum Henker etwas betonen, was du eigentlich gar nicht möchtest? Einfach deshalb, weil ich gern mit dir gemeinsam darauf schauen möchte, wie du Glück, Freude und Leichtigkeit empfinden kannst, obwohl die äußeren Umstände nicht genau so sind, wie du es dir wünschst. Ein wesentlicher erster Schritt hierfür ist anzuerkennen, was gerade ist. Und genau dazu möchte ich dich für die nächsten 24 Stunden einladen.
Wenn das Navi deinen aktuellen Standort erfasst hat, kann es sich mit dem Ziel beschäftigen.
Dein Ziel
Was, wenn alles möglich wäre? Was würdest du dir dann für dich und deine Familie wünschen?
Stell dir einmal vor, auf deiner Schulter sitzt eine kleine Fee mit einem magischen Zauberstab – und du kannst ihr zuflüstern, was auch immer du dir für dich und deine Familie wünschst. Was wäre das?
Vielleicht hast du sofort ganz konkrete Vorstellungen und eine klare Vision von dir, von euch. Vielleicht hast du darüber aber auch noch nie wirklich nachgedacht und tust dich gerade eher schwer. Beides ist total in Ordnung.
In jedem Fall lohnt es sich, ein paar Gedanken in die Frage zu investieren, wohin du denn eigentlich möchtest. Denn nur, wenn das Ziel klar ist, kann die richtige Route berechnet werden.
Wenn du möchtest, schnapp dir dein Notizbuch und mach dir zu folgenden Fragen Notizen: Wenn alles möglich wäre …
Ich schreibe hier bewusst nicht im Konjunktiv. Wenn du es schriftlich für dich festhalten möchtest, darfst du auf zwei Dinge achten: Schreibe in der Gegenwart und formuliere positiv (mach aus: »Wir hätten keinen Streit« also zum Beispiel: »Wir leben in Leichtigkeit«).
Du kennst nun deinen Grund und Boden. Und du weißt nach diesem Kapitel auch, wohin du möchtest. Perfekte Voraussetzungen, um die Brücke zwischen Theorie und Praxis zu schlagen. Auf zu neuen Ufern!