LUNATA
LUNATA
Der ewige Gatte
Novelle
© 1869 Fjodor M. Dostojewski
Originaltitel Večnyj muž
Aus dem Russischen von Hermann Röhl
© Lunata Berlin 2021
ISBN 9783752689907
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand, Norderstedt
Der Sommer war herangekommen, und Weltschaninow war gegen alle Erwartung in Petersburg geblieben. Aus seiner Reise nach Südrußland war nichts geworden, und von seinem Prozesse war noch immer kein Ende abzusehen. Dieser Prozeß, bei dem es sich um Vermögensangelegenheiten handelte, hatte eine sehr üble Wendung genommen. Noch vor drei Monaten hatte es so ausgesehen, als wenn die Sache höchst einfach läge und gar kein Streit darüber möglich wäre; aber plötzlich hatte alles eine andere Gestalt angenommen. »Es verändert sich jetzt überhaupt alles zum Schlechteren!« Diese Redensart hatte Weltschaninow angefangen mit einer Art von Schadenfreude häufig im stillen für sich zu wiederholen. Er hatte einen geschickten, teuren, renommierten Rechtsanwalt angenommen und ließ sich das Geld nicht leid sein; aber in seiner Ungeduld und in seinem Mißtrauen hatte er es sich angewöhnt, sich auch selbst mit seinem Prozesse zu beschäftigen: Er las Akten und verfaßte selbst Schriftsätze, die sein Rechtsanwalt sämtlich in den Papierkorb warf, lief bei den Gerichtsbehörden umher, stellte Nachforschungen an und störte dadurch wahrscheinlich nur den ganzen Gang der Sache; wenigstens beklagte sich der Rechtsanwalt über ihn und wollte ihn mit Gewalt in die Sommerfrische treiben. Aber nicht einmal in die Sommerfrische zu ziehen konnte er sich entschließen. Staub, drückende Schwüle und die den Nerven so schädlichen hellen Nächte, das waren in Petersburg die Genüsse, in denen er schwelgte. Er hatte irgendwo in der Nähe des Großen Theaters eine Wohnung inne, die er erst kürzlich gemietet hatte; aber auch damit hatte er Pech gehabt; es glückte ihm eben nichts, wie er sagte. Seine Hypochondrie.
Er war ein Mensch, der bisher sein Leben gründlich genossen hatte und nun nicht mehr der jugendlichste war: Er mochte achtunddreißig oder gar neununddreißig Jahre zählen, und dieses ganze »Greisenalter«, wie er selbst sich ausdrückte, war ihm »fast ganz unerwartet« über den Hals gekommen; aber er war sich selbst darüber klar, daß er nicht sowohl durch die Zahl als sozusagen durch die Qualität seiner Jahre gealtert war, und daß, wenn sich schon mancherlei Schwächen eingestellt hatten, dies mehr innerliche als äußerliche Schwächen waren. Wenn man ihn so ansah, machte er immer noch den Eindruck eines kräftigen Mannes. Er war hochgewachsen und breitschulterig, hatte hellblondes, dichtes Haar und noch keine Spur von Grau auf dem Kopfe und in dem langen, beinah bis auf die halbe Brust hinabreichenden blonden Barte; auf den ersten Blick schien er einem etwas plump und schlaff zu sein; sah man aber genauer zu, so erkannte man in ihm sogleich einen Herrn, der einmal eine vorzügliche Kinderstube und eine durchaus weltmännische Erziehung genossen hatte. Weltschaninows Manieren waren auch jetzt ungezwungen, sicher und sogar anmutig, trotz des mürrischen, schwerfälligen Wesens, das er angenommen hatte. Er war sogar immer noch von einem unerschütterlichen, weltmännisch dreisten Selbstvertrauen erfüllt, vielleicht ohne daß er sich der ganzen Größe desselben recht bewußt gewesen wäre, obwohl er nicht nur ein kluger, sondern manchmal sogar ein scharfblickender, beinah ein gebildeter und zweifellos ein wohlbegabter Mensch war. Ehemals hatte sich die Farbe seines offenen, frischen Gesichtes durch eine weibliche Zartheit ausgezeichnet und die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich gezogen, und auch jetzt noch sagte mancher, der ihn ansah: »Ist das mal ein kerngesunder Mensch; wie Milch und Blut!« Und doch wurde dieser »kerngesunde« Mensch in grausamer Weise von Hypochondrie geplagt. Seine großen, blauen Augen hatten vor zehn Jahren so etwas Sieghaftes gehabt; sie waren so glänzend, so heiter und so sorglos
Ja, so weit war es mit ihm gekommen; er quälte sich jetzt mit irgendwelchen »höheren« Motiven herum, an die er früher mit keinem Gedanken gedacht hatte. Höhere nannte er aufgrund seiner Einsicht und seines Gewissens all diejenigen »Motive«, über die er (zu seiner eigenen Verwunderung) schlechterdings nicht imstande war, im stillen für sich
Weltschaninow mochte nichts weiter hören; aber die Krankheit erschien ihm als vollständig erwiesen.
»Also ist das alles nur Krankheit; all dieses ›Höhere‹ ist nur Krankheit und weiter nichts!« rief er manchmal giftig im stillen für sich aus. Es widerstrebte ihm doch, dem zuzustimmen.
Bald begann sich übrigens auch vormittags dasselbe zu wiederholen, was sich bis dahin ausschließlich in den Stunden der Nacht zugetragen hatte, nur daß es dann mit mehr Erbitterung verbunden war und Bosheit an die Stelle der Reue, Spott an die Stelle der Rührung trat. Im wesentlichen waren es allerlei Vorgänge aus seinem vergangenen, längst vergangenen Leben, die ihm immer öfter »plötzlich und Gott weiß woher« ins Gedächtnis kamen, und zwar in einer ganz merkwürdigen Weise. Weltschaninow klagte nämlich schon lange über das Schwinden seines Erinnerungsvermögens: Er vergaß die Gesichter von Bekannten, die ihm das dann bei Begegnungen übelnahmen; ein Buch, das er vor einem halben Jahr gelesen hatte, vergaß er innerhalb dieses Zeitraumes manchmal vollständig. Und sollte man es glauben: Trotz dieser augenscheinlichen, täglichen Abnahme des Gedächtnisses (über die er sich stark beunruhigte) fiel ihm jetzt manchmal plötzlich allerlei ein, was einer längst vergangenen Zeit angehörte, allerlei, was er schon zehn, fünfzehn Jahre lang vollständig vergessen gehabt hatte; und zwar kam ihm das alles mit einer so erstaunlichen Genauigkeit der Eindrücke und der einzelnen Umstände ins Gedächtnis, daß er es gleichsam noch einmal zu erleben glaubte. Manche der ihm wieder einfallenden
So erinnerte er sich zum Beispiel plötzlich »ganz aus heiler Haut« der von ihm vergessenen, im höchsten Grade vergessenen Gestalt eines gutherzigen alten Beamten, eines grauhaarigen, komischen Männchens, den er einmal vor langer, langer Zeit öffentlich ungestraft beleidigt hatte, und zwar einzig und allein aus törichter Prahlsucht: Nur um ein komisches, wohlgelungenes Witzwort nicht unausgesprochen zu lassen, das ihm Ruhm eintrug und viel kolportiert wurde. Er hatte die Geschichte so vergessen gehabt, daß er sich nicht einmal an den Familiennamen dieses alten Mannes erinnern konnte, wiewohl ihm jetzt alle Umstände des Vorganges mit unbegreiflicher Klarheit vor Augen standen. Er erinnerte sich deutlich, daß der alte Mann damals für die Ehre seiner Tochter eingetreten war, einer alten Jungfer, die mit ihm zusammen lebte, und über die in der Stadt gewisse Gerüchte im Umlauf waren. Der Alte hatte auf das Witzwort eine zornige Antwort geben wollen, hatte aber auf einmal vor der ganzen Gesellschaft zu weinen und zu schluchzen angefangen, was sogar einigen Eindruck gemacht hatte. Die Sache hatte damals damit geendet, daß man dem alten Manne zum Spaß gehörig Champagner zu trinken gegeben und sich dann doppelt über ihn lustig gemacht hatte. Und als Weltschaninow sich jetzt »ganz aus heiler Haut« daran erinnerte, wie das alte Männchen damals wie ein Kind geschluchzt und sein Gesicht mit den Händen bedeckt hatte, da kam es ihm auf einmal so vor, als hätte er es niemals vergessen gehabt. Und seltsam: Damals war ihm das alles sehr komisch vorgekommen; jetzt aber erregte es bei ihm die entgegengesetzte Empfindung, namentlich manche Einzelheiten wie das Bedecken des Gesichtes mit den Händen. Ferner erinnerte er sich, wie er lediglich zum Scherz die sehr schöne Frau eines Schullehrers verleumdet hatte und die Verleumdung dem Manne zu Ohren gekommen war. Weltschaninow hatte jenes Städtchen bald darauf verlassen und wußte nicht, welche Folgen seine Verleumdung damals gehabt hatte; aber jetzt malte er sich diese Folgen auf einmal aus, und Gott weiß, wohin seine Einbildungskraft dabei noch gelangt wäre, wenn ihm nicht
Wir haben bereits gesagt, daß sein Ehrgefühl nach einer besonderen Richtung hin entartet war. Dies war ganz zutreffend. Zuzeiten (diese Zeiten waren freilich nur selten) ging er in der Nichtachtung seiner eigenen Person so weit, daß er sich nicht einmal schämte, keine eigene Equipage zu besitzen, zu Fuß bei den Gerichtsbehörden umherzuwandern und sich etwas nachlässig zu kleiden; und wenn es vorgekommen wäre, daß ihn einer seiner alten Bekannten deswegen auf der Straße mit einem spöttischen Blicke gemessen hätte oder ihn einfach nicht hätte kennen wollen, so wäre er wirklich stolz genug gewesen, ein völlig gleichmütiges Gesicht zu bewahren. Und zwar hätte er das in allem Ernst getan, nicht etwa nur um des Aussehens willen. Selbstverständlich kam diese Stimmung nur selten vor; es waren nur vereinzelte Augenblicke der eigenen Nichtachtung; aber doch entfernte sich sein Ehrgefühl allmählich von den Gegenständen, auf die es früher gerichtet gewesen war und konzentrierte sich auf eine einzige Frage, die ihm nicht aus dem Sinn kam.
»Nun sieh mal an«, begann er manchmal sein stilles Selbstgespräch in satirischem Tone (wenn er über sich selbst nachdachte, geriet er fast immer in den satirischen Ton hinein), »nun sieh mal an, da gibt sich jemand Mühe, meine Moralität zu bessern, und sendet mir diese verdammten
Und obgleich sich die Geschichte mit der Lehrerfrau nicht wiederholte, und obgleich er niemanden wieder zu einem Stelzfuß verhalf, so quälte ihn doch schon der bloße Gedanke, daß sich alles mit Sicherheit ebenso abspielen würde, wenn die Umstände sich so fügten; wenigstens quälte er ihn bisweilen. Immer braucht man sich ja allerdings nicht mit Erinnerungen selbst zu peinigen; man darf sich doch auch erholen und amüsieren, sozusagen in den Zwischenakten.
So handelte Weltschaninow denn auch: Er gönnte sich in den Zwischenakten ein Amüsement; aber doch wurde ihm der Aufenthalt in Petersburg, je länger er dauerte, um so unangenehmer. Schon war der Juli herangekommen. Manchmal ging ihm der Gedanke durch den Kopf, alles stehen und liegen zu lassen, auch den Prozeß, und ohne weiteres ganz plötzlich irgendwohin zu fahren, beispielsweise etwa nach der Krim. Aber eine Stunde darauf verwarf er
»Und wozu sollte ich auch davongehen?« fuhr er trübselig zu philosophieren fort; »hier ist es so staubig und schwül, in diesem Hause und in diesen Gerichtsbureaus, in denen ich mich herumtreibe, ist alles so schmutzig, alle diese Geschäftsleute zeigen eine so mäusehafte Betriebsamkeit, eine so kleinliche Sorglichkeit, all diesen Leuten, die in der Stadt geblieben sind und vom Morgen bis zum Abend an einem vorüberhuschen, steht ihre ganze Selbstsucht, ihre ganze harmlose Frechheit, die ganze Feigheit ihrer Seelen, die ganze Hühnerhaftigkeit ihrer Herzen mit so naiver Offenheit auf dem Gesichte geschrieben, daß hier wirklich ein wahres Paradies für einen Hypochonder ist, ganz im Ernste gesagt! Alles ist unverhüllt und offen; kein Mensch hält es für nötig, sich zu maskieren, wie das unsere Damen in der Sommerfrische und in den ausländischen Badeorten tun, – und folglich verdient alles schon allein für diese Offenheit und Ehrlichkeit die vollste Hochachtung! … Ich reise nicht weg! Und wenn ich hier krepieren sollte, ich reise nicht weg!«
Es war der dritte Juli. Die Schwüle und die Hitze waren unerträglich. Dieser Tag war für Weltschaninow vollständig mit Geschäften ausgefüllt: Den ganzen Vormittag über hatte er in der Stadt herumlaufen und herumfahren müssen, und für den Abend stand ihm noch als unumgänglich notwendig in Aussicht, einen Besuch bei einem für ihn sehr wichtigen Herrn zu machen, bei einem Staatsrate, einem tüchtigen
Er speiste täglich für einen Rubel zu Mittag (Wein extra), was er als ein Opfer betrachtete, das er verständigerweise seinen derangierten Verhältnissen brachte. Obwohl er sich jedesmal darüber wunderte, wie man so schlechte Kost überhaupt nur genießen könne, vertilgte er doch immer alles bis auf den letzten Bissen, und jedesmal mit einem solchen Appetit, als ob er vorher drei Tage lang nichts gegessen hätte. »Das ist etwas Krankhaftes«, murmelte er vor sich hin, wenn er manchmal seines Appetites inne wurde. Aber diesmal ließ er sich an seinem Tischchen in sehr übler Laune nieder, schleuderte seinen Hut ärgerlich irgendwohin beiseite, stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und versank in Gedanken. Hätte jetzt ein anderer in seiner Nähe speisender Mittagsgast sich irgendwie bemerklich gemacht oder hätte der ihn bedienende Kellner einen Auftrag nicht gleich beim erstenmal richtig verstanden, so hätte er, der es doch so gut verstand, höflich zu sein und nötigenfalls eine hochmütige, unbewegliche Miene zu machen, sicherlich einen Lärm gemacht wie ein Fähnrich und womöglich einen Skandal herbeigeführt.
Es wurde ihm die Suppe gebracht, und er nahm den Löffel in die Hand; aber bevor er ihn gefüllt hatte, warf er ihn plötzlich wieder auf den Tisch und sprang beinah vom Stuhle auf. Ein überraschender Gedanke war auf einmal in seinem Kopfe aufgeblitzt: In diesem Augenblicke war ihm (Gott weiß durch welche Ideenassoziation) plötzlich die Ursache seiner Verstimmung vollkommen klar geworden, dieser besonderen eigentümlichen Verstimmung, die ihn schon mehrere Tage hintereinander, die ganze letzte Zeit
»Das ist einzig und allein dieser Hut!« murmelte er, als wenn ihn eine Inspiration überkommen hätte. »Nur er, nur dieser verdammte Zylinderhut mit dem abscheulichen Trauerflor, ist an allem schuld!«
Er fing an nachzudenken, und je länger er nachdachte, um so ingrimmiger wurde er, und um so wunderbarer erschien ihm »diese ganze Begebenheit«.
»Aber … aber was liegt denn hier überhaupt für eine Begebenheit vor?« wollte er opponieren, da er sich selbst mißtraute. »Hat denn hier etwas stattgefunden, was auch nur eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Begebenheit hätte?«
Die ganze Sache verhielt sich folgendermaßen. Es mochte schon fast vierzehn Tage her sein (genau erinnerte er sich eigentlich nicht; aber so lange, meinte er, war es her), da war er zum erstenmal auf der Straße, an der Ecke der Podjatscheskaja- und der Meschtschanskaja-Straße, einem Herrn mit einem Trauerflor am Hut begegnet. Der Herr sah so aus wie alle Leute, hatte nichts Besonderes an sich, ging schnell vorbei, sah aber Weltschaninow sehr scharf an und zog dadurch sofort dessen Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich. Wenigstens war ihm das Gesicht des Herrn bekannt vorgekommen. Er mußte ihm offenbar schon irgendwann und irgendwo begegnet sein. »Aber wieviel tausend Gesichter habe ich in meinem Leben zu sehen bekommen; die kann ich unmöglich alle behalten!« sagte er sich. Als er zwanzig Schritte weitergegangen war, hatte er die Begegnung anscheinend bereits vergessen, trotz des starken Eindrucks, den sie zuerst auf ihn gemacht hatte. Aber doch hielt sich der Eindruck den ganzen Tag über, und zwar war es ein recht eigenartiger Eindruck, in Gestalt eines besonderen, grundlosen Ärgers. Er erinnerte sich jetzt, vierzehn Tage nachher, deutlich an alles dies; er erinnerte sich auch, daß er damals durchaus nicht begriffen hatte, woher dieser sein Ärger stammte, es so wenig begriffen hatte, daß er die
Das war die dritte Begegnung. Darauf begegnete ihm fünf Tage hintereinander absolut »niemand«, und von der »Kanaille« war nichts zu sehen und zu hören. Aber trotzdem mußte er ab und zu an den Herrn mit dem Trauerflor denken. Mit einem gewissen Erstaunen ertappte sich Weltschaninow auf diesem Gedanken. »Was ist mir denn nur?« fragte er sich. »Sehne ich mich etwa nach ihm? Hm! … Er muß wohl auch viele Geschäfte in Petersburg haben, … und um wen trägt er nur den Flor? Offenbar hat er mich erkannt, während ich ihn nicht erkenne. Warum diese Menschen nur einen Trauerflor anlegen? Das steht ihnen gar nicht gut … Ich glaube, wenn ich ihn näher ansähe, würde ich ihn erkennen …«
Und da begann sich etwas in seinem Gedächtnisse zu regen, wie wenn man ein Wort, das man recht wohl kennt, auf einmal vergessen hat und sich nun aus aller Kraft bemüht, sich daran zu erinnern; man kennt es sehr gut und weiß, daß man es kennt; man weiß, was es bedeutet, und geht nun immer drum herum; aber das Wort will einem absolut nicht einfallen, und wenn man sich auch noch so sehr mit ihm abquält!
»Das war … Das war vor langer Zeit … und es war irgendwo … da war es … da war es … na, hol es der Teufel, was das war und nicht war! …« rief er auf einmal ärgerlich. »Lohnt es sich wohl, daß ich mich um diese Kanaille so abquäle und erniedrige? …«
Er war furchtbar aufgebracht; als ihm aber am Abend auf einmal einfiel, daß er kurz vorher aufgebracht gewesen sei, »furchtbar« aufgebracht, da war ihm das doch höchst unangenehm; es war ihm, als hätte ihn jemand bei etwas ertappt. Er wurde verlegen und wunderte sich: »Es muß also
Aber am andern Tage ärgerte er sich noch mehr; diesmal jedoch glaubte er allen Grund dazu zu haben und vollkommen im Rechte zu sein; »es war eine unerhörte Dreistigkeit«: Die Sache war nämlich die, daß eine vierte Begegnung stattgefunden hatte. Der Herr mit dem Trauerflor war wieder erschienen, wie wenn er aus der Erde aufgestiegen wäre. Eben hatte Weltschaninow auf der Straße jenen für ihn so wichtigen Staatsrat erwischt, auf den er auch jetzt Jagd machte, indem er ihn wenigstens in der Sommerfrische unversehens zu überfallen gedachte (denn dieser Beamte, der mit Weltschaninow kaum bekannt war, aber auf den Gang des Prozesses großen Einfluß hatte, ließ sich auch damals, ebenso wie jetzt, nicht so leicht attrappieren und hielt sich offenbar, so gut er nur konnte, versteckt, da er seinerseits eine Begegnung mit Weltschaninow zu vermeiden wünschte); erfreut darüber, daß er endlich mit ihm zusammengetroffen war, ging Weltschaninow eilig neben ihm her, sah ihm in die Augen und machte die größten Anstrengungen, um den grauhaarigen Schlaukopf auf ein bestimmtes Gesprächsthema hinzuleiten, in der Hoffnung, dieser werde sich dabei vielleicht verplappern und ein Wörtchen fallen lassen, auf das er, Weltschaninow, schon lange sehnsüchtig wartete; aber der grauhaarige Schlaukopf war ebenfalls auf seiner Hut und zog sich durch Lachen und Schweigen aus der Schlinge, – und gerade in diesem Augenblick angestrengter Bemühung traf Weltschaninows Blick plötzlich auf dem gegenüberliegenden Trottoir den Herrn mit dem Trauerflor. Er stand da und schaute unverwandt von dort nach ihnen herüber; er beobachtete sie, das war offenbar; und es schien sogar, daß er spöttisch lachte.
»Hol ihn der Teufel!« erboste sich Weltschaninow, der, als er es endlich aufgegeben hatte, den Beamten länger zu begleiten, seinen ganzen Mißerfolg bei ihm auf das plötzliche Erscheinen dieses »Unverschämten« zurückführte. »Hol ihn der Teufel! Er spioniert mir ja nach! Er verfolgt mich
Endlich, drei Tage nach dieser (vierten) Begegnung, finden wir Weltschaninow in seinem Restaurant, so wie wir ihn geschildert haben: bereits ganz ernstlich aufgeregt und sogar einigermaßen verstört. Das mußte er sich trotz all seines Stolzes selbst eingestehen. Und wenn er schließlich alle Umstände zusammenhielt, so sah er sich zu der Vermutung genötigt, daß an seiner ganzen Hypochondrie, an diesem seinem ganzen besonderen Kummer und an seiner ganzen nun schon zwei Wochen dauernden Aufregung kein andrer schuld war als eben dieser Herr mit dem Trauerflor, »trotz all seiner Wertlosigkeit«.
»Mag ich auch ein Hypochonder sein«, dachte Weltschaninow, »und infolgedessen dazu neigen, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, aber wird mir etwa deswegen leichter zumute, weil das alles vielleicht nur Einbildung von mir ist? Wenn jeder derartige Racker imstande ist, einen Menschen vollständig aus dem Gleichgewichte zu bringen, dann ist das ja … dann ist das ja …«
In der Tat hatte sich bei dieser heutigen (fünften) Begegnung, durch die Weltschaninow in eine solche Aufregung versetzt worden war, der Elefant fast ganz als eine Mücke herausgestellt; jener Herr war wie früher vorbeigehuscht, hatte aber diesmal Weltschaninow nicht einmal angesehen und nicht wie früher merken lassen, daß er ihn erkenne; er hatte vielmehr die Augen niedergeschlagen und anscheinend selbst lebhaft gewünscht, nicht bemerkt zu werden. Weltschaninow hatte sich umgedreht und ihm aus voller Kehle zugerufen:
»He! Sie mit dem Trauerflor! Warum verstecken Sie sich jetzt? Bleiben Sie mal stehen: Wer sind Sie?«
Die Frage (und der ganze Anruf) war recht sinnlos gewesen. Aber Weltschaninow war zu dieser Einsicht erst gekommen,
»Was stellt das vor?« hatte er gedacht. »Wie, wenn in Wirklichkeit nicht er hinter mir her ist, sondern ich hinter ihm und darin der ganze Spuk besteht?«
Nachdem er gespeist hatte, begab er sich so schnell wie möglich zu dem Beamten nach dem Landhause. Er traf ihn nicht an, und es wurde ihm mitgeteilt, der Herr sei, seit er am Vormittage weggegangen sei, nicht zurückgekehrt und werde heute kaum vor drei oder vier Uhr nachts zurückkehren, da er in der Stadt an der Feier eines Namenstages teilnehme. Das war für Weltschaninow so »beleidigend«, daß er in der ersten Wut beschloß, sich selbst zu dieser Feier zu begeben, und sogar tatsächlich eine Droschke nahm; aber während der Fahrt sagte er sich, daß das doch etwas zu weit gehe, lohnte den Kutscher auf dem halben Wege ab und schleppte sich zu Fuß nach seiner Wohnung beim Großen Theater. Er fühlte das Bedürfnis, sich Bewegung zu machen. Um seine aufgeregten Nerven zu beruhigen, mußte er, trotz seiner jetzigen Neigung zur Schlaflosigkeit, unter allen Umständen eine Nacht ordentlich durchschlafen; und um das zu können, mußte er sich wenigstens müde machen. Auf diese Weise gelangte er erst um halb elf zu sich nach Hause; denn der Weg war recht weit, – und er war tatsächlich müde geworden.
Die Wohnung, die er im März gemietet hatte, und über die er mit einer Art von Schadenfreude räsonierte und schimpfte, wobei er sich vor sich selbst damit entschuldigte, daß sie nur ein zeitweiliger Notbehelf sei, da er unversehens durch diesen »verdammten Prozeß« in Petersburg festgehalten werde – diese Wohnung war überhaupt nicht so schlecht und unanständig, wie er selbst es von ihr sagte. Der Zugang
Aber diesmal ließ er sich kaum Zeit, sich ganz auszuziehen, warf sich auf das Bett und nahm sich in gereizter Stimmung vor, an nichts zu denken und unter allen Umständen »sofort« einzuschlafen. Und sonderbar: Er schlief wirklich ein, sowie nur sein Kopf das Kissen berührt hatte; das war bei ihm fast seit einem Monat nicht vorgekommen.
Er schlief etwa vier Stunden lang, aber unruhig, und hatte dabei seltsame Träume, wie sie sonst bei Fieberkranken vorkommen. Es handelte sich dabei um ein Verbrechen, das er angeblich begangen hatte und nun zu verbergen suchte; dieses Verbrechens beschuldigten ihn einstimmig viele Menschen, die ununterbrochen von irgendwoher zu ihm hereinkamen. Es hatte sich schon eine furchtbar große Menge gesammelt; aber immer noch mehr Menschen strömten herein, so daß die Tür nicht mehr zuging, sondern sperrangelweit offen stand. Aber das ganze Interesse konzentrierte sich schließlich auf einen sonderbaren Menschen, der früher einmal ein sehr guter Bekannter von ihm gewesen, aber bereits gestorben und jetzt aus irgendwelchem Grunde plötzlich ebenfalls zu ihm hereingekommen war. Am meisten quälte es Weltschaninow, daß er nicht wußte, was das für ein Mensch war, daß er seinen Namen vergessen hatte und sich schlechterdings nicht darauf besinnen konnte; er wußte nur, daß er ihn einstmals sehr gern gehabt hatte. Von diesem Menschen schienen alle übrigen Leute, die hereingekommen waren, das entscheidende Wort zu erwarten, das heißt Weltschaninows Verurteilung oder Freisprechung, und alle bekundeten eine starke Ungeduld. Aber er saß ohne sich zu rühren am Tische, schwieg und wollte nicht reden. Der Lärm verstummte nicht, die Erregung wuchs,
Aber zu seinem Erstaunen stellte sich auch der Schall der Türklingel nur als Traum heraus. Er öffnete die Tür und trat auf den Flur hinaus; er blickte sogar auf die Treppe – es war kein Mensch da. Die Glocke hing da, ohne sich zu rühren. Verwundert, aber erfreut kehrte er in das Zimmer zurück. Während er eine Kerze anzündete, fiel ihm ein, daß er die Tür nur zugeklinkt, aber nicht zugeschlossen und zugehakt hatte. Auch früher hatte er oft, wenn er nach Hause zurückkehrte, vergessen, die Tür zur Nacht zuzuschließen, da er der Sache keine besondere Bedeutung beimaß. Pelageja hatte ihm einige Male deswegen Vorhaltungen gemacht. Er kehrte in das Vorzimmer zurück, um die Tür zuzuschließen, öffnete sie noch einmal und blickte auf den Flur hinaus und legte von innen nur den Haken vor; aber den Schlüssel in der Tür umzudrehen, war er doch zu träge. Die Uhr schlug halb drei; er hatte vier Stunden geschlafen.
Der Traum hatte ihn dermaßen aufgeregt, daß er sich nicht sogleich wieder hinlegen mochte und eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab zu gehen beschloß: Bis er eine Zigarre würde zu Ende geraucht haben. Nachdem er sich eilig angekleidet hatte, trat er an das Fenster, zog die dicke Stoffgardine zur Seite und dahinter das weiße Rouleau in die Höhe. Auf der Straße war es schon ganz hell geworden. Die hellen Petersburger Sommernächte hatten immer die Wirkung gehabt, seine Nerven zu reizen, und hatten in der letzten Zeit seine Schlaflosigkeit nur noch gesteigert, so daß er vor etwa vierzehn Tagen an seinen Fenstern expreß diese dicken Stoffgardinen hatte anbringen lassen, die kein Licht hereinließen, wenn er sie ganz zuzog. Nachdem er so Licht hereingelassen hatte, wobei er die auf dem Tische brennende Kerze auszulöschen vergaß, fing er an, immer noch von einer peinlichen, krankhaften Empfindung beherrscht, hin und her zu gehen. Der Eindruck des Traumes wirkte noch nach. Das ernsthafte Bedauern darüber, daß er sich hatte dazu hinreißen lassen, die Hand gegen diesen Menschen zu erheben, dauerte fort.