Buch
Ein Auslandsjahr an der New York University und ein Job in der Kanzlei Donovan & Thompson! Für die junge Emma geht ein Traum in Erfüllung. Jeden Moment möchte sie auskosten, bevor sie nach ihrer Heimkehr der Alltag in Frankfurt einholt. Hilfe bekommt sie dabei von ihrer neu gewonnenen Freundin, der draufgängerischen Isy. Diese zaubert für Emma eine To-do-Liste, die ihr die Zeit ihres Lebens bescheren soll: Sex mit einem New Yorker, ein Wochenende in den Hamptons, in fünfzig verschiedene Bars gehen und natürlich die große Liebe finden. Bald wird Emmas Leben aufregender, als sie es sich je hätte erträumen können. Hals über Kopf verliebt sie sich in den charismatischen Anwalt Anthony Collins. Emma ist im siebten Himmel, bis sie hinter sein schmutziges Geheimnis kommt. Doch ausgerechnet Nick – ihr neuer Mitbewohner und unverbesserlicher Frauenheld – ist es, der nicht zulässt, dass Emma in Liebeskummer versinkt. Er sorgt dafür, dass sie immer mehr Punkte auf ihrer To-do-Liste abhaken kann. Die Freundschaft zu ihm ist ihr Anker. Nur eines sollte sie besser nicht: sich in ihn verlieben …
Autorin
Nadine Kerger, 1980 in Kalifornien geboren, ist in Mainz und Paris aufgewachsen. Heute arbeitet sie als Anwältin in einer internationalen Wirtschaftskanzlei in Frankfurt am Main, wo sie mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern lebt. New York Dreams ist ihr erster Roman.
Nadine Kerger
New York Dreams
Roman
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Copyright © 2021 by Nadine Kerger
Copyright © 2021 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München
ISBN: 978-3-641-27606-5
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für Kai
You are my person. You will always be my person.
JUNI
Komm schon, komm schon, komm schon!
Ungeduldig drückte ich auf den Aufzugknopf. Zweimal, dreimal, viermal. Als wenn man in der Geschichte der Menschheit schon jemals von einem Fahrstuhl gehört hätte, der schneller kommt, nur weil man hektisch auf dem Knopf rumhämmert. Als würde der Aufzug sagen: Klar, Emma, wenn du es heute Morgen eilig hast, dann mache ich für dich einfach ein bisschen schneller als sonst.
Und ja, ich war verdammt in Eile, ins Büro zu kommen. Ich hatte verschlafen. Zusätzlich zu einem ordentlichen Kater. Genauso wie meine Freundin, Mitbewohnerin und Arbeitskollegin Isabella – Isy – , die allerdings gelassen neben mir stand und mich nur kopfschüttelnd beobachtete.
»Jetzt beruhige dich doch mal. Dann sind wir halt ein bisschen spät dran.«
Sie hatte leicht reden. Sie arbeitete schon viel länger als ich als studentische Mitarbeiterin in der New Yorker Großkanzlei Donovan & Thompson und hatte kaum zu befürchten gefeuert zu werden. Sie war superclever und in der Kanzlei allseits geschätzt. Ich selbst war nur die unscheinbare Deutsche, die erst vor wenigen Tagen hier angefangen hatte und genauso schnell wieder rausfliegen konnte, wie sie eingestellt worden war. Und das wäre eine Katastrophe, denn wie sollte ich ohne Job mein Jahr in New York finanzieren? Das Leben hier war um ein Vielfaches teurer als zu Hause in Frankfurt. Das war die harte Realität.
Ich versuchte, mich mit dem Gedanken aufzumuntern, dass die harte Realität in New York trotzdem einfach so viel cooler war als anderswo. Selbst mit Kopfschmerzen und pelzigem Geschmack im Mund.
Wir – das heißt das Energiebündel Isy und ich – waren gestern Abend in einer Bar in der Upper West Side gelandet und total versackt. Alleine wäre ich nie auf die Idee gekommen, an einem Sonntagabend auszugehen, obwohl eine anstrengende Arbeitswoche auf uns wartete, aber Isys Überzeugungskraft konnte man schwer widerstehen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie es auch durch.
Endlich gingen die Aufzugtüren auf, und schnell stiegen wir ein. Ein Blick in den Spiegel an der Rückwand bestätigte, dass ich noch schrecklicher aussah, als ich mich fühlte. Lag vielleicht auch an der fahlen Fahrstuhlbeleuchtung. Meine grünen Augen standen in einem merkwürdigen Kontrast zu meiner grauen Haut. Ich wischte mir ein paar Mascarareste vom Lid und drehte meinem Spiegelbild den Rücken zu.
Isy sah aber auch nicht viel besser aus. Normalerweise war sie ein echter Hingucker mit ihren großen blauen Augen, vollen Lippen und der tollen Figur, die die Männer scharenweise dazu brachte, sich nach ihr umzudrehen. Sie war immer perfekt angezogen, geschminkt und gestylt, aber heute stand ihr blonder Bob wie ein Kaktus in alle Richtungen ab, und als könnte sie meine Gedanken lesen, strich sie mit einer Hand darüber, in dem fruchtlosen Versuch, ihre verstrubbelten Haare zu glätten. Das war der Nachteil an einem Bob: Er musste immer perfekt geföhnt sein. Ich konnte meine langen braunen Haare wenigstens zu einem Dutt zusammennehmen und so halbwegs ordentlich aussehen. Halbwegs.
Auf der 23. Etage angekommen huschten wir so unauffällig es ging in den Trainee-Raum, in dem schon die anderen studentischen Mitarbeiter saßen, und ließen uns erschöpft auf unsere Stühle fallen. Geschafft. Und keiner hatte es bemerkt. Mein Pulsschlag beruhigte sich allmählich.
Isy holte als erste Amtshandlung eine Dose mit Kopfschmerztabletten aus ihrer Schreibtischschublade und schluckte zwei davon ohne Wasser. Dann schob sie mir die Dose über den Tisch hinweg zu. Dankbar nahm ich ebenfalls zwei heraus.
»Mein Kopf platzt«, jammerte sie und rieb sich die Schläfen mit kreisenden Bewegungen. »Was hast du gestern nur mit mir angestellt?«
»Ich? Ich habe gar nichts gemacht. Du warst es, die diese schwedischen Medizinstudenten angequatscht hat und dann mit ihnen noch weiterziehen wollte. Ich war die Stimme der Vernunft, die sagte: ›Isy, morgen ist Montag! Lass uns nach Hause ins Bett gehen!‹ Aber du wolltest nicht auf mich hören.«
Sie wedelte mit einer Hand in der Luft herum, als wollte sie eine lästige Fliege verscheuchen. »Wenigstens musste ich mich nicht übergeben.«
Ich wollte gerade meinen PC starten und hielt in der Bewegung inne.
Sie runzelte die Stirn: »Oder doch?«
Ich zog die Nase kraus. »Nur zwei Mal. Davon einmal, bevor wir ins Taxi eingestiegen sind, und einmal danach. Gutes Timing hast du ja.«
Wider Willen musste sie lachen. »Was soll ich sagen? Ich bin eben ein Vollprofi.«
Ich schmunzelte und ließ meinen Blick zum Fenster schweifen, während der Computer hochfuhr. Wir hatten zwar nur ein Büro mit Blick Richtung Osten, also nicht zum Central Park, aber trotzdem faszinierte mich dieser Ausblick auf die Stadt jeden Tag aufs Neue. Unten auf der Straße erklang eine Sirene, ein lang gezogenes Jaulen, das von einem schnelleren Stakkato-Ton abgelöst wurde und dann in ein rhythmisches Hupen überging. Feuerwehr. Oder Polizei. Typische Geräusche für New York City.
Ein glückliches Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass ich jetzt tatsächlich hier lebte. Und zwar für ein ganzes Jahr. In New York. Der aufregendsten Stadt der Welt.
Das Hochfahren des Computers dauerte ewig, vielleicht weil ein Update aufgespielt wurde. Dann konnte ich die Zeit auch anderweitig nutzen. Ich sah mich kurz um, und weil niemand hinter mir stand, zog ich meine To-do-Liste aus der Tasche und legte sie vor mir auf den Tisch.
Meine New-York-To-do-Liste.
Ich nahm einen Kugelschreiber in die Hand und ging die Liste noch mal durch. Nicht dass ich sie nicht ohnehin schon Wort für Wort auswendig gekannt hätte.
Meine New-York-To-do-Liste
Ich liebe To-do-Listen. Ich liebe sie. Vielleicht könnte man sogar sagen, dass ich ein bisschen besessen von To-do-Listen bin. Ich finde sie wichtig, eigentlich lebensnotwendig. Wie sonst soll ich mir all die Sachen merken, die ich zu tun habe? Tausend Dinge würden in meinem Kopf herumschwirren, in einem Moment würde mir etwas siedend heiß einfallen, im nächsten wäre es mir schon wieder entfallen, und ich würde wissen, dass es da irgendetwas gab, ohne mich zu erinnern, was. Eine grauenhafte Vorstellung. Außerdem – was gab es Befriedigenderes, als eine Sache zu erledigen und sie dann auf der Liste dick durchzustreichen? Abgehakt, fertig, geschafft. Ein schönes Gefühl, oder?
Für meinen Aufenthalt in New York hatte ich selbstverständlich auch eine To-do-Liste. Meine Zeit hier war schließlich begrenzt, und ich wollte viel erleben und musste natürlich auch Notwendiges erledigen. Das Allerwichtigste hatte ich mit Isys Hilfe schon geschafft, nämlich, einen Job zu finden, der mir mein weiteres Leben in New York finanzierte.
Ich sah zu ihr rüber. Das Schicksal hatte es gut mit mir gemeint, als ich von Deutschland aus im Internet ausgerechnet das WG-Zimmer fand, das Isys Mitbewohnerin wegen eines Praktikums in Chicago für drei Monate vermieten wollte. Denn so hatte ich nicht nur Isy kennengelernt, sondern Isy hatte mir in null Komma nichts einen Job in der Kanzlei besorgt, in der sie auch arbeitete. So konnte ich Geld verdienen und nebenbei sogar noch meinen Lebenslauf aufpeppen.
Ich kaute auf meinem Stift herum und dachte nach. Ich musste wirklich, wirklich mit der Wohnungssuche anfangen. Oder im September ins Hotel ziehen, was ich mir nicht leisten konnte. Oder alternativ bei Isy auf dem Bettvorleger schlafen. Drei Wochen war ich schon hier, blieben also gerade mal knapp zehn Wochen, um in einer der teuersten Städte der Welt eine bezahlbare, gleichzeitig aber auch akzeptable Wohnung zu finden.
Ich beschloss, uns beiden an diesem anstrengenden Morgen erst einmal etwas Gutes zu tun, und ging rüber in die Büroküche, um uns einen Kaffee zu machen. Wir konnten ihn weiß Gott beide brauchen.
Als ich mit zwei bildschönen Latte Macchiato zurückkam, sah ich, dass sich Isy mit gerunzelter Stirn über meine To-do-Liste gebeugt hatte. Und die war eigentlich nicht für fremde Augen bestimmt.
Ich stellte die Gläser auf den Tisch und wollte die Liste wieder an mich nehmen, doch sie hatte sie sich schon geschnappt und drehte sich von mir weg, damit ich den Zettel nicht erwischen konnte.
»Was ist das?«
Mist. Ich hätte die Liste erstens nicht auf dem Tisch liegen lassen und zweitens auf Deutsch schreiben sollen. Aber irgendwie hatte es sich richtiger angefühlt, meine New-York-To-do-Liste auf Englisch zu schreiben. Ich versuchte noch einmal, danach zu greifen, aber Isy hielt sie außerhalb meiner Reichweite. Und Isy aufzuhalten war ungefähr so, als würde man versuchen, einen Sattelschlepper bei voller Fahrt mit bloßen Händen zu stoppen. Hoffnungslos.
Daher setzte ich mich wieder an meinen Platz ihr gegenüber und rührte nervös in meinem Glas, um den Schaum mit dem Kaffee und dem Honig zu vermischen, den ich immer in meinen Latte gab.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte sie noch einmal und wedelte mit dem Blatt hin und her.
Ich merkte, wie ich rot wurde, und versteckte mein Gesicht hinter dem Bildschirm. Blöde Angewohnheit, dieses Rotwerden.
»Das sind die Dinge, die ich in meinem Jahr in New York erledigen und erleben möchte. Meine New-York-To-do-Liste«, antwortete ich.
Sie zog die Augenbrauen hoch.
»Ist das dein Ernst?«, fragte sie. »Besichtigungstouren? Kaffee trinken im Central Park? Shopping bei Bloomingdale’s? Musicals? Schätzchen, das ist die langweiligste To-do-Liste, die ich in meinem Leben je gelesen habe.«
Ich beugte mich vor und versuchte noch mal, ihr die Liste aus der Hand zu nehmen, doch sie hatte sie schon gefaltet und in ihre Hosentasche gesteckt.
»Vergiss es.« Sie grinste und sah plötzlich sehr viel wacher aus. »Wenn ich mit dieser Liste fertig bin, dann ist das die beste New-York-To-do-Liste, die die Welt je gesehen hat. Und du wirst die Zeit deines Lebens haben, das schwöre ich.«
Mein Seufzen kam aus tiefster Seele. Ich hatte vage das Gefühl, dass ich mich fürchten sollte.
»Emma Meyer?« Eine der Sekretärinnen stand in der Tür des Großraumbüros und sah sich suchend um. »Anthony Collins möchte Sie sehen. Sofort.«
Im ersten Moment war ich geneigt, unter den Tisch zu kriechen und so zu tun, als wäre ich nicht da. Aber die Sekretärin – Cassie? Tracey? Stacey? – hatte mich schon entdeckt und machte eine Handbewegung, die wohl sagen sollte: »Warum bewegst du deinen Hintern nicht?«
Isy sah mich über den Schreibtisch hinweg mitleidig an und schob mir unauffällig ein Pfefferminzbonbon rüber. Meine Retterin. Wodka-Cranberry-Schrägstrich-Gin-Tonic-Atem kam bei einem Vorgesetzten morgens um 9.45 Uhr sicherlich nicht so gut an. Die Sekretärin wartete ungeduldig an der Tür, bis ich mir einen Block und einen Stift geschnappt und meinen Rock glatt gestrichen hatte.
Bislang hatte ich in der Kanzlei nur ein paar Rechercheaufträge ausgeführt, also nach Rechtsprechung zu anhängigen Klageverfahren gesucht und Akten zusammengestellt. Dass mich einer der Partner jetzt persönlich sprechen wollte, ließ meine Handflächen feucht werden. Hatte ich irgendeinen Fehler gemacht oder ein wichtiges Urteil übersehen? Und dann auch noch ausgerechnet heute. Es wäre untertrieben zu sagen, dass ich nicht gerade in Topform war.
Meine Ballerinas versanken in dem dicken dunkelblauen Teppich, als ich der Sekretärin den Flur hinunter folgte. Ich versuchte dabei vergeblich, nicht wie eine verschreckte Maus auszusehen. Alles bei Donovan & Thompson war teuer, edel, gediegen – und absolut angsteinflößend. Mir zumindest jagte die Kanzlei Angst ein. Ich hatte zu Hause in Deutschland während des Jura-Studiums ein paar Praktika gemacht, unter anderem in der Kanzlei meines Vaters, hatte aber noch nie als Anwältin gearbeitet. Meine Berufserfahrung war also fast null. Ebenso wie meine Kenntnisse des amerikanischen Rechtssystems. Mein Englisch war okay, allerdings natürlich nicht zu vergleichen mit dem Wortschatz und der Ausdrucksweise der Muttersprachler, von denen ich umgeben war. Ich fühlte mich nicht ausreichend vorbereitet für welche Aufgabe auch immer. Oder auf die Standpauke, die mich möglicherweise erwartete.
Die Tür des Partnerbüros stand offen. Anthony W. Collins – Partner stand auf dem Schild neben der Tür. Ich war noch nie in einem der Partnerbüros gewesen, und mir klopfte das Herz bis zum Hals. Ich sah an mir herunter. Ich hatte an diesem Morgen mein schwarzes Kostüm angezogen, eigentlich ein Outfit, in dem ich mich wenigstens annähernd so fühlte, als würde ich in eine New Yorker Großkanzlei gehören. Irgendwie. Aber natürlich hatte ich meinen Blazer über dem Stuhl hängen lassen. Prima. Jetzt wirkte ich in meinem schwarzen Rock und der weißen Bluse wie eine Kellnerin in einem spießigen Café. Eine Kellnerin mit Alkoholproblem. Ich zerbiss das Pfefferminzbonbon schnell mit den Zähnen und schluckte es hinunter.
Die Sekretärin klopfte kurz an den Türrahmen der offenen Tür: »Anthony? Emma Meyer für dich.«
Sie machte einen Schritt zur Seite, damit ich eintreten konnte.
Anthony Collins hatte – wie jeder der erfolgreichen und umsatzstarken Partner der Kanzlei – ein vollverglastes Eckbüro. Der Ausblick, der sich mir aus der bodentiefen Fensterfront bot, verschlug mir regelrecht die Sprache und ließ mich einen kurzen Moment meine Angst vergessen. Die Kanzlei lag am unteren Ende der 5th Avenue mit Büros im einundzwanzigsten bis fünfundzwanzigsten Stock, und so boten einige der Räume einen atemberaubenden Blick über den Central Park in Richtung Upper West Side und linker Hand nach Manhattan.
Anthony Collins stand mit dem Rücken zu mir am Fenster und telefonierte mit seinem Headset, eine Hand lässig in der Hosentasche seines dunkelblauen Anzugs, den er mit einem weißen Hemd, einem braunen Gürtel und braunen Schuhen kombiniert hatte. Mit der anderen Hand stützte er sich am Fensterrahmen ab. Sein Jackett hing über der Rückenlehne seines Ledersessels. So hatte ich freien Blick auf einen ziemlich sexy Knackarsch.
Moment. Waren mir gerade die Worte »sexy« und »Knackarsch« in Verbindung mit einem der Kanzleipartner durch den Kopf gegangen? Innerlich ohrfeigte ich mich. Zusammenreißen! Die Situation, in der ich mich befand, war schon schwierig genug, auch ohne dass ich bei solchen Gedanken ertappt wurde und womöglich wieder knallrot wurde.
Als er die Sekretärin hörte, drehte er sich um.
Himmel, von vorne sah er noch besser aus als von hinten. Anfang, Mitte dreißig. Kurze, fast schwarze Haare. Braune Augen. Lachfältchen. Schmale, aber schön geschwungene Lippen, gerade Nase, markantes Kinn. Er hätte die männliche Hauptrolle in einer amerikanischen Anwaltsserie besetzen können. Harvey Spector in Suits. Aber jünger.
Er nickte mir zu, zog kurz einen Mundwinkel in Andeutung eines Lächelns nach oben, was schon reichte, um meinen Herzschlag zu verdoppeln, und hob die Hand, um der Sekretärin anzudeuten, dass sie gehen konnte.
»Christopher, kürzen wir das ab. Ich weiß, dass Ihnen mein Vorschlag nicht passt. Aber Sie bezahlen mich nicht dafür, dass ich Ihnen sage, was Sie hören wollen, sondern dafür, dass ich Ihnen die Wahrheit sage, auch wenn sie unbequem ist«, sagte er zu seinem Gesprächspartner am Telefon. »Ich habe jetzt einen Termin. Denken Sie darüber nach. Wir sehen uns morgen um eins.«
Er zog das Headset vom Ohr, warf es vor sich auf den Tisch und ließ sich schwungvoll auf den Ledersessel hinter seinem Schreibtisch fallen, was irgendwie jungenhaft wirkte und mich hätte schmunzeln lassen, wenn ich nicht so erstarrt gewesen wäre.
»Emma Meyer, richtig?«, fragte er mit Blick auf eine Mappe vor ihm auf dem Tisch, in der ich meine Bewerbungsunterlagen entdeckte, und bedeutete mir mit einer sparsamen Handbewegung, ebenfalls Platz zu nehmen.
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Herzlich willkommen in der Kanzlei. Hatten Sie einen guten Start?«
Seine Stimme war tief und angenehm. Eine Stimme, der man zuhörte und die Autorität ausstrahlte. Er war jemand, der nicht laut werden musste, damit man Respekt vor ihm hatte.
»Ähm«, begann ich. Hatte ich einen guten Start gehabt? Keine Ahnung, eigentlich kam ich nur jeden Tag, arbeitete meine Rechercheaufträge ab und ging dann wieder. Außer mit Isy und den anderen Studenten hatte ich noch mit niemandem großartig Kontakt gehabt. Was sollte ich also auf seine Frage antworten?
»Ja, ähm, eigentlich schon«, stammelte ich.
Sehr clevere Antwort, Emma, dachte ich sofort. Smart, witzig, eloquent. Ungefähr auf dem Niveau von ›Ich habe eine Wassermelone getragen‹. Ein wirklich beeindruckender Einstieg.
Er sagte einen Moment lang nichts, legte den Kopf etwas schief und sah mich erwartungsvoll an. Ich wurde prompt rot und wäre am liebsten im Boden versunken. Mit seinem Füller fuhr er sich nachdenklich über die Unterlippe und lächelte dann.
»Erzählen Sie mir doch ein bisschen was über sich«, sagte er aufmunternd.
Ich versuchte, mich so gut es ging zusammenzureißen. »Ich habe in Deutschland beide Staatsexamina in Jura gemacht, aber noch nie als Anwältin gearbeitet. Ich werde im August meinen Masterkurs an der New York University beginnen. Für mich ist es sehr aufregend, hier in New York zu sein und, natürlich, für eine bekannte Wirtschaftskanzlei wie Donovan & Thompson zu arbeiten.«
Ha! Nimm das, dachte ich zufrieden. Ich konnte doch reden wie ein normaler Mensch.
»Und Sie sind erst 26? Beeindruckend.«
Ich nickte, denn darauf, dass ich meine Ausbildung so schnell durchgezogen hatte, war ich stolz. »Ich bin eben ein kleiner Streber.«
Sein Lächeln vertiefte sich noch etwas mehr. »Ich mag zielstrebige Menschen.« Er warf einen Blick in die Akte. »In Ihrer Bewerbung habe ich gelesen, dass Sie amerikanische Staatsbürgerin sind, aber deutsche Eltern haben und in Deutschland aufgewachsen sind. Wie kommt’s?«
Ich rutschte auf meinem Stuhl etwas nach vorne. »Das liegt daran, dass ich quasi zufällig in Boston geboren bin. Als meine Mutter mit mir schwanger war, haben meine Eltern eine Reise an die Ostküste gemacht. Aufgrund von Schwangerschaftskomplikationen musste meine Mutter ins Krankenhaus und durfte nicht mehr nach Hause fliegen. Meine Eltern sind sofort nach meiner Geburt wieder nach Deutschland zurückgekehrt, aber einen amerikanischen Pass habe ich durch die Geburt in den Staaten trotzdem.«
Und wie viel einfacher diese Tatsache meinen ganzen Aufenthalt in New York machte. Davon abgesehen, dass ich kein Studentenvisum brauchte, konnte ich auch ohne besondere Arbeitserlaubnis Geld verdienen.
Scheinbar zufrieden mit meinen Antworten und hoffentlich überzeugt davon, dass ich doch nicht völlig auf den Kopf gefallen war, klopfte Mr Collins sich kurz mit dem Stift auf die Lippen, bevor er mit dem Stuhl an den Tisch heranrückte und eine andere Akte in die Hand nahm.
»Ich habe eine Aufgabe für Sie. Einer meiner Mandanten möchte ein deutsches Unternehmen und deren Marken kaufen. Deutsche und europäische Marken. Sie sind doch sicher mit deutschem und europäischem Markenrecht vertraut, Emma?« Er zog fragend die Augenbrauen hoch.
Klar. Ungefähr so vertraut wie mit kernphysikalischer Messtechnik.
»Das war nicht Teil meines Studiums in Deutschland, aber ich bin mir sicher, dass ich mich einarbeiten kann.«
Er nickte und schob die Akte über den Tisch. Ich griff nervös danach, und unsere Finger berührten sich kurz. Schnell zog ich meine Hand zurück. Gleichzeitig schoss mir durch den Kopf, dass er keinen Ehering trug.
»Die Akte enthält eine Liste aller Marken der Gesellschaft, die unser Mandant erwerben möchte. Sie müssen prüfen …«
Er sprach weiter und weiter, und ich begann, hektisch alles mitzuschreiben, was er sagte. Ich verstand nur Bahnhof und hoffte, dass ich später – mit der Hilfe von Google, Wikipedia und Isy – herausfinden würde, was zum Teufel er von mir wollte.
»Alles klar?« Er sah mich wieder mit schräggelegtem Kopf an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, und seine Augen blitzten verdächtig. Er wusste, dass ich keinen blassen Schimmer hatte. Aber ich streckte meine Schultern und stand auf. Ich würde mir hier sicher keine Blöße geben. Musste ich eben später schauen, wie ich zurechtkam.
»Alles klar«, sagte ich und versuchte, ein Selbstbewusstsein auszustrahlen, das ich nicht im Entferntesten empfand. Und so zu tun, als wüsste ich, was ich tat.
Bevor ich die Tür erreicht hatte, war er schon wieder am Telefonieren.
Okay, keine Panik, keine Panik, dachte ich, als ich über den Flur zurück ins Trainee-Zimmer hetzte.
»Isy?« rief ich, kaum dass ich durch die Tür war.
Isy saß an ihrem Schreibtisch und lackierte sich die Fingernägel. Typisch für sie. Sie war einer dieser Menschen, die extrem schlau und dabei extrem locker waren und denen als Resultat scheinbar alles im Leben zuflog. Sie arbeitete fast nur für den Managing Partner. Da konnte man sich auch mal in Ruhe während der Arbeitszeit die Fingernägel lackieren. Während mir der Schweiß aus allen Poren rann.
»Herzchen«, sagte sie. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»O Gott, ich muss Marken prüfen. Ich habe keine Ahnung, wie das geht!«
»Eine Marken-Due-Diligence?«, fragte sie und schnappte sich mit spitzen Fingern die Akte, um sich den Lack auf den Nägeln nicht zu ruinieren.
»Eine Marken-was-was?«
»Mar-ken-Due-Di-li-gence«, wiederholte sie langsam. »Eine Risikoprüfung. Der Mandant möchte ein Unternehmen kaufen, und wir sagen ihm, ob das eine gute Idee ist oder ob er besser die Finger davon lassen soll.«
»Ja, so ungefähr hat sich das angehört, was Mr Collins gesagt hat.«
»Wir prüfen zum Beispiel Arbeitsrecht, Steuerrecht und so weiter. Und du sollst eben einen kleinen Teil von dem Ganzen prüfen – die Marken des Unternehmens.«
Ich schien immer noch ratlos ausgesehen zu haben, denn sie sagte langsam: »Wenn du die Coca Cola Company aufkaufst und darfst danach aus irgendwelchen Gründen die Marke ›Coca Cola‹ für deine Getränke nicht benutzen, dann hast du für viel Geld nur eine süße braune Limo ohne Namen gekauft. Kapiert?«
Ich nickte. So halbwegs.
Eine E-Mail poppte in meinem Outlook-Account auf. Anthony Collins.
Können wir Ihre Ergebnisse morgen früh um 10 besprechen?
Scheiße.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Wie sollte ich das bis morgen früh schaffen? Ich hatte ja noch nicht einmal eine Ahnung, was ich überhaupt tun sollte!
»Lass mich das mal anschauen«, sagte Isy und begann in der Akte zu blättern. Ich saß daneben und kaute auf meiner Unterlippe.
Das Vibrieren meines Handys riss mich aus meiner Schockstarre. Ich blickte auf das Display. O nein. Mein Vater. Der hatte mir gerade noch gefehlt. Ich überlegte kurz, den Anruf wegzudrücken, aber dann siegte wie üblich das schlechte Gewissen, und ich ging ran. Unwillkürlich setzte ich mich gerader hin, als ich seine Stimme hörte.
»Emma!«
»Hallo Papa.«
Unser Verhältnis hatte sich merklich um ein paar Grad abgekühlt, seitdem ich beschlossen hatte, in New York zu studieren. Denn mein Vater fand meine Idee, für ein Jahr ins Ausland zu gehen, nicht annähernd so berauschend wie ich. Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich direkt nach meinem Abschluss in seiner Kanzlei als Anwältin angefangen. Das war schließlich Sinn und Zweck meines Jurastudiums gewesen, oder? Ich sollte mit ihm arbeiten und dann irgendwann die Kanzlei übernehmen. So hatte er mich nur zähneknirschend ziehen lassen und unterstützte mich derzeit weder moralisch noch finanziell.
Er hielt sich wie üblich nicht groß mit Förmlichkeiten auf: »Ich wollte nur mal hören, ob du mittlerweile zur Besinnung gekommen bist und zu uns nach Hause zurückkommst.«
Susanne, die aktuelle – vierte – Ehefrau meines Vaters, war mehr als glücklich darüber, dass ein ganzer Ozean zwischen uns lag, das wusste ich. Wahrscheinlich hätte sie es am besten gefunden, wenn ich auf dem Mond studiert hätte. Oder besser noch in einer anderen Galaxie. Aber sie unterstützte meinen Vater natürlich voll und ganz in seiner Meinung, dass ich meine Eskapaden, wie sie es nannten, selbst bezahlen sollte. So war ich bei der Verwirklichung meines Traumes auf mich allein gestellt. Glücklicherweise hatte ich durch einige Semesterferienjobs in Deutschland Geld zur Seite gelegt. Und ich hatte die Erbschaft meiner Mutter, die gestorben war, als ich fünf war. Zusammen mit dem Job bei Donovan & Thompson würde es reichen, um die Miete und mein Leben bezahlen zu können. Auch ohne die Hilfe meines Vaters.
Ich begann, an meinem rechten Daumennagel herumzukauen. »Es hat sich nichts geändert. Ich werde nächstes Jahr bei dir anfangen, so wie besprochen. Aber mir ist es wirklich wichtig, einmal für eine Zeitlang im Ausland zu leben, richtig gut Englisch zu lernen, einen ausländischen Abschluss zu machen …« Weg von zu Hause zu sein. Aber das sagte ich lieber nicht laut.
»Jaja«, unterbrach mich mein Vater. »Wen interessiert schon dein Englisch oder dein hochtrabender amerikanischer Abschluss, wenn du in meiner Kanzlei im deutschen Familienrecht arbeiten wirst?«
Ich wollte etwas erwidern, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Der Grund meines Anrufs ist der: Frau Kübler hat gestern ihre Kündigung eingereicht, und jetzt muss ich ihre Stelle neu besetzen. Es ist doch Unsinn, für die Zwischenzeit jemanden einzustellen. Da wäre es doch besser, wenn du einfach nach Hause kommst. Ich zahle dir das Rückflugticket und alle Ausgaben, die du bisher hattest. Bei mir kannst du mehr lernen als im Ausland, dich persönlich und fachlich weiterentwickeln. Du kannst auch nebenbei deinen Doktor machen …« Ich wusste, was nun folgen würde, und wappnete mich für sein ultimatives Argument. Und richtig, es kam prompt: »Meinst du nicht, dass du das deiner Familie schuldig bist, Emma? Die Kanzlei besteht bereits seit über siebzig Jahren und dein Großvater …«
Ich war vom Knabbern am Daumennagel zum Abknibbeln der Nagelhaut übergegangen und versuchte gleichzeitig, die Stimme meines Vaters so gut es ging auszublenden. Ihm zuzuhören hätte bedeutet, dass mein Kopf explodiert wäre. Als mein Daumen anfing zu bluten, unterbrach ich ihn: »Das weiß ich doch alles. Ich werde ja auch zurückkommen. Ich werde in der Kanzlei anfangen. Aber bitte gönn mir doch bis dahin meine Zeit in New York. Es sind doch nur zwölf Monate!« Ich drückte zwei Finger auf die Stelle zwischen den Augen und sagte: »Ich kann jetzt nicht mehr weitersprechen. Die Arbeit ruft.«
Einen Moment sagte er nichts, und ich wusste, dass er darüber nachdachte, ob er das Thema fallen lassen oder weiterbohren sollte. Ich blickte aus dem Fenster in den stahlblauen New Yorker Sommerhimmel und nahm ihm die Entscheidung ab: »Ich muss weitermachen. Mach’s gut, Papa.«
Ich beendete das Gespräch und versuchte zu ignorieren, dass er mich noch nicht einmal danach gefragt hatte, wie es mir ging. Ist alles in Ordnung, Emma? Wie ist die Wohnung? Hast du schon Freunde gefunden? Fehlanzeige.
Isy hatte von ihrer Akte aufgeblickt. »Probleme?«
»Mein das Bestimmen und Befehlen gewohnter Vater kann einfach nicht akzeptieren, dass ich mich entschieden habe, für ein Jahr ins Ausland zu gehen, statt in seiner Kanzlei reiche Frankfurter Banker bei ihren hässlichen, aber lukrativen Scheidungsschlachten zu vertreten.«
Ich massierte kurz meine Schläfen und seufzte. Ich hatte jetzt wirklich andere Probleme als meinen Vater.
»Was muss ich für Anthony Collins machen?«
»Ich habe mir das mal kurz angeschaut – keine Panik«, sagte Isy und legte mir eine Hand auf den Arm. »Es ist nicht so schwer. Die Markenauszüge sind alle auf Deutsch, sonst würde ich dir helfen. Aber es wäre doch gelacht, wenn ich nicht irgendwo eine gute Vorlage für dich auftreiben könnte.«
»Mr Collins möchte die ersten Ergebnisse schon morgen früh haben.«
Sie ließ die Blätter noch einmal durch ihre Finger gleiten und zuckte mit den Schultern. »Schätzchen, das ist ein Haufen Arbeit. Du solltest dich besser ranhalten.«
Das tat ich. Ich las und recherchierte und tippte und diktierte, bis ich um 1.30 Uhr nachts eine Liste zusammengestellt hatte, die ich Anthony Collins halbwegs guten Gewissens präsentieren konnte. So lange hatte ich noch nie gearbeitet, noch nicht einmal in der unmittelbaren Examensvorbereitung zu Hause. Erschöpft stellte ich das Diktiergerät ab, streckte mich ausgiebig und wartete, bis mein Bericht elektronisch ins Sekretariat übertragen worden war. Morgen früh konnte die Sekretärin, die schon um 8 Uhr anfing, das Memo tippen. Wenn ich um 9 Uhr kam, brauchte ich den Bericht nur noch einmal durchzulesen und war dann um 10 Uhr gut vorbereitet für die Besprechung. Hoffentlich.
Als ich über den halbdunklen Flur zu den Aufzügen ging, sah ich am anderen Ende des Gangs noch Licht. Anthony Collins schien ebenfalls noch zu arbeiten. War ja letztlich auch nur fair, wenn ich mir hier seinetwegen die Nacht um die Ohren schlagen musste.
Ich drückte auf den Fahrstuhlknopf. Während ich auf den Aufzug wartete, trat Mr Collins aus seinem Zimmer und kam auf mich zu, die Hände in den Hosentaschen. Oje, hoffentlich wollte er mich jetzt nicht noch in ein fachliches Gespräch verwickeln. Mein Gehirn war schon im Standby-Modus.
»Sie sind ja noch da?«, fragte er und blieb neben mir stehen. Er war etwas größer als ich, und ich war mir seiner Nähe allein im schwach beleuchteten Flur merkwürdig bewusst.
»Ähm, ja, es war doch recht viel Arbeit.«
Wo kam nur dieses ›Ähm‹ andauernd her? Wenn ich Anthony Collins gegenüberstand, begann ich scheinbar jeden Satz mit einem Stottern. Ich versuchte, mich trotz meiner Verunsicherung und meiner Müdigkeit zusammenzureißen: »Aber Sie hatten ja auch offenbar noch zu tun?«
»Ich wollte gerade gehen«, antwortete er. »Ich bringe Sie zum Taxi. Alleine sollten Sie um diese Zeit hier nicht mehr herumlaufen. Wir sind in New York.«
Ich wartete mit klopfendem Herzen am Fahrstuhl, während er seine Jacke holte. Er ließ mir höflich den Vortritt, als sich die Tür öffnete. Schweigend fuhren wir nach unten. Ich warf einen verstohlenen Blick in den Spiegel an der Rückwand des Aufzugs. Meine Güte, sah ich übel aus. Zum Kater-Look von heute Morgen waren nun auch noch trockene Haut von der klimatisierten Büroluft und rote Augen vom stundenlangen Starren auf den Bildschirm gekommen. Aus meinem Dutt hatten sich mehrere Strähnen gelöst. Ich konnte nicht widerstehen und zog den Haargummi heraus, schüttelte meine Haare kurz und band sie wieder ordentlicher zusammen. Na ja, das machte das Gesamterscheinungsbild nicht wirklich besser.
Anthony Collins lehnte mit der Schulter an der Wand des Aufzuges und beobachtete mich amüsiert. »Nicht ganz so glamourös, wie man es sich vorstellt, das Arbeiten in einer Großkanzlei, oder?«
Bevor ich antworten konnte, öffnete sich die Aufzugtür. Die Lobby war menschenleer, nur der Portier saß hinter dem Empfangstresen und spielte mit seinem Smartphone. Er blickte auf, als wir an ihm vorbeiliefen. »Gute Nacht, Mr Collins. Kommen Sie gut nach Hause.«
»Danke. Gute Nacht, Peter«, erwiderte Mr Collins und hielt mir die Tür auf.
Draußen war es frischer, als ich es in einer Juninacht vermutet hätte, aber ich war ja auch den ganzen Tag nicht vor die Tür gekommen und hatte mich nur von Kaffee, Aspirin und Bagels ernährt. Mein Kreislauf hatte schon mal bessere Zeiten erlebt. Ich schlang unwillkürlich die Arme um meinen Körper. Ich hätte morgens eine richtige Jacke mitnehmen sollen, aber da hatte ich noch nicht geahnt, dass ich erst mitten in der Nacht aus dem Büro kommen würde.
Mr Collins sah mich von der Seite an. »Kalt?«
»Ein wenig«, gab ich zu.
»Hier, nehmen Sie die.« Er zog seine Jacke aus und legte sie mir über die Schultern. Mein Herz setzte drei Schläge aus, nur um dann doppelt so schnell weiterzupochen. Die Jacke war warm von seinem Körper und roch nach teurem Rasierwasser. Gut, dass er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie ich schon wieder rot wurde. Kalt war mir plötzlich nicht mehr, und das lag nicht an der Jacke. Krampfhaft überlegte ich, worüber ich mit ihm sprechen konnte. Mein Gehirn war wie leer gefegt, und ich kam mir seltsam ungeschickt neben ihm vor. Müde und ausgelaugt und unattraktiv noch dazu.
»Arbeiten Sie immer so lange?«
Er lachte. »Nicht, wenn ich es vermeiden kann, aber im Moment arbeiten wir an einer Transaktion, die recht aufwendig ist. Da kann es schon mal spät werden.«
Er sah auf die Uhr. »Oder früh, wie man es nimmt. Lassen Sie sich vom Taxifahrer eine Quittung geben. Das zahlt der Mandant. Wo wohnen Sie?«
»West Village. Und Sie?«
»Brooklyn.« Dann hatte er eine noch längere Fahrt vor sich als ich.
»Nehmen Sie sich auch ein Taxi?«
»Ich habe einen Fahrer.«
Er hatte einen Fahrer. Natürlich hatte er einen Fahrer. Ich Dummerchen. Beinahe hätte ich gelacht.
Als könnte er meine Gedanken lesen, sagte er: »Es ist nicht mein persönlicher Fahrer. Die Kanzlei stellt den Partnern Chauffeure zur Verfügung, für den Fall, dass es mal spät wird, oder für Mandantentermine.«
Er machte einen Schritt auf die Straße und hob den Arm. Sofort scherte ein freies Taxi aus und hielt auf unserer Höhe an. Er öffnete die Tür, beugte sich nach innen und sagte: »Guten Abend. Bitte fahren Sie die Dame ins West Village …« Er sah mich fragend an.
»MacDougal Street am Washington Square Park«, sagte ich.
Er wiederholte die Straße für den Fahrer und hielt mir dann die Tür auf. Ich versuchte, so elegant wie möglich einzusteigen, blieb aber mit dem Fuß am Türrahmen hängen und plumpste auf den Rücksitz. Mist.
»Bis morgen, Mr Collins.«
»Anthony. Keiner der Kollegen nennt mich Mr Collins.«
»Bis morgen … Anthony«, wiederholte ich.
»Emma?«, sagte er, als ich mich gerade anschnallen wollte.
Mir gefiel, wie er meinen Namen aussprach. Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein schüchternes Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete.
»Ja?«
Er beugte sich zu mir herunter. »Du hast noch meine Jacke an.«
Oh. Natürlich.
»Entschuldigung.«
Ich schüttelte seine Jacke ab und reichte sie ihm aus dem Wagen.
Er lächelte. »Nachdem wir heute beide so einen langen Tag hatten, wie wäre es, wenn wir morgen deine Ergebnisse bei einem Kaffee besprechen? Es gibt an der Kreuzung Madison und 102nd East einen kleinen Coffee-Shop. Um zehn?«
Ich überlegte kurz, ob ich das schaffen konnte, wenn ich früh genug im Büro war und den Bericht überarbeitete. Und dann brauchte ich einen Moment, um meine Stimme wiederzufinden.
»Gute Idee.« Ich schaffte es, sein Lächeln zu erwidern und fügte hinzu: »Um zehn dann.«
Er schlug die Tür zu und klopfte zweimal auf das Wagendach.
Ich musste mich sehr, sehr zusammenreißen, mich nicht umzudrehen, um zu sehen, ob er mir nachblickte.
Trotz bleierner Müdigkeit machte ich in dieser Nacht kaum ein Auge zu. Tausend Dinge gingen mir durch den Kopf. War es in Amerika normal, dass man mit Kollegen frühstücken ging? Ich hatte keine Ahnung. Bislang hatte ich immer gedacht, dass man als Mann in den USA schon ein Verfahren wegen sexueller Belästigung befürchten musste, wenn man eine Kollegin zu freundlich anlächelte. Aber frühstücken mit Kollegen war vielleicht ganz üblich? Bisher war ich ja auch mit einigen Kollegen Mittag essen gegangen. Aber das waren nur Studenten gewesen.
Und Anthony hatte mir das Du angeboten. Irgendwie schmeichelte mir das. Obwohl ich natürlich wusste, dass es absolut üblich war, sich in amerikanischen Kanzleien quasi vom ersten Moment an zu duzen. Anders als in Deutschland, wo man sich manchmal auch nach jahrelanger Zusammenarbeit noch siezte und auf die Hierarchien zwischen Partnern, Anwälten und Büromitarbeitern viel mehr Wert gelegt wurde.
Isy konnte ich nicht fragen. Die war nämlich um 3 Uhr immer noch nicht von ihrem erneuten nächtlichen Trip durch die New Yorker Bars zurückgekehrt. Die Glückliche hatte morgen einen freien Tag und konnte ausschlafen. Also drehte sich mein Gedankenkarussell alleine weiter.
Anthony hatte genau genommen auch nicht »frühstücken« gesagt, sondern »Kaffee«. Das war irgendwie unverbindlicher. Aber für mich ehrlich gesagt nicht weniger aufregend. Denn er war ja nicht irgendein Kollege. Er war mein Chef. Er war einer der erfolgreichsten Jungpartner von Donovan & Thompson, so viel hatte ich mittlerweile mitbekommen. Und ich war studentische Mitarbeiterin. Ein kleines Würstchen.
Die ganze Situation wurde nicht gerade dadurch erleichtert, dass er so gutaussehend war. Unglaublich gutaussehend sogar. Und dass mein Herz unwillkürlich ein bisschen schneller pochte, wenn ich an ihn dachte. So was war mir wirklich noch nie passiert. Meinen Exfreund Jan hatte ich schon lange gekannt, bevor bei mir irgendein Kribbeln entstanden war, und es hatte einige Zeit gedauert, bis wir zusammengekommen waren. Von Blitzeinschlag keine Spur. Bei Anthony fühlte sich das beängstigenderweise ganz anders an. Was sollte ich mit diesem merkwürdigen, verwirrenden Gefühl nur anfangen?
Andererseits, grübelte ich, als der Wecker 3.30 Uhr anzeigte, wenn er alt und hässlich gewesen wäre, hätte ich mir nicht so viele Gedanken gemacht, hätte bei einem Kaffee meinen Bericht besprochen, und das wäre das Ende der Geschichte gewesen. Keine schlaflose Nacht deswegen. Da hätte ich mir höchstens Sorgen darüber gemacht, ob ich in der Lage sein würde, meine Ergebnisse richtig und nachvollziehbar zu präsentieren. Statt mir Gedanken über braune Augen mit Lachfältchen und vorhandene oder nicht vorhandene Eheringe zu machen. Meine Prioritätensetzung ließ wirklich einige Rückschlüsse auf meine Professionalität zu.
Mit diesem Gedanken schlief ich endlich ein.
»Alles klar?« Anthony lächelte mich unverschämt frisch und scheinbar ausgeschlafen an, als ich am nächsten Morgen um kurz nach zehn das Café an der Madison Avenue betrat. Er faltete die New York Times, in der er gerade gelesen hatte, zusammen und legte sie auf den Tisch. Er trug diesmal einen dunkelgrauen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte mit weißem Einstecktuch. Er sah aus, als wäre er gerade dem Titelbild eines edlen Männermagazins entstiegen.
Der Tisch, an dem er saß, stand in einer Ecke des winzigen und völlig überfüllten Cafés. Am Tresen hatte sich eine Schlange für Coffee to go gebildet. Ich schob mich an einem Mann vorbei, der am Nachbartisch saß und Donuts verdrückte, und setzte mich. Meine Füße berührten Anthonys unter dem kleinen Bistrotisch, und ich zog sie schnell wieder zurück. Verflixte Nervosität. Er saß völlig ruhig und gelassen da und beobachtete schmunzelnd, wie ich herumzappelte wie ein kleines Mädchen.
»Kaffee und Croissant?«, fragte er, als die Kellnerin an den Tisch kam. Ich nickte. »Für mich auch noch einen.«
Dann wandte er sich mir zu. »Danke für das Memo, das du mir gerade geschickt hast. Ich habe es schon überflogen«, sagte er.
Oje. Fand er es gut? War es brauchbar und so, wie er es sich vorgestellt hatte? Oder hatte ich was falsch gemacht oder ein deutsch-englisches Kauderwelsch fabriziert? Und warum, zur Hölle, sah er so frisch aus, obwohl er gestern auch nicht vor zwei ins Bett gekommen war und überarbeitet sein musste?
»Ich finde das Memo richtig gut. An der einen oder anderen Stelle muss es noch vertieft und vielleicht sprachlich etwas präzisiert werden, aber für einen ersten Entwurf, den du innerhalb nur eines Tages erarbeitet hast, wirklich gut.«
Meine Knie wurden weich vor Erleichterung. Gut, dass ich saß. Ich strahlte ihn an. Und er lächelte zurück. Ein Lächeln, das in seinen Augen anfing, dann seine Lachfältchen und seinen Mund erreichte.
Die Kellnerin kam und stellte zwei Kaffee und ein Croissant auf den Tisch, auf das ich plötzlich keinerlei Appetit mehr verspürte. In meinem Magen war etwas anderes los. Schmetterlinge, ohne Frage. Ich biss mir auf die Unterlippe und zwang mich, professionell zu bleiben und mich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Er hatte einige Änderungs- und Ergänzungsvorschläge, die ich mir auf meinem Block notierte, damit ich sie später im Büro umsetzen konnte.
Als wir unseren Kaffee getrunken hatten und ich mein Croissant – halb – gegessen hatte, lehnte sich Anthony in seinem Stuhl zurück und betrachtete mich einen Moment lang schweigend. Dann sagte er, während er sich mit der Hand über seine frisch rasierten Wangen strich: »Wir arbeiten sicher noch einen Monat an diesem Projekt. Da die Zielgesellschaft deutsch ist, könnten wir deine Unterstützung bei der Transaktion gut gebrauchen. Wenn du möchtest, kannst du in meinem Team mitarbeiten, exklusiv nur für mich. Überleg es dir.«
Ich versuchte, mein Erstaunen und meine Aufregung nicht zu zeigen, aber ich war mir sicher, dass das nicht hundertprozentig gelang.
Für mich war es gar keine Frage, dass ich für ihn arbeiten wollte. Kurz bevor wir am Büro ankamen, sagte ich daher: »Danke für das Angebot – ich würde sehr gerne in deinem Team mitarbeiten.«
Exklusiv nur für dich, fügte eine kleine, unartige Stimme in meinem Kopf hinzu.