Cover

Die niederländische Philosophin Elke Wiss schreibt eine Anleitung für gute Gespräche und nimmt uns mit auf eine Reise in die Welt der praktischen Philosophie: zuhören, bessere Fragen formulieren und Meinungen und Behauptungen untersuchen. Sie konfrontiert uns mit unseren eigenen Vorannahmen und schärft unsere Gedanken so, dass unsere Kommunikationsfähigkeiten weiterentwickelt werden. Leicht verständlich wird mit vielen Alltagsbeispielen erklärt, wie wir mit Hilfe der alten Philosophen Offenheit und Neugier entwickeln, Fragen stellen, die überraschen und zum Nachdenken anregen, und so bedeutungsvollere Gespräche führen können.

Elke Wiss, geboren 1986 in den Niederlanden, ist Theatermacherin und praktische Philosophin. Sie schreibt und leitet Performances und gibt Schulungen und Workshops in praktischer Philosophie und der Kunst, Fragen zu stellen. Elke Wiss führt als Coach sokratische Diskussionen innerhalb von Organisationen durch und gibt individuelle philosophische Konsultationen.

Elke Wiss

SOKRATES

IN

SNEAKERN

Von der Kunst, gute

Gespräche zu führen

Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke

Kösel

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Socrates op Sneakers. Filosofische gids voor het stellen van goede vragen bei Ambo | Anthos Uitgevers, Amsterdam

Copyright © 2021 Kösel-Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright SOCRATES OP SNEAKERS © 2020 by Elke Wiss

Originally published by Ambo | Anthos Uitgevers, Amsterdam

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagdesign: © Bas van Vuurde

Foto (siehe hier): © Michel Klooster Photography

Redaktion: Jennifer Wagner

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-27802-1
V001

www.koesel.de

Inhalt

EINLEITUNG

Praktische Philosophie: Kann man das essen?

Warum Sokrates?

Warum sollten Sie sich selbst trainieren?

1 WARUM SIND WIR SO SCHLECHT
DARIN, GUTE FRAGEN ZU STELLEN?

Grund 1: Biologie

Grund 2: Frageangst

Grund 3: Belohnung

Grund 4: Objektivität

Grund 5: Zeit

Grund 6: Kompetenz

2 DER KERN: DIE SOKRATISCHE HALTUNG

Staunen

Neugier, echte Wissbegierde

Mut

Urteilen und das Urteil ganz und gar nicht ernst nehmen

Das Nicht-Wissen ertragen lernen (und sogar mit offenen Armen begrüßen)

Empathie – lass es einfach bleiben

Unmut aushalten – das gehört dazu

Die Struktur eines Sokratischen Gesprächs

3 FRAGEBEDINGUNGEN

Fragebedingung 1: Alles beginnt mit gutem Zuhören

Fragebedingung 2: Sprache ernst nehmen

Fragebedingung 3: Um Einverständnis ersuchen

Fragebedingung 4: Verlangsamen

Fragebedingung 5: Frustration aushalten

4 FRAGEKOMPETENZEN: TECHNIK,
TIPPS UND FALLSTRICKE

Ein Leitfaden: Sokratisch fragen – nach oben und nach unten

Weiterfragen bis zum heißen Punkt

Ein Rezept für das Stellen guter Fragen: Gibt es das?

Fallstricke beim Fragen

5 VON DER FRAGE ZUM GESPRÄCH

Dominosteinchen

Weiter nachfragen: Wie geht das?

Mit einer Frage konfrontieren

Weiterfragen: Eine Nimm-einmal-an-Frage, um dem Denken einen Schubs zu geben

Lassen Sie sich befragen

NACHWORT

DANKE!

BIBLIOGRAFIE

ANMERKUNGEN

Einleitung

»Mach schon, stell die Frage einfach.« Sokrates saß schräg hinter mir. Er trug knallbunte Sneaker und ein Batman-Cape.

»Los jetzt, du hast einen guten Grund dafür.«

Ich blinzelte. »Sokrates, ich weiß, dass deine Zeit etwa 2500 Jahre zurückliegt. Vielleicht ist dir ja einiges entgangen, aber in der heutigen Gesellschaft ist das keine Frage, die man einfach mal so stellt.«

Das ist schon viele Jahre her. Ich nahm an einem Kurs »Praktische Philosophie« teil. Es war meine erste Begegnung mit diesem Konzept. Ich war auf der Suche nach etwas Theorie, Wissen und Erfahrung zum Führen philosophischer Gespräche und hoffte, hier klar denken zu lernen. Als Theatermacherin suchte ich nach Werkzeugen, um mir über meinen eigenen Denkprozess beim Gestalten von Aufführungen klarer zu werden. Und ich wollte in meinen Schauspielen gezieltere Fragen stellen können. Also ging ich hin: zum Kurs »Praktische Philosophie«.

In der Mittagspause des ersten Kurstages landete ich an einem Tisch mit fünf anderen Teilnehmern: einem Mann und vier Frauen. Das Thema an diesem Tisch: Kinder. Man fragte einander rundum: Hast du Kinder? Ja, einen Sohn. Und du? Ja, zwei Töchter, acht und zehn Jahre alt. Jedem wurden noch einige Nachfragen gestellt: Wie alt sind sie? Gehen sie schon zur Schule? Ach ja, hat dein Kind auch schon ein eigenes iPad?

Ich kannte diese Art von Gesprächen mittlerweile. Ich war Ende zwanzig und hatte schon einige Gespräche dieser Art hinter mir. Sobald jemand in einem solchen Gespräch sagt: Nein, ich habe keine Kinder, entsteht oft ein betretenes Schweigen, oder jemand stellt schnell eine Frage an den Nächsten in der Runde. Das verwundert mich immer. Menschen mit Kindern sprechen gerne davon, wie es ist, Kinder zu haben, aber die Geschichten von Kinderlosen wollen sie am liebsten nicht hören. Schon damals fand ich: Auch sie haben eine Geschichte. Warum entscheiden wir, indem wir ihnen keine Fragen stellen, dass es keinen Raum gibt, sie diese erzählen zu lassen?

Jetzt war ich an der Reihe, und ich sagte, dass ich keine Kinder hätte. Ich holte kurz Luft, um noch ein paar Sätze hinzuzufügen. Damals arbeitete ich viel mit Kindern in Theaterkursen, die ich in diversen Schulen gab. Ich war voller toller Kindergeschichten, von denen ich gerne ein paar erzählt hätte.

Ich war auch neugierig auf die Argumente und Erfahrungen der anderen, und ich wollte auch gerne über meine Zweifel darüber reden, Kinder zu bekommen oder nicht. Woher weiß man, wollte ich fragen, ob man ein Kind will oder nicht? Das ist so eine große Entscheidung; und na ja, wohl so etwas Ähnliches wie ein Tattoo auf der Stirn: ziemlich endgültig, könnte man sagen. Das muss man sich schon gut überlegen. Und wie seid ihr eigentlich zu dieser Entscheidung gekommen?

Doch bevor ich weitersprechen konnte, wurde die »Und-du?-Frage« schnell der nächsten Teilnehmerin gestellt. Alle schauten neugierig auf meine Nachbarin, die nun begeistert von ihrer siebenjährigen Tochter erzählte. Mein Blick wurde sorgfältig gemieden: Offenbar gehörte meine Geschichte nicht in dieses Gespräch – was ich merkwürdig fand. Wir waren mehr oder weniger im gleichen Alter und hatten auf jeden Fall das gleiche Interesse, da wir uns ja alle für den Kurs »Praktische Philosophie« angemeldet hatten. Ein idealer Kontext für vertiefende Gespräche in einem Umfeld, in dem man sich nicht von konventionellen Normen und Gesprächsgewohnheiten hemmen lassen musste.

Eine Art Empörung kochte in mir hoch: Wieso ein Gespräch über Kinder beginnen und es nur mit einem ausgewählten Grüppchen führen? Wieso wird stillschweigend entschieden, wessen Geschichten Raum gegeben und wessen Geschichten vermieden werden? Wieso lässt man die betreffende Person nicht selbst entscheiden, ob sie etwas mit den anderen teilen möchte oder lieber nicht?

Nachdem meine Nachbarin zur Genüge über ihre Tochter gesprochen hatte, wurde die Frage an die nächste Person weitergereicht: an eine Frau Anfang vierzig mit verspielten braunen Löckchen. Sie sagte: »Nein, ich habe keine Kinder.« Schon war die Gruppe drauf und dran, wieder zur Nächsten weiterzugehen.

Und dann verlangsamte sich die Zeit. »Stell einfach diese Frage. Du hast einen guten Grund dafür«, hörte ich ihn hinter mir sagen. Sokrates lachte ein wenig, um mich zu ermutigen – und aus Schadenfreude, denke ich.

Ich schaute ihn an und erklärte ihm, dass das heutzutage nicht gerade üblich sei. »Das kann ich doch nicht machen, oder?«, fragte ich.

Sokrates schaute zurück. Er zog sein Cape zurecht, putzte sich einen Fleck von seinen Sneakern. »Das ist nun genau das Problem mit euch. Ihr habt euch eine Norm ausgedacht, die vorschreibt, dass es Fragen gibt, die heikel und unangemessen sind, und andere, die gut und zulässig sind. Und das alles nur, weil ihr der Meinung seid, dass man den anderen vor allem schonen soll, dass Fragen freundlich sein müssen und dass man echte, vielleicht auch schmerzliche, aber gerade deshalb auch wichtige und verbindende Themen vermeiden soll.«

»Ja, aber …«

»Die Frage, die du stellen willst, ist eine Frage nach einer Tatsache. Nicht wahr?«

»Ähm … ja.«

»Wie kann eine Frage nach einer Tatsache an sich eine falsche Frage sein?«

»Das, ähm, … weiß ich nicht.«

»Genau. Die Frage ›Hast du dich selbst dafür entschieden, keine Kinder zu bekommen?‹, fällt nicht per se in eine andere Kategorie als die Frage ›Hast du dich selbst für diese Haarfarbe, diese Hose, diesen Wohnort oder diesen Job entschieden?‹. Dass ihr der Frage alle möglichen schmerzhaften Emotionen zuschreibt, wie auf Eiern lauft und zudem noch eine ungeschriebene Regel daraus macht, dafür kann sie nichts. Kein Wunder, dass es so viele von euch nach mehr Tiefe verlangt. Ihr macht aus eurem Gespräch ein Minenfeld: Aus Angst vor einer Explosion seid ihr sehr darum besorgt, dass eure Gespräche schön sicher bleiben. Und damit oberflächlich. Und damit langweilig.«

Ich holte tief Luft, um Einspruch zu erheben. Sokrates fuhr unerschütterlich fort: »Außerdem: Wenn du der Meinung bist, dass man den Geschichten von Kinderlosen mehr Raum geben sollte, gleichzeitig aber den Mund hältst, dann macht dich das zu einer von ihnen. Dann trägst du auch selbst dazu bei, diese ungeschriebene Regel aufrechtzuerhalten.«

Ich blinzelte noch einen Moment lang konsterniert mit den Augen. Was nun?

»Stell einfach die Frage.« Sokrates nickte in die Richtung von Verspielte Löckchen und lehnte sich zurück.

Ungehindert von jeglichem Wissen über die Kunst des Fragens, aber mit einer Portion guter Absichten und dem Drang, mich weiterzuentwickeln, beschloss ich, von Sokrates ermutigt, es zu versuchen. Ich werde hier eine Revolution in Gang setzen; ich werde in Gruppengesprächen für kinderlose Frauen eintreten und diesem Gespräch Tiefe verleihen, dachte ich. Ich nahm etwas Mut zusammen, holte Luft, schaute Verspielte Löckchen direkt in die Augen und fragte in das Schweigen der Gruppe hinein: »Hast du dich selbst dafür entschieden?«

Die Stille, die eintrat, war bleiern und beklemmend. Ich spürte, wie der Rest der Gruppe ein wenig den Atem anhielt. Verspielte Löckchen sah mich an, ihr Atem stockte, sie presste die Kiefer zusammen und sagte pikiert: »Nein. Dafür habe ich mich nicht selbst entschieden, nein.«

Der Rest der Gruppe machte sich, so gut es nur ging, unsichtbar, was bei einem kleinen Tisch mit sechs Personen nicht einfach ist, aber sie gaben ihr Bestes.

Ich spürte, wie meine eigene Nervosität gehörig zunahm. Ich zischte Sokrates zu: »Danke auch. Toller Rat, Kumpel.« In meinem Kopf gingen die Alarmglocken an. Wie um alles in der Welt soll ich dieses Gespräch noch retten, dachte ich.

Die Mittagspause war inzwischen vorbei, wir gingen alle gemeinsam zum Gruppenraum zurück. Ich suchte Verspielte Löckchen und ging ein Stück neben ihr her. Ich stammelte etwas Ähnliches wie: »Ich wollte dich nicht verletzen, aber in solchen Gesprächen werden Menschen, die sagen, ›ich habe keine Kinder‹, oft übergangen, und das finde ich nicht richtig, und ich bin immer neugierig auf diese Geschichte und ich bin neugierig auf deine Erfahrung, und daher dachte ich, ich stelle einfach eine Frage, denn jeder in diesem Gespräch verdient es, gehört zu werden, und wir sind hier, um praktische Philosophie zu betreiben und um zu lernen, bessere Fragen zu stellen und …«

Ich glaube, dass ich keinen Satz klar zu Ende gebracht habe. Meine Erklärungen blieben fade und beschämt irgendwo in der Luft hängen. Sie nickte kurz als Zeichen, dass ich aufhören könne zu reden. Und zischte mir dann noch zu: »Ich finde es sehr seltsam, dass einige Leute denken, das einfach so fragen zu können«, und beschleunigte ihren Schritt in Richtung Gruppenraum.

Dieser Moment an diesem Mittagstisch, dieses Gespräch und meine Frage sind mir so deutlich in Erinnerung geblieben, weil die Gefühle, die sie hervorriefen – bei mir und bei ihr – so stark waren. Ich schämte mich, fühlte mich schuldig, obwohl ich im Grunde nicht wusste wofür. Meine Absichten waren lauter gewesen: Ich wollte mehr Tiefe, mehr Verbindung. Geschichten austauschen. Jenseits des oberflächlichen Small Talks: Was machst du beruflich, woher kommst du, wie viele Kinder hast du? Ich wollte Raum für alle Geschichten schaffen. Ich wollte eine ungeschriebene Regel, über die ich mich wunderte, hinterfragen. Ich wollte die Welt wie ein moderner Sokrates in Sneakern mit guten Fragen, wertvollen Antworten und besseren Gesprächen erobern.

Ich wünschte, ich hätte damals, vor Jahren während der Mittagspause und in dem Hast-du-Kinder?-Moment gewusst, was ich heute weiß: dass es einen Weg gibt, solche Fragen zu stellen, ohne dass der andere in einem Sumpf von Emotionen ertrinkt. Dass man einen Kontext und Bedingungen schaffen kann, unter denen man gemeinsam nach Vertiefung suchen kann. Dass man Fragen stellen kann, die Verbindung entstehen lassen, Fragen, die es uns erlauben, mitzuteilen, was uns wirklich beschäftigt, auch wenn es ein wenig wehtut. Dass man Fragen anders betrachten kann, sodass man dem anderen nicht so schnell auf die Füße tritt. Dass gute Fragen zu starken Antworten führen, und dass man ihnen Aufmerksamkeit widmen muss. Dass es einen Weg gibt, ein gleichberechtigtes Gespräch zu führen, bei dem wesentliche Ideen und Überzeugungen beleuchtet werden. Einen Weg, zum Kern vorzudringen, Sinn von Unsinn zu unterscheiden, wobei jeder die Verantwortung für seine eigenen Emotionen und Befindlichkeiten übernimmt. Einen Weg, die Frage das sein zu lassen, was sie ist: eine Einladung zur Vertiefung.

Eine Einladung, die man annehmen und ebenso gut ablehnen kann – ohne peinliches Schweigen, verletzte Seelen oder Versuche, an einem Mittagstisch Verstecken zu spielen.

Wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß, hätte ich die Frage dennoch gestellt. Aber anders. Ich hätte, wie Sokrates es tat, um Erlaubnis gebeten. Ich hätte gesagt: Ich bin neugierig auf deine Geschichte. Ist es okay für dich, wenn ich dir eine Frage dazu stelle?

Wie gesagt: Ich wusste damals nicht, was ich jetzt weiß. Ich zog die Register, die mir damals zur Verfügung standen. Das resultierte in einer schmerzlichen Erfahrung, an die ich noch lange und oft zurückgedacht habe, und die später, in den darauffolgenden Jahren, enorm zu meiner Entwicklung, meiner Ausbildung und sogar zum Schreiben dieses Buches beigetragen hat. Seither habe ich mehr über praktische Philosophie gelernt, über die Kunst, Fragen zu stellen und philosophische und Sokratische Gespräche zu führen. Ich habe Seminare und Kurse in den Niederlanden und im Ausland besucht. Ich gründete ein Unternehmen, De Denksmederij (Die Denkschmiede), und begann, Schulungen und Workshops für sokratische Gesprächsführung, kritisches Denken und die Kunst des Fragenstellens durchzuführen. In all dieser Zeit habe ich dazugelernt, und tue es noch immer. Ich habe gelernt, was funktioniert und was nicht; was eine gute Frage ausmacht; was man tun kann, um ein Gespräch zu vertiefen und Menschen zum gemeinsamen Denken und Philosophieren zu bringen. Und ich habe etwas über Sokrates gelernt, der insgeheim inzwischen ein wenig mein Held ist. In Sneakern.

In den Trainings, philosophischen Beratungen und Präsentationen sah und spürte ich, welche Wirkung es haben kann, wenn man Gespräche mit einer anderen Intention führt. Wie sich Gespräche verändern, wenn man sich in sokratischer Haltung übt und man seine Art, Fragen zu stellen, entwickelt. Ich sah und spürte, wie viel gehaltvoller und wertvoller Gespräche werden, wenn man sich all der menschlichen Zuhör- und Konversationsfallen bewusst ist und weiß, wie man sie vermeiden kann.

Und ich habe die Freude erlebt, dieses Wissen, diese Einsichten und diese Fähigkeiten mit anderen Menschen zu teilen. Als ich um mich herumschaute, wurde mir klar, dass ich ein Buch schreiben wollte. Für alle, die sich nach besseren Gesprächen sehnen, aber nicht so recht wissen, wie sie dazu kommen sollen.

In diesem Buch führe ich Sie, mit Sokrates als Ratgeber, in die Kunst des Fragens ein. Damit Sie in jeder Situation und unter allen Umständen wissen, wie Sie ein Gespräch vertiefen und gute Fragen stellen können.

Praktische Philosophie: Kann man das essen?

Ich schreibe dieses Buch aus dem Blickwinkel der praktischen Philosophie. Sie ist weder schwammig noch alten Männern mit Bart in Elfenbeintürmen vorbehalten. Praktische Philosophie verbindet große Begriffe wie Gerechtigkeit, Freundschaft, Inklusion und Mut mit praktischen Fragen des Alltagslebens: Darf man Freunde belügen? Sollte man eine inklusive Einstellungspolitik betreiben? Wann ist es besser, etwas zu verschweigen? Es handelt sich dabei um eine philosophische Art, Gespräche zu führen, gemeinsam nach Weisheit, nach neuen Einsichten und Antworten auf universelle Lebensfragen zu suchen. Jeder von uns stellt sich wohl manchmal Fragen wie: Will ich den Job wechseln? Will ich bei meinem jetzigen Partner bleiben oder mich für diese neue Liebe entscheiden? Ist das, was ich denke, fühle und tue, im Einklang miteinander? Darf ich auch an mich selbst denken? Das sind alles Lebensfragen, deren Antworten nicht bei Google oder Wikipedia zu finden sind und in denen man sich ganz schön verhaken kann. Nur indem wir miteinander darüber sprechen und gute Fragen stellen, werden wir gemeinsam weiser. Dieses Buch hilft Ihnen nicht dabei, besseren Small Talk zu führen. Es hilft Ihnen, Gespräche zu vertiefen. Ein Gespräch gewinnt dann an Tiefe, wenn man neue Möglichkeiten untersucht, wenn das Denken »eingeschaltet« wird und Raum für neue Entdeckungen und überraschende Erkenntnisse entsteht. Wenn man auf diese Weise denkt, wechselt man die Perspektive, versetzt sich in das Denken des anderen; man untersucht, ohne gewinnen oder überzeugen zu wollen.

Lammert Kamphuis beschreibt in seinem Buch Kleine Schule des Lebens genau, was praktisches Philosophieren ausmacht: »Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset sagte einmal, Philosophie sei die Wissenschaft der Oberflächlichkeit: Beim Philosophieren fördere man unbewusste Vorstellungen, Voraussetzungen und Annahmen zutage.«1

Es ist sinnvoll und bereichernd, sich einerseits die eigenen unbewussten Menschenbilder vor Augen zu führen, andererseits mehr Raum für die unbewussten Menschenbilder anderer zu schaffen. Durch das Philosophieren übt man sich gewissermaßen in »perspektivischer Gelenkigkeit«. Perspektivische Gelenkigkeit ist die Fähigkeit, außerhalb des eigenen Rahmens, der eigenen Meinungen und Auffassungen zu denken. In der Lage zu sein, die Perspektive des anderen auszukundschaften und zu untersuchen, ohne sich gleich eine Meinung dazu zu bilden. Die eigene Sichtweise für einen Moment loszulassen und klar, ruhig und unvoreingenommen zu untersuchen. Die eigenen Ansichten einmal kritisch zu hinterfragen und zu entdecken, dass es mehr Raum im eigenen Denken gibt, als man dachte.

Dieses Buch ist also etwas für beherzte Denker. Für Menschen, die sich trauen zu zweifeln, die untersuchen wollen, statt sich in Gewissheit zu wähnen. Die das Nicht-Wissen mit offenen Armen begrüßen wollen. Für Menschen, die den Mut haben, nicht gleich lauthals etwas zu behaupten, sondern erst einmal zu schweigen, um von dort aus eine vertiefende, untersuchende Frage zu stellen, weil sie wissen, dass sie dadurch reichere und weisere Menschen werden. Für alle, die sich mit »Das ist nun einmal meine Wahrheit« nicht zufriedengeben, sondern nach gemeinsamer Weisheit auf die Suche gehen wollen. Albert Einstein soll einmal gesagt haben: »Wenn ich eine Stunde Zeit hätte, um ein Problem zu lösen, und mein Leben davon abhinge, würde ich die ersten 55 Minuten dafür verwenden, herauszufinden, welche Frage ich stellen soll.«

Dieses Buch hilft Ihnen, Fragen zu stellen, die von Bedeutung sind. Fragen, die wichtig sind. Fragen, die einladen, erkunden, enträtseln, enthüllen, konfrontieren, vertiefen, herausfordern, anregen, in Bewegung setzen. Dieses Buch trainiert Ihre Fähigkeit, kritisch zu denken, zu analysieren und zu hinterfragen. Es bietet Ihnen praktische Werkzeuge, Grundbedingungen, Techniken, theoretische Hintergründe und Haltungen des Zuhörens. Und es gibt Ihnen einen Kompass an die Hand, der Ihnen den Weg zu mehr Untersuchung und philosophischer Vertiefung in Ihren Gesprächen weist.

Warum Sokrates?

Sie bekommen keine simple Checkliste mit Fragen, die immer funktionieren. Denn so etwas gibt es nicht. Mit einer Frage, die in einer Situation absolut am Platze ist, kann man in einem anderen Kontext völlig danebenliegen.

Dieses Buch soll als praktischer Leitfaden zur Entwicklung einer fragenden Haltung und zum Stellen guter Fragen dienen. Mit dem Philosophen Sokrates – in Sneakern, Pumps oder Cowboystiefeln; der Mann hat einen breit gefächerten Geschmack – als Lehrmeister. Dem Philosophen, der vor rund 2500 Jahren in Athen lebte und wirkte. Einem der praktischsten Philosophen, der die Plätze und Märkte aufsuchte, um im Hier und Jetzt mit Menschen über wesentliche Dinge zu philosophieren. Er erkannte seine eigene Unwissenheit, und mit seiner neugierigen Haltung wollte er lediglich andere nach ihrem Wissen und ihrer Weisheit befragen. Sokrates stellte Fragen, viele Fragen. Wie kein anderer verstand er sich auf die Kunst, Fragen zu stellen. Er tat dies vornehmlich aus zwei Gründen:

  1. Er wollte weiser werden. Sokrates sagte: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.«2 Er war auf der Suche nach wahrer Erkenntnis. Er realisierte, dass wahres Wissen aus dem Dialog mit dem anderen hervorgeht, und sah den anderen vor allem als Schleifstein für sein eigenes Denken an.
  2. Er wollte seine Gesprächspartner von Trugschlüssen, Denkfehlern und Wortklaubereien befreien. Er verhalf seinen Gesprächspartnern auch zu diesem »wahren Wissen«: Indem er sie kritisch befragte, kamen sie dahinter, dass das, was sie sicher zu wissen glaubten, gar kein wirkliches Wissen war.

In der heutigen Zeit, in der Meinungen den Wert von Fakten annehmen, in denen wir »schon Bescheid wissen, wie die Dinge stehen«, und wir eine gesunde Portion Unwissenheit, Offenheit und Neugierde gut gebrauchen können, sind Sokrates und seine praktische Art zu philosophieren, zu denken und zu fragen, der perfekte Richtungsweiser. Von ihm lernen wir, wie wir eine neugierige, staunende Haltung entwickeln und uns selbst und andere kritisch befragen können.

Dieses Buch besteht aus fünf Kapiteln: Zunächst untersuche ich, warum wir so schlecht darin sind, gute Fragen zu stellen. Was führt dazu, dass wir es manchmal einfach nicht tun? Wie kommt es, dass wir es schwierig, aufregend oder geradezu beängstigend finden, Fragen zu stellen?

Im zweiten Kapitel machen wir uns an die Arbeit. Wir arbeiten am Kern, dem Ausgangspunkt für das Stellen guter Fragen und für das Philosophieren: dem Entwickeln einer fragenden Haltung.

Im dritten Kapitel erwerben Sie sehr praktische Fragekompetenzen: Es geht dabei um Grundbedingungen dafür, gute, vertiefende Fragen zu stellen, die etwas in Bewegung setzen. Sie trainieren Ihre Fähigkeit, rein und vorbehaltlos zuzuhören. Sie erfahren, warum Sprache so wichtig ist und was wir von Sherlock Holmes lernen können, wenn es darum geht, gezielte Fragen zu stellen.

Im vierten Kapitel finden Sie technische Tipps und Tricks. Dort lernen Sie, wie Sie technisch gute, vollständige und vertiefende Fragen stellen, wie Sie »Echo-Fragen« einsetzen können und warum diese so gut funktionieren, wie Sie nach einer Frage in ein gutes Gespräch kommen. Und Sie entdecken, was häufige Fallstricke beim Fragen sind.

In Kapitel fünf betrachten wir schließlich, was passiert, nachdem Sie eine Frage gestellt haben: Sie haben eine gute Frage gestellt. Und dann? Dann führen Sie ein Gespräch. Dazu gibt es auch noch eine Menge zu sagen. Wie sorgen Sie dafür, dass Ihr Gespräch interessant bleibt? Wie kommen Sie in eine wesentliche, praktisch philosophische Untersuchung, durch die beide Gesprächspartner weiser werden?

Warum sollten Sie sich selbst trainieren?

Warum sollten Sie üben wollen, gute Fragen zu stellen und eine philosophische Haltung anzunehmen? Wir haben auch so schon alle Hände voll zu tun, könnten Sie sagen. Doch es gibt dafür genug Gründe.

Erstens: Die Welt hat es bitter nötig. Unsere schnelllebige Gesellschaft, die zur Polarisierung neigt, kann aus Entschleunigung, aufrichtiger Neugierde, einer philosophischen Grundhaltung und guten Fragen einigen Nutzen ziehen. Die öffentliche Debatte, unsere Off- und Online-Diskussionen, Talkshows, Interviews, Leitartikel, selbst die hitzigen Gespräche beim Weihnachtsessen: Sie bestehen allzu oft nur aus Angriff und Verteidigung, Schlammschlachten und dem Aufeinanderprallen von Überzeugungen. Das ist selten produktiv, verbindend oder hilfreich. Letztendlich steht jeder in seiner Ecke, um sich abzukühlen, und ist eher noch tiefer in seine eigene begrenzte Überzeugung eingekapselt. Davon, dass Raum für die Erfahrungen des anderen geschaffen worden wäre, kann keine Rede sein.

Wir möchten gerne gute Gespräche über Themen wie Rassismus, Diskriminierung, Gender, Body Shaming, #MeToo, die Flüchtlingsproblematik oder die Klimakrise führen. Themen, bei denen es schnell heiß hergeht, bei denen wir schnell empfindlich reagieren und vor allem gerne verstanden werden wollen, statt erst einmal selbst zu verstehen. Für unsere heutige Welt ist es unabdingbar, dass wir solche Gespräche besser führen. Mit mehr Achtsamkeit. Indem wir besser zuhören, zu verstehen versuchen, bevor wir verstanden werden. Indem wir gute Fragen stellen, die in die Tiefe gehen.

Es mangelt uns sehr an Kreativität, Vorstellungskraft und kritischem Denkvermögen.

Gezielte Fragen zu stellen, hilft uns, diese Fähigkeiten zu entwickeln und die komplizierten Gespräche besser, differenzierter und freier zu führen. Dieses Buch ist ein Versuch, Schritte in diese Richtung zu gehen.

Die Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema sagte in einem Interview in der politischen Monatszeitschrift Vrij Nederland (25. April 2019) über ihre Begegnung mit einem rechtsgerichteten niederländischen Politiker: »Ich vertiefe mich wirklich in die Sichtweisen anderer Menschen. Vergangenes Jahr bin ich Thierry Baudet begegnet, einige Wochen, nachdem wir eine Debatte im Stadttheater Amsterdam geführt hatten. Er sagte, und das fand ich lustig: ›Diese Debatte ist für dich besser gelaufen als für mich.‹ ›Weißt du, wie das kommt?‹, fragte ich. ›Es gibt einen großen Unterschied zwischen dir und mir. Ich habe ein großes Interesse an dir und deinen Standpunkten und ich habe mich gründlich vorbereitet. Und du hast überhaupt kein Interesse an mir.‹ Er sieht mich als ein Symbol für etwas, das er hasst, ohne zu wissen, wofür ich wirklich stehe.«

Diese Haltung, wie Femke Halsema sie zeigt, begegnet uns zu selten. Und Baudets Haltung, die sie in ihrer Erwiderung auf ihn beschreibt, begegnen wir viel zu oft. Wir wissen zu wenig voneinander, sind kaum an der Ansicht des anderen interessiert, haben aber schon einen heftigen Widerwillen gegen sie. Und zwar, ohne wirklich zu wissen warum.

Diese von Neugierde geprägte Haltung, in der man Fragen stellen und den Standpunkt des anderen erkunden will, beginnt bei uns selbst. In unseren Gesprächen mit Freunden, mit Verwandten, am Küchentisch, auf der Arbeit, in der Kneipe. Von dort sickert dieser neue sokratische Gesprächsstil, der sich durch das Bemühen auszeichnet, gemeinsam weiser zu werden, hoffentlich in die Debattenzentren, Talkshows, Leitartikel und die Politik ein.

Ein zweiter Grund, sich selbst zu trainieren, ist die Aussicht auf eine enorme Verbesserung Ihrer Gespräche. Wenn Sie mit Ihrer Familie am Küchentisch sitzen, möchten Sie manchmal vielleicht über etwas Interessanteres reden als über die Fragen: »Wie war die Schule?« oder »War auf der Arbeit viel los?«. Gespräche in Kneipen, an Küchentischen, in Klassenzimmern, in den Medien und auf Geburtstagsfesten werden angenehmer, wenn man eine neugierige Haltung entwickelt und andere Fragen stellt. Wenn Sie lernen, Fragen zu stellen, wie ich sie Ihnen in diesem Buch anbiete, werden Sie erleben, dass Sie damit einen besonderen Einblick in die Erfahrungswelt des anderen bekommen. Sie lernen einander besser kennen und entdecken Neues voneinander. Und Sie kommen zu spannendem, neuem Denken und überraschenden Einsichten. Dies miteinander zu teilen, macht Sie menschlicher.

Drittens: Es macht Spaß! Denken und Fragen, praktisches Philosophieren machen Spaß. Einer meiner Kursteilnehmer sagte sogar, es mache »süchtig«. Zu spüren, dass man immer klarer denkt, einer Sache immer besser auf den Grund gehen, Sinn von Unsinn unterscheiden kann, neue Erkenntnisse gewinnt, neue Ideen entwickelt, sich gemeinsam den Kopf zerbrechen und gemeinsam untersuchen kann: das ist bereichernd, interessant und macht außerordentlich viel Spaß. Man schafft einen Denkraum: Man wird gelenkiger und flexibler im Oberstübchen. Die Gedankenwelt eines anderen zu entdecken und zu erforschen, ihn auf eine gemeinsame Suche nach Weisheit mitzunehmen, ist ein unendlich unterhaltsames Spiel. Man könnte sagen, dass die Tätigkeit des »praktischen Philosophierens«, das unablässige Befragen von Situationen, Behauptungen und Aussagen, eine Tätigkeit ist, die einen Wert an sich hat. Ähnlich wie das Klavierspielen. Warum spielt man Klavier? Einfach weil es schön ist, es zu tun. Warum betreibt man praktische Philosophie? Einfach weil es schön ist, es zu tun. Und man wird immer besser, je mehr man übt, so verhält es sich auch mit dem durch Fragen geleiteten Untersuchen.

Zu guter Letzt der vierte Grund: Man lernt sich selbst besser kennen, indem man beharrlich nachfragt und Gespräche führt, die auf eine gemeinsame Suche nach Weisheit ausgerichtet sind. Immer und ewig in einer staunenden Haltung zu bleiben und alles kritisch zu hinterfragen, liefert Ihnen keine fertigen Antworten, aber sehr wohl eine Sprache, die zu Ihnen passt. Mit Nuancen, die ständig die Farbe wechseln und sich mitbewegen, mit der Person, die Sie in diesem Moment sind. Ich glaube, dass durch gute Fragen eine wirkliche, aufrichtige Verbindung geschaffen wird. Eine Verbindung, die unseren Unterschieden und Gemeinsamkeiten gerecht wird, dem, was wir im Wesentlichen sind. Brené Brown, die zu Scham, Mut, Verletzlichkeit, Liebe, kurzum, zu allem, was uns menschlich macht, forschte, hat das auf den Punkt gebracht: »We are hardwired for connection.« Als Menschen wollen wir vor allem Verbindung spüren. Wenn diese Welt etwas wirklich nötig hat, dann ist es das.