Lorna Byrne
Engel in meinem Haar
Die wahre Geschichte
einer irischen Mystikerin
Aus dem Englischen
von Claudia Fritzsche
Goldmann
Meiner Mutter fiel auf, dass ich schon als Baby ganz in meiner eigenen Welt zu leben schien. Und ich war gerade zwei Jahre alt, da nannte der Kinderarzt mich »retardiert«, »zurückgeblieben«. Ich selbst kann mich noch gut daran erinnern, wie ich in meinem Bettchen – einem großen Korb – lag und meine Mutter sich über mich beugte. Um sie herum sah ich wunderschöne, lichtvolle, in allen Regenbogenfarben strahlende Wesen. Deutlich größer als ich, doch wesentlich kleiner als Mam, hatten sie etwa die Größe dreijähriger Kinder und schwebten – Federn gleich – frei in der Luft. Ich weiß noch, wie ich die Händchen nach ihnen ausstreckte, sie berühren wollte, was mir jedoch nicht gelang. Ich war völlig fasziniert von diesen Geschöpfen und ihrem herrlichen Leuchten. Damals wusste ich noch nicht, wie sehr meine Wahrnehmung sich von der anderer Menschen unterschied. Es ging noch viel Zeit ins Land, bis die Wesen sich mir gegenüber als Engel zu erkennen gaben.
Im Verlauf der nächsten Monate bemerkte meine Mutter, dass ich immerzu woandershin blickte oder gar starrte, ganz gleich, was auch immer sie unternahm, um meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Tatsächlich war ich ganz woanders: Immer bei den Engeln und in deren Beobachtung versunken, aber auch im Gespräch und Spiel mit ihnen – ich verspürte grenzenloses Entzücken.
Zwar habe ich erst spät zu sprechen begonnen, doch mit den Engeln unterhielt ich mich schon in meinen jüngsten Tagen. Manchmal benutzten wir dabei das gewöhnliche menschliche Vokabular, dann wieder bedurfte es keiner Worte, weil wir wechselseitig unsere Gedanken lesen konnten. Zu jener Zeit glaubte ich, jedermann sähe, was ich sah: Doch die Engel hielten mich dazu an, niemandem zu erzählen, dass ich sie sehen konnte, und dieses Geheimnis zwischen uns zu bewahren. Und wirklich lauschte ich den Engeln Jahr um Jahr, ohne ein Wort davon preiszugeben. Erst jetzt, in diesem meinem Buch, werde ich vieles von dem enthüllen, was ich damals zum ersten Mal gesehen habe.
Das Verdikt des Arztes über die gerade einmal zweijährige Lorna sollte eine tief greifende Wirkung auf mein Leben haben: Mir wurde bewusst, dass Menschen grausam sein können. Seinerzeit lebten wir in Old Kilmainham, unweit der Dubliner Innenstadt. Mein Vater hatte dort einen kleinen Fahrradladen mit Reparaturwerkstatt und dazugehörigem Wohnhäuschen gemietet. Durchquerte man den Laden und wandte sich dann nach links, fand man sich vor einem kleinen und ziemlich heruntergekommenen Haus wieder. Es hatte seinen Platz in einer ganzen Reihe solcher cottages mit Geschäften, doch standen die meisten davon leer oder waren aufgrund ihres trostlosen Zustands schon ganz aufgegeben worden. Unser Leben spielte sich hauptsächlich in dem kleinen Raum im Erdgeschoss ab: Hier wurde gekocht, hier aßen wir, unterhielten uns oder spielten miteinander, ja sogar die Wäsche wurde hier gewaschen – in einem großen Metall-Zuber vor dem Herd. Das Haus besaß weder Bad noch WC, ein kleiner Pfad führte zu einem Verschlag im Hinterhof – unserer Außentoilette. Das obere Stockwerk enthielt zwei Schlafzimmer, zu Beginn teilte ich das eine – und das Bett – mit meiner älteren Schwester Emer. Damals nahm ich nicht nur die Engel wahr – diese sah ich, wenn ich morgens die Augen aufschlug bis abends, wenn ich wieder einschlief – sondern auch die Geister Verstorbener. So etwa meinen Bruder Christopher, der längst vor mir geboren, aber schon im zarten Alter von etwa zehn Wochen wieder gegangen war. Obwohl ich ihn nie lebendig zu Gesicht bekommen hatte, konnte ich ihn visualisieren und auf der geistigen Ebene mit ihm spielen. Im Gegensatz zu meiner Schwester und mir, die wir beide blond waren, hatte er dunkles Haar.
Zunächst fand ich nichts Seltsames dabei; für mich war er wie jedes andere Kind, nur sein Erscheinungsbild wirkte auf mich ein wenig heller, leuchtender. Einer der ersten Umstände, die mich dann doch auf sein Anderssein aufmerksam werden ließen, war die Tatsache, dass er sein Alter wechseln konnte. Einmal erschien er als Baby, dann wieder gleich alt mit mir und wackelte unsicheren Schrittes über den Fußboden; auch war er nicht immer da – er kam und ging.
Am Spätnachmittag eines kalten Wintertages, die Dunkelheit brach gerade herein, war ich allein in dem kleinen Wohnzimmer unseres Hauses in Old Kilmainham. Nur das offene Kaminfeuer erhellte flackernd den Raum. Ich hockte in seinem Schein auf dem Fußboden, beschäftigt mit den Holzklötzchen, die mein Vater uns zurechtgesägt hatte, als Christopher auftauchte, um mit mir zu spielen. Er setzte sich direkt vors Feuer und sagte mir, dort sei es zu heiß für mich, aber ihm mache das nichts aus, denn er spüre die Hitze nicht. Indem wir abwechselnd Klötzchen auf Klötzchen stapelten, errichteten wir gemeinsam einen Turm. Dieser hatte schon eine beachtliche Höhe erreicht, da trafen sich plötzlich unsere Hände. Ich war verblüfft, weil Christopher sich so ganz anders anfühlte als alle anderen Menschen, die ich kannte. Die Berührung erzeugte bei ihm Funken – wie ein kleiner Sternenregen. Im selben Augenblick ging ich in ihn über (vielleicht auch er in mich); es war, als verschmölzen wir miteinander und würden eins. Vor lauter Schreck stieß ich unseren schönen Holzturm um!
Ich brach in Gelächter aus und fasste ihn von neuem an. In diesem Augenblick habe ich wohl zum ersten Mal wirklich begriffen, dass Christopher nicht aus Fleisch und Blut bestand.
Doch habe ich ihn nie irrtümlich für einen Engel gehalten – denn die Engel um mich herum trugen zwar gelegentlich menschliche Züge, aber selbst dann besaßen die meisten von ihnen Flügel. Ihre Füße berührten den Boden nicht und aus ihrem Inneren drang ein helles Leuchten. Gelegentlich fehlte »meinen« Engeln jegliche Menschenähnlichkeit, dafür erschienen sie in Form scharf umrissener glühender Lichter.
Christopher tauchte häufig im direkten Umkreis meiner Mutter auf. Mitunter hielt sie in einem Stuhl am Feuer ihr Nickerchen, da lag er dann in ihren Armen und sie wiegte ihn. Ich hatte keine Ahnung, ob sie sich seiner Anwesenheit bewusst war, also fragte ich ihn: »Soll ich Mam erzählen, dass du hier bist?«
»Nein, das geht nicht«, gab er zurück, »weil sie es nicht verstehen würde. Aber manchmal kann sie mich fühlen. «
Eines Wintermorgens, die Sonne ging gerade auf, schwebten die Engel an mein Bett. Ich lag noch eingerollt unter der Decke, während meine Schwester Emer, mit der ich das Bett teilte, bereits aufgestanden und hinausgelaufen war. An ihrer Stelle hatte Christopher sich neben mir zusammengekuschelt. Er kitzelte mich und sagte: »Schau mal, Lorna, schau mal, da drüben am Fenster.«
Wie schon gesagt: Engel können verschiedene Formen und Gestalten annehmen – diesen Morgen kamen sie als Schneeflocken! Die Fensterscheiben schienen sich in Dampfschwaden zu verwandeln und jede Schneeflocke verwandelte sich darin ihrerseits in einen Engel von der Größe eines Babys. Dann glitten die Engel auf einem Sonnenstrahl durch das Fenster in den Raum, jeder von ihnen wirkte wie in weiß glitzernde Schneeflocken gehüllt. Als die Engel mich berührten, stoben die Schneeflocken auf mich herunter: Sie kitzelten und fühlten sich seltsamerweise nicht kalt, sondern warm an.
»Wäre es nicht wundervoll«, rief Christopher aus, »wenn alle Menschen wüssten, dass sie ihre Taschen mit Engeln füllen könnten? Dass in einer einzigen Tasche Tausende von Engeln Platz hätten, so wie Schneeflocken, und dass sie sie andauernd mit sich herumtragen könnten und deshalb nie mehr alleine wären?«
Ich drehte mich nach ihm um: »Und was ist, wenn sie in den Taschen schmelzen?«
Christopher kicherte: »Nichts! Engel schmelzen nämlich nie!«
»Ach, Christopher, wenn du doch bloß in Mams Tasche hineinpassen würdest, wie eine Schneeflocke, und dann immer hier sein könntest!«, sagte ich ganz traurig.
Er wandte sich mir zu und sah mich an, so wie wir beide da aneinander geschmiegt im Bett lagen: »Aber du weißt doch, ich bin immer da.«
Erst als ich schon erwachsen war, erzählte mir meine Mutter, sie habe ein Jahr vor meiner Geburt einen kleinen Sohn mit dem Namen Christopher zur Welt gebracht, der jedoch nur zehn Wochen am Leben geblieben sei. Ich reagierte mit einem Lächeln und fragte sie dann, wo Christopher denn beerdigt worden sei, und erfuhr, sie hätten ihn – nach damaligem Brauch – anonym auf einem Dubliner Friedhof für Kleinkinder bestattet.
Schade, dass es keine Grabstelle mit Christophers Namen gibt, die ich besuchen könnte, aber er ist auch so unvergessen. Sogar noch heute, nach all den Jahren, fühle ich Christophers Hand in meiner Tasche, er tut, als forme er Schneeflocken, um mich daran zu erinnern, dass ich nicht alleine bin.
Eines Tages, ich war damals etwa vier oder fünf Jahre alt, brachte ich mehr über Christopher und meine Mutter in Erfahrung. Ich saß am Tisch, baumelte mit den Beinen und verspeiste mein Frühstück, als ich aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick auf Christopher erhaschte, der an diesem Tag das Aussehen eines etwa Zwölfjährigen hatte. Er lief quer durch den Raum Richtung Ladentür, während meine Mutter gerade mit ein paar Scheiben Toast hereinkam. Sie strahlte über das ganze Gesicht und sagte: »Lorna, in der hinteren Werkstatt, unter Vaters Arbeitsbank, wartet eine Überraschung auf dich!«
Aufgeregt hopste ich vom Stuhl und folgte Christopher. Er hielt geradewegs durch den Laden auf die dunkle Werkstatt zu. Dort drinnen war es derart finster, dass ich erst innehalten und meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen musste. Doch war Christopher so etwas wie eine Lichtquelle für mich, denn er verbreitete ein sanft schimmerndes Leuchten, das mir den Weg durch die mit allem Möglichen vollgestellte Werkstatt wies. Er rief: »Die Katze hat Junge bekommen!« Und tatsächlich konnte ich – dank Christophers Licht – unter der Werkbank vier winzige Katzenbabys ausmachen. Drei davon kohlrabenschwarz, das vierte schwarz-weiß, sie waren einfach allerliebst, so weich und zart. Katzenmutter Blackie kletterte aus der Kiste, streckte sich und sprang durch das kleine Fenster hinaus in den Garten. Ich rannte hinter ihr her und rief Christopher zu, er solle auch hinauskommen, doch er blieb drinnen – wie immer.
Ich ging zurück in die Werkstatt und fragte Christopher: »Weshalb kommst du nie mit raus?«
Mit einer Geste, als wolle er mich trösten, ergriff er meine Hand – eine Berührung, die ich liebte – und unsere Hände verschmolzen wieder. Es wirkte wie ein geheimer Zauber: Ich fühlte mich geborgen und glücklich.
»Lorna, wenn Babys sterben, bleiben ihre Seelen bei ihren Müttern, so lange, wie sie dort gebraucht werden. Deshalb bleibe ich hier bei Mam. Wenn ich mit dir hinausginge, zerrisse ich all die Bänder der Erinnerung – und das werde ich nicht tun!«
Ich wusste, wovon er sprach. Meine Mutter hatte ihm so viel Liebe geschenkt: All die Erinnerungen an ihre Schwangerschaft, als sie ihn in sich getragen hatte, die Geburt, das Glück und die Freude, ihn in ihren Armen zu halten und ihn dann mit nach Hause zu nehmen – obgleich sie damals bereits gespürt hatte, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war, ganz gleich, was die Ärzte ihr gesagt hatten. Mam verbrachte zu Hause ein paar kostbare Wochen mit Christopher, bevor er starb, und er erzählte mir von der Liebe, die sie ihm so reichlich geschenkt hatte und die er ihr nun zurückgab.
Deshalb blieb der Geist meines Bruders im Haus, er verließ es nicht ein einziges Mal, bis wir dem kleinen Fahrradladen in Old Kilmainham für immer Lebewohl sagten. Zu diesem Zeitpunkt war meine Mutter bereit, meinen Bruder loszulassen und fühlte sich stark genug, auf ihrem Lebensweg weiterzugehen.
Immer wenn ich einen Engel sehe, habe ich den Wunsch innezuhalten, ihn genau zu betrachten und das Gefühl der Gegenwart einer ungeheuren Kraft. In der Jugend erschienen mir die Engel immer in Menschengestalt, was mir den Umgang mit ihnen erleichterte – doch das ist heute längst nicht mehr notwendig. Die Engel, die ich sehe, tragen nicht immer Flügel, doch wenn, verblüffen mich oftmals deren Formen: Mitunter gleichen sie Flammen, haben aber dennoch eine klare Kontur und Festigkeit; manche sind gefiedert. Die Flügel eines »meiner« Engel waren derart lang, schmal und spitz, dass ich ihn gerne gebeten hätte, sie einmal auszubreiten.
Erscheinen Engel in Menschengestalt – mit oder ohne Flügel –, bilden die Augen eines ihrer faszinierendsten Merkmale, denn Engelsaugen unterscheiden sich stark von den unseren: Sie sind so bewusst, so voller Leben, Licht und Liebe – als enthielten sie die Essenz des Lebens selbst –, ihr Strahlen erfüllt einen ganz und gar.
Niemals habe ich den Fuß eines Engels den Boden berühren sehen: Wenn ein Engel auf mich zukommt, nehme ich eine Art »Energiepuffer« zwischen dem Boden und seinen Füßen wahr. Manchmal ist er nur fadendünn, dann wieder bauscht er sich kissenförmig zwischen der Erde und dem Engel auf und kann sogar in die Erde hineinreichen.
Schon in meiner frühen Jugend gab es einen bestimmten Engel, der mir viele, viele Male erschien. Zum ersten Mal begegnete ich ihm im Schlafzimmer: Er stand in einer Ecke und sagte nur: »Lorna.« Einerseits sah er aus wie die anderen Engel auch, andererseits unterschied er sich zugleich deutlich: So leuchtete er stärker als die anderen und war von einer sehr bestimmenden Präsenz, macht- und kraftvoll, ein Abbild männlicher Stärke. Vom ersten Augenblick an hatte ich das Empfinden, er sei zu meinem Schutz bereit, gleich einem Schild. Seitdem kehrte er immer wieder, und allmählich schloss ich Freundschaft mit ihm. Sein Name sei Michael, ließ er mich wissen.
In der Schule hatte ich Schwierigkeiten, da die meisten Lehrer mich wie ein Dummerchen behandelten. Meine heilige Erstkommunion erhielt ich mit sechs Jahren von der Schule aus und es war einfach schrecklich. Dabei hätte es ein ganz besonderer Tag werden sollen – wie für die meisten irischen Kinder. Als wir uns im Klassenzimmer auf die Erstkommunion vorbereiteten, stellten die Lehrer allen Kindern Fragen zum Katechismus, nur mich übergingen sie einfach. Stattdessen bekam ich zu hören: »Es hat ja doch keinen Zweck, dich etwas zu fragen!« Und als alle anderen Kinder sich in Reihe aufstellten und etwas zur heiligen Kommunion sagten, wollte ich mich dazustellen, wurde jedoch abgedrängt, zum Wegtreten und Hinsetzen aufgefordert. Eine tiefe Verletzung für ein Kind …
Während ich dann hinten im Klassenzimmer oder in einer Ecke auf der Bank saß, fragte ich meine Engel: »Wissen die denn nicht, dass ich meinen Katechismus auch kenne? Sie geben mir ja nicht einmal eine Chance.«
Als ich dann am Tag meiner Erstkommunion gemeinsam mit den anderen Kindern durch die Kirche zum Altar schreiten wollte, wurde ich am Arm gepackt und aus der Reihe gezerrt, denn nach der Entscheidung des Lehrers sollten die besseren Schülerinnen vorangehen.
Doch es gab auch ein paar liebenswürdige Menschen! Als ich etwa vier Jahre alt war, hatten wir eine Nonne als Lehrerin; meiner Erinnerung nach hieß sie Mutter Moderini. Man hatte ihr zwar gesagt, ich sei langsam und zurückgeblieben, doch fühlte ich, dass sie es besser wusste. Wenn wir bei ihr Unterricht hatten, kam sie stets zu mir und stellte mir knappe, einfache Fragen, die ich immer richtig beantworten konnte, woraufhin sie mir lächelnd über den Kopf strich.
Doch abgesehen von diesen gelegentlichen Freundlichkeitsbezeugungen einiger Weniger wuchs ich als Außenseiterin heran. Die Menschen um mich herum konnten mein Anderssein zwar erkennen, es aber nicht verstehen. Dieser Aspekt meines Lebens brachte viele Probleme mit sich – und so ist es bis heute geblieben. Ich bekomme immer zu hören, ich sei zu offen, zu vertrauensvoll, zu geradeheraus für diese Welt – aber ich kann nun einmal nicht anders! Seltsamerweise gestaltet es sich nicht nur schwierig, in jeder Hinsicht – in Gedanken und Worten – aufrichtig und seinen Mitmenschen gegenüber ehrlich zu sein, es macht auch einsam.
Die Art und Weise, in der andere Menschen von mir denken oder mich betrachten, trifft mich auch heute noch oftmals tief. Selbst wenn sie nicht die geringste Ahnung haben, wer ich bin oder was ich tue, so spüren sie doch immerhin, dass ich mich auf irgendeiner Ebene von ihnen unterscheide. Gehe ich mit Freunden aus und lerne dabei neue Leute kennen, solche, die überhaupt nichts von mir wissen, so kommt doch meistens die Rückmeldung, sie hätten irgendetwas Ungewöhnliches an mir bemerkt, könnten es aber nicht näher benennen. Damit zu leben, ist nicht immer einfach!
Mein Dasein als Schülerin ließ sich von dem Augenblick an leichter ertragen, als der Engel Hosus in mein Leben trat. Das geschah eines Morgens auf dem Schulweg. Ich ging zusammen mit einem älteren Mädchen und beeilte mich, Schritt zu halten, als mein Blick auf einen wunderschönen Engel fiel, der sich hinter einem Laternenpfahl verbarg und mir eine Grimasse schnitt. Von diesem Tag an erschien Hosus beinahe allmorgendlich auf meinem Schulweg. Und noch heute treffe ich ihn regelmäßig.
Hosus hatte – und hat – das Erscheinungsbild eines altmodisch gekleideten Schullehrers: Er trägt einen flatternden Umhang, meist in Blau, wobei die Farbe jedoch wechseln kann, einen ulkig geformten Hut und eine Papierrolle in der Hand. Seine Augen leuchten und funkeln sternengleich, er ähnelt einem jungen Gelehrten – ein Mann mit der Ausstrahlung von Energie, großer Autorität und Weisheit. Im Gegensatz zu den anderen Engeln in meiner Umgebung bleibt Hosus sich immer gleich. Michael beispielsweise erscheint meistens in Menschengestalt – ich hatte ihn darum gebeten, weil ich damit besser zurechtkomme –, doch verändert er diese laufend, je nach den äußeren Gegebenheiten oder der Botschaft, die er mir zu überbringen hat.
Hosus repräsentiert für mich das Wissen: Er wirkt sehr ernsthaft und kann es auch sein, aber zugleich versteht er es großartig, mich aufzuheitern, wenn mich etwas bedrückt. Er tröstete mich immer und riet mir damals auch, die anderen Kinder einfach zu ignorieren, wenn sie mich in der Schule wieder verspottet hatten oder wenn ein Grüppchen Erwachsener miteinander tuschelte und sich dann nach mir umdrehte. In solchen Fällen pflegte er anzumerken: »Die haben doch überhaupt keine Ahnung.«
Zu Anfang kannte ich seinen Namen noch nicht und er redete auch nicht direkt mit mir, vielmehr tauchte er einfach im Klassenzimmer auf, imitierte den Lehrer oder eines der anderen Kinder und stellte irgendetwas Komisches an, um mir ein Lächeln zu entlocken. Mitunter erwartete er mich auf dem Heimweg am Schultor oder auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ich erinnere mich noch gut an das erste Mal, als ich ihn ansprach: An diesem besonderen Tag hatte ich niemanden zur Gesellschaft für den Nachhauseweg. Meine Schwester war wegen ihrer Tanzstunde schon früher gegangen, also ließ ich mir Zeit mit dem Heimkommen und trödelte noch über den Spielplatz. Langsam hielt ich auf das große Eingangstor zu, in der Hoffnung, Hosus zu begegnen und endlich ein Wort mit ihm wechseln zu können. Deswegen war ich begeistert, ihn verstohlen hinter einem Pfeiler hervorlugen zu sehen. Er rief mir zu, ich solle mich beeilen: »Du musst vor dem Regen zu Hause sein!« Ich blieb am Tor stehen und blickte mich um. Da niemand sonst zu sehen war, fragte ich den Engel nach seinem Namen.
»Hosus«, erwiderte er. Ich kicherte zur Antwort. Auf dem Nachhauseweg sprang und hüpfte ich und er mit mir, und sonst kann ich mich nur noch daran erinnern, dass ich die meiste Zeit gelacht habe.