1. EINLEITUNG


Das delphische Orakel spricht nicht frei heraus,
aber es verbirgt auch nichts: es deutet an. 
                                                       (Heraklit)                                                             

                                    

Allein das Wort "Wahrsagung" vermag die verschiedensten As­soziationen und Vor­stellungswelten hervorzurufen, angefangen mit des Wortes ur­sprünglicher Bedeutung "Sehen, Prophetie"(1) bis hin zu den un­zäh­li­gen Metho­den, die im Laufe der Zeit entwickelt wurden, die Z­ukunft vor­herzusa­gen. Um einen kurzen Überblick über die Geschichte und die ver­schiede­nen Methoden der Wahrsagung zu geben, möchte ich zu­nächst den Versuch unternehmen, den Begriff "Wahrsagung" von den ihm ver­wand­ten Ausdrücken wie "Prophezeihung" und "Weiss­agung" zu dif­fe­ren­zieren, da im Deutschen anders als bei dem engli­schen Begriff "divi­na­tion", der so­wohl die "Wahrsagung" als auch die "Wei­ss­agung" in sich vereint, die­se Begriffe häufig ver­wech­selt bzw. undifferen­zier­t ver­wendet werden.

 

Unterscheidung von Wahrsagung und Weissagung

 

Im entsprechenden lateinischen Wort "divinare" ist durch die Bedeu­tung von "eine gött­liche Eingebung haben, weissagen, ahnen, vermuten, erra­ten" sowie durch seine Verwandtschaft mit dem Wort "divinus" im Sinne von "gött­lich" die Ebene der Wahrsagung von der Weiss­agung (noch) nicht ge­trennt. Jede Erkenntnis, die nicht durch Men­schen­ver­stand oder den damaligen Stand der Wissenschaft ge­klärt wer­den konn­te, wurde als göttliche Eingebung verstanden, so dass die Gabe die Z­ukunft vorauszusehen und vorherzusagen, von den Göttern kam. Dass es sich bei dieser Gabe, durchaus nicht immer um ein willkom­menes Ge­schenk handeln musste, zeigen bereits die pro­pheti­schen Bücher im Al­ten Testament. Denn der Prophet im Alten Testament - im Sinne ei­nes Men­schen, der für einen an­de­ren bzw. für eine Gottheit spricht - hat zwar das Vorrecht, Gott zu sehen und zu hören, doch über­nimmt er mit die­ser Gabe auch die Verpflichtung, das jeweils Gesehe­ne oder Ge­hörte den Men­schen zu ver­künden, was vor allem in politischer Hin­sicht für manchen Pr­opheten sehr gefährlich werden konnte. Aus die­sem Grund ging man spä­ter immer mehr dazu über, Prophezeihungen po­li­tisch-hi­sto­ri­scher Natur verschlüsselt abzufassen, deren be­rühmte­stes Bei­spiel die Wei­ssagungen des Nostradamus sind.

 

Auch im griechischen Wort "manteia" bzw. "manteuo" in der Bedeu­tung von "einen Götterspruch verkünden, voraussagen, vermuten, ein Orakel befra­gen" wird noch keine direkte Unterscheidung zwischen Wahr- und Weiss­agung getroffen. Durch seine Verwandtschaft mit dem Wort "mania" dem "Wahnsinn", bei dem es sich weniger um eine Geistes­krank­heit als viel­mehr um einen Zustand der Begeisterung oder Ver­zückung handelt, kann man ebenso wie bei dem lateinischen Äquivalent zu­nächst von einer Be­deu­tung ausgehen, bei der die Qualität des Sehens im Vor­dergrund stand.

Zur Abgrenzung der Wahr- von der Weissagung ist ein Blick auf den Be­griff "Orakel" aufschlussreich. Bei einem Orakel (lateinisch "ora­culum") han­delt es sich zunächst um das Hei­lig­tum eines Gottes, an dem die je­wei­lige Gottheit, meist über ein Medium, die an sie gerichteten Fra­gen beantworten sollte. Ebenso ist auch die Antwort im Sinne eines Göt­ter­spru­ches sowie die Gottheit selbst unter dem Begriff "Orakel" ver­stan­den worden, so dass das Orakel zu­nächst untrennbar mit der Reli­gion ver­bun­den war. Interessant ist auch seine semantische Ver­wandtschaft mit dem Wort "orare" in der Bedeu­tung von "bitten, ersu­chen, spre­chen", das eine Ver­bindung zwischen der Gottheit und der Per­son, die das Orakel um Rat fragt, herstellt.

Zu den bekanntesten Orakelstätten in Griechenland gehört zweifellos das Orakel von Delphi, wo der Gott Apoll dem einzelnen Bittsteller über sein Medium - die Phythia - die berühmten Orakelsprüche erteilte. Die ge­naue Technik mit der die Pythia ihre Antworten von Apoll erhielt, ist nicht überliefert, doch muss es sich um eine sehe­rische Methode gehan­delt haben, ähnlich wie bei einem Propheten.(2) Der we­sentli­che Un­ter­schied zwischen Orakel und Weissagung be­steht jedoch darin, dass ein Orakel im Regel­fall nicht von sich aus, sondern immer nur auf An­frage Auskunft erteil­te, so dass es bedingt durch die Frage­stel­lung in seiner Voraussage inhaltlich wie zeit­lich begrenzt war. Zur Befragung eines Orakels bediente man sich ferner in fast allen Fällen einer be­stimm­ten Tech­nik, die mehr oder weniger lernbar ist, um eine Antwort des Ora­kels zu erhalten. Für die Abgrenzung von Wahr- und Wei­ss­agung heißt das, dass es sich bei der Weissagung um eine spon­tane Vor­hersage der Zukunft han­delt, die sich, da ihr keine Frage­stel­lung vor­gegeben ist, auf einen beliebigen Zeit­raum mit belie­bi­gem In­halt er­strecken kann. Eine derar­tige Vision ent­steht also im Regelfall ohne äußeren Zwang, und ohne, dass der Prophet eine bewusste Anstrengung unternehmen müsste. Meist han­delt es sich bei Wei­ss­agungen um die Z­ukunft von wich­ti­gen politisch-histo­ri­schen Per­sön­lich­keiten oder gar Völkern bzw. gan­zen Staatsge­bil­den, bis hin zum politi­schen Verlauf des gesam­ten Welt­ge­schehens, wie z.B. bei den Wei­ssagu­ngen des Nostra­da­mus.

Na­tür­lich be­schäftigte sich die Wa­hr­sagung ur­sprünglich eben­falls haupt­säch­lich mit den Anliegen wich­tiger Persön­lichkeiten oder mit po­liti­schen Frage­stel­lungen, doch wäh­rend sich im Be­reich der Wa­hr­sagung seit ihren An­fän­gen bis in die jüngste Zeit hin­ein sehr dif­fe­ren­zierte Me­thoden, die sich immer mehr auf die Interes­sen des Ein­zel­nen konzen­trierten, entfalten konnten, ist in der histo­ri­schen Ent­wick­lung der Wei­ssagung keine we­sentli­che Ver­ände­rung fest­zustellen; denn ih­rem We­sen nach handelt es sich bei der Weissagung ja nicht um eine Technik, sondern um die Gabe bzw. Veranla­gung, die Z­ukunft vorher­zuse­hen, die nicht mit technischen Mitteln her­beigeführt werden kann. Fer­ner be­d­ient sich die Weiss­agung aus­schließ­lich der se­heri­schen Me­thode, bei welcher das Medium bzw. der Pr­ophet beispielswei­se im Traum oder im Zu­stand der Trance die Z­ukunft vor­aussieht, es han­delt sich also um die Fä­hig­keit, Raum und Zeit zu relati­vieren. Die se­he­rische Methode findet zwar auch im Rahmen der Wahrsagung Anwen­dung, doch be­zieht sie sich, eben weil sie immer eines Auslösers in Form ei­ner Fra­ge be­darf, nur auf be­stimmte zeit­lich und räum­lich be­grenzte Inhal­te.

Es bleibt festzuhal­ten, dass die Wahrsagung, deren älteste überlieferte Form sich im Orakel manife­stiert, sich zwar in An­lehnung an die Weiss­agung in Form von pro­pheti­schen Texten heraus­ge­bil­det hat, dass sie je­doch, bedingt durch die stetige Vermeh­rung un­ter­schied­lichster Tech­ni­ken, die mit einer kon­stant zuneh­menden Popu­lari­tät bis hin zur Pro­fa­ni­sierung derselben einherging, im Hinblick auf ihr Ziel und ihren In­halt von der Weiss­agung zu unter­scheiden ist. Um die Wahrsagung von der Weissagung deutlich und differenziert abgrenzen zu können, wird im folgenden ein kurzer Über­blick über die wich­tigsten Praktiken und Komponenten der Wahrsagung gegeben.

 

Praktiken und Komponenten der Wahrsagung

 

Die Fragestellung, ob und inwie­weit das Leben des Einzelnen sowie das gesamte Weltgeschehen vorherbe­stimmt und für den Menschen erkenn­bar werde, ist natürlich eine we­sentli­che Voraussetzung für die Ent­wicklung der unterschiedli­chen Wahr­sa­gesysteme. Auf den entscheiden­den Einfluß, den das jewei­lige phi­lo­sophisch-religiös geprägte Weltbild einer Gesellschaft wie auch des einzelnen Individu­ums auf die Entwick­lung der Wahr­sagesyste­me ausgeübt haben muss, kann in diesem Rah­men nicht näher eingegangen werden. Trotz der da­durch be­ding­ten Vielfalt an Methoden und Techni­ken las­sen die ver­schie­denen Verfah­ren ähn­li­che Struk­turen er­ken­nen.

Eine der frühesten systematischen Darstellungen über die verschiede­nen Techniken der Wahrsagung in der Antike ist der Text "De Divina­tione" von Cicero, der die Zukunftsschau zunächst als Bestandteil der Theolo­gie definiert, begünstigt durch den (stoischen) Glauben, dass alles Ge­schehen vom Schicksal festgelegt sei.(3) Ferner traf Cice­ro eine Un­terscheidung zwi­schen der na­türlichen und der künstlichen Divi­na­tion,(4) auf die spä­ter eine Ein­teilung in rationale und irratio­na­le bzw. induktive und de­duktive Sy­steme folgte. In Anleh­nung an die Un­tersu­chungen aus der Psy­cho­logie möchte ich mich der Einteilung in seheri­sche und deutend­e Me­thoden an­schließen.(5)

Unter der ersteren ver­steht man eine Technik, die es ei­nem Menschen ermöglicht, Raum und Zeit zu relati­vie­ren - es wird z.B. eine parallele Existenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angenommen - so dass ein räumlich oder zeitlich entferntes Er­eig­nis vorherge­se­hen wer­den kann: Sie zielt auf eine konkrete Ereignis­prognose. Voraus­setzung hierfür ist die An­nahme, dass das Schick­sal auf irgendeine Art und Wei­se vor­gezeichnet sei, und dass die Zukunft so­mit, wenn über­haupt, dann nur inner­halb be­stimm­ter Grenzen vom Menschen selbst beeinflusst wer­den könne. Zur sehe­ri­schen Methode gehört bei­spielsweise die Geistwe­senbe­fragung, bei der ein Me­dium im Zustand tie­fer Trance in Kontakt mit einer übernatür­li­chen Macht, etwa einer Gott­heit, Gei­stern oder Dä­monen tritt, so dass diese regelrecht vom Körper des Medi­ums Besitz ergreift und sich durch das Medium äußern kann. Diese Technik fand hauptsäch­lich bei jeder Art von Schamanentum ihre An­wendung und ist heute noch im Daoismus eine beliebte Methode, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Damit ver­wandt sind die soge­nann­ten Geistreisen- oder Phanta­siereisenorakel, bei denen das Medium eine Reise in eine andere Reali­tät bzw. in sein eige­nes Unterbewusstsein antritt. Hier kommt dem Medium jedoch nicht nur die Rolle des Über­mittlers von Antworten oder Bot­schaften zu, son­dern die Rolle des aktiv Rei­senden, der bestimmte Dinge auf sei­ner Rei­se verän­dern und somit bereits in der Zukunft agieren kann.

We­ni­ger drama­tisch ver­hält es sich beim Visionsora­kel, bei dem bei­spielsweise durch das kon­zen­trierte Blicken auf eine Kristallkugel eine be­stimm­te Situation in der Zukunft offenbar wird. Schließlich gehören zur se­heri­schen Methode noch die eideti­schen Orakel, bei denen man sich aus der Struktur eines Gegenstan­des, Sym­bo­les oder Lebewesens eine bestimm­te Situation bzw. die Antwort auf eine Ora­kelfrage so exakt vorzustel­len vermag als näh­me man sie real wahr. Hierzu zählen sol­che Techniken wie Kaffeesatz­lesen, Bleigießen oder Eingeweideschau.

Die Li­ste der seheri­schen Metho­den ließe sich natürlich noch beliebig ver­län­gern, doch die­se Beispiele mögen genügen, um die wesentlichen Merk­male der seheri­schen Methode zu cha­rakterisie­ren: Im Regelfall wird ein Medium benö­tigt, das die Fä­higkeit besitzt, Raum und Zeit zu relati­vieren, oder zu­mindest über die Mittel verfügt, in einen solchen Zustand zu gelan­gen. Es ist demzufolge keine Metho­de, die für "jeden beliebi­gen Men­schen" erlern­bar ist. Da das Ziel ei­ner Befragung in ei­ner kon­kre­ten Ereignis­progno­se be­steht, die teil­weise auch sehr unan­genehme Fol­gen haben kann, äußert sich das Me­dium oder das Orakel in dem meisten Fällen ver­schlüsselt, so dass häufig noch eine wei­tere Per­son zur Inter­pretation herangezogen werden muss, wie beispiels­weise beim Orakel in Delphi.(6) Schließlich setzt diese Vorgehensweise ein Weltbild oder Sy­stem voraus, bei dem eine vorherbe­stimmte Z­ukunft in einer vorgegebenen Zeitabfolge zugrunde gelegt wird.

Anders steht es um die deutende Methode: Sie basiert auf dem Zu­sam­menwirken von Beziehungen im Rahmen eines Analogiesystems, bei dem man da­von ausgeht, dass sich das jeweilige Orakel analog zur ent­spre­chenden Si­tua­tion oder Fra­gestellung des Menschen verhält. Bei der deutenden Me­thode tritt an die Stelle des Mediums ein mehr oder we­niger systema­tisiertes Verfahren, das nach bestimmten vorgegebenen Regeln funk­tio­niert. Im Vorder­grund steht hier die Überzeugung, dass der Schlüs­sel zur Z­ukunft in der Gegenwart oder Verga­ngenheit liege und die Z­ukunft somit nicht notwendi­gerweise vorherbe­stimmt sei, son­dern erst in der G­egenwart festge­legt werde. Ein wesentlicher Aspekt der Wahrsagung besteht zu­nächst in einer Analyse der gegenwärtigen Situation, aufgrund derer die Entwicklungsmöglichkeiten der Zukunft bestimmt werden. Aus die­sem Grun­de wird die wesentliche Funktion der deutenden Wahrsage­me­thoden heu­te aus psy­chologischer Sicht oft als Ersatz für eine Art "Psy­cho­ana­ly­se" interpretiert, wenngleich es nicht gerechtfertigt erscheint, sie dar­auf reduzieren zu wollen.(7)

Die Pro­ble­matik der deutenden Tech­niken liegt in der Fähig­keit, die ein­zel­nen oder das Zusam­men­treffen ver­schiedener Zei­chen in der G­ege­nwart als Trend für die Ent­wicklung in der Zukunft zu deu­ten. In­folge­dessen ist im Re­gel­fall keine ex­akte Er­eignis­progno­se mög­lich, son­dern die Vorhersage ist auf­grund meh­rerer gleich­zeitig exi­stierender Möglichkei­ten oder wegen ih­res all­ge­meinen Charak­ters schwe­rer zu in­terpretieren und auf die ei­gene Si­tua­tion an­zuwen­den. Im all­gemeinen bedarf es hier­zu jedoch kei­ner "über­natürli­chen" Fähigkei­ten, so dass sich im Laufe der Zeit eine Fülle von unter­schiedlichen Techni­ken ent­faltet hat, von denen ich hier nur eini­ge exemplarisch vor­stellen kann. An ihnen lassen sich drei Ent­wicklungsstadien inner­halb der deu­te­nd­en Me­tho­den veran­schaulichen.

Die einfachste Form ist das binä­re System: hier können nur Fragen ge­stellt werden, die, ganz im Gegen­satz zu allen an­de­ren Verfah­ren, aus­schließ­lich mit Ja oder Nein zu beantworten sind. Dazu gehört das Mün­zen­wer­fen, wo Kopf oder Zahl dann für Ja bzw. Nein stehen, das Pen­deln, bei dem die nach rechts oder links dre­hen­de Pendelbewe­gung unter­schie­den wird, die Befragung mittels Wün­schelruten, bei dem das Au­sschlagen der Rute nach oben oder unten ge­deutet wird sowie das Zie­hen von Losen. Die techni­schen Anforderungen an diese Form des Ora­kels sind zwar sehr gering, ihre Problematik liegt jedoch in der Treff­sicherheit des Ora­kels bedingt durch Manipulation seitens des Fra­gen­den, der das Or­akel aufgrund eines von ihm gewünschten Ergeb­nis­ses (unbewusst) in seinem Sinne beeinflusst.

Wesentlich komple­xer wird es bei den sogenannten kombinato­ri­schen Systemen, die die reale Situation des Fra­gestel­lers auf ein Analo­giesy­stem, zusammengesetzt aus mehre­ren einander ergänzenden Ele­menten, über­tragen, dessen sinnbildliche Aus­drucksweise dann wie­der auf die reale Si­tuation zurück­ übertragen wer­den muss. Ein Beispiel für ein sol­ches kombinatorisches System ist die Wa­hrsagung mittels unter­schiedli­chen Techniken des Karten­legens. Hier repräsentiert die ein­zelne Karte so­wie ihre Beziehung zu den anderen Karten innerhalb des gesamten Bil­des sinn­bildlich ein Elemen­t oder eine ganz be­stimmte Si­tuation aus der Rea­lität. Das einzelne Kartenbild hat je­doch keinen fe­sten Platz in­nerhalb eines übergreifenden Systems, wie es beispielswei­se beim Yijing der Fall ist, so dass, im Hinblick auf die Über­tragung der Symbolik auf eine indi­vidu­el­le Fragestellung, die Qua­lität der Vor­aus­sage noch sehr stark von Wis­sen und Fähigkeit des je­weiligen In­ter­pre­ten abhängt.

Na­türlich kann, wieder abhän­gig vom Er­fah­rungsstand des ein­zelnen Wahrsagers, die Sym­bolik der se­paraten Bau­steine belie­big erwei­tert wer­den. Um das Bei­spiel der (inzwischen wieder sehr populären) Tarot­karten aufzugreifen: Die Bedeu­tung der ein­zel­nen Kar­ten ist be­kannt, doch die Schwie­rigkeit be­steht darin, die Sym­bolik des gesamten Kar­ten­bil­des, be­stehend aus den Ein­zelkarten, je­des mal neu zu inter­pre­tieren und dann auf die gegebene reale Situa­tion anzu­wenden. Es han­delt sich hier um eine Kom­bination aus "Zufall" bzw. "In­tuition" bei der Erstel­lung des Karten­bildes, des­sen unterschiedli­che Zusammenset­zungs­möglich­kei­ten bei 78 Tarotkarten fast unendlich sind, und der eher ra­tionalen Fähigkeit, aus diesem Bild die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Ähnlich verhält es sich bei der Geomantie, bei der die einzelnen geo­man­tischen Figuren je nach Lage in ihren Häu­sern interpretiert werden sol­len.(8) Ganz im Gegensatz zum binären System dürfen beim kombina­tori­schen Prinzip kei­nesfalls Ja - Nein Fragen ge­stellt werden, sondern die Frage muss zwar das Problem direkt erfassen, darf dabei aber auch nicht zu speziell gestellt sein. Da es sich hier nicht um einen konkrete Er­eig­nisprognose handelt, kön­nen auch kei­ne direkten, diffe­renzierten Angaben über Zeit, Ort oder Personen(na­men) erwartet wer­den, sondern die Kunst, eine zutref­fende Antwort zu erhalten liegt in der richti­gen Frage­stellung und einem entsprechenden Interpretations­vermögen.

Dies trifft auch auf die dritte Gruppe, die der systemati­sierten (ob­jek­ti­vierten) kombinato­ri­schen Systeme zu. Grundlage bildet hier entwe­der ein feststehendes bzw. berechenbares System, welches im Sinne einer ratio­nalen Weiterentwick­lung der kombinatorischen Technik die Symbolik der ein­zel­nen Ele­mente sowie deren Beziehung zu­einan­der durch feste Re­geln syste­mati­siert, um sie dann, genau wie bei der kom­binatorischen Tech­nik, sinn­bild­lich auf die jewei­li­ge menschliche Situa­tion zu über­tra­gen. Der ent­scheidende Unter­schied liegt jedoch in der Ausgangsposi­tion: Wäh­rend sich beim kombinato­rischen Orakel im­mer eine Aus­gangslage er­gibt, die gewissermaßen im luftleeren Raum schwebt, erhält man beim syste­ma­tisierten kombinatori­schen Or­akel zwar allenfalls un­terschiedli­che Aus­gangs­positionen, aber sie haben in­ner­halb ei­nes Sy­stems bereits ih­ren festen Platz, so dass die Übertra­gung auf eine indi­viduel­le Situa­tion zwar er­leichtert, doch der Spielraum bei der In­terpreta­tion einge­schränkt wird.

Den größten Wirkungskreis unter den systema­tisier­ten kom­bi­natori­schen Tech­niken hat si­cherlich die Astr­ologie. Aus­gehend von einer holi­stisch geprägten Weltan­schau­ung, in der Mensch und Kosmos einen großen Organis­mus bilden, so dass das Ge­schehen im Ko­smos seine Ent­sprechungen beim Menschen findet, wird durch die Astr­ol­ogie die kos­mische Prägung, die der Mensch zum Zeitpunkt seiner Geburt empfangen hat, in Erfahrung gebracht und deren Ein­fluss auf die Zukunft des Men­schen herausgestellt. Auch hier besteht das Ziel der Wahrsagung nicht in einer konkreten Ereignisprognose, sondern das Han­deln ei­nes Men­schen soll auf die ihm eigene kosmi­sche Kon­stella­tion hin ab­ge­stimmt wer­den, um einen positi­ven Verlauf der Z­ukunft zu bewirken. Vorstellungen, nach welchen die Astrologie eine genaue Ereignisprognose erstellt, unter­liegen einem grundlegenden Missverständnis. Die Astrol­ogie analysiert nur die Qualität der kosmischen Einflüsse sowie deren vor­aussichtliche Ein­wirkung auf das menschliche Leben, so dass zwar Ten­den­zen aufgezeigt, aber keine detaillierte "Prognose" des Schicksals ei­nes Individuums erstellt werden kann. (9)

Hieran ist schließlich deutlich zu erkennen, dass der Aus­löser bei den syste­matisierten kom­bi­na­tori­schen Me­thoden zwar gleich­falls die Frage nach der Z­ukunft ist, dass aber der Schlüssel zu ihr im richtigen Ver­ständ­nis der G­egenwart bzw. der Ve­rgangenheit liegt. Ähn­liches gilt auch für die Me­thode der Chiro­man­tie(10) sowie für das Yijing, wo­rauf ich im nächsten Kapi­tel noch näher ein­gehen werde.

Das Bei­spiel der Astrologie veranschaulicht die drei wesentlichen Be­standteile der syste­ma­ti­sierten kombi­nato­ri­schen Me­tho­de - Zufall, sy­stema­ti­sche Grundlage und In­ter­pre­tation. Diese drei Teile kön­nen je­doch bei den einzel­nen Techni­ken eine unter­schied­liche Ge­wichtung er­fah­ren. Der Zufall ist hier Ort und Stun­de der Ge­burt, die systemati­sche Grundlage ist die Fixie­rung der Plane­tenkon­stella­tio­nen und die sich daraus erge­bende Tierkreis Einteilung mit den verschiedenen Aspekten der Plane­ten sowie die Fel­der des Horo­sko­ps. Die Verbindung der Tier­kreiszei­chen mit den Aspekten der zu­treffenden Planeten und den je­weiligen Fel­dern des Horo­skopes ist nach bestimm­ten Regeln sy­stemati­siert und somit ratio­nal, und nicht intuitiv, nach­vollzieh­bar. Die Inter­pretation besteht schließlich dar­in, die aus der systemati­schen Grund­lage resul­tierenden Schlussfolgerungen auf die indi­vidu­elle Situa­tion anzu­wenden. Wäh­rend die Ele­mente des Z­ufalls und der Inter­preta­tion na­türlich auch in al­len ande­ren deutend­en (und teil­weise auch se­he­ri­schen) Metho­den enthal­ten sind und der Um­gang mit ih­nen stark von dem kultu­rel­len Hin­tergrund sowie der (In­tui­tion der) einzel­nen Persön­lich­keit ab­hängt, fügt die systematische Grundlage der Wa­hr­sagung ein ra­tionales Element hinzu. Dies be­wirkt nicht nur eine gewis­se "Demysti­fi­zie­rung" der Wa­hr­sagung, son­dern sie lässt sie auch leich­ter vermit­tel­bar und erlernbar wer­den, was wiederum we­sentlich zur Popu­larisie­rung be­stimmter Wahrsagemethoden beigetragen hat.

 

Funktion und Bedeutung des Zufalls

 

In diesem Zusammenhang möch­te ich noch kurz auf die Bedeutung des "Z­ufalls" - im Sinne des Ein- bzw. Zusammentreffens von Ereignissen, das sich nicht kausal er­klären lässt - zu sprechen kom­men, der bei je­der Art von Wahrsagung eine ent­scheidende Rol­le spielt. Die Verwen­dung des Wor­tes "Zufall" in unserem Sprachgebrauch birgt zwei einan­der entgegenge­setzte Interpretationsmöglichkeiten; denn dem uner­warte­ten Eintre­ten oder Zusammen­treffen von Ereig­nissen kann entweder ein tieferer Sinn zugrunde liegen, der nicht rational erfassbar zu sein braucht, oder es wird als "rein zufällig" betrachtet und be­darf so kei­ner weite­ren Erklärung oder Sinngebung. Die Interpretation des Zufalls hängt ganz ent­schei­dend von dem je­weiligen Weltbild einer Gesell­schaft ab.

Während dem gan­z­heitli­chen Denken, welches nicht nur in China, son­dern auch in Euro­pa bis zum 19. Jhdt. vorherrsch­end war, die Idee zugrun­de liegt, dass der Ko­smos zusam­men mit dem Men­schen gleichsam einen großen leben­di­gen Or­ga­nismus bil­det, dessen Ein­zel­tei­le sinnhaft auf­einander Ab­ge­stimm­tes tun, so dass Aktion und Reak­tion ein­zelner Teile immer mit­ein­ander kor­re­lieren, hält das kausal, naturwissenschaftlich geprägte Den­ken eine

"Koin­zidenz, deren Sinngemäß­heit als arbi­trär er­scheint, für 'zufäl­lig" (11)

 

Unge­ach­tet des geistes­ge­schichtlichen oder religiösen Hin­ter­grundes besteht der als bedeutsam erachtete Z­ufall aus einer sinn­haft vorge­stellten Koin­zi­denz von Ereignis­sen, die im rein kausalen Denken, das immer nach einer denkbaren Ursache sucht, un­vor­stellbar sind.(12) Er ist fer­ner zu­gleich Ausgangspunkt und letz­ter Sinn jeder Wahr­sagung, der, trotz oder gerade weil er sich der ra­tiona­len Erfas­sung ent­zieht, nicht mehr hin­terfragt werden darf und kann. Denn das Vertrauen in die Sinn­haf­tigkeit des Zufalls lässt Wahrsagung über­haupt erst mög­lich wer­den, der Zufall ist gleichsam die Öffnung, an der die reale Welt des Men­schen für das sinnbildliche System der Wa­hr­sagung durchlässig wird.

Der äquivalente chinesische Begriff für Zufall - " Ou 偶 " - charakterisiert das chinesische Verständnis des Zufalls sehr tref­fend: Aus der ur­sprüngli­chen Bedeutung "Götzen­bild" bzw. "aus Ton gefertigtes oder Holz ge­schnitztes Ebenbild des Menschen", das häufig als Grabbeigabe verwendet wurde, entwickelte sich über die Idee des Abbildes die Be­deutung "Paar, paaren" und "Partner". Als "zu-­fällig" wird schließ­lich das be­trachtet, was im Sin­ne des Eben­bil­des oder Paa­res denselben Ursprung besitzt und eigentlich nur das "zusammen-fällt", was ur­sprünglich auch zu­sammengehört.(13)

Im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der sehe­ri­schen und der deutenden Methode lässt sich feststellen, dass im Falle der seherischen Technik an die Stelle der Gottheit das System der Ana­lo­gie bzw. die sy­ste­matische Grundlage bei der deutenden Technik tritt. Auch wenn bei­de Metho­den lange Zeit par­allel praktiziert wurden - und heute teilweise sogar noch praktiziert werden, kann man dies, in China gleichermaßen wie in Europa, doch als Hin­weis auf eine all­mähli­che Ver­schiebung von einem reli­gi­ös geprägten Weltbild zu einem ra­tio­nal ge­prägten verstehen. Als Aus­gleich für die fehlende Gottheit tritt bei der deutend­en Me­thode dafür das Element des Z­ufalls hin­zu. Waren beim Or­akel von Del­phi neben der Gottheit selbst und der Person, die um Rat fragte, noch das Medium sowie ein In­terpret, der die Sprache des Mediums und da­mit der Gott­heit in eine all­gemeinver­ständli­che übersetz­te, vorhan­den, so fal­len im deutend­en Sy­stem Me­dium und Inter­pret in eine Person zu­sam­men; bei einigen leichter zu erler­nenden Tech­niken ist sogar der Frage­steller zugleich sein eige­ner In­terpret. Dem Wesen der seheri­schen Me­thoden entsprechend, gibt es so gut wie keine schrift­liche Über­lie­ferung über die ge­naue Art und Weise des hier ver­wende­ten Vorge­hens. Für die deu­tend­en Me­thoden existieren hin­gegen zum Teil sehr ge­naue Unter­weisungen, oder das System ist sogar selbst als Anwei­sung zu ver­ste­hen.(14) Was die Genauig­keit der Zu­kunfts­vorhersa­ge an­geht, so bie­ten die seherischen Techniken eine sehr kon­krete Er­eig­nis­progno­se, be­dingt durch die Auf­fassung, dass die Z­ukunft bereits fest­stehe und der Mensch keine oder kaum eine Möglich­keit habe, diese mit­zuge­stalten. Nicht so bei den deu­tenden Syste­men. Hier liegt der Schwer­punkt auf einer Analyse der gegenwärti­gen Situation, um so die ein­zel­nen Mög­lich­keiten, die sich aus der ge­gen­wärtigen Lage - unter Mit­einbezie­hung der Ve­rga­nge­nheit - ergeben können, zu bestimmen. Ihren Ausdruck findet dies in der viel­schichti­gen Sym­bo­lik oder in den rela­tiv all­ge­mein und damit dop­pel­deutig ge­haltenen Aussagen, zu deren Ver­ständnis man wiederum viel Erfahrung und be­son­dere Fähigkeiten bei der Inter­pre­tation benötigt.

Wie ist aber nun das Yijing in diese Systeme einzureihen? Lässt es sich überhaupt eindeutig einer der oben erwähnten Methoden zu­ordnen? Wel­che Bedeutung kommt dabei der Entdeckung des Yijing in M­awangdui zu? Um die Stellung des Yijing aus der chinesischen Tradition beurtei­len zu können, ist es notwendig, kurz auf mögliche Vorläufer und an­ver­wandte Wahrsagetechniken einzugehen.


Ursprünge und Vorläufer des Yijing

Beschäftigt man sich mit den Ursprüngen der Wahrsagung in China, so sind die ältesten Quellen, die zugleich zu den bemerkenswerte­sten ar­chä­ologi­schen Funden dieses Jahrhunderts zählen, sicherlich die Or­akelknoch­eninschriften aus der Shang-Zeit (trad. 1766-1122 v. Chr.). Sie stellen einerseits das Mittel zur Ora­kel­be­fragung dar, sind aber zu­gleich die ältesten Zeugnisse chinesischer Ge­schichts­schreibung; denn sie bie­ten die ersten Daten über die Thronfolge in der Shang-Zeit und geben Aufschluss über bestimmte historische Ereig­nisse und Errungen­schaf­ten, wie das K­alenderwesen, das numerische System und den dama­li­gen Stand der Technik.

Die Themen der Orakel­befragung sind im wei­testen Sinne politi­scher Na­tur, doch ist im Laufe der Shang-Zeit eine Ver­än­derung in In­halt und Form der Inschriften festzustellen. Wäh­rend diese sich zu Be­ginn der Shang-Zeit auf Träume, Angelegenheiten der Ahnen sowie den richti­gen Zeitpunkt zur Durch­führung von Opfern an die Natur­gottheiten be­zie­hen, be­schäftigen sich die späteren In­schrif­ten haupt­sächlich mit ritu­ellen Angelegenheiten wie dem Jagen und einem fest­ge­legten Op­fer­plan. Waren die Vor­hersagen zunächst relativ ausführ­lich und diffe­ren­zierten sie in genauer Abstu­fung zwi­schen glücks- und un­glücksverhei­ßen­den Orakelsprü­chen, so war dieses Vokabular später sehr kurz und forma­li­siert sowie hinsichtlich der Vor­aussagen fast aus­nahmslos glückverheißend. Ob und inwieweit dies eine Folge des Nie­der­gangs der Shang-Dynastie sein könn­te, kann in die­sem Rahmen nicht be­ant­wortet wer­den.(15)

In unserem Zusammenhang steht nun das ge­naue Ver­fah­ren bei der Be­fra­gung eines Ora­kels im Vordergrund.(16) Es existieren zwar kei­ne Be­richte über die Pro­ze­dur selbst, doch lassen sich die we­sent­li­chen Ele­mente und Ver­fahrensschritte aus dem Ma­terial direkt erkennen. An einer Orakel­befragung waren im Regelfall außer der Gott­heit Shangdi nur der Orake­lpriester, i.e. der Wahrsa­ger, und manchmal auch der Fragesteller, bei dem es sich in der Shang-Zeit meist um den König selbst handelte, be­teiligt.

Bereits hier ist zu bemerken, dass es sich um ein rela­tiv ra­tionalisier­tes Verfahren gehan­delt haben muss, denn Medium und Interpret waren beide in der Person des Or­ake­lpriesters repräsentiert. Der Auftrag des Orake­lpri­esters war zum richtigen Beruf ge­wor­den: Am Königshof der Shang wurden ver­schiedene Priestergruppen, von denen eine bis zu 25 Or­akelpri­ester umfassen konnte, nach ge­trennten Fach­gebie­ten einge­setzt, so dass bei­spielsweise für Fra­gen des Acker­baus, der Ahnenver­eh­rung oder Kriegsfüh­rung etc. je­weils eine ei­gene Gruppe von Orake­lpri­estern zu­ständig war.(17)

Das Ma­terial be­stand aus Schild­krö­ten­panzern so­wie den Schulterkno­chen von Rindern, Schafen, Schweinen und Hir­schen. Die ver­wen­deten Orakelknochen stammten ent­weder von bereits getöteten Tieren, oder es wurde bei besonders wich­tigen Fra­gen ein Tier eigens da­für geschlach­tet und vor bzw. nach der Pro­zedur vom Orakelpriester den Ah­nen oder dem Shangdi als Op­fer darge­bracht. Nachdem die Kno­chen gerei­nigt und poliert wor­den waren, ritzte der Or­akelpriester zu­nächst eini­ge Daten über Ursprungsort und Anzahl der Kno­chen sowie über die Per­sonen, die mit ih­rer Überbringung be­schäftigt waren, auf den Ora­kelkno­chen ein.(18) Als näch­stes wurde die­ser an einer oder meh­re­­ren Stel­­len, ab­hän­gig von der ein­zel­nen Fra­ge­stellung, nach einer vor­ge­schriebenen Technik vom Or­ake­lpri­ester an­gebohrt.(19) Wäh­rend er die jewei­lige Fra­ge an das Or­akel for­mulierte, erhitzte er gleichzeitig den Knochen so­lange, bis, ausge­hend von den Löche­rn, Risse sichtbar wur­den. Auch bei der Erhitzung des Kno­chens gab es festgelegte Tech­ni­ken, die sowohl die Hilfs­mit­tel zur Er­hitzung sowie deren Anwendung, als auch die festge­legte Rei­hen­folge der zu er­hit­zenden Löcher betra­fen. Han­delte es sich um eine all­ge­meine Pro­blematik, so konn­te je­der Kno­chen mehr­mals zur Be­fra­gung ver­wen­det wer­den. Bei be­sonders wich­tigen Fragen, wie et­wa ei­ner Haupt­stadt­verlegung, kam es hin­gegen auch vor, dass meh­rere Kno­chen für nur eine einzige Frage zu Rate gezogen wurden. An­schlie­ßend er­folgte dann die In­ter­pretation der ein­zelnen Risse. Die Technik bzw. das Ana­lo­gie­system, aufgrund des­sen Form, Anzahl und Lage der Risse auf die in­dividuelle Situation über­tra­gen wur­den, konnte bisher nur teilweise rekonstruiert werden.

Mit der In­terpreta­tion war der ei­gentliche Akt der Orakelbefra­gung ab­ge­schlos­sen; der zweite Schritt bestand dann in der Aufzeichnung der ein­zelnen voll­zogenen Stadien, so dass sich eine Inschrift im Ideal­fall aus fol­genden Bestand­teilen zusam­mensetz­t:(20) 1) einem Vor-bzw. Nach­wort, das den zykli­schen Tag der Ora­kel­befra­gung, den Namen des Orake­lpri­esters und manch­mal auch den Ort be­inhal­tete, 2) der Frage­stellung, 3) der An­zahl der ent­stan­de­nen Risse sowie de­ren Be­schreibung, 4) der Vor­hersa­ge und der nach­trägli­chen Verifi­zierung, ob die Vorhersage des Orakels ein­getroffen war oder nicht. Gerade letz­tere Aufzeichnung ist natürlich von be­son­derem Wert zur Beurteilung der Ge­nauigkeit und Zu­verlässig­keit des Ora­kels und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, die Kunst der rich­ti­gen Frage­stellung zu perfektionieren. Schenkt man den neuesten For­schungsergeb­nissen Glau­ben, dann wur­den die meisten der überliefer­ten Inschriften verfasst, um die Aufmerk­samkeit des Shang­di oder der Ah­nen zu erregen und sie auf ein ge­wünsch­tes Er­gebnis hin positiv zu beein­flussen.(21) Die­se Hypo­the­se stützt auch die Theorie, dass im Rah­men der kombinator­ischen Methode die Z­ukunft nicht als von vor­neher­ein fest­ge­legt ver­standen wird, son­dern der Mensch über Mög­lichkeiten ver­fügt, sie selbst mitzu­gestal­ten.

Diese knappe Darstellung mag genügen, um die Paral­lelen zwischen dem Knochenorakel und den kombinatorischen Techniken im Rahmen der deu­te­nden Wahrsagemethoden zu erkennen. An die Stelle eines Medi­ums, wie es bei den seherischen Methoden der Fall ist, tritt die Inter­preta­tion der Risse auf den Orakelknochen. Anzahl und Form der Risse war jedoch nicht völlig dem Z­ufall überlassen, son­dern konnte durch die diffe­renzierte und sorgfäl­tige Technik des An­bohrens der Kno­chen in gewissen Bahnen vorherbestimmt werden. Die Or­akelknocheni­nschriften geben Aufschluss über das Analogiesystem, auf­grund des­sen Lage, Form und An­zahl der Risse auf die einzelne Fra­ge­stellung ange­wendet wurden. Ebenso wie bei den kombinato­ri­schen Techni­ken, han­delt es sich um eine Kombination aus Z­ufall - Ent­stehen der Risse - und der (rationa­len) Fähigkeit, aus die­ser Sym­bolik im Rahmen eines Ana­lo­gie­prinzips Schlussfolgerungen in Bezug auf die in­dividuelle Situa­tion zu ziehen. Infolge­dessen liegt auch dem Knocheno­rakel die Überzeu­gung zugrunde, dass sich das Orakel analog zur jeweili­gen Lage oder Fra­ge­stellung des Menschen verhält, und dass die Tendenzen der Zukunft aus der G­ege­nwart er­sichtlich werden. Insofern zielen auch die Orakelkn­ocheni­nschriften nicht auf eine exakte Ereig­nispro­gnose, sondern sie zeigen nur die Qualität der zu­künfti­gen Entwicklungsmöglich­keiten an. Die nach­träg­li­chen Auf­zeich­nun­gen in Form der "Veri­fi­zie­rung", d.h. der Feststellung, ob die Wa­hr­sagung tat­säch­lich ein­ge­tre­ten ist oder nicht, lassen bereits die fort­schreitende Ra­tiona­lisie­rung des Systems in Rich­tung auf eine systema­ti­sierte kombi­na­to­ri­sche Technik erkennen. Fest­zuhalten bleibt, dass das Knochenorakel alle not­wendigen Merkmale der kombinatorischen Methode, wie sie im vorangegan­genen Kapitel definiert wurde, aufweist.

Die fortschreitende Formali­sierung der Orakelknoch­eninschriften ge­gen Ende der Shang-Zeit lässt ferner auf eine allmähliche Popularisie­rung des Knochenorakels schlie­ßen, denn mit der Übernahme der Herr­schaft durch die Zhou-Dynastie (1122-221.v.Chr.) änderte sich auch Be­deutung und Stellung des Knoche­nora­kels. Denn die Le­gi­ti­mi­tät der Shang-Herr­scher beruhte auf der Fähig­keit, mit ihren Ahnen sowie der höchsten Gottheit Shangdi 上帝kommunizieren zu können, so dass das Kno­chenorakel als wichti­ges Medium zur Herstellung diese Kon­taktes fun­gierte. Die Zhou-Könige regier­ten dagegen aufgrund des "Himmels­manda­tes", in­folgedes­sen der Himmel seine Zustimmung oder Ab­lehnung einem Herr­scher ge­genüber im kosmischen wie menschlichen Be­reich zu ver­stehen gab. Aus­druck der Un­zufriedenheit des Himmels waren beispiels­weise beson­dere astronomische Erscheinungen, Natur -bzw. Hun­gerkata­stropen ebenso wie verlorene Krie­ge und Revolu­tionen. Die höch­ste zu verehrende Macht war der Him­mel (tian 天), und man bediente sich ver­schiedenster Wahrsage­methoden, um den Willen des Himmels rich­tig zu erkennen und zu deuten, weswegen das Kno­che­no­rakel zwar all­mählich sei­ne Vormachtstellung einbüß­te, aber nach wie vor praktiziert wurde. Im Zhouli 周禮 - dem Ritenklassiker der Zhou-Dynastie - wird überliefert, dass die Zhou-Könige an ihrem Hof pro­fessio­nelle Wahrsager für die verschiedensten Bereiche beschäftigten; eini­ge waren speziell für die In­terpretation von Träumen zuständig, andere für das Knochen- und Schafgarbenorakel, wieder andere für astro­logi­sche und astronomische Berechnungen. Die ungeheure Bedeu­tung und die Vielfalt der Wahrsageme­thoden wird durch unterschied­li­che Quellen aus der Zhou-Zeit belegt.(22) Natürlich waren die meisten Techniken in der frühen Zhou-Zeit (1122-722) noch dem königlichen Hof vorbehal­ten, doch spätestens seit der Frühlings- und Herbst-Periode (722-484), par­allel zum politi­schen Ver­fall des Reiches, fanden die unterschied­li­chen Sy­steme auch in weiten Tei­len der Bevölkerung Anwendung.(23) Die be­liebtesten und wichtigsten Metho­den am Königshof waren, wie ver­schie­dene Textstellen aus dem Zuozhu­an 左傳 und Guoyü 國語 belegen,(24) nach wie vor das Kno­chen- bzw. Schild­krö­ten­orakel sowie das Schafga­rben­orakel. Über die Ent­stehung des letzte­ren gibt es hingegen kaum hi­sto­rische Quel­len.

Jüngste Ent­deckungen auf den Or­ake­lknocheninschri­ften bestätigen die Hypo­these, dass es bereits in der Shang-Zeit verwendet wur­de und sich wahr­scheinlich aus dem Kno­che­norakel entwi­kelt hat.(25) Tradi­tio­nell wur­de diese Methode stets mit dem Yijing verbun­­den, das bis zur Entde­kung des Gra­bfu­ndes von Mawangdui im Jahre 1973, der ein­zig vollständi­g überlieferte Text dieser Art war. Es exi­stie­ren zwar Frag­mente von zwei weiteren Texten, dem Lian­shan 連山 und Gui­zang 歸藏, die traditionell als Vorläu­fer des Yijing aus der Xia- (2205-1766) bzw. Shang-Zeit bezeichnet werden, doch handelt es sich wahr­schein­lich um Fäl­schungen aus der Ersten Han-Zeit (202 v.Chr.- 23.n.Chr.). Her­kunft und Au­tor­schaft beide Werke, die zum ersten mal im Zhou­li Er­wäh­nung finden, sind sehr umstritten.(26) Die Zu­ord­nung des Lian­shan zur Xia-Dyna­stie beruht auf einer wörtlichen In­terpreta­tion sei­nes Na­mens im Sinne von "Bergen, die hin­ter Wolken sichtbar werden und ohne Unterbrechung aneinandergereiht daste­hen".(27) Par­allel dazu wird das Gui­zang mit der wörtlichen Überset­zung "zu­rück­kehren und darin ent­hal­ten sein" als "Lagerhaus, zu dem alles, was ihm entsprun­gen ist, früher oder später auch zurückkehrt", ver­stan­den. Diese Auf­fassung be­ruht auf der unterschiedlichen Reihen­folge der H­exagramme. Während das Lians­han mit dem Hexagramm Gen, das symbo­lisch für den Berg steht, be­ginnt, wird das Guizang mit dem Hex­agramm Kun, dem Sinnbild der Erde, eröff­net.(28) Die Zuordnung des letzte­ren zur Shang-Zeit er­gibt sich aus dem matriar­chalischen Cha­rakter der Shang-Gesellschaft, während die Zuord­nung des Lianshan zur Xia-Dyna­stie auf der Vorstel­lung beruht, dass die Menschen in der damaligen Zeit haupt­sächlich in den Bergen ge­lebt haben und fer­ner zu dieser Zeit der Ackerbau erfunden wurde.(29)

Ei­ne wei­tere Hypo­these ist, dass es sich bei dem Lianshan um ein Werk des "Er­finders des Ackerbaus" - Shennong 神農 - handelt, der auch unter dem Na­men Lianshan shi be­kannt war, während das Guizang mit dem le­gen­dären Hu­ang­di in Verbin­dung ste­hen soll, der auch Guizang shi ge­nannt wur­de.(30) Aus den Text­stellen in denen das Guizang und Lianshan Erwähnung fin­den sowie den wenigen über­lieferten Text­frag­menten lässt sich schlie­ßen, dass beide, ebenso wie das Yijing, aus 64 Hexagrammen bestehen, die jedoch unterschiedlich angeordnet sind. Der eigentliche Text der beiden Werke ist vermutlich nicht mit dem des Yijing iden­tisch, die Material­lage erlaubt hier je­doch kei­ne wei­teren Schlussfolgerungen.(31) Ob und in­wie­weit es sich bei bei­den Wer­ken zu­nächst nicht um einen Text, son­dern eine reine Technik der Wa­hr­sagung gehandelt haben mag, konnten die bis­herigen Forschungs­ergeb­nisse nicht erhellen, aber wahr­scheinlich ist, dass sowohl Guizang als Li­anshan eine andere Technik zur Befra­gung des Schafgarb­enorakels verwendeten als das Yijing.(32)

Wesentlich für unseren Zusammen­hang ist je­doch nicht die Problema­tik, ob die beiden Werke tatsächlich die hi­storischen Vorläufer des Yijing dar­stel­len; vielmehr gibt bereits die Exi­stenz weiterer Methoden zur Wa­hr­sagung, die augenscheinlich mit der des Yijing in Zu­sammen­hang ste­hen, aber doch nicht mit ihr identisch sind, ge­rade im Hin­blick auf die Ent­deckung des Yijing in Mawangdui, Anlass zu neuen Fragen in Bezug auf die Entste­hung und Ver­brei­tung des Yijing. Denn traditionell wurde so­wohl in der chinesischen wie der west­lichen Yijing-Forschung nie daran gezweifelt, dass das Yijing in seiner heutigen Version die einzige und authentische Überlieferung darstellt. Was könnte aus der Vermu­tung, dass der Text, wie er uns heute vorliegt, nur einer von (ur­sprünglich) meh­reren war, folgen? Sind sie im Rahmen einer histo­ri­schen Entwicklung entstanden oder waren gleichzeitig verschie­dene Ver­sionen des Yijing im Umlauf? Wel­che Kon­se­quenzen ergeben sich dar­aus für die Bedeutung des Yijing in seiner Funktion als Hand­buch zur Wa­hr­sagung sowie für das Wahrsage­sy­stem als solches? Vor dem Hintergrund des Gra­bfundes von M­awangdui ge­winnt diese Proble­matik noch an Ak­tua­lität, und wird im Laufe der vorliegen­den Arbeit noch eingehend untersucht be­han­delt werden.


Die Welt in einem Sandkorn sehen,

Einen Himmel in einer Wildblume,

Halte die Unendlichkeit in der Fläche deiner Hand,

Und die Ewigkeit in einer Stunde...

(William Blake)


Die Besonderheiten des Wahrsage­systems "Yijing"

Die einzige vollständige Überlieferung der Methode des Schafgarb­en­or­akels ist das Yijing. Die Bezeichnung "Schafgarbenorakel" cha­rak­teri­siert eine Methode der Wahrsagung, bei der eine bestimmte Anzahl von Sch­afgarbenstängeln nach festgelegten Regeln ausgezählt wur­de,(33) (34 ) zusammenkommen lässt")und somit eine ideales Medium zur Befragung des Orakels darstellt.