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Sereina Heim

Seelenkinder

und wie sie in ihrer
Familie wirken

Einfache Hilfe für Babys und Kinder bei Einschlafproblemen, übermäßigem Schreien, Hyperaktivität, Geschwisterstreit und vielem mehr

Kösel

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Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
Lektorat: Mihrican Özdem, Landau
ISBN 978-3-641-22199-7
V002
www.koesel.de

»Alles was ich erkenne, erkenne ich nur, weil ich liebe.«

Leo Tolstoi

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das Familiensystem

Die innere Verbundenheit

Das dreifache Ja

Die Familie als Netz

Jeder hat seinen Platz

Wenn Kinder Verantwortung übernehmen

Seelenkinder und ihre Bedeutung für die Familie

Der Begriff Seelenkinder

Die verlorenen Kinder in unserer Gesellschaft

Unbemerkte Schwangerschaften

Der verlorene Zwilling

Die Wirkung des Vergessens

Geschwister als Botschafter

Abtreibungen und ihre Folgen im Familiensystem

Wenn sich Seelenkinder für ihre Geschwister opfern

Die Wünsche der Seelenkinder

Die Integration der Seelenkinder

Rituale für das Seelenkind

Über das Seelenkind sprechen

Der positive Effekt des Wissens

Der emotionale Schmerz von Schreibabys

Die Diagnose Schreibaby

Die Geburt als Übergang

Von der Symbiose zur Eigenständigkeit von Mutter und Kind

Die Geburt als Trauma für das Kind

Die Geburt als Trauma für die Mutter

Sehnsucht nach dem verlorenen Zwilling

Warum schlafen so schwierig sein kann

Häufiges Aufwachen ist normal

Wie der Tod in der Familie den Schlaf beeinträchtigt

Angst vor plötzlichem Kindstod

Der Einfluss ungeborener Geschwister auf den kindlichen Schlaf

Schlaflos aus Liebe

Gestörter Schlaf durch Überreizung und mediale Wahrnehmungen

Imaginäre Freunde

Imaginäre Freunde als Problembewältigung

Das Seelenkind wahrnehmen

Wenn der Falsche anwesend ist

Das Seelenkind sichtbar machen

Die Selbstheilung des Trennungstraumas

Hyperaktive Kinder

Pränatale Erfahrungen prägen die Hirnentwicklung

Alles spüren können, außer sich selbst

Wenn Kinder auf dem falschen Platz stehen

Hyperaktivität als Folge künstlicher Befruchtung

Exkurs: Nicht verwendete befruchtete Eizellen

Sonderfall Samenspende

Wutausbrüche von Kindern

Die normale Wut

Das Trauma der Abweisung

Wut auf die Eltern

Vom Familiengeheimnis zum Familienschatz

Streit und Mobbing als Zeichen ungeklärter Geschwisterhierarchie

Streiten ist normal

Übermäßiger Streit unter Geschwistern

Mobbing als Folge des Vergessens eines Seelenkindes

Die Familiensituation als Grundmuster der Gruppenerfahrung

Krankheitssymptome als Zeichen für familiäres Ungleichgewicht

Krankheit als Botschaft der Seele

Übergewicht

Bettnässen

Heuschnupfen

Bauchschmerzen

Dauernde Müdigkeit

Magersucht

Weiterführende Anregungen

Die Lösung findet jeder für sich

Jede Erklärung erfasst nur einen Ausschnitt der Realität

Die spirituelle Dimension

Die mediale Wahrnehmung von Seelen

Tipps für Therapeuten

Schlusswort

Übersicht der Übungen

Übungen fürs Seelenkind

Übungen für die Eltern

Übungen für die Geschwister

Die zentralen Übungen des Buches

Übersicht aller Übungen nach Themen geordnet

Dank

Endnoten

Einleitung

Elternratgeber zielen normalerweise auf eine Änderung im Verhalten des Kindes ab. Dieser ist anders: Das Ziel ist eine Veränderung im Bewusstsein der Eltern. Denn durch die Korrektur des Familienbildes lässt sich auf wundersame Weise das Problem des Kindes lösen. Somit kommt dieses Rat gebende Buch ganz ohne Erziehungstipps aus.

Ich möchte Ihnen zeigen, wie Sie Ihrem Kind helfen können, wenn es unter Einschlafschwierigkeiten, Wutanfällen, hyperaktivem Verhalten oder körperlichen Beschwerden leidet. Viele Ursachen für kindliche Verhaltensauffälligkeiten sind bekannt. Doch bei einem nicht unerheblichen Teil der Kinder greifen keine Therapien, und die Eltern sind ratlos.

Ich möchte Sie mit diesem Buch ermuntern, die Probleme Ihrer Kinder aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Meine hellsichtigen Fähigkeiten ermöglichen es mir, hinter die Kulissen des Familienalltags zu schauen. So habe ich erkannt, dass in Familien mit Kindern, die nie geboren wurden, die lebenden Geschwisterkinder oft große Schwierigkeiten haben. Weil sie die Seelenkinder spüren.

Seelenkinder, das sind Kinder, die nur ein paar Tage oder Wochen im Mutterleib verweilen und aufgrund einer Fehlgeburt oder Abtreibung sterben. Den Begriff Seelenkinder habe ich gewählt, weil er mir für diese früh verstorbenen Kinder so passend erscheint. Ihre Seele bleibt mit der Familie verbunden, oft ohne dass dies der Familie bewusst ist. Die Geschwisterkinder entwickeln daraufhin problematische Verhaltensweisen.

Dieses Buch beschreibt aus der Geschwisterperspektive die Wirkung, die Seelenkinder auf ihre Familie haben können. Ausgehend von konkreten Problemen, mit denen viele Familien konfrontiert sind, möchte ich die spirituellen Zusammenhänge aufzeigen, die hinter den Problemen wirksam sind. Kinder spüren verborgene Familienthemen auf, als wären es die schönsten Schätze.

Meine Form der Familientherapie ist geprägt von einer »praktischen« Spiritualität gepaart mit pädagogischem Fachwissen. Es ist mir wichtig, ein problematisches Verhalten eines Kindes immer im familiären Zusammenhang anzuschauen. Es liegt mir aber fern, mit dem Finger darauf zu zeigen, was in Ihrer Familie vielleicht falsch läuft. Vielmehr ist es mir ein Anliegen, Ihnen zu zeigen, wie Sie allein durch die Veränderung Ihres Bewusstseins die Konstellation, die zu dem Problem geführt hat, ändern können. Was vorher blockierend war, wird zu etwas Stärkendem. Um familiäre Probleme zu lösen, genügt es oft, dass die Eltern ihre innere Haltung bewusst verändern. Dabei möchte ich Ihnen helfen. Ich zeige Ihnen konkrete Übungen, die Sie dabei unterstützen. Vor allem aber erkläre ich Ihnen die Welt Ihrer Kinder, wie Sie sie vielleicht noch nie gesehen haben.

Das Familiensystem

Bevor ich Ihnen mehr von den Seelenkindern erzähle, möchte ich auf die energetischen Zusammenhänge innerhalb einer Familie eingehen. Nur mit diesem Wissen können Sie später die Bedeutung der Seelenkinder für die Familie richtig erfassen und meine Argumentation nachvollziehen. Was bedeutet es, eine Familie zu sein? Weswegen ist die Familie für unser Leben so entscheidend?

Die innere Verbundenheit

Eine Familie ist keine Ansammlung zufällig anwesender Personen, sondern ein energetisches Gefüge, in dem jeder mit jedem verbunden ist. Der therapeutische Ansatz Bert Hellingers basiert auf diesem Verständnis. Seine Erkenntnisse fließen in meine Ausführungen hinein. Ich vermittle Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, hier eine ganzheitliche Sichtweise auf familiäre Schwierigkeiten, die systemisch begründet ist. Die Familie als ein System zu begreifen bedeutet, die einzelnen Personen nicht als unabhängige Einzelteile zu verstehen, sondern als Teile des großen Ganzen. Die Mitglieder einer Familie beeinflussen sich gegenseitig im Fühlen und Erleben. Bei Schwierigkeiten lohnt es sich deswegen, nicht isoliert auf das Problem zu schauen. Stattdessen sollte man versuchen, die Hintergründe zu erfassen, die zu dem Problem geführt haben. Sie können sich das vorstellen wie einen Eisberg, der aus dem Wasser ragt. Wenn ein Kind ein problematisches Verhalten zeigt und beispielsweise täglich mehrere Wutanfälle bekommt, sind die Wutanfälle unter Umständen nur die Spitze des Eisberges. Unter der Wasseroberfläche verbirgt sich ein komplexes Gefüge von ungelösten Themen, Traumata oder Verstrickungen, die in der Familie vorhanden sind und indirekt auf das Kind einwirken, auch wenn das Kind selbst nichts davon erlebt hat. Die Wutanfälle verweisen bloß auf den verborgenen Teil des Eisberges. Dies ist möglich durch die enge energetische Verbindung, die zwischen den einzelnen Familienmitgliedern besteht. Diese Verbindung entsteht nicht durch gemeinsam verbrachte Zeit oder geteilte Erlebnisse. Sie entsteht bei der Zeugung des Kindes.

Das dreifache Ja

Eine Zeugung kann nur stattfinden, wenn ein dreifaches Ja gegeben ist: das Ja der Seele der Mutter, das Ja der Seele des Vaters und das Ja der Seele des Kindes. Nur wenn alle drei Seelen innerlich das neue Leben bejahen, kann ein Kind gezeugt werden. Das heißt umgekehrt: Wenn nicht alle drei Seelen Ja zueinander sagen, findet keine Zeugung statt. Die Eltern entscheiden sich seelisch also immer für das Kind. Kein Kind entsteht zufällig, selbst wenn die körperliche Zeugung unter misslichen Umständen vollzogen wird.

Gerade wenn man eine belastete Beziehung zu den eigenen Eltern hat, kann es sehr hilfreich sein, wenn man um dieses dreifache Ja weiß. Die Zustimmung zum Kind erfolgt, bevor die Eltern das Kind sehen oder spüren können. Somit ist diese Zustimmung bedingungslos und nicht an spätere Verhaltensweisen des Kindes oder Bedingungen der Eltern geknüpft. Das Kind kann sich die Zustimmung nicht verdienen, sie ist einfach da als Geschenk. Sie ist die Voraussetzung für das Entstehen des Kindes, und alles, was die Seele des Kindes dazu beitragen kann, ist, ebenfalls seine Zustimmung zu diesen Eltern, so wie sie sind, zu geben. Weil man auf seelischer Ebene Ja zueinander sagt, ist man eine Familie, die für immer zusammengehört. Die Zustimmung zueinander schafft die Verbindung, noch bevor das Kind geboren ist. Das heißt, die Verbindung ist ab dem Moment der Zeugung gegeben. Das Leben beginnt ebenfalls mit der Zeugung, das Ja des Kindes zu seinen Eltern ist gleichzeitig die Bejahung des Lebens und wirkt als Initialkraft, die es der Seele ermöglicht, sich dem Leben zuzuwenden.

Neben dem Ja zum Leben gibt es noch einen weiteren Impuls, der die Seele gewissermaßen ins Leben hineinzieht. Haben Sie auch schon einmal beobachtet, wie es zwischen zwei Menschen knistert? Zwischen zwei Menschen, die sich mögen, ob Mann oder Frau, entsteht immer ein energetisches Feld. Weil beide positive Gefühle füreinander hegen, sich nur das Beste wünschen und sich voneinander angezogen fühlen. Sich sympathisch sein bedeutet, dass man die Energie des anderen als angenehm empfindet. Jeder hat in seinem Freundeskreis Menschen, bei denen er auftanken kann. Wenn ich mit diesen Menschen zusammen bin, fühle ich mich gestärkt. Im Kontakt miteinander verbinden sich unsere persönlichen Energien und bilden ein energetisches Feld. Das passiert immer, wenn wir miteinander Zeit verbringen. Das Feld kann für uns stärkend sein, aber auch schwächend – je nachdem, mit welcher Person wir zusammen sind. Darum fühlen wir uns mit einigen Menschen pudelwohl, während wir das Zusammensein mit anderen als sehr anstrengend empfinden.

Die stärkste Form, ein gemeinsames Feld zu erzeugen, ist die Sexualität. Die gegenseitige Anziehung findet in der sexuellen Handlung wortwörtlich ihren Höhepunkt. Dieses Feld wirkt ähnlich einem Magneten und zieht die Seele des Kindes an. Wenn das energetische Feld zwischen Mann und Frau sehr stark ist, hat es die Seele leicht, den Weg ins Leben zu finden. Wobei das Feld nicht nur durch die Sexualität entsteht, sondern auch durch die gegenseitige Liebe und Zuneigung. Nun kommen immer mehr Kinder durch künstliche Befruchtung zur Welt. Darauf komme ich später zu sprechen. Hier geht es mir darum, die Familienenergie und ihre Entstehung darzulegen.

Ich möchte kurz zusammenfassen: Eine Familie entsteht aus der gegenseitigen Anziehung zweier Menschen und der inneren Zustimmung aller beteiligten Seelen. Das Ja füreinander ist gültig, so lange, bis die letzte Person der Familie stirbt. Das bedeutet also, das Ja gilt für immer, denn eine Familie ist dadurch gekennzeichnet, dass stetig neue Menschen in die Familie hineingeboren werden: Die Kinder bekommen eigene Kinder und diese wiederum eigene Kinder und so weiter. Ich konnte nur gezeugt werden, weil vor mir meine Großeltern Ja zu meinen Eltern gesagt haben und meine Urgroßeltern Ja zu meinen Großeltern. Mit meinem inneren Ja zu meinen Eltern gab ich auch die Zustimmung zu meinen Ahnen. Ich habe mich für sie entschieden. Ich habe mich für dieses spezifische energetische Feld entschieden. Weil so viele Menschen zu einer Familie gehören und alle durch das Ja miteinander verbunden sind, spricht man auch von einem energetischen Netz.

Die Familie als Netz

Das energetische Netz können Sie sich so vorstellen: Wenn alle Ihre Familienmitglieder in einem Raum sind und Sie ein Wollknäuel nehmen und es von einer Person zur anderen weitergeben, wobei jeder den Faden in der Hand behält, so ergibt sich aus dem Wollfaden ein Netz. Die energetische Verbindung kann als Dichte und Beschaffenheit des Fadens verstanden werden, während die Beziehung bestimmt, welche Farbe der Faden hat. Der Faden bleibt immer bestehen, die Farbe kann sich verändern. Über dieses Netz fließt andauernd Energie von einem Familienmitglied zum anderen. Da das Netz aus Energie besteht, geht es über den Tod hinaus. Das heißt, der Faden reißt niemals ab, auch wenn ein Mensch stirbt. Energie geht nie verloren, sie wandelt höchstens ihre Qualität. Für das Familiensystem gilt das Gleiche, was für physikalisch geschlossene Systeme gilt: Die Gesamtenergie ändert sich nicht mit der Zeit. Dies ist der Satz der Erhaltung der Energie. Es ist nicht möglich, Energie zu vernichten. Aus einem dicken Familienfaden kann ein dünner werden, verschwinden kann er aber nicht.

Dieses Netz ist der Grund, weshalb die Familie im Leben eine so zentrale Rolle spielt. Wir können niemals aus dem Netz fallen. Ein Faden kann vielleicht einmal durchhängen, sodass man meint, nur noch lose verbunden zu sein. Selten gibt es auch einmal einen Knoten – wenn sich eine Familie tief in ein Problem verstrickt hat. Aber ob wir auswandern oder keinen Kontakt mit der Familie pflegen, das Netz ist immer da. Und gerade deswegen liegt darin, neben einem gewissen Konfliktpotenzial, auch eine große Kraft. Je freier die Energie durch das Netz fließen kann, umso besser geht es allen Beteiligten.

Kinder spüren, wenn sich der energetische Familienfaden verheddert hat oder durchhängt, auch wenn man nicht über die schwierige Situation spricht. Sehr häufig zeigen Kinder problematische Verhaltensweisen, weil sie ein Ungleichgewicht in der Familie spüren. Dann sind wir geneigt, das Kind als schwierig anzusehen. Das Kind schläft nicht. Das Kind schlägt in der Kita seine Spielkameraden. Das Kind schreit im Supermarkt so laut, dass sich auch noch der letzte Kunde umdreht. Es gibt viele Möglichkeiten, wie Kinder unbewusst versuchen, ein Ungleichgewicht auszudrücken.

Wird jemand aus der Familie ausgeschlossen oder gab es in vorherigen Generationen Streitigkeiten, kann dies das heutige Alltagsleben beeinträchtigen. Besonders schwere Schicksale wie Kriegserfahrungen, Krankheiten, frühe Todesfälle und Ähnliches haben auch auf nachfolgende Generationen Einfluss. Die Möglichkeiten, wie solche familiären Probleme wirken, sind sehr vielfältig. Ist der Energiefluss innerhalb der Familie gestört, so beeinträchtigt das die einzelnen Mitglieder. Weil wir uns miteinander verbunden fühlen und uns lieben, fühlen wir uns automatisch auch verantwortlich für die anderen. Dieses Verantwortungsgefühl entsteht nicht im Verstand. Es ist ein tiefes Gefühl, das bereits ganz kleine Kinder verinnerlicht haben. Sie können sich das als eine Art Mitgefühl vorstellen. Wir fühlen mit unseren Verwandten mit und solidarisieren uns innerlich mit ihrem Schicksal. Aus diesem Mitgefühl heraus lassen wir es zu, dass uns die Lebensgeschichte unserer Familienmitglieder beeinflusst. Wenn beispielsweise der Großvater seine künstlerische Seite nicht leben konnte, weil er fünf Kinder zu ernähren hatte und deswegen als Sattler gearbeitet hat, kann es sein, dass sein Enkel später alles darangibt, ein berühmter Bildhauer zu werden. Mit seinem Erfolg möchte er den Großvater und sein Engagement für die Familie ehren und gleichzeitig auch für ihn das Künstlerleben ganz auskosten. Oder wenn die Urgroßmutter früh verwitwet wurde und ihre Kinder allein großziehen musste, kann es sein, dass eine ihrer Nachkommen als junge Frau geschieden wird. Sie lebt damit unbewusst das Schicksal des Alleinseins der Urgroßmutter mit, die sehr unter ihrer Witwenschaft gelitten hat. In ihrem Unterbewusstsein sagt sie zu ihr: »Ich fühle mit dir mit.«

Unser Leben wird beeinflusst von den Lebensgeschichten unserer Ahnen. Insbesondere die schwierigen Erlebnisse früherer Generationen, die sich tief ins Familiennetz eingegraben haben, entfalten eine belastende Wirkung auf die Nachkommen. Mittels systemischer Aufstellungen kann man diese Einflüsse sichtbar und verständlich machen. Und sie im besten Fall auflösen, sodass man nicht mehr im Bann der Vergangenheit lebt.

Das Verantwortungsgefühl kann also die Art und Weise, wie wir unser Leben gestalten, beeinflussen. Oft merken wir nicht einmal, dass wir etwas aus Verantwortung für die anderen machen. Im Kleinen zeigt sich das in Situationen, in denen wir das Leben unserer Familienmitglieder verbessern möchten. Zum Beispiel gibt es Kinder, die versuchen, zwischen ihren Eltern zu vermitteln, wenn sie spüren, dass die Eltern sich emotional voneinander entfernen. Die Vermittlungsversuche sind durchaus kreativ. Ich habe schon Kleinkinder erlebt, die sich dauernd leicht verletzt haben, weil sie damit die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich lenken konnten und die Eltern durch die gemeinsame Sorge wieder mehr Nähe zueinander gespürt haben. Ein Kind realisiert unbewusst, dass sich die Eltern innerlich nicht mehr verbunden fühlen und sucht ebenfalls unbewusst nach einer Möglichkeit, die Situation zu verändern. Mit seiner Einmischung drückt das Kind sein Verantwortungsgefühl aus.

Kinder übernehmen für ihre Eltern ganz viel. Der Mechanismus dabei ist folgender: Das Kind ist abhängig von seinen Eltern, weil nur die Eltern das Leben des Kindes sichern können. Das Kind ist in den ersten Lebensjahren nicht allein lebensfähig. So hat das die Biologie eingerichtet. Das Wohlbefinden des Kindes hängt davon ab, dass sich die Eltern (oder andere Bezugspersonen) liebevoll um seine Bedürfnisse kümmern. Damit die Eltern das können, muss es ihnen selbst gut gehen. Also hat jedes Kind die innere Logik »Ich muss dafür sorgen, dass es meinen Eltern gut geht, damit sie sich um mich kümmern können«. Das ist ein Überlebenstrick.

Viele Menschen brauchen im Erwachsenenalter intensive Persönlichkeitsarbeit, um sich diesen Mechanismus abzugewöhnen. Es ist schwierig, aus diesem Muster auszusteigen, wenn man sich mehr auf das energetische Netz als auf sich selbst konzentriert. Zumal man nicht nur mit dem Schicksal der Eltern mitfühlt. Es kann sein, dass man sich unbewusst für ein Familienmitglied verantwortlich fühlt, das bereits verstorben ist. Weil die Informationen seines Lebens immer noch im Familiennetz gespeichert sind. Wir können nicht bewusst entscheiden, mit welchen Themen unserer Familie wir in Resonanz gehen. Wir reagieren auf etwas, was in unserem Leben eine Art Echo findet. Ein Kind ohne musische Begabung wird sich kaum mit dem ungelebten Lebenstraum des Künstlerdaseins seines Großvaters identifizieren. Aber wenn es ein sehr pflichtbewusstes Kind ist, wird es vielleicht die Überzeugung mitnehmen, dass man hart arbeiten muss, um sein Leben zu sichern. Es ist immer ein Zusammenspiel zwischen eigenen Charaktereigenschaften, Interessen und Erfahrungen, die mit einem ungelösten Familienthema interagieren. So entsteht die Verstrickung mit einem Mitglied der Familie. Die Lösung liegt darin zu realisieren, dass ich zwar mit allen im Guten verbunden sein darf, mich aber nur um meine eigenen Angelegenheiten kümmern muss. Das gelingt, wenn ich weiß, dass jeder in der Familie seinen eigenen Platz hat und jeder selbst dafür verantwortlich ist, diesen Platz einzunehmen.

Jeder hat seinen Platz

In einer Familie hat jeder seinen Platz. Es ist wie auf einem Schachbrett. Im Moment der Zeugung bekommt man ein Feld zugewiesen, das einem allein gehört und das man mit niemandem teilen muss. Dieses Feld ist von den anderen Feldern klar abgegrenzt. Die einzelnen Plätze innerhalb der Familie sind gleichberechtigt im Sinne von gleich wichtig. Trotzdem gibt es unter den Geschwistern eine klare Reihenfolge. Denken wir einmal an althergebrachte Erbgewohnheiten. Der Erstgeborene erbt das Familienvermögen, weil er die Nummer eins ist. Sowohl im bäuerlichen Umfeld der vergangenen Jahrhunderte als auch bei Adelsfamilien oder reichen Wirtschaftsdynastien wird das so gehandhabt. Der Zweitgeborene wird mit einer Abfindung abgespeist, weil er nicht die Nummer eins ist. Es ist entscheidend, das wievielte Kind seiner Eltern man ist, nicht nur wenn es ums Erben geht. Das erstgeborene Kind hat in der Familie eine ganz andere Rolle als das jüngste. Das Aufwachsen ist geprägt von der Geschwisterhierarchie. Das älteste Kind muss vielleicht um Freiheiten kämpfen, die dem Jüngsten später einfach zugesprochen werden. Dafür traut man dem Kleinsten vielleicht nicht so viel zu wie seinen älteren Geschwistern, weil er eben der süße Kleine ist, um den sich alle kümmern möchten.

In energetischer Hinsicht ist es nicht wichtig, ob man der Erstgeborene, sondern ob man der Erstgezeugte ist. Von der Familienenergie her ist das Kind, das zuerst gezeugt wurde, die Nummer eins. Wenn es in einer Familie eine Fehlgeburt gegeben hat, kann es sein, dass die Reihenfolge vermeintlich durcheinandergerät.

Familie Bauer erwartet das erste Kind. In der achten Schwangerschaftswoche kommt es zu Blutungen und in der Folge zu einem Abort. Ein Jahr später erwartet die Familie ihr zweites Kind, Sophie. Als zwei Jahre darauf auch noch ein gesunder Junge, Felix, zur Welt kommt, ist das Familienglück perfekt. Im Alltag heißt das für Familie Bauer Folgendes: Sophie ist die Erstgeborene, die Nummer eins, und Felix ist der Zweitgeborene, folglich die Nummer zwei.

Aber so ist es nicht. Die Nummer eins ist das Kind, das im Mutterleib nicht weiterwachsen und geboren werden konnte. Es weilt nicht unter den Lebenden und doch ist das Seelenkind die klare Nummer eins. Sophie gehört auf den zweiten und Felix auf den dritten Platz.

Es kann auch sein, dass eine vermeintliche Nummer drei in Wahrheit die Nummer vier ist. Nämlich wenn man nach dem zweiten Kind ein Kind verloren hat und erst bei der vierten Schwangerschaft das dritte lebende Kind zur Welt gekommen ist. Vielen Eltern ist die richtige Reihenfolge ihrer Kinder nicht bewusst, weil sie nur die lebenden Kinder zählen. Damit vermitteln sie ihren Kindern ein falsches Familienbild.

Ich habe mit einer Freundin von mir, die Psychologin ist, über dieses Thema gesprochen. Da ist ihr eingefallen, dass sie als Kind ein besonderes Spiel für sich entwickelt hatte:

Florence wird als drittes von drei Mädchen geboren. Ihre Mutter hatte vor der Ehe ein Kind abgetrieben und ihren Kindern nie etwas davon erzählt. Florence erfuhr dies von ihrem Vater erst als erwachsene Frau, nachdem die Mutter verstorben war. Sie erinnert sich sehr genau, dass sie im Alter von vier bis fünf Jahren ein »magisches Ritual« als Spiel auf dem Heimweg vom Kindergarten mit sich selbst spielte. Sie lief auf dem Rand des Gehsteiges, der mit länglichen Bordsteinen gesäumt war. Sah sie von weitem ein Auto entgegenkommen, wollte sie unbedingt auf dem von ihr aus gesehen nächsten vierten Stein angekommen sein, wenn das Auto an ihr vorbeifuhr. Ist es ihr gelungen, empfand sie immer ein wohliges Gefühl der Genugtuung.

Florence spielte dieses Spiel ausschließlich auf dem Weg nach Hause. Die Magie des Erreichens des vierten Steines vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit. Wenn Sie also auf dem vierten Platz stehen konnte, fühlte sie sich sicher. Obwohl sie als Kind nichts von der Abtreibung wusste, spürte sie instinktiv, welcher Platz für sie der richtige ist. Sie ist das vierte Kind und nicht das dritte. Die tiefere Bedeutung dieses Spiels offenbarte sich ihr erst im Erwachsenenalter.

Dies ist ein treffendes Beispiel für das ahnungsvolle Wissen von Kindern, die spüren, dass sie in der Familie einen falschen Platz zugewiesen bekommen. Auf dem falschen Platz stehen heißt nichts anderes, als dass die Eltern sich nicht bewusst sind, dass noch ein weiteres Kind in die Reihenfolge gehört. Es ist für das Wohlbefinden von Kindern entscheidend, dass sie die richtige Reihenfolge der Geschwister kennen. Weil sie sonst durch das äußere Ungleichgewicht auch innerlich nicht in der Lage sind, die Balance im Leben zu halten. Weil in der Familie jeder mit jedem verbunden ist, ist es absolut entscheidend, dass man seinen Platz kennt. Nur auf dem richtigen Platz kann man sein volles Potenzial entfalten und sich wohl fühlen.

Wenn Kinder Verantwortung übernehmen

Wenn ein Kind ein Verhaltensmuster entwickelt, das für das Kind selbst oder für die Personen in seinem Umfeld anstrengend wird, deutet das häufig auf ein Familienthema hin. Ich spreche hier nicht davon, dass ein Kind einmal einen schlechten Tag hat oder vor lauter Blödsinn im Kopf den Moment verpasst, sich wieder angemessen zu verhalten. Ich spreche von Problemen, unter denen Kinder über eine längere Zeit leiden und die trotz pädagogischer Maßnahmen und liebevoller Unterstützung der Eltern nicht gelöst werden können. Dies ist ein wichtiger Punkt meiner Argumentation: Kinderprobleme deuten oftmals auf ein Ungleichgewicht in der Familie hin. Weil sich das Kind unbewusst für das Glück der anderen verantwortlich fühlt, entwickelt es Probleme, die ähnlich einem Wegweiser auf versteckte Themen hindeuten.

Bevor ich einzelne Problemfelder und ihre Lösungsmöglichkeiten bespreche, möchte ich Ihnen eine Übung vorstellen, mit der Sie sich im positivsten Sinne von Ihren Liebsten abgrenzen können, ohne dabei die Zuneigung zu gefährden. Diese Übung entlastet Kinder, die vorübergehend oder langfristig von familiären Themen beeinflusst werden. Sie können die Übung einsetzen, wenn Sie das Gefühl haben, Ihr Kind übernehme zu viel Verantwortung innerhalb des Familienlebens. Wenn Sie in Ihrem Leben gerade mit großen Herausforderungen zu kämpfen haben, können Sie die Übung auch prophylaktisch einsetzen. Damit Ihr Kind gar nicht Gefahr läuft, sich von den Erwachsenenproblemen beeinträchtigen zu lassen. Die Übung schafft eine positive Abgrenzung, weil die energetische Verschmelzung beendet wird. Sie können sie auch mit Ihren eigenen Eltern und Geschwistern oder mit Personen außerhalb der Familie durchführen. Es ist eine Grundübung meiner Therapieform, die in jedem Fall eine entlastende Wirkung hat.

Übung »Ich bin ich – du bist du«

Nehmen Sie ein leeres weißes Blatt Papier ohne Linien. Zeichnen Sie eine große stehende Acht. In den unteren Kreis schreiben Sie Ihren eigenen Namen, mit allen Vor- und Nachnamen, die Sie haben. In den oberen Kreis schreiben Sie den Namen Ihres Kindes oder der Person, von der Sie sich abgrenzen wollen. Sie machen die Übung allein für sich. Nehmen Sie sich zwei bis drei Minuten dafür Zeit, möglichst ohne Ablenkung. Nun fahren Sie mit einem Stift die Acht nach und sagen dabei laut: »Ich bin ich. Du bist du.«

Wiederholen Sie das zwei Wochen lang jeden Tag auf dem gleichen Blatt Papier. Es ergibt sich daraus eine dicke Acht. Nach zwei Wochen nehmen Sie eine Schere und schneiden die beiden Kreise auseinander, sodass die beiden Kreise – der Kreis mit Ihrem Namen und der Kreis mit dem Namen der anderen Person – voneinander getrennt werden.

Die Übung versinnbildlicht die Idee, dass man alle eigenen Gefühle, Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken bei sich behält und das Kind ebenfalls ganz bei sich bleiben darf und sich nur um die eigenen Dinge kümmern muss. Das kann viele Gefühle auslösen und es können emotionale Reaktionen sowohl beim Ausführenden als auch beim Kind auftreten. Die Eigenständigkeit kann am Anfang ungewohnt sein. Vielleicht fühlen Sie sich im ersten Moment haltlos oder allein. Es kann auch sein, dass Ihr Kind zuerst besonders intensiv Ihre Nähe sucht, bis es sich an die neugewonnene Unabhängigkeit gewöhnt hat. Oder es reagiert Ihnen gegenüber zunächst ablehnend bis es spürt, dass die Liebe auch außerhalb der Symbiose spürbar ist.

Viele Menschen erzählen, dass die Beziehungsqualität nachher an Leichtigkeit gewinnt und man sehr liebevoll aufeinander zugehen kann. Sie müssen keine Angst haben, Sie könnten damit den Liebesfaden zwischen sich und der anderen Person durchtrennen. Ich erkläre diese Übung Müttern mit kleinen Babys, die zu sehr in eine Symbiose geraten sind. Sogar im ganz frühen Stadium des Beziehungsaufbaus kann es sinnvoll sein zu realisieren, dass das eigene Kind ein komplett anderer Mensch ist als man selbst. Das Kind hat eine eigene Geschichte und eigene Gefühle, und auch wenn die Liebe zum Kind groß ist, muss es nicht zu einer gefühlten Verschmelzung kommen.

Mit der Übung lösen Sie die negative Verstrickung und schaffen eine positive Abgrenzung. Sie helfen insbesondere Ihrem Kind damit, dass es sich weniger für Sie verantwortlich fühlt und besser bei sich bleiben kann. Das entlastet das Kind und kann helfen, dass sich das Kind entspannt und unbekümmert sein Leben lebt.

Kinder übernehmen nicht nur für die Eltern emotionale Verantwortung, sondern häufig auch für Geschwister, die nicht leben.