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Kapitel 1

Oh, Camembert!

Unruhig wälzte Picandou sich in seiner Sardinendose hin und her. Nicht zum Aushalten! Zum dritten Mal in einer Nacht träumte er, dass Frau Fröhlichs Laden bis unter die Decke mit den allerherrlichsten Käsesorten vollgestopft war. Doch wenn er sehnsüchtig die Pfötchen danach ausstreckte, bekam der Mäuserich kein einziges Stück zu fassen. Immer wieder griff er ins Leere. Sein Magen knurrte vor Verlangen, und es machte ihn schließlich so verrückt, dass er schwitzend erwachte.

Der Käseduft aber lag noch immer in der Luft. Komisch, dachte er und nahm, um sicherzugehen, dass er sich das nicht einbildete, einen tiefen Atemzug.

Herrlich!

Der Duft schien jeden Winkel und jede Ecke der Mäusehöhle zu durchströmen. Aber das war unmöglich! Träumte er also doch?

Picandou kniff sich kräftig in den Bauch. Das tat weh, was nur bedeuten konnte, dass er bestimmt nicht träumte!

Mit einem Ächzer erhob er sich und wankte zum Höhleneingang, denn von dort schien der Duft zu kommen.

Seine Mitbewohner schliefen noch: Die hübsche Rattendame Gruyère lag zusammengerollt in ihrer Camembert-Schachtel, Hamster Bertram schnarchte auf dem Schwammbett, und der braune Mäuserich Pomme de Terre schmatzte im Schlaf in der zweiten Sardinendose, die zugleich als Couchgarnitur diente. Sicherlich träumte auch er von Käse.

Picandou streckte die Nase in den Kellerraum, und siehe da – der Geruch wurde stärker. Er lauschte. Doch oben im Laden herrschte Stille, was bedeutete, dass Frau Fröhlich und Margarethe schon nach Hause gegangen waren. Vorsichtig schlich er aus der Höhle und schnüffelte.

Der Keller war dunkler als sonst, denn ein ­Stapel Holzkisten versperrte das Fenster und den Weg zur Treppe. Von dort kam ihm dieser atemraubende Duft entgegen! Es war also doch kein Traum, sondern wunderbarste Wirklichkeit!

Picandou trippelte freudig zu den Kisten hinüber und spähte durch die Latten. In Holzwolle verpackt, lagen lauter runde Spanholzschachteln. Vor Erregung wurde dem Mäuserich ganz schwummerig – so viele Camemberts auf einmal hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gesehen!

Wenn das kein Wink des Schicksals ist, dachte Picandou, der mit ganzem Namen Picandou Camembert Saint Albray hieß. Denn das hier konnte unmöglich ein Zufall sein!

Ehrfürchtig streckte er die Pfoten nach einer ­Schachtel aus und zog sie behutsam an sich heran.

»Komm her zu mir, mein kleiner Gaumenschmeichler, mein Namenskollege!«, schnurrte er und schnupperte an der Verpackung. »Göttlich. Einfach nur göttlich!«

»Stopp! Rühr sie nicht an!«

Erschrocken fuhr er herum.

Hamster Bertram schaute mit strenger Miene vom Höhleneingang herüber.

Picandous Blick verdüsterte sich. Sein Glück lag zum Greifen nahe und nun wollte der Hamster ihn daran hindern! »Ich habe die Kisten als Erster gefunden. Sie gehören mir!«

Hinter Bertram trat Pomme de Terre aus der Höhle und rieb sich verschlafen die Augen. »Die gehören Frau Fröhlich und Margarethe«, näselte er auf Hamburgisch.

»Aber nur, bis Albert sie abholt«, korrigierte der Hamster. »Dann gehören sie wieder Albert.«

»Mag ja sein, aber bis dahin gehören sie mir«, erklärte Picandou, der seine herrliche Entdeckung bestimmt nicht einfach so hergeben würde. »Aber ich … ähm … wäre eventuell bereit, sie mit euch zu teilen.«

»Da gibt’s nichts zu teilen, Jongchen.« Pomme de Terre trat vor ihn hin und verschränkte die Pfoten. »Wenn du nur einem Käse ein Haar krümmst, nimmt Albert die Kisten nicht zurück.«

»Und dann bleibt Frau Fröhlich auf der Rechnung sitzen«, lispelte der Hamster.

Picandou seufzte. »Woher wollt ihr das überhaupt wissen?«

»Hassu denn nicht mitgekriegt, was heute passiert is’?«, fragte Pomme de Terre.

Picandou schüttelte den Kopf.

»Komisch«, lispelte Bertram. »Albert und Rudi haben nämlich furchtbar viel Lärm gemacht, als sie die Kisten in den Keller brachten.«

»Ich hab nichts gehört!« Picandou verschränkte nun ebenfalls die Pfoten. »Außerdem verstehe ich nicht, was das mit meinem Käse zu tun haben soll.«

»Es ist nicht dein Käse«, wiederholte Bertram streng. »Es ist Alberts …«

»Dieser Döspaddel Rudi hat uns das ganze Gedöns eingebrockt«, unterbrach Pomme de Terre und schob die Camembert-­Schachtel, die Picandou herausgezogen hatte, ordent­lich zurück in die Kiste.

»Rudi? Wer ist Rudi?«

»Na, der Neffe von Margarethe.«

Picandou schielte sehnsüchtig zur Schachtel. »Was hat denn der Neffe von Margarethe mit den Käsekisten zu tun?«

»Na, der hat heute den Laden gehütet, als die Damen shoppen waren«, erklärte Pomme de Terre geduldig, und bedeckte die Schachtel mit Holzwolle.

»Und da ist es passiert«, fuhr Bertram fort. »Während sie unterwegs waren, kam Albert mit der Käselieferung.«

Picandou verstand noch immer nicht. »Das klingt doch alles sehr gut.«

»Das war auch sehr gut – aber viel zu viel! Stell dir vor – er hat siebenhundert Camemberts geliefert.«

»Siebenhundert?!« Picandou blickte verzückt auf die Kisten und klatschte in die Pfoten. »Großartig!«, rief er. »Aber wie wollen Margarethe und Frau Fröhlich siebenhundert Camemberts in ihrem winzigen Laden verkaufen?«

»Das ist ja das Problem«, sagte Pomme de Terre. »Margarethe hatte nämlich nur siebzig bestellt. Irgendwo hat sich wohl eine Null zu viel eingeschlichen.«

»Und Rudi hätte so viele Camemberts nie annehmen dürfen«, erklärte der Hamster.

»Aber leider denkt er nie mit«, ergänzte Pomme de Terre.

»Siebenhundert …« Picandous Nasenspitze zuckte. Da fielen ein paar mehr oder weniger doch gar nicht auf!

»Zum Glück hat Margarethe sofort Albert angerufen«, näselte Pomme de Terre. »Er holt die Camemberts so schnell wie möglich ab und bringt sie zurück nach Paris.«

»Und bis dahin?«

»Bis dahin bleiben sie hier.«

»Unter unseren Nasen?!«

»Natürlich unter unseren Nasen«, erwiderte Gruyère, die von den Stimmen ihrer Mitbewohner geweckt geworden war. »Der Keller hat genau die richtige Temperatur.«

Picandou stöhnte. »Aber wie sollen wir das bis dahin aushalten?! Der Geruch macht einen ja jetzt schon ganz verrückt. Ihr müsst mich an meine Sardinendose fesseln, sonst … sonst stehe ich das nicht durch!«

Gruyère legte ihm beruhigend eine Pfote auf die Schulter. »Wie wäre es mit einem köstlichen Müllsack? Wenn wir mit vollem Magen ins Bett gehen, ist uns der Käse dann nämlich völlig egal.«

Damit waren alle einverstanden, denn bis auf Bertram, der Käse nicht mochte, hatte der Käsegeruch die Muskeltiere ziemlich hungrig gemacht. Sie quetschten sich an den Kisten vorbei zum Waschbecken, kletterten durch ihren Geheimgang – das Abflussrohr – in den Innenhof und machten es sich wie jeden Abend im Müllsack gemütlich.

Doch Picandou wollte nichts davon schmecken. Seine Gedanken wanderten ständig zu den köstlichen Camemberts im Keller. Immer nur Blaubeertörtchen- und Marzipankuchen-Krümel, dachte er bitter. Kann es nicht mal etwas anderes geben?!

Als sie sich im Morgengrauen in ihre Betten kuschelten, lispelte Bertram: »Wisst ihr, was auf den Kisten steht? Ich habe es entziffert.«

»Camembert und nochmals Camembert«, erwiderte Pomme de Terre gelangweilt. »Was sonst?«

»Eben nicht!«, rief Bertram mit blitzenden Äuglein. Er konnte nämlich ein bisschen lesen, worauf er mächtig stolz war. »Les trois Mous … que … taires – Der beste Camembert der Welt.«

»Und wenn schon«, brummte der braune Mäuserich.

Der Hamster blickte herausfordernd in die Runde. »Versteht ihr denn nicht? Maus … ketäres! Maus – ketiere.« Er deutete mit seinem Cocktailspieß-Degen auf Pomme de Terre und Picandou. »Es ist eine Botschaft für euch.«

»Häh?!« Picandou rollte die Augen. Offenbar ging dem Hamster mal wieder die Fantasie durch.

»Oder es ist ganz einfach französisch für Muskeltiere«, überlegte Pomme de Terre.

»Ja, du hast recht, mein Guter!« Bertram hob ein Krällchen und strahlte. »Das leuchtet ein und ergibt Sinn: Lest, treue Muskeltiere … der beste Camembert der Welt

»Allerdings kann man Käse, soweit ich weiß, nicht lesen«, gab Pomme de Terre zu bedenken.

»Vielleicht heißt es auch gar nicht lest, sondern – lasst«, schlug Gruyère vor. »Lasst treue Muskeltiere den besten Camembert der Welt …« Sie überlegte. »Aber lasst ihn – was?«

»Oh, kluge Freundin, du hast vollkommen recht!« Bertram kam jetzt richtig in Fahrt. »Hier fehlt eindeutig noch ein Wort. Wahrscheinlich stand dort …« Er dachte einen Moment lang nach. »… beschützen«, rief er. »Das ist es! Was haltet ihr von Lasst treue Muskeltiere den Camembert beschützen?!«

»Oh, Mann! Echt jetzt?«, ächzte Picandou.

Gruyère war auch nicht ganz überzeugt. »Also ich weiß nicht – die Kisten kommen doch von weit her – wie können die wissen, dass es uns gibt und dass ausgerechnet wir den Käse beschützen würden?«

»Aber warum nicht?« Bertram breitete die Pfoten aus. »Frankreich ist schließlich die Wiege der Muskeltiere. Wahrscheinlich ist es ein Aufruf an alle Muskeltiere der Welt.«

»Was soll das heißen: an alle Muskeltiere der Welt?«, fragte Pomme de Terre. »Gibt es etwa noch mehr von uns?«

Picandou schnaubte verächtlich. »Was für einen Unsinn ihr doch redet! Das Ganze ist viel einfacher – der Käse ist für uns – die Mauskeltiere. Das hast du selbst gesagt.«

Doch das sah Bertram etwas anders, und so ging es noch eine Weile hin und her, ohne dass sie das Rätsel der geheimnisvollen Botschaft lösen konnten. Schließlich schliefen sie nacheinander darüber ein. Alle – bis auf Picandou!