Mit Illustrationen von Jan Birck
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
© 2010 Baumhaus Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln
Redaktion: Sigrid Vieth / Lektorat: Bettina Herre, Düsseldorf
Alle Rechte vorbehalten
Datenkonvertierung E-Book:
Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-1821-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Die Smaragdküste
Flucht vor Big Brother
Alex
Blaumänner
Cinquecento
Entern!
Edel-Sandsoccer
Das Freundschaftsangebot
Kapitulation
Aufbruch
Kamikaze
Die verlorene Tochter
La dolce vita
Der Truck
Volltreffer
The Italian Job
Poker
Der lange Arm der Macht
Gefangenenaustausch
Verpasster Geburtstag
Alex ist die Tochter eines Fußballstars und lebt auf einer Luxusyacht. Doch glücklich ist sie dort nicht. Sie hat das Talent ihres Vaters geerbt, darf aber erst spielen, als Mark, Derik, Yo-Shi und Victor sie aus ihrem goldenen Käfig befreien.
Pizzo spielt mit vier Füßen.
Victor spielt Schlagzeug, liebt Hamburger und hatte einige Kilo zu viel auf den Rippen … bis die Bar-Bolz-Bande ihn aufnimmt. Denn er besitzt Fähigkeiten, von denen er selbst nichts ahnte.
Mark hat seit einem Autounfall ein Handicap: Sein linkes Bein ist zwei Zentimeter kürzer als sein rechtes. Dank harten Trainings und eisernen Willens hat er diesen Nachteil aber längst wieder wettgemacht. Barfuß auf Sand ist er nahezu unschlagbar.
Yo-Shi ist die Tochter einer Japanerin. Klar, dass sie manchmal Beachsoccer und fernöstliche Kampftechniken miteinander vermengt … mit durchschlagenden Ergebnissen.
Derik ist in Brasilien aufgewachsen und mit einem Fußball unter dem Arm geboren worden. Er lässt sich durch (fast) nichts aus der Ruhe bringen und ist auf dem Spielfeld ein wahrer Ballkünstler.
Wir lagen vor Sardinien.
Genauer gesagt in der Bucht von Capo Barro, Costa Smeralda.
Das Reich der Reichsten. Der Sandkasten des Multimilliardärs Atta Khan.
Eigentlich die perfekte Postkartenbucht.
Glasklares Wasser, von runden Felsen gesäumt, wie auf den Seychellen. Nur die Pinien, die hinter dem Strand anstelle der Kokospalmen in den Himmel ragten, erinnerten noch daran, dass wir uns nicht im Pazifik, sondern in den Gewässern vor der Smaragdküste Sardiniens befanden. Natürlich auch nicht schlecht. Wirklich nicht. Dennoch gab es einen noch entscheidenderen Unterschied zu den Bildern in den Hochglanzkatalogen: Ohne Sonne leuchtete das Wasser nicht. Schon gar nicht smaragdgrün.
Stattdessen: Dauerregen, schon seit zwei Tagen. Nicht wirklich ungewöhnlich, denn inzwischen war es Mitte September.
Victor, unser neuer Mann fürs Tor, hatte trotzdem schon gegen unmenschliche fünf Uhr früh einen mörserharten Volley-Schuss vom Deck weg abgefeuert. Die Kanonenkugel war in den Himmel geflattert, zu einem kleinen Punkt geschrumpft und schließlich zwischen den tief hängenden Wolken verschwunden.
Eine gefühlte Viertelstunde später erst war sie zurückgekehrt und wie ein Komet auf den um diese Tageszeit leeren Sandstrand heruntergedonnert, der halbkreisförmig und geschätzte drei Minuten Kraulzeit von unserem Schiff (wir hatten den alten Kahn „Ollie“ getauft) entfernt, die Bucht umgab.
Das Leder war wie ein Golfball vor dem Loch aufgeschlagen, ein paarmal über den Sand gehüpft und schließlich ausgekullert.
Victor war nicht etwa freiwillig – in kindlicher Vorfreude auf sandigen Boden unter den Füßen – so frühmorgens aus der Koje gekrochen. Keineswegs.
Victor (Rasta-Torwart mit eingebautem Zeitlupenblick) hatte einfach bloß Hunger. Die Qualen seines mörderischen Appetits auf das, was man nur zwischen zwei Pappdeckeln finden konnte, hatten ihn rasend wie einen verletzten Bären gemacht. Aber vierlagige Burger oder fußabstreifergroße Pizzarechtecke gab es an Bord unseres Seglers nicht. Jedenfalls nicht für ihn, den Fast-Food-Junkie aus Jamaika. Stattdessen hatte ihm Tokio zarte Sushi-Röllchen gegen dicke Speckröllchen verordnet. „Klebrige kleine Reis-Tabletten“, wie Victor fand. Gefüllt mit Gurke oder Zucchini.
Wogegen wir, also ich (Mark, der Junge mit einem kürzeren Bein), Derik (Balltänzer aus Rio) und Tokio (die blonde Japanerin mit dem Kung-Fu-Schuss), uns Spiegelei auf vierlagigen Toasts mit geröstetem Speck gönnten.
Victor hatte also Entzugserscheinungen und litt in der Folge unter Schlaflosigkeit und Wutanfällen. Eben solche, wie heute Früh gegen fünf Uhr, als er den Ball hinüber auf den Strand drosch, und dabei wie beim Soldatendrill gebrüllt hatte: „Aufwachen, ihr Schlappschwänze! Alle, die ganze Truppe! Tokio! Mark! Derik und Pizzo! Antreten an Deck! Vor uns liegt das beste Trainingslager, das sich ein Sandsoccerer nur wünschen kann. Ein verdammter Strand! Zackzack! Ab jetzt wird nicht mehr gehungert, ab jetzt wird gesoccert. Ich will ’n ordentliches Training! Fettverbrennung, Kohlehydringsbumsverbrauch oder so ähnlich. Kaloverbrennung. Und dann will ich auch mal ’ne ordentliche Pizza für ’n ordentlichen Muskelaufbau, verfluchte Sch …!“
Er hatte keine Ruhe mehr gegeben. An Schlaf war nicht mehr zu denken gewesen. Irgendwann hatte er uns dann aus den Kojen und bis hinüber auf den menschenleeren Strand gebrüllt. Unsere Toasts hatten wir trocken in den Mund geschoben, die Eier roh ausgeschlürft und den Speck kalt geschluckt. Danach hatten wir gerade noch Zeit, uns gegenseitig eine schmierige Lage Sonnencreme auf die Schultern und in die Augen zu sprühen.
Doch Victors Strandtraining verlief dann nicht so, wie er sich das ausgedacht hatte, denn wir hatten eine ganz andere Vorstellung davon, wie seine Fettverbrennungsmaschine angeworfen werden könnte. Und zwar nicht mit fröhlichem Soccern. Denn unser Pappschachtel-Junkie war zwar der schnellste Torwart der Welt, das aber nicht besonders ausdauernd. Ich meine, er konnte seine sagenhafte Geschwindigkeit vielleicht für ein schönes kleines Duell aufrechterhalten, aber niemals für ein ganzes Turnier. Nach dreißig Minuten körperlicher Betätigung pro Tag war die Luft bei ihm raus. Er war einfach zu schlapp für mehr davon. Deshalb verschrieben wir ihm erst einmal ein gründliches Ausdauertraining, bevor er ans Soccern denken konnte.
Und so traf er am Strand nicht auf drei bereitwillige Mitspieler und einen Affen, sondern auf vier bösartige Trainer mit einem richtig fiesen, aber wunderbar schlichten Trainingsplan: Victor strandauf und strandab hetzen – was wir dann auch noch unter uns aufteilten.
Inzwischen waren etwa dreieinhalb Stunden vergangen. Victor watete hechelnd durch die Brandung, den Ball vor sich herkickend, dem Kollaps nahe. Derik, Pizzo und ich hockten im nassen Sand und guckten in die Bucht hinaus, während Tokio gerade an der Reihe war, Victor vor sich herzutreiben.
Plötzlich ging Victor sterbend neben uns zu Boden und blieb dort bäuchlings liegen. Eine Schwalbe, befanden wir, denn unser Programm war noch lange nicht abgeschlossen.
„Was ist los mit unserem Frühaufsteher?“, fragte ich Derik.
„Keine Ahnung. Macht heute ’nen müden Eindruck. Hee, Victor, wolltest du nicht soccern? Also los! Victor und Tokio gegen Mark und mich. Pizzo ins Tor. Quatschen oder kicken wir?“
Victor kassierte einen Rüffel von Deriks Fuß, stöhnte kurz auf, gab aber sonst keine weiteren Lebenszeichen mehr von sich.
„Also gut, Mark, helfen wir ihm auf!“, sagte Derik und griff dem Erschöpften unter den Arm. Ich übernahm die andere Schulter, und so schleppten wir das Opfer hoch auf den Strand, stellten ihn auf, klopften zumindest seine Wangen wach, legten ihm den Ball vor die Füße und versuchten ihm klarzumachen, dass das eigentliche Soccer-Training soeben erst begonnen habe.
Doch Victor schien tatsächlich angeschlagen. Oder er war ein ziemlich guter Schauspieler. Jedenfalls sackte der Fettklops wieder in sich zusammen, wie ein Heißluftballon kurz nach der Landung. Er blieb im Regen liegen, bis sich eine Pfütze um ihn herum gebildet hatte und bis Tokio den Vorschlag machte, von irgendwoher „Pizza zum Mitnehmen“ zu organisieren.
Das war der Moment, in dem Victor erwachte, als hätten wir ihm Riechsalz unter die Nase gehalten und gleichzeitig Kaffee mit einer Spritze injiziert.
„Gute Idee!“, verkündete er quietschlebendig, während er hochklappte wie ein Stehaufmännchen.
„Okay, du hast uns reingelegt, aber wir dich auch!“, grinste Tokio ihn an, „… von wegen Pizza zum Mitnehmen! Na dann mal los, Victor: Anstoß!“
Doch jetzt war es plötzlich Derik, der keine Lust mehr auf ein Regenmatch hatte.
Und ich ehrlich gesagt auch nicht. Und Tokio ging es eigentlich ja genauso. Beachsoccer im Regen ist irgendwie wie Einseifen mit Sand.
Deshalb brachen wir schließlich das Training und auch unseren Landausflug ab. Nachdem wir zurück zum Schiff geschwommen waren (Victor mit einer Viertelstunde Verspätung, verbissen in Pizzos Schwimmring), beschlossen wir, den Tag zunächst mit den Toastbrotresten und Nutella (nicht für Victor) fortzusetzen, um dann die Regenzeit für den Nachrichtenaustausch mit dem Rest der Welt zu nutzen. Also nicht nur mit der längst überfälligen Pflege unserer Kojen, der Kombüse und der Segel, sondern auch unseres Profils auf Facebook.
Während der Arbeit an Victors Fitness hatten wir fast vergessen, dass wir eigentlich auf der Jagd nach Alex waren.
Damals wussten wir noch nicht, wer das abgerissene Bauernmädchen, das wir auf La Morca mit ein paar Euro zwischenfinanzieren mussten, tatsächlich war. Sie hatte sich aus dem Nichts in unser Leben gebeamt, hatte dem Angeber Bongo Knox das Fürchten gelernt und hatte sich schließlich auf unserer Seite gegen Ronaldos Beachsoccer-Team geschlagen. So plötzlich, wie sie aufgetaucht war, hatte sie sich dann aber auch wieder entmaterialisiert – wie Mr. Spock von der Enterprise.
Bis sie uns auf offener See wieder erschienen war. Als Bikini-Fee. Wir waren gerade mit unserem Neuzugang Victor zur Heimreise aufgebrochen, als sie auf Gegenkurs auf uns zukam. Schwebte schließlich wie ein Wesen aus einer anderen Welt über unseren Köpfen vorbei. Nicht mehr in ihrem zerfetzten Jeans-Höschen (sofern man diese Mikro-Klamotte noch als Höschen bezeichnen konnte), sondern in einem weiß glitzernden Bikini und auf dem obersten Deck einer ebenso weiß glitzernden Luxusyacht, auf der in golden glitzernden Lettern der Name „Soccer Queen“ prahlte.
Winkewinke, das war alles.
Aber es hatte genügt, um uns die Köpfe zu verdrehen und uns stante pede auf Gegenkurs gehen zu lassen. Hinterher.
Jetzt hockten wir in dieser verlassenen Bucht Sardiniens, in der Messe unseres alten Kahns Ollie. Wir lauschten dem auf das Kajütdach prasselnden Regen, schlürften Bolzstoff und hofften, dass uns unser gesunder Instinkt auf die Fährte dieser Alex gesetzt hatte und nicht blinde Verliebtheit. Was mich betraf, war ich mir da überhaupt nicht mehr sicher, denn sogar meine Erinnerung an Julia Bramstedt, meine Jugendliebe, verblasste seit der Begegnung mit Alex schneller als die schlappen Rücklichter eines alten Fiat 500 im dichten Nebel der Po-Ebene.
Victor schnarchte aus seiner Koje heraus. Er war trotz „hungerbedingter Selbstverdauung“, wie er sich ausdrückte, eingeschlafen.
Tokio fuhr den Rechner hoch.
„Erst ein Online-Soccer-Game, oder gleich auf Facebook?“
„Egal“, entschieden Derik und ich ebenso zielsicher wie gleichzeitig.
Aber wurscht war es tatsächlich, denn weder das eine noch das andere war möglich. Nicht, weil wir nicht online gehen konnten, sondern weil wir von einem beinahe vergessenen Phantom überrascht wurden, bevor auch nur irgendein kleines Betriebssystemchen auf dem Laptop in die Gänge kommen konnte:
Barbados! Wer nicht weiß, wer das ist, hat was verpennt.
Aber gut, ich mach’s kurz: Barbados ist der Deckname für meinen Großvater Ed, seinen Kumpel Mbeki und dessen Gefährtin Julé zusammen. Die drei sind sozusagen unsere Basis-Station auf der Barbolzburg. Und die ist wiederum unser Heimathafen auf Barefoot-Island, eine verlassene Felseninsel in der Nordsee. Gut versteckt in einem ziemlich ewigen Nebelring, nicht weit von Sandorn, aber bestimmt 5000 Seemeilen von der Bucht entfernt, in der wir gerade ankerten.
Das Problem: Wir sollten uns eigentlich gerade auf dem schnellsten Weg dorthin befinden, statt auf einem Blindflug hinter einer Fee in einem weißen Bikini her, wie vier Pinscher hinter einer Bockwurst. Denn das war deshalb ziemlich heikel, da sich der Sommer dem Ende zuneigte und sich draußen im Atlantik schon jetzt schwere See ankündigte. Unser Kutter war nicht mehr der Jüngste und die schnelle Rückkehr nach Barefoot-Island war nicht nur ein guter Rat von Ed und Mbeki, sondern eigentlich auch ausgemachte Sache gewesen.
Doch was hätten wir tun sollen? Wir brauchten noch ein fünftes Team-Mitglied in unserer Bar-Bolz-Bande, und die Fee Alex war unsere Auserwählte. Wir fühlten es. Wir wussten es. Zumindest Tokio, Victor und ich waren uns da völlig sicher.
Wären wir also nicht hinter ihr her, wäre sie für uns verloren gewesen.
Aber die weiße Yacht war viel zu schnell für Kutter Ollie und auch die Winde waren nicht gerade günstig gewesen. Die Soccer Queen hatte uns schon nach einer Stunde Verfolgung abgehängt. War aufgetaucht und wieder verschwunden, wie der fliegende Holländer.
Während wir also wie Ochsen auf den Bildschirm starrten, auf dem sich das Brustbild meines Großvaters aufgebaut hatte wie das Bild des amerikanischen Präsidenten bei einer Ansprache an die Nation, war Alex längst wieder futsch. Der einzige Anhaltspunkt, den wir hatten, war der Kurs, den sie genommen hatte: Ost. Und weil die Soccer Queen eben eine Luxusyacht vom Feinsten war, hatte Tokio gefolgert:
Porto Barro, Costa Smeralda, Sardinien. Das Eldorado der Milliardäre.
So weit so gut, aber all das war nur eine Vermutung, ganz im Gegensatz zu Barbados – vertreten von Ed – , der uns nun plötzlich wie leibhaftig gegenübersaß.
„Guten Morgen, die Dame und die Herren!“
Ich war dermaßen baff, dass mir nichts Blöderes einfiel, als meinen Großvater zu fragen:
„D … du kannst uns sehen?“
„Selbstverständlich. Mbeki hat den Bordrechner vor eurer Abreise ein bisschen, na sagen wir, optimiert. Glaubt ihr, dass unser guter alter Professor auf so ein kleines Spielzeug wie ein Kameraauge verzichtet? Guckt euch mal euer Gerät genau an, dann werdet ihr’s schon finden!“
Derik griff nach dem Deckel des Laptops und klappte
ihn zu.
„Spinnst du, Derik? Das können wir nicht bringen!“, zischte Tokio und versuchte, das Ding wieder aufzufingern. Aber Derik hatte sich bereits auf den Kartentisch geschwungen und auf den Rechner gehockt.
„Derik, lass den Mist. Du vergisst, wem wir das hier alles zu verdanken haben!“
„Stimmt“, sagte Derik, „aber wir sind nicht seine Marionetten! Das ist ja wie bei Big Brother hier!“
Das gibt Ärger, dachte ich. Wir waren zu weit gegangen. Insgesamt, meine ich, nicht nur jetzt in diesem Moment. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass wir Ed zu entwischen versuchten. Schon vor ein paar Tagen, kurz nachdem wir uns hinter Alex und der Yacht hergemacht hatten, hatten sich mein Großvater und der Professor eingeschaltet. Sie wussten natürlich ganz genau, wo wir uns befanden. Kannten unsere exakte Position und auch unseren nicht verabredeten Ost-Kurs. Sie hatten einen alten englischen Spionagesatelliten im Leuchtturm unserer Felseninsel wieder fit gemacht und konnten uns orten und beobachten. Sofern die Witterungsbedingungen es zuließen.
Deshalb war es dann auch das Wetter, das uns dabei zu Hilfe kam, den beiden zu entwischen. Wir änderten den Kurs nach Norden und entkamen in einem fetten Tiefdruckgebiet, unter noch fetteren Regenwolken. Erst nachdem wir uns für den Spionagesatelliten unsichtbar gemacht hatten, waren wir dann wieder nach Osten geschippert, genau auf die Costa Smeralda zu.
Natürlich hatten Ed und Mbeki – objektiv betrachtet – eigentlich völlig recht: mit dem alten Schiff war eine Reise durch die Herbststürme über dem Atlantik, rund um Spanien, vorbei an Nord-Frankreich und Holland bis hinauf nach Sandorn tatsächlich unmöglich.
Wir hätten also sofort umkehren müssen, wenn wir Ollie noch im selben Jahr sicher nach Hause bringen wollten. Aber wir vermieden es einfach, noch mal sachlich darüber nachzudenken.
Ergebnis: Wir versteckten uns vor Sardinien in dieser Lagune nicht weit von Porto Barro im Regen, und Ed hatte einen neuen Weg gefunden, Kontakt zu uns aufzunehmen – wenn Derik Ed nicht zugeklappt und sich nicht auf ihn draufgesetzt hätte.
„Derik, wir müssen mit Ed und Mbeki reden! Wir können nicht einfach …“
„Ein Punkt für dich, Mark!“, sagte der Rechner unter Deriks Hintern und Derik sprang wieder vom Tisch, als habe er sich vorher auf einen Ameisenhaufen gesetzt.
„D … das gibt’s nicht! Das Ding ist immer noch an!“
„… und einen für dich, Derik!“, sagte der Rechner. „… und wenn Tokio jetzt so nett wäre, mich wieder aufzuklappen, bekommt sie auch einen Punkt. Und Punkte sammeln solltet ihr auf jeden Fall, wenn ihr nicht von mir zum Teufel geschickt werden wollt!“
Tokio klappte zitternd den Deckel des Laptops auf und brachte ihn in Position.
„Sehr schön, danke, Tokio. Ein Punkt auch für dich.“
Und dann legte Ed los. Schätze, die Ansprache dauerte mindestens zwei Stunden.
Ich hatte es geahnt. Ed ließ nichts aus und hatte einfach recht. Zuverlässigkeit, Vertrauen, Vernunft und all das.
Die Rede an die Nation endete schließlich mit einem Befehl:
„Kurs West. Heimathafen. Sofort.“
Dann saß er nur noch da und blickte uns an, während Victor aus seiner Koje heraus schnarchte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ergriff ich als Erster wieder das Wort. Wahrscheinlich, weil mir unbewusst klar war, dass ich als Blutsverwandter der Einzige von uns war, der diese Aufgabe übernehmen konnte. Aber auch, weil ich fand, dass auch Ed und Mbeki irgendwie zu weit gegangen waren. Uns einen Spion in den Laptop zu pflanzen, ohne dass wir davon wussten! Wie war das mit dem gegenseitigen Vertrauen? Dennoch wollte ich einen Streit vermeiden, denn auch Tokio hatte recht: wir hatten Ed, Mbeki und Julé verdammt viel zu verdanken. Also war jetzt Diplomatie angesagt. Themawechsel. Mal sehen, ob sich damit die Situation entspannen lassen könnte, bevor ich zur Sache kommen musste.
„Ed“, sagte ich also. „Wir haben Victor gefunden!“
Doch mein Großvater schwieg.
„E … er schläft gerade.“
Mein Großvater schwieg weiter.
Ich wusste, was er hören wollte. Ein: „Aye, aye Sir, wir kommen!“
Aber ich konnte ihm die gewünschte Antwort nicht geben.
„Victor ist noch ein bisschen … untrainiert, aber weißt du, er ist der schnellste Torwart der Welt!“
Ed schwieg.
„U … und jetzt sind wir schon vier Barbolzer! Super, nicht?
Ed schwieg.
„U … und wenn wir deinen und Mbekis Traum von einer neuen Bar-Bolz-Bande verwirklichen wollen, und für euch
irgendwann mal den Weltmeistertitel in Rio holen wollen … und wir wollen das ja selbst auch … d … dann müssen wir fünf Spieler sein. Die fünf Besten!“
Ed schwieg.
Victor schnarchte.
Der Regen prasselte weiter auf das Kajütdach.
„Großvater …“
„Nenn mich Ed, bitteschön.“
„Also, Ed, wir haben auch den fünften Spieler gefunden. Er ist nur noch nicht an Bord, sozusagen. Ist noch woanders an Bord.“
Auf diese Nachricht reagierte mein Großvater.
„Wer?“
„Alex!“
„Wo ist er?“
„Ist ein Mädchen. Wahrscheinlich heißt sie Alexandra.“
„Wahrscheinlich?“
„Äh …“
„Ihr wisst offensichtlich weder wo sie ist, noch wie sie genau heißt? Und dafür riskiert ihr das Schiff?
„N … nein.“
„Nein?“
„Also, gut: ja! Aber es lohnt sich. Weil … sie ist es! Ganz bestimmt! Sie ist höchstwahrscheinlich in …“
Sollte ich meinem Großvater tatsächlich verraten, wo wir uns gerade befanden?
„Wo?“, bohrte er nach.
Ich blickte Derik und Tokio an, konnte aber keinen Protest in ihren Augen erkennen.
„Wir glauben, dass sie in … Porto Barro ist!“
„Wie bitte?“
„Porto Barro!“, sagten Derik und Tokio gleichzeitig.
„Das hab ich verstanden. Aber da kommt ihr mit eurem alten Kahn niemals rein! Und sie wird da nicht rauswollen. Porto Barro, meine Güte, wisst ihr, was das ist? Das ist die Festung der Superreichen! Wer es in diesen Hafen geschafft hat, der will dort nie wieder raus! Schon gar nicht auf einem alten Fischkutter! Schlagt euch das aus dem Kopf und kommt sofort zurück. Wir suchen hier auf der Barbolzburg den Winter über in Ruhe einen fünften Spieler aus und werben ihn dann im Frühjahr an! Verstanden?“
„Nein, Groß … äh, Ed!“, sagte etwas in mir, das ich mal wieder nicht unter Kontrolle hatte. „Wir müssen es versuchen!“
Ed schwieg. Diesmal nicht ruhig und gelassen und mächtig über den Dingen stehend, sondern mit offenem Mund. Fassungslos und ungläubig. Hinter seiner Schulter tauchte Mbeki auf, hinter der anderen Julé. Alle drei gafften entgeistert in ihre Bildschirm-Kamera, so als wäre das Ding ein Orakel und wir die überraschende Weissagung.
„I … ich versprech dir, dass wir Ollie sicher und heil zurück zur Barbolzburg bringen. Und uns selbst natürlich auch! Und Victor und Alex! Kannst dich drauf verlassen!“, sagte ich. Derik nickte zustimmend, Tokio schien zu meditieren, oder zumindest wirkte sie so, als versuchte sie durch den Bildschirm
hindurchzublicken. Victor schnarchte und Pizzo hielt sich die Augen zu, um von Ed nicht gesehen zu werden.
Bevor Ed dann wieder etwas sagen konnte, rief Derik plötzlich: „Ed, wir melden uns!“
Damit klappte er das Gerät erneut zu, drehte es um, öffnete das Akkufach und zog den Akku raus.
Doch kurz darauf klingelte das Phone. Derik schnappte sich das Ding unter meiner Hand weg, schaltete es ebenfalls ab, und setzte es so wie den Laptop durch Akku-Entzug matt.
Cut.
Am nächsten Morgen erwachte Victor wieder als Erster – wahrscheinlich noch vor Sonnenaufgang. Morgenstund hat Gold im Mund, musste er sich wohl gedacht haben, als er zum Kühlschrank in der Kombüse schlich.
Wir wälzten uns erst gegen zehn Uhr aus den Kojen. Das Tiefdruckgebiet schien abgezogen, jedenfalls regnete es nicht mehr. Es war wieder heiß geworden, das ganze Schiff dampfte in der Vormittagssonne. Victor schlief schon wieder und ließ sich auch nicht von dem spitzen Aufschrei Tokios stören, die als Erste einen Blick in die Kombüse geworfen hatte.
Das Vorhängeschloss des Kühlschranks sah aus, als sei es zwischen die Kiefern eines Monsters geraten. Die Tür hing wie tot in einer ihrer beiden Angeln, das Gerät stand offen und war leer wie ein ausgeräumter Safe. Ebenso die Brotbox auf der Anrichte, die Obstkiste, drei Cornflakespackungen, mehrere zerfetzte Raviolidosen (von Fliegen belagert) und sämtliche Bolzstoff-Reserve-Dosen.
Alles Essbare an Bord war umverladen worden: in Victors Bauch, der sich jetzt unter seiner Bettdecke wölbte wie der einer Schwangeren im fünfzehnten Monat.