Cover

Buch

Die Brut der großen Drachin Tintaglia und ihre menschlichen Hüter haben ihr Ziel noch nicht erreicht. Die verlorene Drachenstadt Kelsingra scheint in unerreichbarer Ferne. Doch ein Zurück gibt es nun nicht mehr, denn Drachenjäger sind ihnen auf den Fersen. Plötzlich müssen sich die Drachen neben den Gefahren der Regenwildnis auch noch der Skrupellosigkeit und Gier der Menschen stellen. Misstrauen zu ihren Hütern flammt auf. Zu Recht! Denn unter ihnen sind Verräter, die für Gold alles tun würden.

Autorin

Robin Hobb wurde in Kalifornien geboren, zog jedoch mit neun Jahren nach Alaska. Nach ihrer Hochzeit zog sie mit ihrem Mann nach Kodiak, einer kleinen Insel an der Küste Alaskas. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihre erste Kurzgeschichte. Seither war sie mit ihren Storys an zahlreichen preisgekrönten Anthologien beteiligt. Mit »Die Gabe der Könige«, dem Auftakt ihrer Serie um Fitz Chivalric Weitseher, gelang ihr der Durchbruch auf dem internationalen Fantasy-Markt. Ihre Bücher wurden seither millionenfach verkauft und sind Dauergäste auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Robin Hobb hat vier Kinder und lebt heute in Tacoma, Washington.

Die Regenwildnis-Saga von Robin Hobb ist unabhängig von der Weitseher-Saga lesbar und erscheint komplett bei Penhaligon:

1. Wächter der Drachen

2. Stadt der Drachen

3. Kampf der Drachen

4. Blut der Drachen

Die Chronik der Weitseher von Robin Hobb bei Penhaligon:

1. Die Gabe der Könige

2. Der Bruder des Wolfs

3. Der Erbe der Schatten

Das Erbe der Weitseher von Robin Hobb bei Penhaligon:

1. Diener der alten Macht

2. Prophet der sechs Provinzen

3. Beschützer der Drachen

Das Kind der Weitseher von Robin Hobb bei Penhaligon:

1. Die Tochter des Drachen

2. Die Tochter des Propheten

3. Die Tochter des Wolfs

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

Robin Hobb

Stadt der Drachen

Roman

Deutsch von Simon Weinert

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Dragon Haven (Rain Wilds Chronicles Book 2)« bei Spectra, New York.

Dieser Roman ist bereits unter dem Titel »Drachenkämpfer« auf Deutsch erschienen. Er wurde für diese Ausgabe komplett überarbeitet.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.





Copyright der Originalausgabe © 2010 by Robin Hobb
Copyright dieser deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Alexander Groß
Umschlaggestaltung und -illustration: © Max Meinzold, www.meinzold.de, unter Verwendung eines Motivs von Eky Studio/Shutterstock.com
HK · Herstellung: MR
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-27092-6
V001

www.penhaligon.de

Fünfter Tag des Gebetsmondes

IM SECHSTEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS

Von Erek, Vogelwart in Bingstadt,

an Detozi, Vogelwart in Trehaug

Eine Nachricht von Händler Jurden an das Händlerkonzil der Regenwildnis in Trehaug, bezüglich einer Bestellung sevianischer Spitzen, deren Preis aufgrund eines unerwarteten Engpasses bedauerlicherweise beträchtlich gestiegen ist.

Detozi,

herzliche Grüße! Was Geschwindigkeit und Zielsuche angeht, haben sich die Königstauben als Enttäuschung herausgestellt, doch ihre kurze Brutzeit und ihr schnelles Wachstum lassen mich darüber nachdenken, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, sie als für die Aufzucht in der Regenwildnis besonders geeignete Speisevögel zu halten. Wie findet Ihr diese Idee?

Erek

PROLOG

Die Menschen waren in Aufruhr. Sintara spürte das penetrante Hin und Her ihrer Gedanken, lästig wie ein Schwarm Stechmücken. Die Drachin fragte sich, wie die Menschen überhaupt hatten überleben können, wenn sie ihre Gedanken nicht für sich behalten konnten. Die Ironie dabei war, dass sie weder die Kraft noch den Verstand hatten, die Gedanken ihrer Artgenossen zu verstehen – und das, obwohl sie keine Grille, die ihnen im Kopf herumspukte, für sich behalten konnten. Torkelnd stolperten sie durch ihr kurzes Leben und verstanden dabei weder ihresgleichen noch sonst ein Wesen auf der Welt. Welch ein Schock war für Sintara die Erkenntnis gewesen, dass die Menschen keine andere Möglichkeit der Verständigung hatten, als Laute auszustoßen und anschließend, wenn das Gegenüber antwortete, zu raten, was es mit seinen Lauten wohl meinte. »Sprechen« nannten sie das.

Kurz verzichtete sie darauf, das Bombardement an kreischenden Stimmen auszublenden, um herauszufinden, was die Drachenhüter derart in Aufruhr versetzt hatte. Wie üblich waren ihre Sorgen völlig unzusammenhängend. Einige fürchteten um die kranke Kupferdrachin – als ob sie ihr in irgendeiner Weise helfen könnten. Sintara fragte sich, warum sie um die sieche Kupferne herumscharwenzelten, anstatt ihren Pflichten gegenüber den anderen Drachen nachzukommen. Sie hatte Hunger, und heute hatte ihr niemand etwas gebracht. Noch nicht einmal einen Fisch.

Lustlos stapfte sie zum Fluss hinab. Doch es gab nicht viel zu sehen außer einem Streifen Kies und Schlick, Schilf und ein paar dürren Schösslingen. Ein paar matte Sonnenstrahlen fielen ihr auf den Rücken, spendeten aber kaum Wärme. Keinerlei Wild trieb sich hier herum. Vielleicht gab es ein paar Fische, doch die Anstrengung, die nötig wäre, um einen zu fangen, war das kurze Vergnügen, ihn zu fressen, nicht wert. Wenn ihr allerdings jemand einen Fisch brächte …

Sie dachte daran, Thymara zu rufen und ihr aufzutragen, für sie auf die Jagd zu gehen. Nach dem, was Sintara von den Hütern gehört hatte, würden sie wohl so lange an diesem verlassenen Ufer verharren, bis der Kupferdrache entweder wieder auf den Beinen oder tot war. Sollte der Rote sterben, gäbe es eine ordentliche Mahlzeit für den Drachen, der als Erster zur Stelle war. Und das wäre Mercor, erkannte sie mit einiger Bitterkeit. Der Golddrache hielt Wache. Sintara spürte, dass er Gefahr für den Kupfernen argwöhnte, doch er hütete seine Gedanken und ließ weder die Drachen noch die Hüter wissen, was er dachte. Das allein schon ließ Sintara stutzig werden.

Wäre sie nicht so wütend auf ihn gewesen, hätte sie ihn rundheraus gefragt, welche Gefahr er fürchtete. Aber er hatte den Hütern ihren wahren Namen verraten, ohne dass sie ihn gereizt hatte. Nicht nur Thymara und Alise, ihren eigenen Hütern, hatte er ihn verraten, was schlimm genug gewesen wäre. Nein, er hatte ihren Namen hinausposaunt, als wäre das sein gutes Recht. Dass er und die meisten anderen Drachen beschlossen hatten, ihren Hütern ihren wahren Namen anzuvertrauen, war ihr völlig egal. Mochten sie ruhig so blauäugig und vertrauensselig sein, das kümmerte sie nicht. Sie mischte sich nicht in die Angelegenheiten zwischen Mercor und seiner Hüterin ein. Wieso aber hatte er sich dann die Freiheit genommen, ihre Beziehung zu Thymara ins Ungleichgewicht zu bringen? Jetzt, da das Mädchen ihren wahren Namen kannte, blieb Sintara nur zu hoffen, dass es mit diesem Wissen nichts anzufangen wusste. Kein Drache vermochte zu lügen, wenn jemand mit seinem wahren Namen die Wahrheit forderte oder den Namen bei einer Frage richtig einsetzte. Gewiss vermochte der Drache die Antwort zu verweigern, aber er konnte nicht lügen. Genauso wenig war ein Drache in der Lage, eine Abmachung zu brechen, die er mit seinem wahren Namen geschlossen hatte. Mercor hatte diesem Menschlein mit der Lebensspanne eines Fisches eine unverschämte Machtfülle verliehen.

Sintara fand am Fluss eine freie Stelle und legte sich auf die von der Sonne gewärmten Steine, schloss die Augen und seufzte. Sollte sie schlafen? Nein. Auf dem kühlen Grund zu schlummern, war nicht sonderlich verlockend.

Widerwillig öffnete sie erneut ihren Geist, um zu erfahren, was die Menschen vorhatten. Jemand jammerte, weil er Blut an den Händen hatte. Die ältere ihrer beiden Hüterinnen war innerlich zerrissen, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie zu ihrem Ehemann zurückkehren und ihr Leben in Langeweile beschließen oder mit dem Kapitän des Schiffes schlafen sollte. Sintara stieß ein angewidertes Brummen aus. Da gab es überhaupt nichts zu entscheiden. Alise zerbrach sich den Kopf über Kinkerlitzchen. Es spielte keine Rolle, was sie tat, genauso wenig, wie es eine Rolle spielte, wo sich eine Fliege hinsetzte. Das Leben eines Menschen war lächerlich kurz. Vielleicht veranstalteten sie deshalb einen solchen Lärm, solange sie am Leben waren. Vielleicht war dies ihre einzige Möglichkeit, sich ihrer eigenen Bedeutung zu versichern.

Gewiss gaben auch Drachen Laute von sich, aber sie waren nicht auf diese Laute angewiesen, um ihre Gedanken auszudrücken. Klang und Lautäußerungen waren nützlich, um das Wirrwarr eines menschlichen Geistes zu durchdringen und die Aufmerksamkeit anderer Drachen zu erlangen. Klang war nützlich, um einen Menschen überhaupt einmal dazu zu bringen, sich auf das zu konzentrieren, was man ihm sagen wollte. Die Geräusche der Menschen hätten Sintara gar nicht so sehr gestört, wenn die Gedanken dieser Wesen nicht derart hervorsprudeln würden, während sie zur gleichen Zeit versuchten, die Bedeutung durch das Gekreische zu vermitteln. Manchmal war dieses zweifache Ärgernis so groß, dass sie sich wünschte, diese Kreaturen ein für alle Mal fressen zu können.

Sie verschaffte ihrem Unmut mit einem leisen Grollen Luft. Die Menschen waren nutzlose Plagegeister, und doch hatte das Schicksal es gefügt, dass die Drachen abhängig von ihnen waren. Nachdem die Drachen sich aus Seeschlangen in ihre jetzige Gestalt verwandelt hatten, waren sie aus ihren Hüllen geschlüpft und in einer Welt erwacht, die nicht zu ihren Erinnerungen passen wollte. Keine Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte waren vergangen, seit die letzten Drachen auf Erden gewandelt waren. Als missgestaltete Karikaturen ihrer selbst waren sie aus den Kokons gekrochen, und da sie nicht fliegen konnten, waren sie am sumpfigen Flussufer zwischen Wasser und dem undurchdringlichen Wald gefangen gewesen. Widerwillig hatten die Menschen ihnen geholfen, hatten ihnen Tierkadaver zum Fressen gebracht und ihre Anwesenheit geduldet, während sie darauf gelauert hatten, dass die Drachen entweder starben oder die Fähigkeit erlangten fortzugehen. Jahrelang hatten sie, eingepfercht zwischen Fluss und Bäumen, Hunger gelitten, weil sie nur das Nötigste zum Überleben bekommen hatten.

Und dann hatte Mercor einen Plan ausgeheckt. Der Golddrache hatte die Mär einer halb vergessenen Stadt eines uralten Volkes verbreitet, deren reiche Schätze ihrer Entdeckung harrten. Keiner der Drachen hatte dabei Gewissensbisse gehabt, entsprach doch die Erinnerung an Kelsingra, der Uraltenstadt, deren große Gebäude auch Drachen Platz boten, der Wahrheit. Wenn man die Menschen mit Erzählungen über Berge blinkender Schätze locken konnte, dann erfand man diese eben dazu.

Und so war die Falle gestellt, das Gerücht gestreut, und nach einiger Zeit hatten die Menschen den Drachen angeboten, ihnen bei der Suche nach der verlorenen Uraltenstadt Kelsingra zu helfen. Man stellte eine Expedition aus einem Flusskahn, mehreren Booten und einem Trupp Jäger zusammen. Dazu kamen Hüter, die sich um die Bedürfnisse der Drachen kümmern sollten, während die Reise flussaufwärts ging – zu einer Stadt, an die sich die Geschuppten nur noch in ihren Träumen einigermaßen deutlich erinnern konnten. Doch die schmierigen kleinen Kaufleute, die in Cassarick das Sagen hatten, wählten dafür natürlich nicht ihre besten Leute aus. Nur zwei richtige Jäger hatten sie angeheuert, um über ein Dutzend Drachen zu ernähren. Die »Hüter«, die die Händler ausgesucht hatten, waren größtenteils Jugendliche und Außenseiter, die in den Augen der Regenwildnisbewohner besser nicht leben und sich schon gar nicht vermehren sollten. Denn die jungen Leute waren mit Schuppen und Auswüchsen gezeichnet, was die anderen Regenwildnisbewohner nicht gerne sahen. Immerhin konnte man den Hütern zugutehalten, dass sie die Drachen folgsam und fleißig versorgten. Aber die Menschen besaßen keine Erinnerungen ihrer Vorfahren und schlitterten lediglich mit dem bisschen Wissen durchs Leben, das sie während ihrer kurzen Existenz aufgeschnappt hatten. Darum war es mühsam, sich mit ihnen zu unterhalten, auch wenn Sintara gar nicht erst die Absicht hatte, ein geistvolles Zwiegespräch mit ihnen zu führen. Ein schlichter Befehl wie »Bring mir Fleisch« wurde meist mit Gejammer beantwortet, weil es angeblich ach so schwer war, Wild zu finden – oder mit Fragen wie: »Hast du nicht erst vor einer Stunde etwas gegessen?« Als könnten solche Worte sie dazu bewegen, ihre Bedürfnisse zu überdenken.

Unter den Drachen war allein Sintara so weitsichtig, sich statt einem zwei Hüter als Diener zu halten. Das ältere Menschenweibchen, Alise, war als Jägerin nicht zu gebrauchen, aber sie war eifrig – wenn auch nicht sonderlich geschickt – um die Körperpflege der Drachin bemüht und begegnete ihr mit dem gebührenden Anstand und Respekt. Thymara dagegen, die Jüngere der beiden, war zwar die beste Jägerin unter den Hütern, aber sie besaß ein aufsässiges, widerspenstiges Wesen. Mit zwei Dienerinnen konnte Sintara sich einigermaßen darauf verlassen, dass stets eine zugegen war, wenn sie etwas brauchte, zumindest für die kurze Zeit eines Menschenlebens. Das würde hoffentlich genügen.

Den größten Teil eines Mondzyklus waren die Drachen im flachen Wasser nahe dem dicht bewachsenen Ufer flussaufwärts gestapft. Der Waldrand entlang des Stroms war von Ranken und Kriechgewächsen und einem Gewirr aus ausladenden Wurzeln überwuchert, die es den Drachen unmöglich machten, sich trockenen Fußes fortzubewegen. Die Jäger ruderten voraus, die Hüter folgten in ihren Booten. Das Seelenschiff Teermann, ein langer, flacher Kahn, der nach Drachen und Zauberei roch, bildete den Abschluss. Mercor war ganz fasziniert von dem sogenannten »Seelenschiff«. Sintara und die meisten anderen Drachen dagegen fanden den Kahn beunruhigend und beinahe anstößig. Denn der Rumpf des Gefährts war aus Hexenholz, das eigentlich kein Holz war, sondern die Überreste des Kokons einer toten Seeschlange. Die Bretter, die man aus diesem »Holz« gewann, waren extrem hart und widerstandsfähig gegen Wind und Wetter. Die Menschen maßen dem Material einen großen Wert bei. Doch es roch nach dem Leib und den Erinnerungen eines Drachen. Wenn eine Seeschlange die Hülle wob, die sie beschützen sollte, während sie sich in einen Drachen verwandelte, fügte sie dem Gemisch aus Sand und Lehm, das sie mit ihrem Speichel hervorwürgte, auch ihre Erinnerungen hinzu. Deshalb war dieses Holz eine Ablagerung von Erinnerungen. Für Sintaras Geschmack sahen die auf den Schiffsrumpf gemalten Augen viel zu wissend drein, und die Teermann bewegte sich viel müheloser gegen die Strömung als jeder herkömmliche Kahn. Sie machte stets einen Bogen um das Schiff und sprach kaum mit seinem Kapitän. Allerdings zeigte der Mann auch wenig Neigung, mit den Drachen zu reden. Kurz blieb dieser Gedanke in ihrem Geist hängen. Hatte er etwa einen Grund, ihnen aus dem Weg zu gehen? Im Gegensatz zu einigen anderen Menschen schien er von den Drachen nicht eingeschüchtert zu sein.

Oder abgestoßen. Da fiel ihr Sedric ein, und sie stieß ein höhnisches Schnauben aus. Der penible Händler aus Bingstadt trottete hinter ihrer Hüterin Alise her, trug Stift und Papier bei sich, zeichnete Drachen und schrieb die bruchstückhaften Erkenntnisse auf, die Alise ihm diktierte. Denn er war von so schwachem Geist, dass er die Drachen nicht einmal verstand, wenn sie ihn ansprachen. Wenn Sintara mit ihm redete, hörte er nur »Tiergeräusche«, die er unverschämterweise mit dem Muhen einer Kuh verglichen hatte! Nein, Kapitän Leftrin war ganz anders als Sedric. Er war weder taub für die Drachensprache, noch hielt er die Drachen seiner Aufmerksamkeit für unwürdig, wie es schien. Aber warum ging er ihnen aus dem Weg? Hatte er etwas zu verbergen?

Nun, er war ein Narr, wenn er glaubte, er könnte einem Drachen etwas verheimlichen. Sie schob die kurze Sorge beiseite. Drachen vermochten den Geist eines Menschen so leicht zu durchschauen, wie eine Krähe einen Misthaufen durchstöberte. Sollte Leftrin oder irgendein anderer ein Geheimnis haben, sollte er es ruhig hüten. Die Menschen lebten so kurz, dass es kaum der Mühe wert war, einen von ihnen kennenzulernen. Uralte waren einst würdige Gefährten der Drachen gewesen, denn sie hatten um einiges länger als Menschen gelebt, und sie waren klug genug gewesen, um zum Lob der Drachen Lieder und Gedichte zu verfassen. In ihrer Weisheit hatten sie die öffentlichen Gebäude und selbst einige ihrer Privatpaläste so errichtet, dass sie Drachen als Gäste empfangen konnten. Sintara erinnerte sich an gemästetes Vieh, an warme Zufluchtsstätten, wohin sich die Drachen vor dem Winter hatten zurückziehen können, an Bäder mit Duftöl, die das Jucken der Schuppen linderten, und viele andere Annehmlichkeiten, die die aufmerksamen Uralten für sie ersonnen hatten. Es war eine Schande, dass sie aus der Welt verschwunden waren. Jammerschade.

Sintara versuchte, sich Thymara als Uralte vorzustellen, aber es war ihr nicht möglich. Ihrer jungen Hüterin mangelte es an der richtigen Einstellung gegenüber Drachen. Sie war respektlos, trotzig und viel zu sehr mit ihrer Eintagsfliegenexistenz beschäftigt. Zwar besaß sie Temperament, konnte damit jedoch so gar nicht umgehen. Die ältere Hüterin, Alise, deren Elend und verborgene Unsicherheit Sintara auch jetzt deutlich spürte, war sogar noch weniger geeignet. Eine Uraltenfrau brauchte etwas von der Entschlossenheit und dem Feuer einer Drachenkönigin. Hatte eine ihrer Dienerinnen das Zeug dazu? Was wäre nötig, um sie aufzurütteln, ihren Eifer auf die Probe zu stellen? Lohnte es sich, sie herauszufordern, um zu sehen, aus welchem Holz sie geschnitzt waren?

Etwas irritierte sie. Widerstrebend öffnete sie die Augen und hob den Kopf. Sie rollte sich auf die Beine, schüttelte sich und legte sich erneut hin. Als sie den Kopf wieder ablegte, erregte eine Bewegung zwischen den hohen Binsen ihre Aufmerksamkeit. Wild? Sie richtete den Blick darauf. Nein. Nur zwei Hüter, die den Uferstreifen verließen und in den Wald gingen. Sintara erkannte sie. Die eine hieß Jerd und war die Hüterin von Veras. Für eine Menschenfrau war die Dienerin des Gründrachen hochgewachsen, und auf dem Scheitel wuchs ihr ein blonder Haarschopf. Thymara mochte Jerd nicht. So viel wusste Sintara, auch wenn sie den Grund dafür nicht kannte. Der andere war Greft. Sintara schnaubte leise durch die Nüstern, denn mit Kalos Hüter konnte sie wenig anfangen. Auch wenn Greft den blauschwarzen Hünen versorgte und blitzblank putzte, traute Kalo ihm doch nicht über den Weg. Bei Greft hatten alle Drachen ein ungutes Gefühl. Thymara fühlte sich zu ihm hingezogen und hatte gleichzeitig Angst vor ihm. Er faszinierte sie, und Thymara ärgerte sich über diese Faszination.

Sintara schnupperte, erhaschte die Witterung der beiden Hüter und ließ die Augen halb zufallen. Sie wusste, wohin sie unterwegs waren.

Da kam ihr ein verblüffender Gedanke. Plötzlich erkannte sie eine Möglichkeit, ihre beiden Hüterinnen auf die Probe zu stellen. Aber wäre es die Mühe wert? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Erneut streckte sie sich auf dem warmen Felsen aus und wünschte sich vergebens, sie läge auf einem sonnenheißen Sandstrand. Sie wartete.

Fünfter Tag des Gebetsmondes

IM SECHSTEN JAHR DES UNABHÄNGIGEN HÄNDLERBUNDS

Von Erek, Vogelwart in Bingstadt,

an Detozi, Vogelwart in Trehaug

Beigefügt ein Schreiben von Händler Polon Meldar an Sedric Meldar, um herauszufinden, ob alles in Ordnung ist, und um sich nach dem Zeitpunkt seiner Rückkehr zu erkundigen.

Detozi,

es scheint da eine gewisse Besorgnis hinsichtlich zweier Bürger aus Bingstadt zu geben, die Cassarick besuchen wollten, nun aber offenbar tiefer in die Regenwildnis gereist sind. Zwei beunruhigte Elternpaare haben mich heute separat aufgesucht und für rasche Informationen einen Bonus in Aussicht gestellt. Ich weiß, dass Ihr kein sonderlich gutes Verhältnis zum Vogelwart in Cassarick habt, aber vielleicht könntet Ihr dieses eine Mal Eure Verbindungen spielen lassen, um etwas über den Verbleib von Sedric Meldar oder Alise Kincarron Finbok in Erfahrung zu bringen. Die Finbok-Dame kommt aus einer wohlhabenden Familie. Gute Neuigkeiten würden wohl fürstlich entlohnt werden.

Erek