Allein das Wort "Wahrsagung" vermag die verschiedensten Assoziationen und Vorstellungswelten hervorzurufen, angefangen mit des Wortes ursprünglicher Bedeutung "Sehen, Prophetie"(1) bis hin zu den unzähligen Methoden, die im Laufe der Zeit entwickelt wurden, die Zukunft vorherzusagen. Um einen kurzen Überblick über die Geschichte und die verschiedenen Methoden der Wahrsagung zu geben, möchte ich zunächst den Versuch unternehmen, den Begriff "Wahrsagung" von den ihm verwandten Ausdrücken wie "Prophezeihung" und "Weissagung" zu differenzieren, da im Deutschen anders als bei dem englischen Begriff "divination", der sowohl die "Wahrsagung" als auch die "Weissagung" in sich vereint, diese Begriffe häufig verwechselt bzw. undifferenziert verwendet werden.
Im entsprechenden lateinischen Wort "divinare" ist durch die Bedeutung von "eine göttliche Eingebung haben, weissagen, ahnen, vermuten, erraten" sowie durch seine Verwandtschaft mit dem Wort "divinus" im Sinne von "göttlich" die Ebene der Wahrsagung von der Weissagung (noch) nicht getrennt. Jede Erkenntnis, die nicht durch Menschenverstand oder den damaligen Stand der Wissenschaft geklärt werden konnte, wurde als göttliche Eingebung verstanden, so dass die Gabe die Zukunft vorauszusehen und vorherzusagen, von den Göttern kam. Dass es sich bei dieser Gabe, durchaus nicht immer um ein willkommenes Geschenk handeln musste, zeigen bereits die prophetischen Bücher im Alten Testament. Denn der Prophet im Alten Testament - im Sinne eines Menschen, der für einen anderen bzw. für eine Gottheit spricht - hat zwar das Vorrecht, Gott zu sehen und zu hören, doch übernimmt er mit dieser Gabe auch die Verpflichtung, das jeweils Gesehene oder Gehörte den Menschen zu verkünden, was vor allem in politischer Hinsicht für manchen Propheten sehr gefährlich werden konnte. Aus diesem Grund ging man später immer mehr dazu über, Prophezeihungen politisch-historischer Natur verschlüsselt abzufassen, deren berühmtestes Beispiel die Weissagungen des Nostradamus sind.
Auch im griechischen Wort "manteia" bzw. "manteuo" in der Bedeutung von "einen Götterspruch verkünden, voraussagen, vermuten, ein Orakel befragen" wird noch keine direkte Unterscheidung zwischen Wahr- und Weissagung getroffen. Durch seine Verwandtschaft mit dem Wort "mania" dem "Wahnsinn", bei dem es sich weniger um eine Geisteskrankheit als vielmehr um einen Zustand der Begeisterung oder Verzückung handelt, kann man ebenso wie bei dem lateinischen Äquivalent zunächst von einer Bedeutung ausgehen, bei der die Qualität des Sehens im Vordergrund stand.
Zur Abgrenzung der Wahr- von der Weissagung ist ein Blick auf den Begriff "Orakel" aufschlussreich. Bei einem Orakel (lateinisch "oraculum") handelt es sich zunächst um das Heiligtum eines Gottes, an dem die jeweilige Gottheit, meist über ein Medium, die an sie gerichteten Fragen beantworten sollte. Ebenso ist auch die Antwort im Sinne eines Götterspruches sowie die Gottheit selbst unter dem Begriff "Orakel" verstanden worden, so dass das Orakel zunächst untrennbar mit der Religion verbunden war. Interessant ist auch seine semantische Verwandtschaft mit dem Wort "orare" in der Bedeutung von "bitten, ersuchen, sprechen", das eine Verbindung zwischen der Gottheit und der Person, die das Orakel um Rat fragt, herstellt.
Zu den bekanntesten Orakelstätten in Griechenland gehört zweifellos das Orakel von Delphi, wo der Gott Apoll dem einzelnen Bittsteller über sein Medium - die Phythia - die berühmten Orakelsprüche erteilte. Die genaue Technik mit der die Pythia ihre Antworten von Apoll erhielt, ist nicht überliefert, doch muss es sich um eine seherische Methode gehandelt haben, ähnlich wie bei einem Propheten.(2) Der wesentliche Unterschied zwischen Orakel und Weissagung besteht jedoch darin, dass ein Orakel im Regelfall nicht von sich aus, sondern immer nur auf Anfrage Auskunft erteilte, so dass es bedingt durch die Fragestellung in seiner Voraussage inhaltlich wie zeitlich begrenzt war. Zur Befragung eines Orakels bediente man sich ferner in fast allen Fällen einer bestimmten Technik, die mehr oder weniger lernbar ist, um eine Antwort des Orakels zu erhalten. Für die Abgrenzung von Wahr- und Weissagung heißt das, dass es sich bei der Weissagung um eine spontane Vorhersage der Zukunft handelt, die sich, da ihr keine Fragestellung vorgegeben ist, auf einen beliebigen Zeitraum mit beliebigem Inhalt erstrecken kann. Eine derartige Vision entsteht also im Regelfall ohne äußeren Zwang, und ohne, dass der Prophet eine bewusste Anstrengung unternehmen müsste. Meist handelt es sich bei Weissagungen um die Zukunft von wichtigen politisch-historischen Persönlichkeiten oder gar Völkern bzw. ganzen Staatsgebilden, bis hin zum politischen Verlauf des gesamten Weltgeschehens, wie z.B. bei den Weissagungen des Nostradamus.
Natürlich beschäftigte sich die Wahrsagung ursprünglich ebenfalls hauptsächlich mit den Anliegen wichtiger Persönlichkeiten oder mit politischen Fragestellungen, doch während sich im Bereich der Wahrsagung seit ihren Anfängen bis in die jüngste Zeit hinein sehr differenzierte Methoden, die sich immer mehr auf die Interessen des Einzelnen konzentrierten, entfalten konnten, ist in der historischen Entwicklung der Weissagung keine wesentliche Veränderung festzustellen; denn ihrem Wesen nach handelt es sich bei der Weissagung ja nicht um eine Technik, sondern um die Gabe bzw. Veranlagung, die Zukunft vorherzusehen, die nicht mit technischen Mitteln herbeigeführt werden kann. Ferner bedient sich die Weissagung ausschließlich der seherischen Methode, bei welcher das Medium bzw. der Prophet beispielsweise im Traum oder im Zustand der Trance die Zukunft voraussieht, es handelt sich also um die Fähigkeit, Raum und Zeit zu relativieren. Die seherische Methode findet zwar auch im Rahmen der Wahrsagung Anwendung, doch bezieht sie sich, eben weil sie immer eines Auslösers in Form einer Frage bedarf, nur auf bestimmte zeitlich und räumlich begrenzte Inhalte.
Es bleibt festzuhalten, dass die Wahrsagung, deren älteste überlieferte Form sich im Orakel manifestiert, sich zwar in Anlehnung an die Weissagung in Form von prophetischen Texten herausgebildet hat, dass sie jedoch, bedingt durch die stetige Vermehrung unterschiedlichster Techniken, die mit einer konstant zunehmenden Popularität bis hin zur Profanisierung derselben einherging, im Hinblick auf ihr Ziel und ihren Inhalt von der Weissagung zu unterscheiden ist. Um die Wahrsagung von der Weissagung deutlich und differenziert abgrenzen zu können, wird im folgenden ein kurzer Überblick über die wichtigsten Praktiken und Komponenten der Wahrsagung gegeben.
Praktiken und Komponenten der Wahrsagung
Die Fragestellung, ob und inwieweit das Leben des Einzelnen sowie das gesamte Weltgeschehen vorherbestimmt und für den Menschen erkennbar werde, ist natürlich eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung der unterschiedlichen Wahrsagesysteme. Auf den entscheidenden Einfluß, den das jeweilige philosophisch-religiös geprägte Weltbild einer Gesellschaft wie auch des einzelnen Individuums auf die Entwicklung der Wahrsagesysteme ausgeübt haben muss, kann in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden. Trotz der dadurch bedingten Vielfalt an Methoden und Techniken lassen die verschiedenen Verfahren ähnliche Strukturen erkennen.
Eine der frühesten systematischen Darstellungen über die verschiedenen Techniken der Wahrsagung in der Antike ist der Text "De Divinatione" von Cicero, der die Zukunftsschau zunächst als Bestandteil der Theologie definiert, begünstigt durch den (stoischen) Glauben, dass alles Geschehen vom Schicksal festgelegt sei.(3) Ferner traf Cicero eine Unterscheidung zwischen der natürlichen und der künstlichen Divination,(4) auf die später eine Einteilung in rationale und irrationale bzw. induktive und deduktive Systeme folgte. In Anlehnung an die Untersuchungen aus der Psychologie möchte ich mich der Einteilung in seherische und deutende Methoden anschließen.(5)
Unter der ersteren versteht man eine Technik, die es einem Menschen ermöglicht, Raum und Zeit zu relativieren - es wird z.B. eine parallele Existenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angenommen - so dass ein räumlich oder zeitlich entferntes Ereignis vorhergesehen werden kann: Sie zielt auf eine konkrete Ereignisprognose. Voraussetzung hierfür ist die Annahme, dass das Schicksal auf irgendeine Art und Weise vorgezeichnet sei, und dass die Zukunft somit, wenn überhaupt, dann nur innerhalb bestimmter Grenzen vom Menschen selbst beeinflusst werden könne. Zur seherischen Methode gehört beispielsweise die Geistwesenbefragung, bei der ein Medium im Zustand tiefer Trance in Kontakt mit einer übernatürlichen Macht, etwa einer Gottheit, Geistern oder Dämonen tritt, so dass diese regelrecht vom Körper des Mediums Besitz ergreift und sich durch das Medium äußern kann. Diese Technik fand hauptsächlich bei jeder Art von Schamanentum ihre Anwendung und ist heute noch im Daoismus eine beliebte Methode, um einen Blick in die Zukunft zu werfen. Damit verwandt sind die sogenannten Geistreisen- oder Phantasiereisenorakel, bei denen das Medium eine Reise in eine andere Realität bzw. in sein eigenes Unterbewusstsein antritt. Hier kommt dem Medium jedoch nicht nur die Rolle des Übermittlers von Antworten oder Botschaften zu, sondern die Rolle des aktiv Reisenden, der bestimmte Dinge auf seiner Reise verändern und somit bereits in der Zukunft agieren kann.
Weniger dramatisch verhält es sich beim Visionsorakel, bei dem beispielsweise durch das konzentrierte Blicken auf eine Kristallkugel eine bestimmte Situation in der Zukunft offenbar wird. Schließlich gehören zur seherischen Methode noch die eidetischen Orakel, bei denen man sich aus der Struktur eines Gegenstandes, Symboles oder Lebewesens eine bestimmte Situation bzw. die Antwort auf eine Orakelfrage so exakt vorzustellen vermag als nähme man sie real wahr. Hierzu zählen solche Techniken wie Kaffeesatzlesen, Bleigießen oder Eingeweideschau.
Die Liste der seherischen Methoden ließe sich natürlich noch beliebig verlängern, doch diese Beispiele mögen genügen, um die wesentlichen Merkmale der seherischen Methode zu charakterisieren: Im Regelfall wird ein Medium benötigt, das die Fähigkeit besitzt, Raum und Zeit zu relativieren, oder zumindest über die Mittel verfügt, in einen solchen Zustand zu gelangen. Es ist demzufolge keine Methode, die für "jeden beliebigen Menschen" erlernbar ist. Da das Ziel einer Befragung in einer konkreten Ereignisprognose besteht, die teilweise auch sehr unangenehme Folgen haben kann, äußert sich das Medium oder das Orakel in dem meisten Fällen verschlüsselt, so dass häufig noch eine weitere Person zur Interpretation herangezogen werden muss, wie beispielsweise beim Orakel in Delphi.(6) Schließlich setzt diese Vorgehensweise ein Weltbild oder System voraus, bei dem eine vorherbestimmte Zukunft in einer vorgegebenen Zeitabfolge zugrunde gelegt wird.
Anders steht es um die deutende Methode: Sie basiert auf dem Zusammenwirken von Beziehungen im Rahmen eines Analogiesystems, bei dem man davon ausgeht, dass sich das jeweilige Orakel analog zur entsprechenden Situation oder Fragestellung des Menschen verhält. Bei der deutenden Methode tritt an die Stelle des Mediums ein mehr oder weniger systematisiertes Verfahren, das nach bestimmten vorgegebenen Regeln funktioniert. Im Vordergrund steht hier die Überzeugung, dass der Schlüssel zur Zukunft in der Gegenwart oder Vergangenheit liege und die Zukunft somit nicht notwendigerweise vorherbestimmt sei, sondern erst in der Gegenwart festgelegt werde. Ein wesentlicher Aspekt der Wahrsagung besteht zunächst in einer Analyse der gegenwärtigen Situation, aufgrund derer die Entwicklungsmöglichkeiten der Zukunft bestimmt werden. Aus diesem Grunde wird die wesentliche Funktion der deutenden Wahrsagemethoden heute aus psychologischer Sicht oft als Ersatz für eine Art "Psychoanalyse" interpretiert, wenngleich es nicht gerechtfertigt erscheint, sie darauf reduzieren zu wollen.(7)
Die Problematik der deutenden Techniken liegt in der Fähigkeit, die einzelnen oder das Zusammentreffen verschiedener Zeichen in der Gegenwart als Trend für die Entwicklung in der Zukunft zu deuten. Infolgedessen ist im Regelfall keine exakte Ereignisprognose möglich, sondern die Vorhersage ist aufgrund mehrerer gleichzeitig existierender Möglichkeiten oder wegen ihres allgemeinen Charakters schwerer zu interpretieren und auf die eigene Situation anzuwenden. Im allgemeinen bedarf es hierzu jedoch keiner "übernatürlichen" Fähigkeiten, so dass sich im Laufe der Zeit eine Fülle von unterschiedlichen Techniken entfaltet hat, von denen ich hier nur einige exemplarisch vorstellen kann. An ihnen lassen sich drei Entwicklungsstadien innerhalb der deutenden Methoden veranschaulichen.
Die einfachste Form ist das binäre System: hier können nur Fragen gestellt werden, die, ganz im Gegensatz zu allen anderen Verfahren, ausschließlich mit Ja oder Nein zu beantworten sind. Dazu gehört das Münzenwerfen, wo Kopf oder Zahl dann für Ja bzw. Nein stehen, das Pendeln, bei dem die nach rechts oder links drehende Pendelbewegung unterschieden wird, die Befragung mittels Wünschelruten, bei dem das Ausschlagen der Rute nach oben oder unten gedeutet wird sowie das Ziehen von Losen. Die technischen Anforderungen an diese Form des Orakels sind zwar sehr gering, ihre Problematik liegt jedoch in der Treffsicherheit des Orakels bedingt durch Manipulation seitens des Fragenden, der das Orakel aufgrund eines von ihm gewünschten Ergebnisses (unbewusst) in seinem Sinne beeinflusst.
Wesentlich komplexer wird es bei den sogenannten kombinatorischen Systemen, die die reale Situation des Fragestellers auf ein Analogiesystem, zusammengesetzt aus mehreren einander ergänzenden Elementen, übertragen, dessen sinnbildliche Ausdrucksweise dann wieder auf die reale Situation zurück übertragen werden muss. Ein Beispiel für ein solches kombinatorisches System ist die Wahrsagung mittels unterschiedlichen Techniken des Kartenlegens. Hier repräsentiert die einzelne Karte sowie ihre Beziehung zu den anderen Karten innerhalb des gesamten Bildes sinnbildlich ein Element oder eine ganz bestimmte Situation aus der Realität. Das einzelne Kartenbild hat jedoch keinen festen Platz innerhalb eines übergreifenden Systems, wie es beispielsweise beim Yijing der Fall ist, so dass, im Hinblick auf die Übertragung der Symbolik auf eine individuelle Fragestellung, die Qualität der Voraussage noch sehr stark von Wissen und Fähigkeit des jeweiligen Interpreten abhängt.
Natürlich kann, wieder abhängig vom Erfahrungsstand des einzelnen Wahrsagers, die Symbolik der separaten Bausteine beliebig erweitert werden. Um das Beispiel der (inzwischen wieder sehr populären) Tarotkarten aufzugreifen: Die Bedeutung der einzelnen Karten ist bekannt, doch die Schwierigkeit besteht darin, die Symbolik des gesamten Kartenbildes, bestehend aus den Einzelkarten, jedes mal neu zu interpretieren und dann auf die gegebene reale Situation anzuwenden. Es handelt sich hier um eine Kombination aus "Zufall" bzw. "Intuition" bei der Erstellung des Kartenbildes, dessen unterschiedliche Zusammensetzungsmöglichkeiten bei 78 Tarotkarten fast unendlich sind, und der eher rationalen Fähigkeit, aus diesem Bild die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Ähnlich verhält es sich bei der Geomantie, bei der die einzelnen geomantischen Figuren je nach Lage in ihren Häusern interpretiert werden sollen.(8) Ganz im Gegensatz zum binären System dürfen beim kombinatorischen Prinzip keinesfalls Ja - Nein Fragen gestellt werden, sondern die Frage muss zwar das Problem direkt erfassen, darf dabei aber auch nicht zu speziell gestellt sein. Da es sich hier nicht um einen konkrete Ereignisprognose handelt, können auch keine direkten, differenzierten Angaben über Zeit, Ort oder Personen(namen) erwartet werden, sondern die Kunst, eine zutreffende Antwort zu erhalten liegt in der richtigen Fragestellung und einem entsprechenden Interpretationsvermögen.
Dies trifft auch auf die dritte Gruppe, die der systematisierten (objektivierten) kombinatorischen Systeme zu. Grundlage bildet hier entweder ein feststehendes bzw. berechenbares System, welches im Sinne einer rationalen Weiterentwicklung der kombinatorischen Technik die Symbolik der einzelnen Elemente sowie deren Beziehung zueinander durch feste Regeln systematisiert, um sie dann, genau wie bei der kombinatorischen Technik, sinnbildlich auf die jeweilige menschliche Situation zu übertragen. Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der Ausgangsposition: Während sich beim kombinatorischen Orakel immer eine Ausgangslage ergibt, die gewissermaßen im luftleeren Raum schwebt, erhält man beim systematisierten kombinatorischen Orakel zwar allenfalls unterschiedliche Ausgangspositionen, aber sie haben innerhalb eines Systems bereits ihren festen Platz, so dass die Übertragung auf eine individuelle Situation zwar erleichtert, doch der Spielraum bei der Interpretation eingeschränkt wird.
Den größten Wirkungskreis unter den systematisierten kombinatorischen Techniken hat sicherlich die Astrologie. Ausgehend von einer holistisch geprägten Weltanschauung, in der Mensch und Kosmos einen großen Organismus bilden, so dass das Geschehen im Kosmos seine Entsprechungen beim Menschen findet, wird durch die Astrologie die kosmische Prägung, die der Mensch zum Zeitpunkt seiner Geburt empfangen hat, in Erfahrung gebracht und deren Einfluss auf die Zukunft des Menschen herausgestellt. Auch hier besteht das Ziel der Wahrsagung nicht in einer konkreten Ereignisprognose, sondern das Handeln eines Menschen soll auf die ihm eigene kosmische Konstellation hin abgestimmt werden, um einen positiven Verlauf der Zukunft zu bewirken. Vorstellungen, nach welchen die Astrologie eine genaue Ereignisprognose erstellt, unterliegen einem grundlegenden Missverständnis. Die Astrologie analysiert nur die Qualität der kosmischen Einflüsse sowie deren voraussichtliche Einwirkung auf das menschliche Leben, so dass zwar Tendenzen aufgezeigt, aber keine detaillierte "Prognose" des Schicksals eines Individuums erstellt werden kann. (9)
Hieran ist schließlich deutlich zu erkennen, dass der Auslöser bei den systematisierten kombinatorischen Methoden zwar gleichfalls die Frage nach der Zukunft ist, dass aber der Schlüssel zu ihr im richtigen Verständnis der Gegenwart bzw. der Vergangenheit liegt. Ähnliches gilt auch für die Methode der Chiromantie(10) sowie für das Yijing, worauf ich im nächsten Kapitel noch näher eingehen werde.
Das Beispiel der Astrologie veranschaulicht die drei wesentlichen Bestandteile der systematisierten kombinatorischen Methode - Zufall, systematische Grundlage und Interpretation. Diese drei Teile können jedoch bei den einzelnen Techniken eine unterschiedliche Gewichtung erfahren. Der Zufall ist hier Ort und Stunde der Geburt, die systematische Grundlage ist die Fixierung der Planetenkonstellationen und die sich daraus ergebende Tierkreis Einteilung mit den verschiedenen Aspekten der Planeten sowie die Felder des Horoskops. Die Verbindung der Tierkreiszeichen mit den Aspekten der zutreffenden Planeten und den jeweiligen Feldern des Horoskopes ist nach bestimmten Regeln systematisiert und somit rational, und nicht intuitiv, nachvollziehbar. Die Interpretation besteht schließlich darin, die aus der systematischen Grundlage resultierenden Schlussfolgerungen auf die individuelle Situation anzuwenden. Während die Elemente des Zufalls und der Interpretation natürlich auch in allen anderen deutenden (und teilweise auch seherischen) Methoden enthalten sind und der Umgang mit ihnen stark von dem kulturellen Hintergrund sowie der (Intuition der) einzelnen Persönlichkeit abhängt, fügt die systematische Grundlage der Wahrsagung ein rationales Element hinzu. Dies bewirkt nicht nur eine gewisse "Demystifizierung" der Wahrsagung, sondern sie lässt sie auch leichter vermittelbar und erlernbar werden, was wiederum wesentlich zur Popularisierung bestimmter Wahrsagemethoden beigetragen hat.
Funktion und Bedeutung des Zufalls
In diesem Zusammenhang möchte ich noch kurz auf die Bedeutung des "Zufalls" - im Sinne des Ein- bzw. Zusammentreffens von Ereignissen, das sich nicht kausal erklären lässt - zu sprechen kommen, der bei jeder Art von Wahrsagung eine entscheidende Rolle spielt. Die Verwendung des Wortes "Zufall" in unserem Sprachgebrauch birgt zwei einander entgegengesetzte Interpretationsmöglichkeiten; denn dem unerwarteten Eintreten oder Zusammentreffen von Ereignissen kann entweder ein tieferer Sinn zugrunde liegen, der nicht rational erfassbar zu sein braucht, oder es wird als "rein zufällig" betrachtet und bedarf so keiner weiteren Erklärung oder Sinngebung. Die Interpretation des Zufalls hängt ganz entscheidend von dem jeweiligen Weltbild einer Gesellschaft ab.
Während dem ganzheitlichen Denken, welches nicht nur in China, sondern auch in Europa bis zum 19. Jhdt. vorherrschend war, die Idee zugrunde liegt, dass der Kosmos zusammen mit dem Menschen gleichsam einen großen lebendigen Organismus bildet, dessen Einzelteile sinnhaft aufeinander Abgestimmtes tun, so dass Aktion und Reaktion einzelner Teile immer miteinander korrelieren, hält das kausal, naturwissenschaftlich geprägte Denken eine
"Koinzidenz, deren Sinngemäßheit als arbiträr erscheint, für 'zufällig" (11)
Ungeachtet des geistesgeschichtlichen oder religiösen Hintergrundes besteht der als bedeutsam erachtete Zufall aus einer sinnhaft vorgestellten Koinzidenz von Ereignissen, die im rein kausalen Denken, das immer nach einer denkbaren Ursache sucht, unvorstellbar sind.(12) Er ist ferner zugleich Ausgangspunkt und letzter Sinn jeder Wahrsagung, der, trotz oder gerade weil er sich der rationalen Erfassung entzieht, nicht mehr hinterfragt werden darf und kann. Denn das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit des Zufalls lässt Wahrsagung überhaupt erst möglich werden, der Zufall ist gleichsam die Öffnung, an der die reale Welt des Menschen für das sinnbildliche System der Wahrsagung durchlässig wird.
Der äquivalente chinesische Begriff für Zufall - " Ou 偶 " - charakterisiert das chinesische Verständnis des Zufalls sehr treffend: Aus der ursprünglichen Bedeutung "Götzenbild" bzw. "aus Ton gefertigtes oder Holz geschnitztes Ebenbild des Menschen", das häufig als Grabbeigabe verwendet wurde, entwickelte sich über die Idee des Abbildes die Bedeutung "Paar, paaren" und "Partner". Als "zu-fällig" wird schließlich das betrachtet, was im Sinne des Ebenbildes oder Paares denselben Ursprung besitzt und eigentlich nur das "zusammen-fällt", was ursprünglich auch zusammengehört.(13)
Im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der seherischen und der deutenden Methode lässt sich feststellen, dass im Falle der seherischen Technik an die Stelle der Gottheit das System der Analogie bzw. die systematische Grundlage bei der deutenden Technik tritt. Auch wenn beide Methoden lange Zeit parallel praktiziert wurden - und heute teilweise sogar noch praktiziert werden, kann man dies, in China gleichermaßen wie in Europa, doch als Hinweis auf eine allmähliche Verschiebung von einem religiös geprägten Weltbild zu einem rational geprägten verstehen. Als Ausgleich für die fehlende Gottheit tritt bei der deutenden Methode dafür das Element des Zufalls hinzu. Waren beim Orakel von Delphi neben der Gottheit selbst und der Person, die um Rat fragte, noch das Medium sowie ein Interpret, der die Sprache des Mediums und damit der Gottheit in eine allgemeinverständliche übersetzte, vorhanden, so fallen im deutenden System Medium und Interpret in eine Person zusammen; bei einigen leichter zu erlernenden Techniken ist sogar der Fragesteller zugleich sein eigener Interpret. Dem Wesen der seherischen Methoden entsprechend, gibt es so gut wie keine schriftliche Überlieferung über die genaue Art und Weise des hier verwendeten Vorgehens. Für die deutenden Methoden existieren hingegen zum Teil sehr genaue Unterweisungen, oder das System ist sogar selbst als Anweisung zu verstehen.(14) Was die Genauigkeit der Zukunftsvorhersage angeht, so bieten die seherischen Techniken eine sehr konkrete Ereignisprognose, bedingt durch die Auffassung, dass die Zukunft bereits feststehe und der Mensch keine oder kaum eine Möglichkeit habe, diese mitzugestalten. Nicht so bei den deutenden Systemen. Hier liegt der Schwerpunkt auf einer Analyse der gegenwärtigen Situation, um so die einzelnen Möglichkeiten, die sich aus der gegenwärtigen Lage - unter Miteinbeziehung der Vergangenheit - ergeben können, zu bestimmen. Ihren Ausdruck findet dies in der vielschichtigen Symbolik oder in den relativ allgemein und damit doppeldeutig gehaltenen Aussagen, zu deren Verständnis man wiederum viel Erfahrung und besondere Fähigkeiten bei der Interpretation benötigt.
Wie ist aber nun das Yijing in diese Systeme einzureihen? Lässt es sich überhaupt eindeutig einer der oben erwähnten Methoden zuordnen? Welche Bedeutung kommt dabei der Entdeckung des Yijing in Mawangdui zu? Um die Stellung des Yijing aus der chinesischen Tradition beurteilen zu können, ist es notwendig, kurz auf mögliche Vorläufer und anverwandte Wahrsagetechniken einzugehen.
Ursprünge und Vorläufer des Yijing
Beschäftigt man sich mit den Ursprüngen der Wahrsagung in China, so sind die ältesten Quellen, die zugleich zu den bemerkenswertesten archäologischen Funden dieses Jahrhunderts zählen, sicherlich die Orakelknocheninschriften aus der Shang-Zeit (trad. 1766-1122 v. Chr.). Sie stellen einerseits das Mittel zur Orakelbefragung dar, sind aber zugleich die ältesten Zeugnisse chinesischer Geschichtsschreibung; denn sie bieten die ersten Daten über die Thronfolge in der Shang-Zeit und geben Aufschluss über bestimmte historische Ereignisse und Errungenschaften, wie das Kalenderwesen, das numerische System und den damaligen Stand der Technik.
Die Themen der Orakelbefragung sind im weitesten Sinne politischer Natur, doch ist im Laufe der Shang-Zeit eine Veränderung in Inhalt und Form der Inschriften festzustellen. Während diese sich zu Beginn der Shang-Zeit auf Träume, Angelegenheiten der Ahnen sowie den richtigen Zeitpunkt zur Durchführung von Opfern an die Naturgottheiten beziehen, beschäftigen sich die späteren Inschriften hauptsächlich mit rituellen Angelegenheiten wie dem Jagen und einem festgelegten Opferplan. Waren die Vorhersagen zunächst relativ ausführlich und differenzierten sie in genauer Abstufung zwischen glücks- und unglücksverheißenden Orakelsprüchen, so war dieses Vokabular später sehr kurz und formalisiert sowie hinsichtlich der Voraussagen fast ausnahmslos glückverheißend. Ob und inwieweit dies eine Folge des Niedergangs der Shang-Dynastie sein könnte, kann in diesem Rahmen nicht beantwortet werden.(15)
In unserem Zusammenhang steht nun das genaue Verfahren bei der Befragung eines Orakels im Vordergrund.(16) Es existieren zwar keine Berichte über die Prozedur selbst, doch lassen sich die wesentlichen Elemente und Verfahrensschritte aus dem Material direkt erkennen. An einer Orakelbefragung waren im Regelfall außer der Gottheit Shangdi nur der Orakelpriester, i.e. der Wahrsager, und manchmal auch der Fragesteller, bei dem es sich in der Shang-Zeit meist um den König selbst handelte, beteiligt.
Bereits hier ist zu bemerken, dass es sich um ein relativ rationalisiertes Verfahren gehandelt haben muss, denn Medium und Interpret waren beide in der Person des Orakelpriesters repräsentiert. Der Auftrag des Orakelpriesters war zum richtigen Beruf geworden: Am Königshof der Shang wurden verschiedene Priestergruppen, von denen eine bis zu 25 Orakelpriester umfassen konnte, nach getrennten Fachgebieten eingesetzt, so dass beispielsweise für Fragen des Ackerbaus, der Ahnenverehrung oder Kriegsführung etc. jeweils eine eigene Gruppe von Orakelpriestern zuständig war.(17)
Das Material bestand aus Schildkrötenpanzern sowie den Schulterknochen von Rindern, Schafen, Schweinen und Hirschen. Die verwendeten Orakelknochen stammten entweder von bereits getöteten Tieren, oder es wurde bei besonders wichtigen Fragen ein Tier eigens dafür geschlachtet und vor bzw. nach der Prozedur vom Orakelpriester den Ahnen oder dem Shangdi als Opfer dargebracht. Nachdem die Knochen gereinigt und poliert worden waren, ritzte der Orakelpriester zunächst einige Daten über Ursprungsort und Anzahl der Knochen sowie über die Personen, die mit ihrer Überbringung beschäftigt waren, auf den Orakelknochen ein.(18) Als nächstes wurde dieser an einer oder mehreren Stellen, abhängig von der einzelnen Fragestellung, nach einer vorgeschriebenen Technik vom Orakelpriester angebohrt.(19) Während er die jeweilige Frage an das Orakel formulierte, erhitzte er gleichzeitig den Knochen solange, bis, ausgehend von den Löchern, Risse sichtbar wurden. Auch bei der Erhitzung des Knochens gab es festgelegte Techniken, die sowohl die Hilfsmittel zur Erhitzung sowie deren Anwendung, als auch die festgelegte Reihenfolge der zu erhitzenden Löcher betrafen. Handelte es sich um eine allgemeine Problematik, so konnte jeder Knochen mehrmals zur Befragung verwendet werden. Bei besonders wichtigen Fragen, wie etwa einer Hauptstadtverlegung, kam es hingegen auch vor, dass mehrere Knochen für nur eine einzige Frage zu Rate gezogen wurden. Anschließend erfolgte dann die Interpretation der einzelnen Risse. Die Technik bzw. das Analogiesystem, aufgrund dessen Form, Anzahl und Lage der Risse auf die individuelle Situation übertragen wurden, konnte bisher nur teilweise rekonstruiert werden.
Mit der Interpretation war der eigentliche Akt der Orakelbefragung abgeschlossen; der zweite Schritt bestand dann in der Aufzeichnung der einzelnen vollzogenen Stadien, so dass sich eine Inschrift im Idealfall aus folgenden Bestandteilen zusammensetzt:(20) 1) einem Vor-bzw. Nachwort, das den zyklischen Tag der Orakelbefragung, den Namen des Orakelpriesters und manchmal auch den Ort beinhaltete, 2) der Fragestellung, 3) der Anzahl der entstandenen Risse sowie deren Beschreibung, 4) der Vorhersage und der nachträglichen Verifizierung, ob die Vorhersage des Orakels eingetroffen war oder nicht. Gerade letztere Aufzeichnung ist natürlich von besonderem Wert zur Beurteilung der Genauigkeit und Zuverlässigkeit des Orakels und bietet gleichzeitig die Möglichkeit, die Kunst der richtigen Fragestellung zu perfektionieren. Schenkt man den neuesten Forschungsergebnissen Glauben, dann wurden die meisten der überlieferten Inschriften verfasst, um die Aufmerksamkeit des Shangdi oder der Ahnen zu erregen und sie auf ein gewünschtes Ergebnis hin positiv zu beeinflussen.(21) Diese Hypothese stützt auch die Theorie, dass im Rahmen der kombinatorischen Methode die Zukunft nicht als von vorneherein festgelegt verstanden wird, sondern der Mensch über Möglichkeiten verfügt, sie selbst mitzugestalten.
Diese knappe Darstellung mag genügen, um die Parallelen zwischen dem Knochenorakel und den kombinatorischen Techniken im Rahmen der deutenden Wahrsagemethoden zu erkennen. An die Stelle eines Mediums, wie es bei den seherischen Methoden der Fall ist, tritt die Interpretation der Risse auf den Orakelknochen. Anzahl und Form der Risse war jedoch nicht völlig dem Zufall überlassen, sondern konnte durch die differenzierte und sorgfältige Technik des Anbohrens der Knochen in gewissen Bahnen vorherbestimmt werden. Die Orakelknocheninschriften geben Aufschluss über das Analogiesystem, aufgrund dessen Lage, Form und Anzahl der Risse auf die einzelne Fragestellung angewendet wurden. Ebenso wie bei den kombinatorischen Techniken, handelt es sich um eine Kombination aus Zufall - Entstehen der Risse - und der (rationalen) Fähigkeit, aus dieser Symbolik im Rahmen eines Analogieprinzips Schlussfolgerungen in Bezug auf die individuelle Situation zu ziehen. Infolgedessen liegt auch dem Knochenorakel die Überzeugung zugrunde, dass sich das Orakel analog zur jeweiligen Lage oder Fragestellung des Menschen verhält, und dass die Tendenzen der Zukunft aus der Gegenwart ersichtlich werden. Insofern zielen auch die Orakelknocheninschriften nicht auf eine exakte Ereignisprognose, sondern sie zeigen nur die Qualität der zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten an. Die nachträglichen Aufzeichnungen in Form der "Verifizierung", d.h. der Feststellung, ob die Wahrsagung tatsächlich eingetreten ist oder nicht, lassen bereits die fortschreitende Rationalisierung des Systems in Richtung auf eine systematisierte kombinatorische Technik erkennen. Festzuhalten bleibt, dass das Knochenorakel alle notwendigen Merkmale der kombinatorischen Methode, wie sie im vorangegangenen Kapitel definiert wurde, aufweist.
Die fortschreitende Formalisierung der Orakelknocheninschriften gegen Ende der Shang-Zeit lässt ferner auf eine allmähliche Popularisierung des Knochenorakels schließen, denn mit der Übernahme der Herrschaft durch die Zhou-Dynastie (1122-221.v.Chr.) änderte sich auch Bedeutung und Stellung des Knochenorakels. Denn die Legitimität der Shang-Herrscher beruhte auf der Fähigkeit, mit ihren Ahnen sowie der höchsten Gottheit Shangdi 上帝kommunizieren zu können, so dass das Knochenorakel als wichtiges Medium zur Herstellung diese Kontaktes fungierte. Die Zhou-Könige regierten dagegen aufgrund des "Himmelsmandates", infolgedessen der Himmel seine Zustimmung oder Ablehnung einem Herrscher gegenüber im kosmischen wie menschlichen Bereich zu verstehen gab. Ausdruck der Unzufriedenheit des Himmels waren beispielsweise besondere astronomische Erscheinungen, Natur -bzw. Hungerkatastropen ebenso wie verlorene Kriege und Revolutionen. Die höchste zu verehrende Macht war der Himmel (tian 天), und man bediente sich verschiedenster Wahrsagemethoden, um den Willen des Himmels richtig zu erkennen und zu deuten, weswegen das Knochenorakel zwar allmählich seine Vormachtstellung einbüßte, aber nach wie vor praktiziert wurde. Im Zhouli 周禮 - dem Ritenklassiker der Zhou-Dynastie - wird überliefert, dass die Zhou-Könige an ihrem Hof professionelle Wahrsager für die verschiedensten Bereiche beschäftigten; einige waren speziell für die Interpretation von Träumen zuständig, andere für das Knochen- und Schafgarbenorakel, wieder andere für astrologische und astronomische Berechnungen. Die ungeheure Bedeutung und die Vielfalt der Wahrsagemethoden wird durch unterschiedliche Quellen aus der Zhou-Zeit belegt.(22) Natürlich waren die meisten Techniken in der frühen Zhou-Zeit (1122-722) noch dem königlichen Hof vorbehalten, doch spätestens seit der Frühlings- und Herbst-Periode (722-484), parallel zum politischen Verfall des Reiches, fanden die unterschiedlichen Systeme auch in weiten Teilen der Bevölkerung Anwendung.(23) Die beliebtesten und wichtigsten Methoden am Königshof waren, wie verschiedene Textstellen aus dem Zuozhuan 左傳 und Guoyü 國語 belegen,(24) nach wie vor das Knochen- bzw. Schildkrötenorakel sowie das Schafgarbenorakel. Über die Entstehung des letzteren gibt es hingegen kaum historische Quellen.
Jüngste Entdeckungen auf den Orakelknocheninschriften bestätigen die Hypothese, dass es bereits in der Shang-Zeit verwendet wurde und sich wahrscheinlich aus dem Knochenorakel entwikelt hat.(25) Traditionell wurde diese Methode stets mit dem Yijing verbunden, das bis zur Entdekung des Grabfundes von Mawangdui im Jahre 1973, der einzig vollständig überlieferte Text dieser Art war. Es existieren zwar Fragmente von zwei weiteren Texten, dem Lianshan 連山 und Guizang 歸藏, die traditionell als Vorläufer des Yijing aus der Xia- (2205-1766) bzw. Shang-Zeit bezeichnet werden, doch handelt es sich wahrscheinlich um Fälschungen aus der Ersten Han-Zeit (202 v.Chr.- 23.n.Chr.). Herkunft und Autorschaft beide Werke, die zum ersten mal im Zhouli Erwähnung finden, sind sehr umstritten.(26) Die Zuordnung des Lianshan zur Xia-Dynastie beruht auf einer wörtlichen Interpretation seines Namens im Sinne von "Bergen, die hinter Wolken sichtbar werden und ohne Unterbrechung aneinandergereiht dastehen".(27) Parallel dazu wird das Guizang mit der wörtlichen Übersetzung "zurückkehren und darin enthalten sein" als "Lagerhaus, zu dem alles, was ihm entsprungen ist, früher oder später auch zurückkehrt", verstanden. Diese Auffassung beruht auf der unterschiedlichen Reihenfolge der Hexagramme. Während das Lianshan mit dem Hexagramm Gen, das symbolisch für den Berg steht, beginnt, wird das Guizang mit dem Hexagramm Kun, dem Sinnbild der Erde, eröffnet.(28) Die Zuordnung des letzteren zur Shang-Zeit ergibt sich aus dem matriarchalischen Charakter der Shang-Gesellschaft, während die Zuordnung des Lianshan zur Xia-Dynastie auf der Vorstellung beruht, dass die Menschen in der damaligen Zeit hauptsächlich in den Bergen gelebt haben und ferner zu dieser Zeit der Ackerbau erfunden wurde.(29)
Eine weitere Hypothese ist, dass es sich bei dem Lianshan um ein Werk des "Erfinders des Ackerbaus" - Shennong 神農 - handelt, der auch unter dem Namen Lianshan shi bekannt war, während das Guizang mit dem legendären Huangdi in Verbindung stehen soll, der auch Guizang shi genannt wurde.(30) Aus den Textstellen in denen das Guizang und Lianshan Erwähnung finden sowie den wenigen überlieferten Textfragmenten lässt sich schließen, dass beide, ebenso wie das Yijing, aus 64 Hexagrammen bestehen, die jedoch unterschiedlich angeordnet sind. Der eigentliche Text der beiden Werke ist vermutlich nicht mit dem des Yijing identisch, die Materiallage erlaubt hier jedoch keine weiteren Schlussfolgerungen.(31) Ob und inwieweit es sich bei beiden Werken zunächst nicht um einen Text, sondern eine reine Technik der Wahrsagung gehandelt haben mag, konnten die bisherigen Forschungsergebnisse nicht erhellen, aber wahrscheinlich ist, dass sowohl Guizang als Lianshan eine andere Technik zur Befragung des Schafgarbenorakels verwendeten als das Yijing.(32)
Wesentlich für unseren Zusammenhang ist jedoch nicht die Problematik, ob die beiden Werke tatsächlich die historischen Vorläufer des Yijing darstellen; vielmehr gibt bereits die Existenz weiterer Methoden zur Wahrsagung, die augenscheinlich mit der des Yijing in Zusammenhang stehen, aber doch nicht mit ihr identisch sind, gerade im Hinblick auf die Entdeckung des Yijing in Mawangdui, Anlass zu neuen Fragen in Bezug auf die Entstehung und Verbreitung des Yijing. Denn traditionell wurde sowohl in der chinesischen wie der westlichen Yijing-Forschung nie daran gezweifelt, dass das Yijing in seiner heutigen Version die einzige und authentische Überlieferung darstellt. Was könnte aus der Vermutung, dass der Text, wie er uns heute vorliegt, nur einer von (ursprünglich) mehreren war, folgen? Sind sie im Rahmen einer historischen Entwicklung entstanden oder waren gleichzeitig verschiedene Versionen des Yijing im Umlauf? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Bedeutung des Yijing in seiner Funktion als Handbuch zur Wahrsagung sowie für das Wahrsagesystem als solches? Vor dem Hintergrund des Grabfundes von Mawangdui gewinnt diese Problematik noch an Aktualität, und wird im Laufe der vorliegenden Arbeit noch eingehend untersucht behandelt werden.
Die Welt in einem Sandkorn sehen,
Einen Himmel in einer Wildblume,
Halte die Unendlichkeit in der Fläche deiner Hand,
Und die Ewigkeit in einer Stunde...
(William Blake)
Die einzige vollständige Überlieferung der Methode des Schafgarbenorakels ist das Yijing. Die Bezeichnung "Schafgarbenorakel" charakterisiert eine Methode der Wahrsagung, bei der eine bestimmte Anzahl von Schafgarbenstängeln nach festgelegten Regeln ausgezählt wurde,(33) (34 ) zusammenkommen lässt")und somit eine ideales Medium zur Befragung des Orakels darstellt.