eISBN: 978-3-649-63108-8

© 2018 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Rüdiger Bertram

Illustration: Irmela Schautz

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Rüdiger Bertram

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Anfangs konnte ich sie nicht leiden. Nein, das trifft es nicht. Es war schlimmer. Ich habe sie gehasst. So sehr, wie man als Dreizehnjähriger hassen kann, und da ist Platz für eine ganze Menge Hass. Aber das wisst ihr wahrscheinlich selber. Das brauche ich euch nicht erst zu erzählen.

Das mit dem Hass hatte übrigens nichts damit zu tun, dass ihre Eltern reicher sind als meine. Ehrlich nicht! Von mir aus könnte denen die ganze Welt gehören, wäre mir völlig egal. Außerdem tut sie das ja auch. Irgendwie jedenfalls. Ihr Vater ist Pilot und ihre Mutter Stewardess. Die waren schon überall. Zu Hause sind die eher selten, und wenn ich die Wahl und das nötige Kleingeld hätte, würde ich es genauso machen. »Diese Stadt ist nicht mal halb so groß wie der Friedhof von Chicago, aber doppelt so tot«, hat mein Opa früher immer gesagt und das stimmt. Überall ist es besser als hier, aber das ist auch ziemlich einfach.

Es ist nicht so, dass sie mit dem Fliegerjob ihrer Eltern ständig rumgeprahlt hätte. Nur ab und zu hat sie Sachen in die Schule gebracht, die ihre Eltern aus den letzten Ecken der Welt als Mitbringsel angeschleppt hatten. Gruselige Holzmasken aus Afrika, bunt bemalte Straußeneier aus Australien oder riesige karibische Schneckenmuscheln, in denen man das Meer rauschen hört, wenn man sie sich ans Ohr hält. Dann kamen alle angerannt, um zu sehen, was sie diesmal dabeihatte. Ich nicht. Ich blieb auf meinem Stuhl hocken und habe höchstens unauffällig aus der Ferne einen Blick riskiert. Sehen konnte ich nichts, weil alle um sie herumstanden, bis unser Lehrer kam und die Versammlung aufgelöst hat, um mit dem Unterricht anfangen zu können.

Glaubt jetzt bloß nicht, dass ich irgendwie neidisch auf sie war. Das ist totaler Quatsch. Es interessierte mich nur einfach nicht, und dass alle sie mochten, war mir auch egal. Ich bin sowieso lieber für mich allein. Und dass sie besser in der Schule ist, fließend Englisch und Französisch spricht, gut rechnen kann und außerdem noch toll aussieht, hat mich auch nicht gestört. Das ist ja nicht ihr Verdienst. Sie hat einfach Glück gehabt, dass sie schlank und groß ist und glatte blonde Haare und keinen einzigen Pickel im Gesicht hat. Nicht so wie ich. Aber ich finde Perfektion ja sowieso eher langweilig. Die anderen Jungen in unserer Klasse finden Perfektion überhaupt nicht langweilig, die finden sie alle einfach nur todschick.

Okay, ich gebe es zu. Wahrscheinlich war ich doch ein bisschen neidisch. Aber das ist nicht der Grund, warum ich sie nicht leiden konnte.

Der Grund, warum ich sie hasste, war Fußball.

Sie und ich spielen in derselben Mannschaft, weil es bei uns im Verein zu wenige Mädchen für ein eigenes Team gibt. Wir sind beide Torhüter. Und genau das war das Problem. Jede Mannschaft braucht nur einen Torwart auf dem Platz, während sich der andere draußen auf der Bank langweilt.

Und jetzt dürft ihr drei Mal raten, wer von uns beiden die ganze Saison von außen zuschauen musste?

Richtig, und es ist nicht besonders lustig, am Rand zu sitzen und nur darauf zu warten, dass sich die Nummer eins verletzt oder so oft danebengreift, dass der Trainer gar nicht mehr anders kann, als sie auszuwechseln. Ist aber leider nicht vorgekommen. Nicht bis zum allerletzten Spieltag.

Ich saß mal wieder auf der Ersatzbank und hatte ein Buch dabei, das wir für die Schule lesen mussten: In achtzig Tagen um die Welt. Ich starrte auf die Seiten, ohne auch nur ein einziges Wort zu kapieren, das ich da las. Als ich aufschaute, traten unsere Gegner gerade einen Eckstoß. Sie ging raus, um den Ball mit beiden Händen aus dem Strafraum zu fausten. Das hätte auch fast geklappt, wäre da nicht der Mittelstürmer der anderen Mannschaft gewesen. Beide stiegen gleichzeitig hoch. Sie, um den Ball wegzuhauen, er, um ihn reinzuköpfen. Dabei knallten sie mit ihren Schädeln aneinander. Das hörte man bis auf die Bank, und wenn ich mich daran erinnere, kribbelt das heute noch unter meiner Kopfhaut, als wenn es mir selber passiert wäre.

Dann lag sie auf dem Boden und rührte sich für einen ewig langen Moment nicht mehr. Ich weiß noch genau, wie schlecht ich mich fühlte, weil ich für eine Sekunde hoffte, sie würde gar nicht mehr aufstehen. Na ja, nicht nie wieder aufstehen, aber zumindest so lange nicht, bis sie ausgewechselt werden musste.

»Mach dich fertig, Tobi«, sagte der Trainer zu mir und da legte ich das Buch zur Seite, zog meinen Trainingsanzug aus und machte ein paar Kniebeugen.

Nicht, weil das wirklich was bringt. So ein paar Kniebeugen wärmen einem ja die Muskeln nicht auf, so von einer Sekunde auf die andere, sondern nur, weil man das eben so macht, wenn man eingewechselt wird. Auch in der Bundesliga.

Ich war gerade fertig, als sie wieder auf die Beine kam. Der Schiedsrichter stand neben ihr, ziemlich genau am Elfmeterpunkt, und redete auf sie ein. Ich wollte mir meine Trainingsjacke schon wieder anziehen und ehrlich gesagt war ich mittlerweile auch gar nicht mehr so unglücklich darüber. Bei jedem anderen Spiel hätte ich mich riesig gefreut, endlich mal nicht nur beim Training, sondern in einem richtigen Spiel zwischen den Pfosten stehen zu dürfen. Aber nicht bei dem hier. Das Ganze war mir ein bisschen zu groß und zu heiß und zu unheimlich. Das war nämlich kein gewöhnliches Spiel, hier ging es um den Titel.

Gewannen wir, waren wir Meister. Verloren wir, waren wir nur Vizemeister. Es ging also um alles oder nichts, denn Zweiter ist nichts. Ich weiß, wovon ich rede, und es stimmt auch nicht, wenn die Leute immer sagen: Der zweite Platz ist doch auch was Schönes, da kann man stolz drauf sein. Am Arsch. Ich bin zweiter Torwart.

Zweiter ist nichts.

Es waren nur noch fünf Minuten zu spielen, und da konnte ich nur verlieren, weil wir eins zu null in Führung lagen. Wenn ich in den letzten Minuten einen Treffer kassierte, war ich der Depp. Und wenn ich den Vorsprung halten würde, wäre ich trotzdem kein Held, weil sie es ja gewesen war, die die Mannschaft mit ihren Paraden über die ganze Saison an die Spitze geführt hatte. Ich hatte nichts zu gewinnen, außer einer kurzen Notiz im Spielbericht, dass ich in der fünfundachtzigsten Minute den Rasen betreten hatte.

Ich hatte meine Trainingsjacke schon wieder an, als der Schiedsrichter unserem Trainer ein Zeichen gab, dass seine erste Torhüterin wohl doch nicht mehr weiterspielen konnte. Unser Coach nickte mir zu und flüsterte: »Verkack es nicht, Tobi.«

Ich sagte nichts, sondern nickte nur zurück und zog mir die Jacke wieder aus. Dann schnappte ich mir meine Handschuhe und machte noch mal ein paar Kniebeugen. Nicht um mich aufzuwärmen, sondern nur, damit die anderen nicht merkten, dass ich am ganzen Körper zitterte.

Wir begegneten uns an der Seitenlinie, aber ich glaube nicht, dass sie mich gesehen hat. Aus einer üblen Platzwunde an der Stirn lief ihr Blut übers Gesicht, und das sah so eklig aus, dass mir für einen Moment schwindlig wurde. Ihr scheinbar auch. Unser Trainer musste sie am Arm führen, damit sie nicht mit den Beinen einknickte. Ihr Blick war nach dem Zusammenstoß ganz neblig, so als würde sie durch eine Milchglasscheibe gucken. Ich klopfte ihr tröstend auf die Schulter, weil man das halt so macht und weil ich genau wusste, dass mich alle anstarrten. Da wollte ich nicht unsportlich sein. Ich ließ mir dann extra viel Zeit auf dem Weg zum Tor. Wir lagen mit einem Treffer vorn, und desto später ich im Strafraum ankam, desto kürzer würde das Spiel dauern und desto geringer war die Chance, dass ich den Sieg mit einer unglücklichen Aktion noch verspielen konnte. Ich glaubte nämlich nicht, dass der Schiedsrichter die ganze Zeit nachspielen ließ, die sie auf dem Boden gelegen hatte. Und das tat er ja auch nicht. War aber auch wieder nicht gut. Nicht für uns jedenfalls.

Die anderen Jungs aus meiner Mannschaft versuchten, sich ihre Sorge nicht ansehen zu lassen, als ich an ihnen vorbei zum Tor schlenderte. Ein paar lächelten mir aufmunternd zu, andere guckten weg. Nur die Gegner grinsten fies. Alle. Ich glaube, damit wollten sie mich nur verunsichern, was ihnen auch gelang.

Als ich endlich im Strafraum ankam, schnappte ich mir den Ball und trat den Freistoß, den der Schiedsrichter uns gegeben hatte. Ich passte zu einem meiner Mitspieler und das klappte wunderbar. Der Pass ging genau dahin, wo er hinsollte. Ich war ganz erleichtert und dachte, so schlimm wird es schon nicht werden. In den nächsten Minuten stimmte das auch. Es lief gar nicht so schlecht für mich. Einmal musste ich eine gegnerische Flanke aus der Luft pflücken und ein anderes Mal einen Fernschuss parieren. Aber der war nicht besonders platziert geschossen und das mit dem Hechten wäre gar nicht nötig gewesen. Das hatte ich nur gemacht, weil es besser aussieht, wenn man als Torwart auch mal in die Ecke springt.

Es ging tatsächlich viel besser als erwartet, bis dann der Konter kam. Einer der Gegner lief mit dem Ball direkt auf mich zu und ich musste mich entscheiden: stehen bleiben oder rauslaufen. Ich entschied mich für das Laufen und das war ein Fehler. Vielleicht hätte er das Tor auch gemacht, wäre ich stehen geblieben. Ganz sicher wäre es nicht so peinlich gewesen. Er tunnelte mich, lief rechts um mich herum und schob den Ball dann lässig mit links ins Tor. Noch lauter als der Jubel unserer Gegner war das Stöhnen meiner Mitspieler. Genau in dem Moment zog hoch oben am Himmel ein Flieger über den Platz, und für einen Augenblick dachte ich, dass ich da gern drin sitzen würde, Tausende Kilometer weit weg.

Der nächste Treffer, den ich kassierte, war so ein Kullerball, der in letzter Sekunde noch vom Knie eines Verteidigers fies abgefälscht wurde. Ich sah nicht gut dabei aus, weil ich schon auf dem Weg in die andere Ecke war. Als ich merkte, dass sich das nicht mehr lohnte, blieb ich einfach stehen. Von außen muss das gewirkt haben, als würde ich einfach nur zugucken, wie der Ball über die Linie kullerte.

Kurz darauf war das Spiel zu Ende und wir nur Vizemeister.

Und wem, glaubt ihr, gaben nachher alle die Schuld daran?

In der Kabine war es ganz still. Keiner sprach. Nicht mal der Trainer sagte was. Kein aufmunterndes Wort von wegen: »Nächstes Jahr schaffen wir es bestimmt, ihr werdet schon sehen, dann machen wir sie fertig.« Irgendwas in der Art, was Trainer in so einer Situation meiner Meinung nach sagen sollten.

Tat er aber nicht, und das lag vielleicht auch daran, dass es für uns keine Revanche geben würde. Wir waren alle kurz vor dem Wechsel in die nächste Altersklasse, und viele von uns hatten schon angekündigt, dass sie nach der Saison die Mannschaft verlassen würden.

In der Umkleide hockten alle auf den Bänken und starrten auf den Boden. So als wenn dort irgendwas Interessantes zu sehen wäre. Aber da gab es nichts zu sehen, außer dreckigen Fußballschuhen und verschwitzten Klamotten, die überall verstreut lagen. Ich glaube ja sowieso, dass die alle nur auf den Boden gestarrt haben, um mich nicht angucken zu müssen.

»Okay, es tut mir leid.«

Das war meine Stimme. Ich wollte das gar nicht sagen, aber es rutschte mir so raus, weil ich die Stille nicht mehr ertragen konnte. Als Antwort erhielt ich nur ein undeutliches Gemurmel, aus dem ich nicht heraushören konnte, ob es verzeihend oder anklagend gemeint war.

»Das war einfach Pech beim ersten Tor und mal ehrlich, eigentlich hätte die Verteidigung den Stürmer gar nicht durchlassen dürfen«, redete ich weiter, weil ich irgendwie das Bedürfnis hatte, das zu klären. »Und für den zweiten Treffer konnte ich auch nichts. Der war abgefälscht, das ist einfach extrem unglücklich gelaufen.«

Wieder nur Gemurmel.

»Sie hätte die auch nicht gehalten!«

Natürlich wusste jeder in der Kabine, wer mit sie gemeint war.

Im Gegensatz zu den anderen Spielerinnen saß sie diesmal auch bei uns in der Jungenkabine. Sonst hat sie immer eine eigene. Sie hatte schon die ganze Zeit still auf einer Bank gehockt und sich einen Eisbeutel gegen die Stirn gedrückt, genau an die Stelle, mit der sie gegen den Schädel des Stürmers geknallt war. Jetzt legte sie den Beutel weg, kam auf mich zu und stellte sich direkt vor mich. Das war ein bisschen blöd, weil ich saß und sie stand. Da musste ich zu ihr aufschauen und das war nicht gut. »Klar hätte ich.«

Keiner der anderen sagte ein Wort, aber die Stille hatte sich verändert, und es war nicht besonders schwer zu entscheiden, bei wem die Sympathien meiner Mannschaftskollegen lagen.

»Nie im Leben, die beiden Treffer waren unhaltbar«, log ich trotzig und stand auf, damit ich nicht weiter zu ihr hochgucken musste.

»Die hätte sogar meine Oma gehalten«, erwiderte sie und das klang ein bisschen kindisch, fand ich.

Hätte meine Oma gehalten … das sagt man vielleicht im Kindergarten oder in der Grundschule, aber doch nicht mehr in der siebten Klasse. Trotzdem lachten alle und das war kein gutes Zeichen. Nicht für mich.

Erst jetzt bemerkte ich, dass sie lächelte. Das war mir vorher gar nicht aufgefallen, weil ich nur auf die Platzwunde an ihrer Stirn gestarrt hatte. Die wurde ja jetzt nicht mehr von dem Eisbeutel verdeckt und sah ziemlich gruselig aus. Da habe ich lieber auf ihr Lächeln geschaut, aber besser war das auch nicht. Dabei war gar nicht klar, ob das so ein fieses, herablassendes Lächeln war oder ob das vielleicht sogar nett gemeint war.

Denn so richtig mies war sie eigentlich nie zu mir gewesen und das habe ich immer bedauert. Wenn einer richtig mies zu einem ist, kann man den ja viel leichter hassen, als wenn er sich freundlich, nett und hilfsbereit benimmt. Und das hat sie, das kann ich nicht bestreiten. Leider.

Auch bei unserem Torwarttraining hat sie mir oft geholfen und mir Tipps gegeben. Und wenn es darum ging, dass wir dem anderen aufs Tor schießen sollten, hat sie ihre Bälle so platziert, dass ich immer die Chance hatte, sie zu kriegen. Im Gegensatz zu mir. Ich habe mir immer die Winkel ausgesucht, wenn ich an der Reihe war. Auch auf die Gefahr hin, dass ich nachher ewig lang laufen musste, um die Bälle zu holen, die ich am Tor vorbeigefeuert hatte. Beim Einsammeln hat sie mir sogar geholfen und das hat mich echt auf die Palme gebracht. Jedes Mal, auch wenn ich es mir nie habe anmerken lassen.

Jetzt konnte ich es nicht mehr runterschlucken. Es war einfach zu viel, weil sie so viel perfekter war als ich und wegen der zwei Tore, die ich kassiert hatte, wegen ihrer Piloteneltern und weil sie immer noch so nett lächelnd vor mir stand.

Ich habe nicht zugeschlagen, das nicht. Schließlich ist sie ein Mädchen und außerdem war sie verletzt und ich schlage keine Mädchen und verletzte Mädchen erst recht nicht. Vor allem keine, die vielleicht sogar stärker sind als ich. Ich fing einfach an zu brüllen. Ohne darüber nachzudenken, was ich brüllte. Das kam alles weniger aus meinem Kopf, sondern mehr so aus dem Bauch. Ganz, ganz tief aus meinem Bauch, aus einer Tiefe, von der ich gar nicht wusste, dass es die überhaupt gibt.

Ich weiß nicht, wie lange ich gebrüllt habe. Ich weiß nur, dass mich alle angeglotzt haben, weil ich sonst mehr so der ruhige Typ bin und eher selten etwas sage. Jetzt konnte ich gar nicht mehr aufhören.

Ich schrie alles raus, was mir schon seit Ewigkeiten auf die Nerven gegangen war, und es kann sein, dass das meiste davon sie abbekommen hat. Ganz am Ende rutschte mir dann was richtig Bescheuertes raus. Wahrscheinlich lag es an diesem Buch, das wir gerade in der Schule lasen. Das heißt, ich hatte es ja gar nicht richtig gelesen, sondern mir nur die Zusammenfassung bei Wikipedia runtergeladen. Aber irgendwas muss da hängen geblieben sein, weil ich ihr am Ende meiner Wutrede folgenden Satz in ihr verblüfftes Gesicht brüllte: »Und selbst wenn du in achtzig Tagen um die Welt reisen würdest, wäre mir das völlig egal. Aber so was von egal! Das kannst du dir gar nicht vorstellen, wie egal mir das wäre!«

Ich hab euch ja schon gewarnt, dass das totaler Blödsinn war, und das beweist auch, dass dieser ganze Wortdurchfall, den ich da in der Umkleidekabine abgesondert habe, nicht aus meinem Kopf, sondern wirklich aus meinem Bauch kam. Noch viel bescheuerter aber war, was sie dann sagte, auch wenn es nur ein einziges Wort war.

»Acht!«

»Wie acht? Was denn für eine Acht?«, stotterte ich, weil mich die Zahl komplett aus dem Konzept brachte. Nicht, dass ich eins gehabt hätte, aber jetzt war ich völlig durcheinander.

»Acht Tage. Ich reise in acht Tagen um die Welt, nicht in achtzig. Wetten wir?« Sie hielt mir die Hand hin, so als erwartete sie tatsächlich von mir, dass ich in diese völlig durchgeknallte Wette einschlagen würde.

Ich bemühte mich, an ihr vorbeizuschauen, dabei begegnete ich den Blicken der anderen Jungs aus unserer Mannschaft, die neugierig zurückstarrten, weil sie wissen wollten, wie ich auf das Angebot reagieren würde.

»Was ist? Um was wetten wir?« Sie hielt immer noch die Hand ausgestreckt.

»Keine Ahnung«, murmelte ich, und weil mir nichts Besseres einfiel, schob ich schnell hinterher. »Die Ehre?«

»Abgemacht«, erwiderte sie und schob ihre Hand so dicht an mich ran, dass ihre Finger fast meine Brust berührten.

»Das ist doch totaler Blödsinn«, sagte ich und lachte. »Und selbst wenn, das kann doch gar keiner kontrollieren, ob du wirklich um die Welt reist oder ob du dich zu Hause einschließt und dich die ganze Zeit vor den Computer hockst.«

Ich war ganz stolz auf mich, weil mir doch noch etwas eingefallen war, um aus der Sache wieder rauszukommen. Und überrascht war ich auch, weil in meinem Kopf das totale Chaos herrschte. So als wäre mein Schädel gegen den Kopf des Stürmers geknallt und nicht ihrer.

»Da hast du recht«, räumte sie ein und ihr Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. »Dann musst du eben mitkommen, um zu kontrollieren, dass ich nicht trickse.«

»Was?«

»Du kommst einfach mit. Als Zeuge«, erklärte sie so selbstverständlich, als hätte sie gerade vorgeschlagen, dass ich sie zum Kiosk begleite und nicht einmal um die ganze Welt. »Mein Vater hat genug Freimeilen, weil er doch ständig unterwegs ist. Die reichen locker für uns beide und ich kenne sein Passwort, da können wir uns die Tickets im Internet reservieren lassen.«

»Tickets? Was denn für Tickets?«, fragte ich verwirrt.

»Für die Flüge natürlich, oder willst du lieber laufen und schwimmen?«

Ich schüttelte nur den Kopf, weil ich das ganz sicher nicht wollte. Fliegen allerdings auch nicht. Ich war noch nie geflogen und hatte auch nicht das Bedürfnis, es auszuprobieren, weil die Dinger andauernd vom Himmel fallen. Das sieht man ja ständig in den Nachrichten.

»Nächste Woche sind Ferien oder hast du schon was Besseres vor?«

Was sollte ich darauf antworten? Klar habe ich schon was Besseres vor als eine Weltreise. Ich fahr mit meinen Eltern vierzehn Tage an die Nordsee.

Das wäre nicht sehr überzeugend gewesen, aber zutreffend. Wir fahren nämlich immer an die Nordsee, immer in dieselbe Pension und immer an denselben Strand, an dem wir jedes Jahr denselben Strandkorb mieten.

Sie schob ihre Hand noch ein Stück weiter auf mich zu. Ihre Fingerkuppen stießen gegen meine Brust und ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Weiter nach hinten konnte ich aber nicht, weil sich jetzt schon die Garderobenhaken in meinen Rücken bohrten. Es war immer noch ganz still. Alle starrten auf ihre Hand, die immer noch in der Luft hing wie so eine eingefrorene Revolverkugel in einem Trickfilm.

Ich wischte meine verschwitzten Finger an meiner Sporthose ab, schlug ein und versuchte, möglichst lässig zu klingen, als ich »Von mir aus, warum nicht?!« antwortete.

Nicht, weil ich wirklich mit ihr auf Weltreise gehen wollte, sondern weil es die einzige Möglichkeit war, aus der Sache wieder rauszukommen. Ich glaubte ja sowieso nicht, dass sie das wirklich ernst meinte, und immerhin hatte die Wette den Vorteil, dass ich sicher sein konnte, dass keiner mehr über die zwei Tore reden würde, die ich kassiert hatte. Ab jetzt würden alle nur noch über unsere Weltreise sprechen, zumindest bis zum nächsten heißen Thema. Ich konnte also ruhigen Gewissens einschlagen, zu befürchten hatte ich nichts.

Alexandra lächelte, als ich meine Hand in ihre legte.

Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass sie Alexandra heißt?

Ich glaube nicht.

Als ich nach Hause kam, war niemand da. Es ist meistens niemand da, weil meine Eltern beide viel in ihrer kleinen Bäckerei arbeiten. Reich werden sie trotzdem nicht. Aber es langt für das Nötigste und zwei Wochen Urlaub an der Nordsee in den Sommerferien.

Ich schmiss meine dreckigen Fußballsachen in den Wäschekorb und legte mich aufs Sofa. Dabei fiel mein Blick auf den alten Globus, der bei uns auf der Fensterbank steht. Das ist ein Erbstück von meinen Großeltern. Der ist so alt, dass darauf sogar noch die Grenzen der alten DDR eingezeichnet sind und Jugoslawien und die komplette Sowjetunion, obwohl es die ja schon lange nicht mehr gibt. Als ich kleiner war, habe ich es geliebt, meinen Zeigefinger über die Oberfläche gleiten zu lassen und davon zu träumen, all diese Länder auch zu besuchen, die ich gerade berührte. Noch besser aber fand ich es, dem Globus einen Schubs zu geben. Dann hat er sich ganz schnell gedreht, und ich habe mir vorgestellt, wie die Menschen sich an Bäumen oder Zäunen festklammern müssen, um nicht durch die Fliehkraft von der Erdoberfläche gefegt und ins Weltall geschleudert zu werden. Meistens habe ich den Globus dann schnell wieder angehalten, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Dabei war das ja alles nur Einbildung.

Ich schnappte mir meinen Laptop vom Wohnzimmertisch und loggte mich in meinen Blog ein. Seit gestern hatte sich da nicht viel getan, weil ich nichts Neues gepostet hatte. Die Bezeichnung Blog ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich schreibe da keine ewig langen Texte rein, sondern nur kurze Sätze und Gedanken. Was mir eben so durch den Kopf geht, wenn ich bei unseren Spielen auf der Ersatzbank sitze. Das meiste habe ich sowieso schon wieder vergessen, wenn ich zu Hause bin. Also blogge ich nur das, an das ich mich noch erinnern kann. Was meistens nicht so wahnsinnig viel ist. Klar könnte ich die Posts auch per Handy direkt von der Bank absetzen. Wäre aber keine so gute Idee.

Einmal hat unser Topstürmer seiner Freundin eine Nachricht schicken wollen, nachdem er beim Stand von 5 : 1 für uns ausgewechselt worden war. Er hatte gerade zwei Wörter getippt, da hat es unser Trainer gemerkt und ist so ausgeflippt, dass er glatt das 6 : 1 verpasst hat.

Deswegen texte ich immer erst vom Sofa aus etwas auf meiner Seite. Die heißt »Der mieseste Torwart der Welt«, und anscheinend finden viele Leute es beruhigend, dass es einen Torhüter gibt, der noch mieser ist als sie. Ich habe jedenfalls ein paar hundert Follower, die alles lesen, was ich schreibe, und das meiste davon dann auch kommentieren. Es stimmt nämlich nicht, dass ich keine Freunde habe. Ich habe sogar eine ganze Menge. Ich kenne halt nur keinen davon, zumindest nicht persönlich.

Auf ihren Profilfotos sehen die meisten meiner Internetkumpel nicht gerade aus wie Spitzensportler, sondern eher so wie ich: klein, dünn, picklig. Zumindest die, die sich trauen, ihre eigenen Bilder zu verwenden.

Ein paar andere benutzen Fotos von Manuel Neuer. Und mal ehrlich, das macht man ja nur, wenn man selber kein so guter Torwart ist und auch nicht passabel genug aussieht, um sein eigenes Bild zu posten. Ich selber benutze auch nicht mein echtes Foto auf dem Blog, sondern das von René Higuita. Das ist ein Torwart aus Kolumbien, der lange schwarze Locken hat und den Spitznamen El Loco trägt. El Loco ist spanisch und heißt so viel wie der Verrückte