41. Leseprobe Der Skalpsammler

Prolog: Freitagabend

Noch bevor sie richtig wach wurde, schmeckte sie das Blut. Sie konnte es fühlen. Mit jeder Faser ihres Körpers. Sie schmeckte Eisen, roch Kupfer und spürte die Wärme. Den undefinierbaren Geschmack nach Blut. Benommen schüttelte sie den Kopf. Sie hatte gewaltige Kopfschmerzen. Was hatte sie bloß getrunken, dass sie so einen gewaltigen Kater hatte?!

Sarah schüttelte erneut den Kopf. Sie hatte keinen einzigen Tropfen Alkohol angerührt. Sie stillte doch noch. Seit über einem Jahr hatte sie noch nicht einmal einen Schluck Sekt zu Sylvester getrunken. Was war hier los?

Die Augenlider waren schwer wie Blei. Unmöglich sie zu heben. Ihre Zunge fühlte sich doppelt so dick an. Wieder der metallische Geschmack. Sie wusste, dass es Blut war. Nur Blut roch so eigentümlich. Sie musste ihre Lider mit den Händen öffnen. Aber wo waren sie? Sarah fühlte ihre Hände in ihrem Rücken, die Handflächen gegeneinander. Ihre Handgelenke eingeschnürt. Sie versuchte ihre Hände zu bewegen, aber es ging nicht. Sie zerrte hin und her. Sie waren gefesselt! Die Erkenntnis durchschoss sie wie ein Blitz. Die Hände waren auf dem Rücken gefesselt! Was ging hier vor?

Mit höchster Anstrengung gelang es ihr, die Augenlider zu heben. Mit dem Gefühl in einem Albtraum zu stecken, betrachtete sie die surreale Szene. Ihr Lagerfeuer brannte unverändert. Ein Indianer tanzte blutbeschmiert um das Feuer herum. Bekleidet mit einem Lendenschurz und einem hängenden Kopfschmuck aus Federn, sah der Mann wenigstens wie ein Indianer aus. Auch sein Tanz ähnelte einem Indianertanz. Nur das gewaltige Messer in seiner rechten Hand störte die Szenerie. Und dass sein kompletter Oberkörper über und über mit Blut besudelt war.

Sarah sah umher. Es waren alle da. Alle Mitglieder ihrer Reisegruppe. Ihr Mann saß neben ihr mit dem Kopf auf der Brust, die Hände auf dem Rücken. Nur Elisa sah irgendwie anders aus, dachte Sarah. Irgendwas fehlte. Auf einmal fiel es ihr auf: Elisa hatte keine Haare mehr. Und einen Knebel im Mund. Und überall Blut. Und ihre weit aufgerissenen Augen leuchteten klar in der Dunkelheit. Sarah betrachtete den Mann am Feuer. Das war kein Federschmuck. Er trug Elisas Haare mit wenigen Vogelfedern.

Nun war Sarah hellwach. Das Entsetzen durchströmte sie. Ein gewaltiger Schrei bahnte sich seinen Weg. Aber sie brachte keinen Ton heraus. Selbst ohne Knebel war alles gelähmt in ihr. Sie steckte mitten in einem Albtraum und war doch wach. Entsetzen, Angst und Horror wechselten sich ab. Panisch blickte sie zu ihrem Mann. Er schien zu schlafen. Oder war er betäubt?

Mein Baby! Mit voller Wucht durchzuckte sie die Erkenntnis, dass ihr geliebtes kleines Baby nirgend zu sehen war. Mein süßer Sohn! Nun völlig in Panik zuckte ihr Blick hin und her. Ihre Hände zerrten an den Fesseln, genau wie ihre Füße. Es war keine Bewegung möglich. Sie war an einem Baum festgebunden. Nur ihren Kopf konnte sie bewegen. Wild schoss er hin und her. Wo war ihr Baby?

Im Bus! Sie gab sich die Antwort selber. Marvin schlief im VW-Bus. Sie suchte das Babyfone. Der Empfänger stand neben ihrem Rucksack im Schatten. Er war offensichtlich umgefallen, die grüne Diode war nicht zu sehen. Dafür jedoch deutlich das weiße Gehäuse. Sarah sah zu ihrem umgebauten Bus. Ihr Sohn musste da drin sein. Hinten, im Schlafbereich. In seiner kleinen Wiege. Schlafend. Hoffentlich!

Immer noch panisch suchte sie die Umgebung ab. Alle Erwachsenen saßen gefesselt um das Feuer herum. Elisa hing wie eine leblose Puppe in den Seilen. Tänzelnd kam der Mann auf sie zu, drückte ihren Kopf nach hinten, stach wie selbstverständlich sein Messer in ihren Bauch und zog es langsam hoch. Sein indianischer Gesang wurde lauter und lauter. Immer noch tänzelnd zog er das Messer heraus, steckte es in eine Scheide und griff mit beiden Händen in Elisas Wunde. Voll Blut zog er seine Hände heraus, schaukelte mit seinem Körper, sang mit voller Lautstärke die eintönigen Silben und leckte das Blut von seinen Händen. Elisas Körper zuckte im Schein der Flammen.

Sarah konnte nicht den Blick abwenden. Elisas Körper kämpfte gegen den drohenden Tod. Nur ihr Kopf hob sich nicht. Irgendwann hing sie wieder schlaff in den Seilen. Ihr Blut sickerte in einem düsteren Rinnsal Richtung Lagerfeuer.

Das nackte Entsetzen durch strömte Sarah. Das war alles unbegreiflich. Mein Baby?! Ihr Kind durchbrach den nackten Horror. War ihr Baby im Bus? Sarah blickte hektisch prüfend in die Runde. Hier waren nur die Erwachsenen. Und ihre Sachen standen im Schatten wie jeden Abend. Marvin musste im Bus sein und schlafen. Hoffnung durchströmte sie. Sie musste ihn retten!

Wütend zerrte sie an ihren Fesseln. Mit dem Resultat, dass das Seil nur tiefer in die Haut einschnitt. Schmerz fühlte sie nicht. Das Adrenalin in ihrer Blutbahn unterdrückte alles. Trotzdem gewann nach einiger Zeit die Erkenntnis Raum, dass sie mit wildem Hin-und-Her-Gefuchtel nicht freikäme. Verzweifelt versuchte sie, nachzudenken. Voll Entsetzen sah sie, dass der Mann einen neuen Haarschmuck hatte. Die Federn waren nun wie bei einem Irokesen gesteckt. Louis wimmerte blutend in seinen Knebel. Sarah hoffte für ihn, dass er rasch sein Bewusstsein verlieren würde. John, Ihr Mann, war mittlerweile wach. Sie sah seine weit aufgerissenen starren Augen. Er reagierte nicht auf ihre Blicke, er war wie paralysiert.

Sarah zwang sich, den Blick abzuwenden. Sie musste sich befreien. Ihr Baby brauchte sie! Sie nötigte sich dazu, ihre Fesselung zu erspüren. Es handelte sich um ein Seil, eindeutig. Kein Plastik. Sie konnte den groben harten Knoten ertasten. Und wusste sofort, dass sie diesen niemals aufknüpfen könnte. Sie prüfte den Spielraum, den sie hatte. Sie konnte ihre Handgelenke verschieben. Und ihre Arme minimal seitlich bewegen. Aber eine Hand bekäme sie nicht frei. Der Daumen war im Weg, erkannte sie. Und sie wusste auf einmal, wie sie freikäme. Sie musste sich den Daumen auskugeln. Das hatte sie als Kind immer wieder gemacht, bis ihre Eltern und ihr Arzt es verboten hatten, mit einer OP gedroht hatten und sie damit aufgehört hatte.

Nun war es ihre einzige Chance. Sie verdrehte die linke Hand, umfasste den Daumen mit der rechten und zog die Hände auseinander. Sie hörte das vertraute Klacken, als das Gelenk aus der Pfanne sprang. Und spürte den Schmerz. Den hatte sie früher nicht registriert. Nun konnte sie den Daumen beliebig einklappen und den Durchmesser der Hand verkleinern. Damit müsste sie freikommen. Mit aller Kraft zog sie den linken Arm hoch. Das Seil schnitt wieder in ihre Haut. Gleichzeitig fühlte sich aber, wie das Seil diesmal weiterrutschte. Es war schon über ihrem Handgelenk!

Krid Korwa: Der Skalpsammler Derzeit nur als E-Book erhältlich

1. Kapitel

Der Mann war direkt hinter ihr. Sie hörte seine Schritte auf dem nassen Asphalt, roch seinen Knoblauchatem, spürte seine ausgestreckte Hand. Gleich hatte er sie. Dann wäre ihr Leben zu Ende. Aus und vorbei. Alles. Der Schmerz in ihrer Brust wurde immer schlimmer. Der pure Horror griff mit kaltem Griff nach ihrer Seele. Lähmte ihren Körper.

Sie wurde langsamer.

Das Entsetzen presste sie umbarmherzig zusammen, umgab sie wie eine Wand, vergiftete ihre Glieder und lastete tonnenschwer auf ihren Muskeln.

Dann hörte sie das Geräusch.

Und wurde wach.

Entsetzensstarr riss sie die Augen auf. Es war nur ein Albtraum, versuchte sie sich zu beruhigen. Nur ein Albtraum. Sie spürte das Adrenalin durch ihren Körper rauschen, hörte das Pochen ihres Blutes im Ohr, fühlte die Lähmung ihrer Beine. Und Arme. Sie konnte sich keinen Millimeter bewegen. Das Flackern des Fernsehers erhellte die Dunkelheit der Nacht. Sie war schon wieder auf der Couch eingeschlafen.

Ein Zug fuhr gerade über eine Brücke. Mächtige Pfeiler erhoben sich wie Riesen aus Stein vom Grund der Schlucht und zeugten von menschlicher Ingenieurskunst. Ein Steinadler drehte seine Kreise hoch oben am Himmel. Und aus dem Lautsprecher ertönte leise die Stimme des Sprechers.

Es war eine Dokumentation.

So ganz langsam fühlte sie, wie der Horror wich. Sie bewegte die Finger ihrer rechten Hand. Es ging.

Die Augen immer noch weit aufgerissen veränderte sie die Position ihrer Beine und winkelte sie an. Mit der Bewegung verschwand allmählich das Entsetzen. Bald wäre der Traum nur noch eine blasse Erinnerung. Bis sie ihn ganz vergessen hätte.

Bis zum nächsten Albraum.

Mit der linken Hand griff sie nach hinten und tastete nach der Fernbedienung.

Dann fiel ihr das Geräusch wieder ein. War es im Traum gewesen? Sie kannte dieses Geräusch.

Die Haustür.

An der Haustür hing über der Klinke ein kleines Schild aus Emaille. Hotel Mama stand drauf. Ihre Tochter hat es ihr nach dem ersten Semester geschenkt. Beim Öffnen der Tür schlug es gegen das Schutzblech und ergab diesen blechernen Klang.

So wie in ihrem Traum.

Das Entsetzen war mit einem Schlag zurück.

War das möglich? Hatte sie nicht was ganz anderes gehört?

Die Stimme des Erzählers erklang wieder aus dem Fernseher. Mit zitternder Hand fühlte sie das harte Plastik der Fernbedienung. Wo war nur die Mute-Taste? Ganz ausmachen wollte sie nicht. Dann wäre es stockdunkel.

Sie wusste nicht mehr, wo sich die Taste befand. Ihr Blutdruck pochte wie ein monströser Güterzug auf ihrem Trommelfell. Sie fühlte die Zwillingstaste für die Lautstärke und drückte mit erstarrtem Zeigefinger krampfhaft drauf. Bis die Null auf dem Bildschirm erschien und der Ton aus war.

Zum zweiten Mal lag sie schreckensstarr still. Doch diesmal konzentrierte sie sich völlig auf ihr Gehör. Der Mund öffnete sich, als wolle sie schreien. Sie stellte das Atmen ein. Die Schleimhäute waren staubtrocken.

Es blieb alles ruhig.

Das Laminat im Flur knarzte immer. Egal, welche Schuhe man trug. Egal, wie man auftrat. Es war nicht möglich, den Hausflur ohne Geräusch zu betreten.

Und es knarzte.

Mein Gott, mein Gott, mein Gott! Hatte sie das wirklich gehört? Es war minimal gewesen, als hätte jemand ganz leicht sein Gewicht verlagert. War das wirklich gewesen?

Wenn sie jetzt anfing zu schreien und es war nichts, würde sie sich einmal mehr lächerlich machen. Wie letztes Jahr als sie die Kerzen der Nachbarn gegenüber für ein Feuer in der Wohnung gehalten hatte und die Feuerwehr umsonst gerufen hatte. Und das ganze Haus aus dem Schlaf gerissen hatte.

In der Küche sprang der Kühlschrank an. Als stünde er hier im Wohnzimmer, hörte sie das Gluckern des Kompressors.

Alles andere blieb still. Hatte sie sich die Geräusche nur eingebildet? Der Bücherschrank knackte. Es war wie jede Nacht. Wirklich?

Die Beine waren bleischwer, ein Krampf durchzuckte ihre linke Wade, doch sie hatte keine Wahl. Sie musste nachsehen. Völlig verkrampft schwang sie die Beine auf den Boden und setzte sich auf. Ihr Körper war anderer Meinung. Er wollte fliehen, sich unter die Decke verkriechen, aus dem Fenster springen. Sie musste sich abstützen, sonst wäre sie auf den Boden gerutscht.

Ihr Handy lag auf dem Couchtisch. Sie griff danach, aktivierte den Bildschirm und tippte auf Notruf. 110. Jetzt musste sie noch den grünen Hörer drücken.

Sie war bereit.

Bereit wofür?

Das Handy in der linken Hand, den Daumen auf dem Rahmen unter dem Hörersymbol, stand sie mühsam auf. Sie fühlte sich wie in einem Schraubstock. Jede Zelle stand unter Spannung. Wie elektrisiert. Nur das Rauschen in ihren Ohren wurde immer lauter.

Das Laminat knarzte wieder. Aber diesmal kam es von ihr. Mit kleinen Schritten bewegte sie sich Richtung Flur. Der Fernseher flackerte und tauchte die Bücherregale in bläuliches Licht.

Sie trat durch die offene Tür in den Flur.

Am Ende war die Haustür und davor der Garderobenständer. Völlig überfüllt. Sah es aus wie immer? Sie tastete nach dem Lichtschalter.

Nichts geschah.

Siedend heiß fiel ihr ein, dass die Lampe kaputt war. Das hatte sie heute Nachmittag festgestellt. Als sie vom Einkaufen wiedergekommen war. Die Birne war durchgebrannt. Und sie hatte keine neue im Haus gehabt. Obwohl sie eigentlich gedacht hatte, sie hätte noch paar im Vorrat.

Sie kniff die Augen zusammen. Der Fernseher erhellte das erste Drittel des Flurs. Ganz hinten am Garderobenständer hing ihr Mantel. Er ging bis zum Boden.

War es ihr Mantel? Ein brauner Wildledermantel? Er sah völlig schwarz aus. War es überhaupt ein Mantel?

Bewegungslos blieb sie stehen und starrte ins Dunkle. Der Kühlschrank verstummte. Die Wohnung wurde totenstill.

Dann bemerkte sie das Licht. Eine winzige rote Diode. Auf dem Hutregal. Über der Garderobe. Sie blinkte schwach aber regelmäßig. War es ihr Rauchmelder? Vor wenigen Wochen war er von der Decke gefallen. Der Kleber hatte sich gelöst. Hatte sie ihn einfach aufs Regal gelegt? Und die Batterie? Hatte sie sie wieder eingelegt?

Sie glaubte schon. Sicher war sie sich aber nicht.

Also war alles in Ordnung? So wie immer? War das wirklich nur ihr Mantel?

Sie hob das Handy und hielt es wie eine Pistole vor sich. Sie drückte den mittleren Knopf und das Display leuchtete auf. Mit gestrecktem Arm hielt sie es weit von sich.

Es war ihr Mantel.

Mit zusammengepressten Lippen entwich die Luft aus ihren Lungen. Sie hatte nicht einmal geatmet. Ganz langsam löste sich der Horror. Ihre verkrampfte Wade begann, sich zu entspannen.

Es war alles in Ordnung.

Sie drückte erneut die mittlere Taste und ging mit ausgestrecktem Arm vorwärts.

Die Haustür war geschlossen.

Erleichtert ließ sie das Handy sinken, drückte sicherheitshalber die Türklinke runter und rüttelte an der Eingangstür. Sie blieb verschlossen.

Hinter ihr ging wieder der Kompressor des Kühlschranks an.

Im selben Moment, als das Laminat knarzte.

Mit einem Ruck drehte sie sich um.

In der Küchentür stand ein Mann. Völlig in Schwarz. Mit Motorradmaske. Dunkle Augen starrten sie erwartungsvoll an. Auf der linken Schulter blinkte eine zweite rote Diode. Eine Actioncam. Dieselbe kleine Kamera, die ihr Bruder an sein Mountainbike installiert hatte. Sie war mit einem Schulterriemen fixiert und direkt auf sie gerichtet.

Der Horror überschwemmte ihre Synapsen mit voller Wucht. Urin rann ihre Beine hinunter. Die warme Flüssigkeit durchtränkte ihre weiße Jogginghose und floss an den butterweichen Knien vorbei. Völlig nutzlos hob sie ihr Handy und hielt es abwehrend vor sich. Sie öffnete den Mund, doch heraus kam nur ein krächzendes Röcheln. Sie hatte keine Luft mehr. Instinktiv nahm sie einen tiefen Atemzug. Füllte ihre Lungen mit dem Stoff zum Schreien. Ihre Schultern hoben sich, die völlig ausgetrocknete Kehle schluckte ein letztes Mal und machte den Weg frei für ihre einzige Chance. Zu schreien.

Zwei Arme hoben sich und schwarze Lederhandschuhe umfassten unbarmherzig ihren Hals. Drückten alles ab. Blut und Luftzufuhr. Ließen nichts durch. Wie ein Schraubstock. Aus dem Schrei wurde ein räudiges Winseln. Die Kraft in den Händen war ungeheuer. Gleich würde ihr Hals brechen. Das Pochen in ihren Ohren hörte auf. Panik drängte das Entsetzen beiseite. Schummrige Panik, verschwommene Angst. Die Dunkelheit löste sich langsam auf, wurde pixelig, neblig, schwammig.

War das das Ende? Würde ihr Leben so zu Ende gehen? Nach all den Entbehrungen? Erwürgt in ihrer eigenen Wohnung?

Das Handy fiel polternd zu Boden. Und löste ihre Erstarrung. Ihre Hände schossen nach oben und griffen nach den Handgelenken des Mannes. Sie fühlte den rauen Lederstoff, zog mit aller Gewalt, sah hektisch umher.

Doch es war zu spät. Die Dunkelheit kroch in ihre Glieder, peitschte durch ihren Geist, verdunkelte ihren Blick. Und umgab sie am Ende ganz.

Bewusstlos erschlaffte sie. Die schwarzen Handschuhe hielten sie nun aufrecht, verringerten den Druck und ließen das Blut wieder pulsieren. Der Mann bückte sich, griff mit links unter ihre Kniekehlen und hob sie mühelos hoch. Mit rechts positionierte er ihren Oberkörper, sodass die Kamera genau auf ihr Gesicht gerichtet war. Schwere Springerstiefel ließen den Laminat im Flur ohne Rücksicht auf Geräusche erzittern und gingen in die Wohnung hinein. Als würde er hier wohnen, öffnete er die Tür zum Schlafzimmer, ging ein wenig in die Hocke und legte sie in ihr Bett. Seine Bewegungen waren langsam und kontrolliert. Immer darauf bedacht, der Kamera ein gutes Bild zu bieten.

Ihre Hände kettete er mit Handschellen an den massiven Metallrahmen des großen Bettes, die Fußknöchel mit dünnen Bergsteigerseilen und präsentierte der Kamera schließlich einen Mundknebel mit rotem Ball. Er presste ihn in ihren Mund, verschloss die Lederriemen hinter ihren Kopf und richtete sich zufrieden auf. Er rüttelte ein letztes Mal an ihren Händen und Füssen.

Jetzt war sie ihm ausgeliefert.

Er ging zurück in den Flur und griff nach oben. Die rote Diode auf dem Hutregal verschwand in seiner Hand.

Es war kein Rauchmelder. Es war eine zweite Kamera.

Er ging zurück ins Schlafzimmer, legte die Kamera auf dem Frisiertisch ab und streifte seinen schwarzen Rucksack ab. Er griff hinein und holte ein schmales Stativ heraus. Mit geübten Bewegungen löste er die Schraubverbindungen, zog es auf eine Höhe von einem Meter, befestigte die zweite Kamera darauf und stellte sie mit dem Stativ auf den Frisiertisch. Die Linse war direkt aufs Bett gerichtet.

Er holte ein Smartphone hervor, tippte wenige Male aufs Display, korrigierte den Winkel der Kamera, nickte zufrieden und legte das Handy neben das Stativ. Ein geteilter Bildschirm war zu sehen. Oben die Kamera auf dem Stativ, unten die Kamera auf seiner Schulter.

Als wäre das alles ein Film.

Die Frau regte sich. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand zuckte. Die Handschelle klirrte und schabte knirschend am Metallpfosten. Ihre Gedanken waren deutlich zu erkennen. Wieso konnte sie ihre Hand nicht frei bewegen? Als sich ihre Augen öffneten, präsentierten sie Verwirrung.

Bis sie den schwarzen Mann erblickte und den Knebel im Mund fühlte. Das Entsetzen kam mit voller Wucht zurück. Ihr Kopf schlug hin und her und endlich schrie sie. Schrie sie nach Hilfe. Doch es war zu spät. Der Knebel erstickte alle Töne.

Der Mann stand reglos neben dem Frisiertisch und ließ sie an ihren Fesseln zerren. Sie wussten beide, dass die Oma über ihnen völlig taub war. Als sie die Sinnlosigkeit ihrer zuckenden Bewegungen einsah, kamen die Tränen. Könnte sie reden, würde sie ihn nun um Gnade bitten. Ihm alles anbieten, was sie hatte, nur dass er sie wieder freiließ.

Das taten sie alle.

Und was sie alle nicht verstanden, war, dass er genau jetzt das hatte, was er wollte.

Eine wehrlose Frau. Mit der er alles machen konnte.

Es gab nichts, was sie ihm anbieten konnte.

Genüsslich griff er erneut in seinen Rucksack und holte eine zusammen-gerollte, schwarze Tasche heraus. Er löste den Klettverschluss und entrollte sie langsam vor ihren Augen.

Die Tränen versiegten. Denn der Horror kannte keine Tränen. Ihre Augen weiteten sich und folgten schreckenstarr den silbernen Instrumenten. Als Erstes erschien ein Skalpell, als Zweites ein Metallstab mit Stromkabeln, als Drittes eine gezackte Zange. Danach blieben ihre Augen stehen. Sahen die anderen Instrumente, ohne ihnen Namen geben zu können.

Ein Albtraum kümmerte sich nicht um Namen. Doch aus einem Albtraum konnte man erwachen. Aus diesem gab es kein Entrinnen.

Denn der Horror hatte gerade erst begonnen.

10. Kapitel

Mein Gott war der Tag übel gewesen. Luke sah in den Spiegel seines Hotelzimmers und strich sich über den gestutzten Bart. Er wusste immer noch nicht, was er hier eigentlich sollte. Die Demonstranten würden in hundert Jahren noch nicht einmal ansatzweise an die Sicherheitskonferenz herankommen. Es gab drei Sicherheitsgürtel, er war dem letzten zugeteilt. Also beobachtete er Vögel, gepanzerte Dienstwagen und Bäume, die in voller Blütenpracht standen. Die Demonstranten konnte er nur mit dem Fernglas erkennen.

Er seufzte und öffnete den Wasserhahn. Drei Tage noch. Dann war es vorbei. Immerhin hielt Linda die Stellung. Er griff nach dem weißen Handtuch, trocknete sich sein Gesicht und seine Glatze, drückte einmal auf sein Eau de Toilette Spray und zog sich ein frisches Hemd über. Es wurde Zeit, der Hotelbar einen Besuch abzustatten. Emma hatte ihn vorhin auf seinem Handy angerufen und um ein Treffen gebeten.

Sie spielten heute Abend Jazz. Genau seine Musik.

Die Bar war in schummriges Licht getaucht, Kerzen in milchigen Gläsern verbreiteten ihren flackernden Schein und tauchten die bernsteinfarbene Flüssigkeit in matt glänzendes Gold. Jazz und Whiskey, gab es was Besseres? Vielleicht gab es ja doch Hoffnung für seine Zeit in Berlin.

Emma kam kurz nach ihm. Sie schien aufgewühlt und gleichzeitig gefasst. Als stünde sie auf einer schwankenden Hängebrücke. Den Abgrund vor Augen ging sie Schritt für Schritt vorwärts. Getriebenen von einer eisernen Entschlossenheit.

Sie begrüßte ihn freundlich und dankte ihm für sein Kommen.

Luke stand auf und schob ihren Stuhl zurecht. Sie sah wirklich gut aus.

»Er war in meiner Wohnung«, begann Emma ohne Umschweife. Ihr rechtes Auge zuckte leicht, ansonsten blickte sie starr in die Kerze.

»Er war in ihrer Wohnung?«, fragte Luke.

Sie nickte. »Er war sehr sorgfältig. Nicht zu bemerken. Wenn das Schloss nicht etwas geharkt hätte und ich die unterste Schublade meiner Kommode nicht mit einem Haar gesichert hätte.«

»Und dieses Haar war nicht mehr an seinem Platz?«

Sie nickte wieder. »Es ist die Schublade mit meiner Unterwäsche. Ein Muss für jeden Stalker.« Sie lachte bitter auf. »Ich habe alles weggeschmissen und neu gekauft.«

Luke schwenkte den Whiskey in seinem Glas und nippte kurz daran.

Die Kellnerin kam an ihren Tisch und sah Emma fragend an. »Einen Orangensaft bitte«, bestellte sie.

»Und sie sind sich sicher, dass er es war?«

Sie sah ihn müde an. »Wer sonst? Mehr Stalker habe ich nicht. Einer reicht.«

Luke nippte erneut an dem Whiskey und blickte nach der Band. Der Saxofonist war mit seinem Solo dran.

»Und warum genau waren sie in ihrer Wohnung?«

Emma blinzelte nicht einmal. »Weil ich das nicht mehr mache. Ich renne nicht mehr weg. Soll er doch kommen, ich werde mich nicht mehr verstecken. Wenn meine Schwester nicht wäre, hätte ich meine Wohnung niemals verlassen. Ich bin nur ihr zuliebe ins Hotel gezogen.«

Luke nickte. Er verstand sie. Gefährlich war es trotzdem.

»Aber gesehen haben sie ihn nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe frische Wäsche eingepackt und bin über viele Umwege zurück ins Hotel gelaufen. Es ist mir niemand gefolgt. Und mit seinen 1,90 ist er nicht zu übersehen.«

Er sah sie prüfend an. »Er könnte auch jemand anders gebeten haben, ihnen zu folgen.«

Sie schüttelte wieder den Kopf. »Dessen bin ich mir bewusst. Mir ist niemand gefolgt. Das hätte ich bemerkt. Bei den ganzen Umwegen.«

»Okay.« Luke blickte wieder auf die Bühne. Jetzt war der Bassist an der Reihe. Die Band war wirklich gut.

»Morgen fliegen wir für eine Woche nach Elba. Und übermorgen installiert die Wohnungsgenossenschaft eine Stahltür. Sie kommt unsichtbar von außen hinter meine Wohnungstür. Ich musste einigen Druck ausüben, mit der Presse drohen, aber dann haben sie eingelenkt. Den Urlaub hat meine Schwester vor eine Stunde gebucht.

Sie meinte, wenn wir schon im Hotel wohnen müssen, können wir auch in die Sonne fliegen. Den Kopf freikriegen. Anstatt hier zu versauern. «

Er sah sie überrascht an. »Das ist eine gute Idee.«

Sie nickte. »Ja, und sie haben eine Woche Zeit, dieses Schwein zu finden. Vor mir. Danach kann ich für nichts garantieren. Ich lasse mir mein Leben nicht noch einmal wegnehmen.« Bevor Luke etwas sagen konnte, trank sie ihren O-Saft aus, legte einen fünf Euro Schein auf den Tisch und verließ die Bar. Täuschte er sich, oder war das eine Ausbuchtung unter ihrem Blazer? Hatte sie eine Waffe?

Er überlegte kurz, ihr hinterher zu laufen, blieb aber sitzen. Es war besser so. Das Problem war der Stalker, nicht ihre Waffe. Hauptsache, sie handelte in Notwehr.

Jetzt begann der Schlagzeuger mit seinem Solo. Es war immer noch derselbe Song. Fantastisch. Luke bestellte einen neuen Glenmorangie und wippte im Takt der Drumsticks. Es war eine gute Idee von den beiden Schwestern, eine Woche zu verschwinden.

Auch wenn er einen leichten Stick verspürte, Emma nicht mehr wiederzusehen. Zumindest nicht geplant. Denn in einer Woche wäre er wieder in Köln. Aber ihren Stalker würde er finden. Und dafür sorgen, dass er sie in Ruhe ließ.

Er hatte ja sonst auch nichts zu tun hier in Berlin.

11. Kapitel

Er fluchte leise vor sich hin. Der Monitor vor ihm flackerte und tauchte die E-Mail in bläuliches Licht. Die Schlampe verließ morgen Berlin. Das war nicht geplant. Jetzt hatte er keine zwei Tage mehr.

Er schlug wütend auf die Tastatur. Er hasste es, einen perfekten Plan zu verlassen. Aber das gehörte dazu. Improvisation. Trotzdem war es ärgerlich. Er schlug erneut gegen die Tastatur und drückte sich mit dem Stuhl zurück.

Na gut, dann musste er seinen Plan eben ändern. Er stand auf und trat vor das Kellerregal. Er griff hinter die obere Abdeckung und drückte auf den versteckten Öffner. Mit leisem Surren schwang das Regal nach vorne. Dahinter lag sein versteckter Planungsraum. Acht Quadratmeter groß und vollständig tapeziert mit Bildern, Tabellen, Mindmaps und Ablaufbeschreibungen seiner Opfer. Alles minutiös aufgeschrieben und überwacht. Wie alles in seinem Leben.

Ihr kastanienbraunes Haar stach ihm als Erstes ins Auge. Es erinnerte ihn an seine Mutter. Sie hatte immer endlos vor ihrer Frisierkommode gesessen und es gekämmt. Wobei sie nicht vergaß, ihre Martinis leer zu trinken. Und auch niemals vergaß, ihn zu bestrafen, wenn er auch nur ein Haar aus der Fasson brachte.

Während sie seine Gegenwart ansonsten völlig vergaß.

Er schüttelte vehement den Kopf. Er musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Seine Wut noch weiter zu schüren, brachte überhaupt nichts. Morgen ging er auf Sendung. Er musste jetzt die Nerven behalten.

Er wandte sich ab und betrachte die blonde Schönheit an der gegenüberliegenden Wand. Ein eingeschüchtertes Mäuschen, völlig unsicher und willenlos. Dabei waren die Stalkingattacken völlig primitiv. Kaum zu glauben, dass sich davon jemand verängstigen ließ. Er nahm ihr Bild von der Wand und strich mit seinen sorgsam manikürten Händen über ihre Wange. Sie würde einfach in sein Auto steigen. Er musste nur sagen, er käme von der Polizei. Ganz einfach.

Er küsste sie sacht auf die Stirn und schloss die Augen. Er fühlte die Wut in seinem Bauch wie ein entferntes Beben. Pochend und drohend, aber auf dem Rückzug. Er dachte an sein letztes Opfer. Die tonlosen Schreie, die panische Angst, die blutenden Wunden, als er ihre Beine zerfetzte. Die absolute Macht, die völlige Kontrolle.

Und endlich wurde er wieder steif. Seine Wut zerschmolz und das blonde Mäuschen nahm Gestalt an.

Er würde sie kreuzigen.

Ja, das war eine gute Idee.

Er öffnete wieder die Augen und dachte im ersten Moment, er sähe seiner toten Schwester in die Augen. Sie lachte schon lange nicht mehr über ihn. Dafür hatte er gesorgt.

Doch damals war er noch jung gewesen und unerfahren. Er hatte sie einfach geschubst. Und hastig einen Abschiedsbrief fabriziert.

Kaum zu glauben, dass er damals damit durchkam. Aber welcher Bulle interessierte sich schon für eine asoziale Familie wie ihre? Sie dachten doch alle, dass sie sowieso besser alle tot wären.

Doch das hatte er hinter sich. Jetzt lachte niemand mehr über ihn. Und erst recht hielt ihn niemand mehr für asozial.

Aber gekreuzigt hätte er seine Schwester schon gerne. Er strich wieder über die Wange der blonden Frau. Er bräuchte zwei lange Holzlatten und zwei Klötze für die Füße. Sie durfte nicht zu früh sterben.

Er strich sich über den Schritt. Jetzt war er sogar froh, dass die Braunhaarige Berlin verließ. Die Blonde war viel besser.

Er nahm die Papiere von der Wand und ging zurück in sein Studio. Er drückte ein paar Tasten auf seinem Mac und blickte über die verborgene Kamera mitten in das Schlafzimmer der blonden Frau.

Sie schlief schon. Auf dem Nachtisch erkannte er, dass sie heute nur eine Schlaftablette genommen hatte. Anscheinend waren die heutigen Stalkingattacken nicht ganz so schlimm gewesen.

Sie sah aus wie ein Engel.

Und Engel gehörten ans Kreuz.

12. Kapitel

»Was hast du herausgefunden?« Luke schüttete sich die Tüte Instantkaffee in die Tasse und schüttete kochendes Wasser drauf. Gelobt seien Hotelzimmer mit Wasserkocher.

»Nicht viel!« Linda hörte sich so müde an, wie er sich fühlte. Es war 6.00 Uhr in der Früh, die einzige Möglichkeit für sie beide vernünftig miteinander zu reden.

»Krasnic wird verurteilt werden, das ist jetzt schon klar. Die Indizien sind wasserdicht. Wir haben die gleichen Stahlnägel in seiner Garage gefunden, er hat massenweise E-Mails geschrieben, in denen er sie bedroht hat. Da kommt er nicht raus.«

»Geständnis?«

»Fehlanzeige.«

»Also sind wir keinen Schritt weiter.«

»Wenn wir davon ausgehen, dass Krasnic der Falsche ist.«

»Hast du da irgendwelche Zweifel?«

Er hörte ein leises Zögern im Hörer.

»Die Stahlnägel sind schon ein Argument.«

»Sind untergeschoben«, entgegnete er.

»Hat Klasnic auch gesagt.« Sie räusperte sich. »Aber du hast recht. Er macht auch jetzt nicht den Eindruck, als wäre er zu so einer Tat fähig. Als er erfahren hat, dass Anklage erhoben wird und wie ernst die Lage ist, verpuffte seine Aufgeblasenheit augenblicklich. Er heulte wie ein kleiner Junge. Fast hätte ich erwartet, er würde nach seiner Mutter rufen.«

»Okay.« Luke rührte in seinem dampfenden Kaffee. In der Beziehung war er tatsächlich völlig schmerzfrei. Instantkaffee oder Kaffeevollautomat, das war ihm egal. Wobei der Kaffee auf der Dienststelle mit Abstand der Schlimmste war. »Und was ist mit unserem Kölner Stalker in Berlin? Dr. Adrian Müller?«

»Ist verschwunden.« Er hörte, wie Linda in ihren Unterlagen blätterte.

»Seit zwei Wochen. Hat sich nicht krankgemeldet oder sonst wie abgemeldet. Ist einfach verschwunden.«

»E-Mails? Telefon?«

»Der Antrag läuft. Wird hoffentlich heute genehmigt.« Er hörte wieder Papierrascheln. »Ich habe dir bereits eine E-Mail geschickt mit allen Infos, die ich habe. Inklusive der einstweiligen Verfügung.«

»Fein.« Luke griff nach seinem Laptop startete ihn. »Könnte er unser Mann sein?«

Es rauschte im Hörer, als Linda den Kopf schüttelte. »Genau so unwahrscheinlich oder wahrscheinlich wie Krasnic.«

»Na gut.«

»Ansonsten läuft meine Anfrage. Es gibt bisher zwanzig Treffer, also zwanzig Todesfälle in den letzten zehn Jahren, die für uns infrage kommen. Fast alle wurden als Selbstmord eingestuft, zwei Tötungen mit rechtskräftiger Verurteilung des Stalkers als Täter, aber keine Folter oder sonstiger Sadismus.«

»Verschwundene Opfer?«

»Drei. Eine ist so wie Emma Schürkow untergetaucht, eine ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nach Marokko ausgewandert und ein Opfer ist tatsächlich verschwunden. Wobei die Bestätigung von den Kollegen aus Marokko noch aussteht.«

»Und dass die Erste untergetaucht ist, ist sicher?«

»Ja. Das hat ein Hamburger Kollege organisiert. Und er hat mir gestern bestätigt, dass die Frau am Leben ist.«

»Bleibt die Frau, die verschwunden ist.«

»Magdalena Fischer, geboren 1982, zuletzt wohnhaft in Köln Lindenthal. Wurde am 13. Oktober 2011 von ihren Eltern als vermisst gemeldet. Seitdem fehlt von ihr jede Spur. Nach Aussage der Eltern wurde sie seit ihrem Abitur von einem ihnen Unbekannten gestalkt.«

»Also seit 2001?«, überschlug Luke.

»Genau. Bis 2004. Dann war Ruhe bis 2010 und alle Beteiligten dachten, es wäre vorbei, bis der Horror 2010 wieder begann.«

»Und die Eltern wissen nicht, wer es war?«

»Nein. Magdalena wollte es ihnen nicht verraten. Es hatte irgendwas mit dem Abiball zu tun. Da muss irgendwas geschehen sein, was sie zutiefst beschämt hat. Sie erzählte erst Anfang 2004 ihren Eltern von dem Stalking. Dann war plötzlich Ruhe, sechs Jahre lang. 2010 ging es wieder los. Ihr Vater erkrankte zeitgleich an Morbus Hodgkin, also wollte sie ihre Familie nicht zusätzlich belasten und hielt es geheim. Wir wissen nur durch ihre Anzeige davon. 2011 verschwand sie spurlos.

»Okay.« Luke trank seinen Kaffee leer.

»Geh dem nach, das hört sich nach einer brauchbaren Spur an. Frag ihre ehemaligen Schulkollegen, Nachbarn, Freunde. Sie hat sich garantiert irgendjemanden anvertraut.«

»Ich habe mir schon das Jahrgangsbuch besorgt.«

»Perfekt. Halt mich auf dem Laufenden. lch werde sehen, was ich hier noch herausfinden kann.«

»Mach ich. Graumüller lässt mich seit der Pressekonferenz auch völlig in Ruhe. Stolziert durch die Gegend wie ein königlicher Pfau. Unerträglich.«

Luke lachte leise vor sich hin. Sein erzwungener Aufenthalt in Berlin wurde immer attraktiver. »Dann halt durch, Linda!«

»Du auch, Luke! Bis später!«

»Bis später!«

Luke legte auf, stellte die Tasse aufs Tablett und machte sich auf den Weg ins Bad. Er musste gleich los. Seinen Beobachterposten beziehen. Den Demonstranten aus der Ferne zuwinken.

Aber immer noch besser, als Graumüller zu ertragen.

13. Kapitel

Mein Gott war das einfach gewesen. Er sah auf die bewusstlose blonde Frau herunter, die vor ihm auf dem Kellerboden lag. Sie war gerade erst von ihrer Arbeit als Verkäuferin nach Hause gekommen, als er bei ihr geklingelt hatte. Er stellte sich als Kommissar Schlegel vor. Den Namen hatte er sich gemerkt, als er die Berichte der Kölner Zeitungen über sein letztes Opfer gelesen hatte.

Sie müsste zu einer Identifizierung mitkommen. Es ginge um ihren Stalker.

Die Schultern der blonden Frau waren vor Erleichterung sichtbar nach unten gefallen. »Ist er tot?«, hatte sie geflüstert.

Sie tat ihm schon fast leid. Fast.

Seinem gefälschten Ausweis hatte sie nur einen kurzen Blick gewidmet, wie auch seinem falschen Bart und Brille. Sie ging einfach mit, stieg in den gestohlenen Passat ein und fuhr mit ihm zum Haus. Zum Haus ihres Stalkers.

Als sie dann doch mal fragte, warum sie ausgerechnet hierhin führen, erklärte er ihr, dass sie ihren Stalker leblos in seinem Haus vorgefunden hätten. Und es wäre am einfachsten, sie würde ihn hier identifizieren. Dann wäre ihr Martyrium zu Ende.

Als sie das hörte, ging sie einfach mit ins Haus.

Dass ihr Stalker oben sediert im Bett lag und vor morgen früh nicht aufwachen würde, sagte er ihr nicht. Genau so wenig, dass sie diese Nacht nicht überleben würde.

Alles brauchte sie ja nicht zu wissen.

Sie gingen zusammen ins Haus, er schloss die Haustür und zeigte mit der Hand auf die Kellertür. Sie öffnete mit zittriger Hand die Tür, schaltete selbst das Licht an und ging langsam die Treppe herunter.

Selbst da hatte sie keinen Verdacht geschöpft. Erst als sie unten im leeren Kellerraum standen, drehte sie sich mit großen Augen um. Doch das aufkommende Misstrauen erlosch, als er den Kolben seiner Waffe gegen ihre Schläfe hämmerte. Sie hätte ihm nicht vertrauen sollen. Selbst schuld.

Es war zu spät gewesen. Jetzt war sie fällig.