ARTHUR C. CLARKE
IM MONDSTAUB VERSUNKEN
Roman
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Pat Harris genoss den Vorzug, Kapitän des einzigen Schiffs auf dem Mond zu sein. Als die Passagiere die Selene betraten und sich auf die Fensterplätze stürzten, fragte er sich, wie die Fahrt wohl diesmal sein würde. Im Rückspiegel konnte er Miss Wilkins beobachten, wie sie in ihrer adretten blauen Uniform die Fahrgäste begrüßte. Wenn sie gemeinsam Dienst hatten, versuchte er immer sie als »Miss Wilkins«, nicht als »Sue« zu sehen, dann konnte er sich besser auf seine Pflichten konzentrieren. Aber er wusste immer noch nicht, was sie wirklich von ihm hielt.
Er bemerkte keine vertrauten Gesichter; es handelte sich um eine ganz neue Gruppe, die erwartungsvoll der ersten Kreuzfahrt entgegensah. Die meisten Passagiere waren typische Touristen – ältere Leute zu Besuch auf einer Welt, die in ihrer Jugend als unerreichbar gegolten hatte. Nur vier oder fünf Fahrgäste mochten unter dreißig sein, und sie gehörten vermutlich zum technischen Personal eines der Mondstützpunkte. Man konnte fast immer unterstellen, dass alle älteren Menschen von der Erde kamen, während die jungen Leute auf dem Mond wohnten.
Aber für sie alle war das Meer des Durstes etwas Neues. Hinter den Aussichtsfenstern der Selene erstreckte sich die graue, staubige Oberfläche ungebrochen bis zu den Sternen. Darüber hing die im Abnehmen befindliche, sichelförmige Erde, seit einer Jahrmilliarde unverrückbar am Himmel festgeheftet. Das grelle blaugrüne Licht des Mutterplaneten überflutete die seltsame Landschaft mit kaltem Glühen – und es war wirklich kalt, etwa hundert Grad Celsius unter null auf der ungeschützten Oberfläche.
Kein Mensch hätte beim bloßen Anblick unterscheiden können, ob das Meer flüssig oder fest war. Es zeigte sich völlig flach und ohne jedes Gepräge, gänzlich frei von den zahllosen Rissen und Spalten, die diese unfruchtbare Welt überall durchzogen. Nicht ein einziger Hügel, kein Felsblock, ja, nicht einmal ein Kiesel störten die monotone Einförmigkeit. Kein Meer der Erde – nicht einmal ein Teich – blieb je so unbewegt.
Es war ein Meer aus Staub, nicht aus Wasser, und daher aller menschlichen Erfahrung fremd, aber aus demselben Grund wurde der Mensch davon fasziniert und angezogen. So fein wie Puder, durch das Vakuum trockener als der ausgedörrte Sand der Sahara, bewegte es sich so leicht und mühelos wie irgendeine Flüssigkeit. Wenn man einen schweren Gegenstand hineinwarf, verschwand er sofort, ohne jedes Aufspritzen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Nichts konnte sich auf dieser trügerischen Oberfläche halten als die kleinen, für zwei Mann bestimmten Staubschlitten – und Selene selbst, eine bizarre Mischung aus Omnibus und Schlitten, nicht unähnlich den Schneetraktoren, die ein Lebensalter zuvor die Erforschung der Antarktis ermöglicht hatten.
Selenes amtliche Bezeichnung lautete »Staubkreuzer Mark I«, obwohl eine Mark II nach Pats Meinung nicht einmal auf dem Reißbrett existierte. Man nannte sie je nach Wunsch »Schiff«, »Boot« oder »Mondbus«; Pat zog »Boot« vor, um Verwechslungen auszuschalten. Wenn er dieses Wort gebrauchte, konnte ihn niemand mit dem Kapitän eines Raumschiffs verwechseln – und Raumschiffkapitäne gab es natürlich wie Sand am Meer.
»Willkommen an Bord der Selene«, sagte Miss Wilkins, als alle Passagiere Platz genommen hatten. »Captain Harris und ich begrüßen Sie herzlich. Die Fahrt wird vier Stunden dauern. Als erstes Ziel ist der Kratersee, hundert Kilometer östlich im Unzugänglichen Gebirge vorgesehen …«
Pat hörte die vertrauten Begrüßungsworte kaum; er war mit den Startvorbereitungen beschäftigt. Bei der Selene handelte es sich praktisch um ein nichtfliegendes Raumschiff; sie musste es sein, weil sie sich im Vakuum bewegte und ihre gebrechliche Fracht vor einer feindseligen Umwelt zu schützen hatte. Obwohl sie die Oberfläche des Mondes nie verließ und statt durch Raketen von Elektromotoren angetrieben wurde, war sie komplett wie ein Raumkreuzer ausgerüstet – und vor dem Start musste alles genauestens überprüft werden.
Sauerstoff – O.K. Stromversorgung – O.K. Funk – O.K. – »Achtung, Stützpunkt Regenbogen, Verständigungsprobe von Selene. Empfangen Sie mich?« – Kreiselnavigator – eingestellt, Luftschleusensicherung – eingeschaltet. Druckanzeiger – O.K. Beleuchtungsanlage – O.K. Gangway – entfernt. Und so weiter, über fünfzig Prüfstellen, die automatisch anzeigten, sobald irgendeine Störung eintrat. Aber Pat Harris verließ sich nicht auf Automaten, wenn er die Kontrolle selbst vornehmen konnte.
Endlich war er fertig. Fast unhörbar begannen sich die Motoren zu drehen, aber die Schraubenflügel standen noch still, und die Selene lag noch ruhig an ihrem Ankerplatz. Dann stellte er die Backbordschraube auf halbe Kraft, und die Selene begann sanft nach rechts abzudrehen. Als das Boot den Ankerplatz verlassen hatte, richtete er es gerade und gab Gas.
Wenn man die völlig neuartige Konstruktion der Selene in Betracht zog, ließ sie sich erstaunlich leicht steuern. Hier hatte es keine endlosen Versuchsreihen und Zufallsentdeckungen gegeben, wie sie sich bis zum Steinzeitmenschen, bis zu den ersten Einbäumen, verfolgen ließen. Die Selene war die erste in einer völlig neuen Entwicklung, erschaffen im Gehirn einiger Ingenieure, die sich an einen Tisch gesetzt und gefragt hatten: »Wie baut man ein Fahrzeug, das auf einem Staubmeer schwimmt?«
Ein paar von ihnen hatten aus sentimentalen Beweggründen einen Raddampfer aus ihr machen wollen, aber es war schließlich bei den leistungsfähigeren Schiffsschrauben geblieben. Während sie sich durch das Meer bohrten und die Selene vor sich hertrieben, riefen sie eine Kielspur hervor, die von einem mit Blitzesschnelle grabenden Maulwurf zu stammen schien, aber diese Spur verschwand innerhalb weniger Sekunden, ohne einen Hinweis auf den Weg des Bootes zu hinterlassen.
Die geduckten Druckkuppeln von Port Roris versanken schnell hinter dem Horizont. Nach nicht einmal zehn Minuten verschwanden sie völlig; die Selene war ganz allein. Sie befand sich im Mittelpunkt einer Umwelt, für die es in menschlicher Zunge keine Bezeichnung gab.
Als Pat die Motoren abschaltete und das Boot langsam zum Stillstand kam, spürte er, wie die Stille um ihn herum wuchs. Es war immer dasselbe; die Passagiere brauchten immer einige Zeit, bis sie die Andersartigkeit dessen begriffen, was draußen lag. Sie hatten den Weltraum durchquert und die Sterne bewundert, sie hatten zur strahlenden Erde hinauf- oder hinabgesehen, aber das hier war etwas anderes. Es war weder Land noch Meer, weder Luft noch Weltraum, es schien gleichsam aus all dem kombiniert.
Bevor die Stille bedrückend wurde, bevor sie jemand ängstigen konnte, erhob sich Pat und sah seine Passagiere an.
»Guten Abend, meine Damen und Herren«, begann er. »Ich hoffe, dass Miss Wilkins es Ihnen bequem gemacht hat. Wir halten hier an, weil es sich gerade hier empfiehlt, Ihnen das Meer vorzustellen – Sie sozusagen damit vertraut zu machen.«
Er deutete auf die Fenster, die den Blick auf ein geisterhaftes Grau freigaben.
»Was denken Sie, wie weit der Horizont entfernt ist?«, fragte er. »Oder um es anders auszudrücken, wie groß würden wir wohl einen Menschen sehen, wenn er dort draußen stünde, wo sich Sterne und Boden zu berühren scheinen?«
Eine Frage, die nach dem Beweis des Augenscheins allein nicht zu beantworten war. Bei logischer Überlegung sagte man sich: Der Mond ist ziemlich klein – der Horizont kann also nicht weit entfernt sein. Aber die Sinne gelangten zu einem völlig neuen Urteil. Dieses Land, so meldeten sie, ist ganz flach und erstreckt sich in die Unendlichkeit. Es teilt das Universum in zwei Hälften; für immer und ewig zieht es unter den Sternen dahin …
Selbst wenn man die Ursache dieser Illusion kannte, blieb sie bestehen. Das Auge kann ohne Hilfs- und Merkpunkte Entfernungen nicht abschätzen. Der Blick verlor sich hilflos und unsicher auf diesem formlosen Staubozean. Ja es gab nicht einmal – wie auf der Erde – den sanften Schleier einer Atmosphäre, um Hinweise auf Nähe oder Ferne zu liefern. Die Sterne zeigten sich als starre Lichtpunkte, ohne jedes Funkeln, bis hinab zu jenem unbestimmten Horizont.
»Ob Sie's glauben oder nicht«, fuhr Pat fort, »Sie können genau drei Kilometer weit sehen. Ich weiß, dass man die Entfernung bis zum Horizont nur im Maßstab von Lichtjahren zu fassen meint, aber man könnte bequem in zwanzig Minuten zu Fuß dorthin kommen, wenn es möglich wäre, auf diesem Staub zu gehen.«
Er kehrte zu seinem Sessel zurück und ließ die Motoren wieder anlaufen.
»Die nächsten sechzig Kilometer gibt es nicht allzu viel zu sehen«, rief er über die Schulter, »also machen wir ein bisschen Tempo.«
Die Selene schoss vorwärts. Zum ersten Mal spürte man die Geschwindigkeit. Die Kielspur des Bootes wurde länger und höher, als die rotierenden Schrauben sich in den Staub fraßen. In großen Sprühwolken stieg er zu beiden Seiten empor; von weitem hätte die Selene wie ein Schneepflug gewirkt, der sich unter einem kalten Mond durch die winterliche Landschaft arbeitet. Aber jene grauen, langsam in sich zusammenfallenden Massen waren kein Schnee, und das Licht über ihrer Bahn kam von der Erde.
Die Passagiere entspannten sich und genossen die glatte, fast lautlose Fahrt. Jeder hatte auf dem Flug zum Mond eine vielhundertfache Geschwindigkeit erlebt – aber im Weltraum wurde man sich dessen nicht bewusst. Dieses blitzschnelle Gleiten über den Staub war weitaus aufregender. Als Harris das Steuer einschlug und die Selene einen Kreis beschreiben ließ, überholte das Boot beinahe die fallenden Puderschleier, die seine Schrauben zum Himmel emporgeschleudert hatten. Es schien kaum fasslich, dass dieser überfeine Staub, unbehindert von jedem Luftwiderstand, in eleganten Bögen hochstieg und wieder hinabsank. Auf der Erde wäre er stunden-, ja vielleicht tagelang dahingetrieben worden.
Als das Boot wieder auf geradem Kurs lag und außer der leeren Ebene nichts zu sehen war, befassten sich die Passagiere mit den reichlich zur Verfügung gestellten Unterlagen. Jeder hatte einen Prospekt mit Fotografien, Landkarten und belehrendem Text erhalten. Außerdem eine Urkunde – »Hiermit wird bestätigt, dass Mr./Mrs./Miss … die Meere des Mondes auf dem Staubkreuzer Selene befahren hat.« Sie brauchten die Broschüre nur durchzulesen, um alles Wissenswerte über das Meer des Durstes zu erfahren, vielleicht auch noch ein bisschen mehr.
Fast der ganze Mond, so lasen sie, ist von einer dünnen Staubschicht bedeckt, die gewöhnlich nur ein paar Millimeter Tiefe aufweist. Zum Teil handelt es sich dabei um Sternschutt – um die Überreste von Meteoriten, die seit mindestens fünf Milliarden Jahren auf die ungeschützte Oberfläche des Mondes gefallen waren. Zum anderen Teil war er von den Felsgebirgen des Mondes abgebröckelt, weil sie sich durch die extremen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht zusammenzogen und wieder ausdehnten. Woher der Staub aber auch immer stammen mochte, er war so fein, dass er wie eine Flüssigkeit dahinströmte, selbst bei dieser geringen Schwerkraft.
In Äonen war er von den Gebirgen in die Ebenen hinabgesunken, hatte Teiche und Seen gebildet. Die ersten Astronauten waren darauf vorbereitet gewesen. Aber das Meer des Durstes war eine Überraschung; niemand hatte geglaubt, einen Staubozean mit einem Durchmesser von über hundert Kilometern zu finden.
Im Vergleich zu den »Meeren« des Mondes war es sehr klein, ja die Astronauten hatten eine Bezeichnung nie offiziell akzeptiert, sondern stets darauf hingewiesen, dass es sich nur um einen kleinen Teil des Sinus Roris – der Taubucht – handelte. Und wie konnte der Teil einer Bucht ein ganzes Meer sein? Aber der von einem Werbefachmann erfundene Name hatte sich gehalten. Er war mindestens ebenso passend wie die Namen der anderen sogenannten Meere – Meer der Wolken, Regenmeer, Meer der Ruhe. Gar nicht zu reden vom Nektarmeer …
Die Broschüre enthielt auch beruhigende Informationen, um die Befürchtungen auch der nervösesten Reisenden zu zerstreuen und den Beweis zu liefern, dass die Touristenbehörde an alles gedacht hatte.
»Für Ihre Sicherheit sind alle möglichen Vorkehrungen getroffen worden«, hieß es da. »Die Selene führt eine Sauerstoffreserve für über eine Woche mit sich, alle lebenswichtigen Apparaturen sind in zweifacher Ausfertigung vorhanden. Ein automatisches Funksignal meldet in regelmäßigen Abständen die genaue Position, und bei einem allerdings höchst unwahrscheinlichen totalen Stromausfall würden sie ohne Verzögerung von einem Staubschlitten nach Port Roris zurückgeschleppt werden. Überdies braucht man sich wegen der Witterung keine Sorgen zu machen. Auf dem Mond gibt es keine Seekrankheit. Stürme auf dem Meer des Durstes gibt es nicht.«
Während die Selene durch die von der Erde erleuchtete Nacht raste, ging man auf dem Mond seinen Geschäften nach. In den letzten fünfzig Jahren hatte sich hier mehr ereignet als in den fünf Milliarden Jahren zuvor, und manches sollte noch folgen.
In der ersten Stadt, die der Mensch je außerhalb seines Heimatplaneten erbaut hatte, ging Chefverwalter Olsen durch den Park spazieren. Wie die anderen fünfundzwanzigtausend Einwohner von Port Clavius war er sehr stolz auf diesen Park. Er war natürlich klein – wenn auch nicht so winzig, wie jener hämische Nachrichtensprecher mit der Bezeichnung »größenwahnsinniger Blumenkasten« angedeutet hatte. Jedenfalls gab es auf der Erde keinen Garten mit zehn Meter hohen Sonnenblumen.
Hoch oben zogen kleine Zirruswolken vorbei – so schien es jedenfalls. Es handelte sich natürlich nur um Bilder, die auf die Innenseite der Kuppel projiziert wurden, aber die Illusion war so perfekt, dass der C. V. manchmal Heimweh bekam. Heimweh? Er korrigierte sich; er war hier zu Hause.
Aber in seinem Innersten wusste er, dass das nicht stimmte. Es galt vielleicht für seine Kinder, aber nicht für ihn. Er war in Stockholm auf der Erde geboren; sie hatten in Port Clavius das Licht der Welt erblickt. Sie waren Bürger des Mondes; er gehörte zur Erde.
Knapp einen Kilometer entfernt, gerade außerhalb der Hauptkuppel, prüfte der Leiter der Touristenbehörde die letzten Ergebnisse. Man hatte gegenüber dem Vorjahr wieder einen Aufschwung zu verzeichnen. Es gab zwar auf dem Mond keine Jahreszeiten, aber man konnte doch nicht übersehen, dass mehr Touristen heraufkamen, wenn sich in der nördlichen Hemisphäre der Erde der Winter meldete.
Wie konnte er dieses Ergebnis halten? Das war eben immer das Problem, denn Touristen verlangten nach Abwechslung, und man konnte ihnen nicht immer wieder dasselbe anbieten. Die neuartige Landschaft, die niedrige Schwerkraft, der Anblick der Erde, die Geheimnisse der Rückseite, der herrliche Sternenhimmel, die Siedlungen – was hatte der Mond sonst schon zu bieten? Wie bedauerlich, dass es keine Mondureinwohner mit seltsamen Gebräuchen und noch wunderlicherem Aussehen für die Fotografierwut der Besucher gab. Aber leider benötigte man zur Besichtigung des größten Lebewesens, das je auf dem Mond gefunden worden war, ein Mikroskop – und selbst dessen Ahnen waren mit einer der ersten Mondraketen hier heraufgekommen.
Direktor Davis überdachte kurz die letzten Berichte, die per Telefax heraufgekommen waren; vielleicht half ihm hier etwas weiter. Natürlich wieder einmal die übliche Bitte einer der vielen Fernsehgesellschaften, einen Dokumentarbericht über den Mond zu drehen – falls alle Auslagen erstattet wurden. Das musste er natürlich ablehnen. Wenn er alle diese freundlichen Angebote akzeptierte, hatte seine Abteilung bald ein Defizit aufzuweisen.
Und dann ein Brief seines Kollegen bei der Touristenbehörde von New Orleans, der einen Personalaustausch vorschlug. Daraus schienen sich weder Vorteile für den Mond noch für New Orleans zu ergeben, aber immerhin, es kostete nichts und würde wenigstens eine gute Presse machen. Und schließlich – schon interessanter – die Anfrage des Wasserschimeisters von Australien, ob irgendjemand schon versucht habe, auf dem Meer des Durstes Ski zu laufen. Ja – das war einmal ein guter Einfall; merkwürdig, dass man jetzt erst darauf kam. Aber vielleicht war es bereits ausprobiert worden, mit Hilfe der Selene oder einem der kleinen Staubschlitten. Ein Versuch konnte ja nicht schaden. Davis war stets darauf bedacht, neue Vergnügungen zu finden, und das Meer des Durstes gehörte zu seinen Lieblingsprojekten.
Es war ein Projekt, das sich im Verlaufe weniger Stunden zu einem Albtraum wandeln sollte.
Der Horizont zeigte sich nicht mehr als sanft geschwungener, wohl abgerundeter Bogen; über dem Mondrand hatte sich ein zerklüftetes Gebirgsmassiv erhoben. Während der Kreuzer darauf zuraste, schien der Gebirgszug, wie von einem riesigen Lift getragen, langsam am Himmel emporzuschweben.
»Das Gebirge der Unzugänglichkeit«, verkündete Miss Wilkins. »Man nennt es so, weil es ringsum vom Meer umgeben ist. Sie werden auch bemerken, dass es im Vergleich zu den anderen Mondbergen beachtliche Höhen erreicht.«
Sie spann dieses Thema nicht weiter aus, da die überwiegende Mehrzahl der Mondgipfel als schwere Enttäuschung angesehen wurde. Die gewaltigen Kratergebirge, auf von der Erde aus aufgenommenen Fotografien ungeheuer eindrucksvoll, hatten sich bei näherem Hinsehen als sanft ansteigende Hügel entpuppt, deren Umrisse durch die zu den Dämmerungszeiten weit hingestreckten Schatten arg übertrieben wurden. Es gab nicht einen einzigen Krater, dessen Wälle steil anstiegen, und nur wenige Erhebungen hätten einem kräftigen Radfahrer Schwierigkeiten machen können. Aus den Veröffentlichungen der Touristenbehörde war das allerdings nicht zu entnehmen, denn hier fanden sich nur die spektakulärsten Klippen und Schluchten, von besonders günstigen Punkten aus fotografiert.
»Man hat es bisher nicht genau erforscht«, fuhr Miss Wilkins fort, »im vergangenen Jahr setzten wir eine Gruppe von Geologen auf diesem Vorgebirge drüben ab, aber sie konnten sich nur ein paar Kilometer ins Innere vorarbeiten. Niemand weiß also, was in diesen Bergen verborgen sein mag.«
Prima, Sue, dachte Pat; sie war eine erstklassige Führerin und wusste genau, was man der Phantasie überlassen und was man im Einzelnen erklären musste. Sie vermied den singenden Tonfall, wie er bei berufsmäßigen Reiseleitern häufig auftrat. Außerdem wusste sie wirklich gut Bescheid; es kam nur selten vor, dass sie eine Frage nicht beantworten konnte. Alles in allem war sie eine sehr tüchtige junge Dame, und obwohl Pat eine Schwäche für sie hatte, fürchtete er sich ein bisschen vor ihr.
Die Passagiere starrten fasziniert auf die näher rückenden Gipfel. Auf dem immer noch geheimnisumwitterten Mond gab es also noch große Rätsel. Wie eine Insel aus dem seltsamen Meer emporsteigend, stellte das Gebirge der Unzugänglichkeit für die nächste Forschergeneration eine Herausforderung dar. Ungeachtet des Namens, war es jetzt verhältnismäßig leicht, an die Berge heranzukommen – aber da immer noch Millionen Quadratkilometer leichter erreichbaren Geländes der Erforschung harrten, mussten sie eben warten, bis sie an die Reihe kamen.
Die Selene kurvte in den Schatten. Bevor die Fahrgäste begriffen hatten, was vor sich ging, war die tief am Himmel stehende Erde verdeckt. Das grelle Licht spielte immer noch über die hohen Gipfel, aber hier unten war es völlig dunkel.
»Ich werde die Kabinenbeleuchtung abschalten«, erklärte die Stewardess, »damit sie die Aussicht besser genießen können.«
Die Lampen erloschen, und jeder Reisende glaubte, in der Mondnacht allein zu sein. Selbst das reflektierte Erdlicht auf den Berggipfeln verschwand, als der Kreuzer tiefer in den Schatten raste. Minuten später waren nur noch die Sterne zu sehen – kalte, bewegungslose Lichtpunkte in einer unheimlichen Schwärze, gegen die sich der Verstand auflehnte.
Es fiel schwer, die vertrauten Sternbilder unter dieser Überfülle von Himmelskörpern herauszufinden. Der Blick verlor sich in einem glitzernden Irrgarten aus Sternhaufen und -nebeln. In diesem schimmernden Panorama gab es nur einen unverwechselbaren Merkpunkt – Venus, die alles andere überstrahlte und das Herannahen der Dämmerung ankündigte.
Es dauerte ein paar Minuten, bevor die Fahrgäste begriffen, dass Wunder nicht nur am Himmel zu schauen waren. Hinter dem dahinschießenden Kreuzer erstreckte sich eine lange, phosphoreszierende Kielspur, als würde mit Zauberhand eine leuchtende Linie über die dunkle, staubige Oberfläche des Mondes gezogen. Die Selene führte einen Kometenschweif mit sich, wie nur irgendein Schiff, das sich seinen Weg durch die tropischen Ozeane der Erde bahnte.
Aber hier gab es keine Mikroorganismen, die dieses tote Meer mit ihren winzigen Lichtern zum Glühen bringen konnten. Nur zahllose Staubkörnchen, die ihre durch die schnelle Fahrt der Selene hervorgerufene statische Elektrizität entluden. Es war ein herrlicher Anblick, auch wenn man die wissenschaftliche Erklärung kannte – in die Nacht hinauszusehen und dieses leuchtende, elektrische Band zu beobachten, das sich ständig erneuerte, ständig erstarb, als spiegele sich die Milchstraße auf dieser Fläche wider.
Die schimmernde Spur verlor sich im grellen Licht, als Pat den Scheinwerfer einschaltete. Fast beängstigend nahe glitt eine riesige Felswand vorbei. An dieser Stelle stieg die Bergflanke fast senkrecht aus dem Staubmeer empor, hinauf bis zu unbekannten Höhen, denn nur jene Stellen, über die der grellweiße Lichtkegel glitt, wurden zur Realität.
Hier gab es also Berge, gegen die der Himalaja, die Rocky Mountains, die Alpen verblassten. Auf der Erde nagte die Erosion an allen Erhebungen, so dass sie nach ein paar Millionen Jahren nur noch geisterhafte Abbilder ihrer selbst waren. Aber der Mond kannte weder Wind noch Regen. Nichts konnte die Felsen hier abtragen als das unermesslich langsam fortschreitende Zerbröckeln der Oberflächen, die sich durch die Nachtkühle zusammenzogen. Diese Berge waren so alt wie die Welt, die sie erschaffen hatte.
Pat führte seine Regie mit einigem Stolz und hatte auch den nächsten Akt sorgfältig geplant. Es sah gefährlich aus, war aber völlig sicher, denn die Selene hatte diesen Kurs schon über hundert Mal zurückgelegt. Das Elektronengedächtnis ihres Steuersystems kannte den Weg besser als jeder Pilot. Pat schaltete plötzlich den Scheinwerfer ab – und jetzt konnten die Passagiere erkennen, dass das Gebirge auf der anderen Seite drohend herangerückt war, während sie das Licht des Scheinwerfers auf der einen Seite geblendet hatte.
In fast völliger Dunkelheit raste die Selene durch eine enge Schlucht, und nicht einmal auf geradem Kurs, denn von Zeit zu Zeit wich sie unsichtbaren Hindernissen aus. Ein paar davon waren nicht nur unsichtbar, sondern überhaupt nicht vorhanden; Pat hatte diesen Kurs bei geringer Geschwindigkeit und Tageslicht in das Elektronengedächtnis programmiert, um bei seinen Passagieren größte Wirkung zu erzielen. Das vielfache »Ah!« und »Oh!« aus der verdunkelten Kabine bewies, dass er gute Arbeit geleistet hatte.
Hoch oben war ein schmaler, sternenbesetzter Streifen alles, was von der Außenwelt zu sehen blieb; er schwenkte bei jeder abrupten Kursänderung scharf von rechts nach links und wieder zurück. Der Nachtritt, wie Pat diese Fahrt bei sich nannte, nahm bisher fünf Minuten in Anspruch, aber er schien weitaus länger zu dauern. Als Pat schließlich die Leuchtstrahler wieder einschaltete, so dass der Kreuzer inmitten eines großen Lichtteichs dahinglitt, hörte er von den Passagieren einen zwischen Erleichterung und Enttäuschung schwankenden Seufzer. Dieses Erlebnis würden sie sobald nicht vergessen.
Sie konnten jetzt sehen, dass sie durch ein schmales Tal fuhren, dessen Wände langsam auseinanderwichen. Bald darauf hatte sich die Schlucht zu einem annähernd ovalen Amphitheater mit einem Durchmesser von etwa drei Kilometern geweitet – das Herz eines erloschenen Vulkans, der vor Äonen, als der Mond noch jung gewesen war, Lava zum Himmel emporgeschleudert hatte.
Der Krater war, an den Maßstäben des Mondes gemessen, außerordentlich klein, aber in seiner Art einmalig. Der Staub war hineingeflutet, hatte sich in endlosen Jahrhunderten durch das Tal hinaufgearbeitet, so dass die Touristen von der Erde jetzt in aller Bequemlichkeit diesen Kessel befahren konnten, in dem einst alle Höllenfeuer loderten.
Als die Selene an den steil aufragenden Wänden des Kessels entlangzufahren begann, dachte mehr als einer ihrer Passagiere an eine Kreuzfahrt auf irgendeinem Bergsee der Erde. Hier gab es dieselbe heimelige Stille, das gleiche Gefühl, dass unter dem Boden endlose Tiefen lagen. Die Erde besaß viele Kraterseen, der Mond nur einen – obwohl er weitaus mehr Krater aufzuweisen hatte.
Pat ließ sich Zeit und wiederholte die Rundfahrt, während die Lichtkegel der Scheinwerfer auf den Felswänden tanzten. Während des Tages, solange die Sonne das Gebirge mit Licht und Hitze bombardierte, war von diesem Zauber nicht viel zu spüren. Aber jetzt schien es ins Reich der Phantasie zu gehören. Wieder und wieder glaubte man seltsam geformte Gestalten aus dem Augenwinkel zu erkennen. Aber das war natürlich reine Einbildung; außer den Schatten von Sonne und Erde bewegte sich in dieser Landschaft nichts. Auf einer Welt, die von Anbeginn leblos war, konnte es keine Geister geben.
Es war Zeit, umzukehren und nach einer Fahrt durch die Schlucht wieder das offene Meer zu gewinnen. Pat richtete den breiten Bug der Selene auf die schmale Öffnung zwischen den Bergen, und wieder wurden sie von den hohen Felswänden eingeschlossen. Auf der Rückfahrt blieben die Scheinwerfer eingeschaltet, damit die Passagiere den Weg verfolgen konnten. Außerdem wirkte der Nachtritt ein zweites Mal nicht mehr so aufregend.
Weit voraus, außer Reichweite der Strahler des Bootes, wuchs ein Licht, pflanzte sich sanft über Felsblöcke und zerklüftete Wände fort. Selbst wenn sie im Abnehmen begriffen war, besaß die Erde immer noch die Leuchtkraft eines Dutzends von Vollmonden, und als die Selene die Bergschatten verließ, behauptete die Erde wieder ihren ersten Rang am Himmel. Alle zweiundzwanzig Männer und Frauen an Bord der Selene starrten zu dieser blaugrünen Sichel hinauf, bewunderten ihre Schönheit, staunten über ihr Leuchten. Wie seltsam, dass die vertrauten Felder, Seen und Wälder der Erde so majestätisch schimmerten, wenn man sie von weitem betrachtete! Vielleicht sollte man das als Lehre auffassen; vielleicht vermochte der Mensch seinen Heimatplaneten nicht zu schätzen, ehe er ihn nicht vom Weltraum aus gesehen hatte.
Und auf der Erde waren sicher viele Augen dem Mond zugewandt – jetzt noch mehr als früher, da er der Menschheit so viel bedeutete. Möglich, dass in diesem Augenblick auch durch gewaltige Teleskope dieser winzige Punkt beobachtet wurde, wie er langsam durch die lunare Nacht dahinzog. Aber niemand würde etwas dabei finden, wenn dieser Funke plötzlich zu flackern begann und dann erstarb.
Seit vielen tausend Jahren hatte sich die Gasblase wie ein riesiger Abszess unter dem Gebirgsstock ausgedehnt. Während der ganzen Menschheitsgeschichte war Gas aus dem noch nicht völlig toten Inneren des Mondes durch schwache Stellen gedrungen und hatte sich in Höhlungen angesammelt, die Hunderte von Metern unter der Oberfläche lagen. Auf der Erde waren die Eiszeiten nacheinander vorübergegangen, während die unterirdischen Höhlen wuchsen, Verbindung suchten und sich schließlich vereinigten. Und nun war der Abszess nahe daran, aufzuplatzen.
Captain Harris hatte die Selene auf automatische Steuerung gestellt und unterhielt sich mit den Passagieren, als das erste Zittern durch die Bootswände lief. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, ob eine Schiffsschraube an ein verborgenes Hindernis geraten war, dann verlor er buchstäblich den Boden unter den Füßen.
Der Fall ging langsam vor sich, wie immer auf dem Mond. Vor der Selene begann die glatte Ebene in einem riesigen Umkreis Wellen zu schlagen. Das Meer wurde lebendig, es bewegte sich, angeregt von den Kräften, die aus dem endlosen Schlaf erwacht waren. Im Zentrum des Kreises bildete sich ein Trichter, als entstünde im Staub ein riesenhafter Strudel. Jede Einzelheit dieser albtraumhaften Veränderung wurde gnadenlos von der Erde beleuchtet, bis der Krater so tief war, dass sich die gegenüberliegende Wand im Schatten verlor, und es schien, als rase die Selene in die gewölbte, tintige Schwärze hinein – um dort ausgelöscht zu werden.
Die Wahrheit war fast ebenso schlimm. Als Pat die Steuerung endlich erreichte, rutschte und schleuderte das Boot den irrsinnigen Abhang hinunter. Die eigene Schwungkraft und das beschleunigte Treiben des Sandes darunter trug die Selene kopfüber in die Tiefe. Pat konnte nichts tun, als sein Boot auf Kiel zu halten und zu hoffen, dass seine Geschwindigkeit sie auf der anderen Seite des Kraters wieder hinauftragen würde, bevor er einstürzte.
Pat wusste nicht, ob die Passagiere aufgeschrien hatten. Er war sich nur des furchtbaren Hinabrutschens und seiner eigenen Versuche bewusst, das Boot vor dem Kippen zu bewahren. Aber während er noch fieberhaft die Steuerung bediente und abwechselnd die Schiffsschrauben anließ, um die Selene auf geradem Kurs zu halten, meldete sich eine seltsame, halb verschwommene Erinnerung. Irgendwo, irgendwie hatte er das schon einmal erlebt …
Das war natürlich Unsinn, aber er konnte die Erinnerung nicht loswerden. Erst als er den Tiefpunkt des Trichters erreicht hatte und den gewaltigen Abhang aus Staub vor sich sah, hob sich für einen Augenblick der Schleier.
Er war wieder ein kleiner Junge und spielte an irgendeinem Sommertag im Sand. Er hatte eine winzige Grube gefunden, völlig symmetrisch und glattwandig, in deren Tiefe sich etwas verbarg – vergraben bis auf die wartenden Kiefer. Der kleine Junge hatte zugesehen, staunend, schon in der Erkenntnis, dass sich hier ein kleines Drama abspielte. Er hatte beobachtet, wie eine Ameise über den Rand des Kraters geriet und den Abhang hinabrutschte.
Sie hätte leicht entkommen können – aber als das erste Sandkorn auf den Grund des Trichters gerollt war, hatte das wartende Ungeheuer eingegriffen. Mit den Vorderbeinen schaufelte es eine Sandflut zu der sich abmühenden Ameise hinauf, bis sie von der Lawine überwältigt wurde und gänzlich hinabglitt.
Wie die Selene jetzt, die hinabrutschte. Kein Ameisenlöwe hatte diesen Trichter auf der Oberfläche des Mondes gegraben, aber Pat kam sich jetzt so hilflos vor wie jene vor vielen Jahren beobachtete, zum Tode verurteilte Ameise. Wie sie bemühte er sich, die Sicherheit des Trichterrandes zu erreichen. Während die hinabgleitende Wand ihn in die Tiefen hinabriss, wo der Tod wartete. Ein schneller Tod für die Ameise, ein lange hinausgezögerter für ihn und seine Begleiter.
Die aufheulenden Motoren trugen die Selene vorwärts, aber es reichte nicht. Der fallende Staub beschleunigte seine Geschwindigkeit, und – was schlimmer war – er stieg an den Außenwänden des Bootes empor. Jetzt hatte er den unteren Rand der Fenster erreicht, jetzt kroch er an den Scheiben hoch, und schließlich hatte er sie völlig eingeschlossen. Harris schaltete die Motoren ab, bevor es zu einem Kurzschluss kam, und in diesem Augenblick verdeckte die steigende Sandflut die sichelförmige Erde. In Dunkelheit und völliger Stille sanken sie in den Mond hinab.
In den Elektronikkonsolen des Kontrollturms, Erdseite Nord, klickte ein Relais. Die Zeit: eine Sekunde nach zwanzig Uhr Mondzeit; gewisse elektrische Impulse, die automatisch jede Stunde eintreffen mussten, waren ausgeblieben.
Mit übermenschlicher Geschwindigkeit suchte eine Handvoll Zellen und mikroskopisch kleiner Relais nach Anweisungen.
»Fünf Sekunden abwarten«, hatte die Programmierung gelautet, »dann Stromkreis 10 01 10 01 schließen.«
Der mit diesem Problem bisher befasste winzige Teil des Elektronengehirns wartete geduldig, bis diese immense Zeitspanne ablief – in der hundert Millionen zwanzigstellige Zahlen hätten addiert werden können. Dann wurde Stromkreis 10 01 10 01 geschlossen.
Hoch über dem Mond sandte eine Antenne, die seltsamerweise der Erde zugewandt war, einen Funkimpuls aus. In einer Sechstelsekunde hatte er die fünfzigtausend Kilometer zu dem als Lagrange II bekannten Relaissatelliten durchmessen, der sich genau zwischen Mond und Erde befand. Eine weitere Sechstelsekunde später war der Impuls zurückgekehrt und von Erdseite Nord verstärkt aufgefangen worden.
Mit Worten ausgedrückt, verkündete der Impuls: »Achtung, Selene, ich kann Sie nicht empfangen. Bitte sofort melden.«
Das Elektronengehirn wartete weitere fünf Sekunden. Dann schickte es den Impuls wieder hinaus, und dann abermals. Die Maschine war unendlich geduldig.
Die nächste Anweisung lautete: »Stromkreis 10 10 10 10 schließen.« Das Gerät gehorchte. Im Kontrollturm leuchtete eine rote Warnlampe auf, ein Summer wurde in Tätigkeit gesetzt. Zum ersten Mal erkannten Menschen und Maschinen, dass irgendwo auf dem Mond etwas Unvorhergesehenes geschehen war.
Die Nachricht verbreitete sich zuerst nur langsam, weil der Chefverwalter unnötige Aufregungen hasste. Dasselbe galt, in verstärktem Maße, für den Leiter der Touristenbehörde. Nichts schadete seiner Abteilung mehr als Alarme und Notrufe – selbst wenn sie, wie in den meisten Fällen, nur auf durchgebrannte Sicherungen, fälschlich ausgelöste Kontakte oder überempfindliche Warnsysteme zurückzuführen waren. Aber auf einer Welt wie dem Mond musste man wachsam sein. Es war besser, sich von eingebildeten Krisen ängstigen zu lassen, als auf wirkliche Katastrophen nicht zu reagieren.
Erst nach mehreren Minuten gab Direktor Davis widerwillig zu, dass es sich hier um einen Ernstfall zu handeln scheine. Selenes automatisches Funksignal war schon früher einmal ausgefallen, aber Pat Harris hatte sich im Anschluss daran sofort auf dem seinem Boot zugeteilten Kurzwellenband gemeldet.
Diesmal blieb alles still. Die Selene hatte nicht einmal auf ein Signal geantwortet, das auf der sorgfältig geheim gehaltenen Katastrophenfrequenz ausgestrahlt worden war. Auf diese Nachricht hin eilte Davis über die unterirdische Rollstraße nach Clavius City.
Am Eingang zum Kontrollturm stieß er auf den Chefingenieur Erdseite. Das war ein schlechtes Zeichen; es bedeutete, dass jemand eine Rettungsaktion für nötig hielt. Die beiden Männer starrten einander bedrückt an.
»Hoffentlich brauchen Sie mich nicht«, meinte Chefingenieur Lawrence. »Was gibt's denn? Ich weiß nur, dass man ein Katastrophensignal ausgeschickt hat. Um welches Raumschiff geht's denn?«
»Um gar keins. Die Selene meldet sich nicht. Sie ist draußen, auf dem Meer des Durstes.«
»Du lieber Himmel – wenn ihr da etwas zugestoßen ist, können wir sie nur mit den kleinen Staubschlitten erreichen. Ich hab immer gesagt, dass wir zwei Kreuzer brauchen, bevor wir Touristen herumkutschieren können.«
»Richtig – aber bei der Finanzabteilung war man ja dagegen. Es hieß, wir könnten erst ein zweites Boot bekommen, wenn die Selene bewiesen hätte, dass sie Profit abwirft.«
»Hoffentlich wirft sie nicht statt dessen Schlagzeilen ab«, meinte Lawrence grimmig. »Sie wissen ja, was ich von Touristen auf dem Mond halte.«
Im Kontrollraum war es wie immer sehr still. Auf den großen Wandkarten leuchteten unaufhörlich die grünen und gelben Lampen auf, aber ihre Routinemeldungen blieben neben der rot flackernden Warnlampe jetzt unbeachtet. An den Konsolen für Luft, Energie und Strahlung saßen Techniker.
»Nichts Neues«, meldete der für den Bodenverkehr verantwortliche Mann. »Wir tappen noch völlig im Dunkeln. Wir wissen lediglich, dass sie irgendwo draußen auf dem Meer sind.« Er zeichnete mit dem Finger einen Kreis auf die Wandkarte. »Falls sie nicht völlig unerklärlich vom Kurs abgewichen sind, müssen sie in diesem Gebiet sein. Bei der Meldung um neunzehn Uhr betrug die Entfernung vom Normalkurs nur einen Kilometer. Um zwanzig Uhr war das Signal verschwunden, also muss sich in diesen sechzig Minuten irgendetwas ereignet haben.«
»Welche Geschwindigkeit kann die Selene stündlich erzielen?«, fragte jemand.
»Bei Vollgas hundertzwanzig Kilometer«, erwiderte Davis. »Aber normalerweise fährt sie weit unter hundert. Bei einer Ausflugsfahrt hat man es schließlich nicht eilig.« Er starrte gebannt die Karte an, als könne sie ihm weiterhelfen. »Wenn sie draußen auf dem Meer sind, wird man sie ja bald finden. Haben Sie die Staubschlitten schon hinausgeschickt?«
»Nein, Sir. Ich warte auf die Genehmigung.«
Davis sah den Chefingenieur an, der auf dieser Seite des Mondes im Rang nur unter Chefverwalter Olsen stand. Lawrence nickte langsam.
»Schicken Sie sie hinaus«, sagte er. »Aber rechnen Sie nicht mit baldigen Ergebnissen. Es wird eine Weile dauern, wenn man ein paar tausend Quadratkilometer absuchen will, vor allem nachts. Weisen Sie die Leute an, den vorgesehenen Kurs von der letzten gemeldeten Position aus abzusuchen, und zwar zu beiden Seiten mit je einem Schlitten.«
Als der Befehl weitergegeben worden war, fragte Davis bekümmert: »Was, glauben Sie, könnte wohl geschehen sein?«
»Es gibt nur ein paar Möglichkeiten. Es muss sehr plötzlich gekommen sein, weil wir keine Nachricht auffangen konnten. Das deutet auf eine Explosion hin.«
Davis wurde blass. Mit Sabotage musste man immer rechnen, man konnte sich nicht völlig dagegen schützen.
»Dann wäre noch an einen Zusammenstoß zu denken«, fuhr der Chefingenieur fort. »Vielleicht ist die Selene gegen ein Hindernis geprallt.«
»Harris fährt sehr vorsichtig«, meinte Davis. »Er macht das ja auch schon lange.«
»Jeder macht mal einen Fehler. Wenn man bei Erdlicht fährt, sind Entfernungen sehr schwer abzuschätzen.«
Davis hörte ihn kaum. Er dachte an all die Maßnahmen, die er zu treffen hatte, wenn es zum Schlimmsten kam. Es war wohl am besten, bei der Rechtsabteilung die Versicherungspolicen überprüfen zu lassen. Ein Schadenersatzprozess würde den Erfolg seines gesamten Werbeprogramms in Frage stellen.
Der Verkehrssicherungsspezialist hüstelte nervös. »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte«, sagte er zum Chefingenieur. »Wir könnten Lagrange rufen. Vielleicht ist es den Astronomen oben möglich, irgendetwas zu sehen.«
»Bei Nacht?«, fragte Davis skeptisch. »Aus einer Entfernung von fünfzigtausend Kilometern?«
»Durchaus möglich, wenn die Scheinwerfer der Selene noch funktionieren. Ein Versuch lohnt sich jedenfalls.«
»Gute Idee«, meinte Lawrence. »Veranlassen Sie das sofort.«
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