Über Irene Dische

Irene Dische wurde in New York geboren. Heute lebt sie in Berlin und Rhinebeck. Bei Hoffmann und Campe erschienen unter anderem der Romanerfolg Großmama packt aus (2005), der Erzählungsband Lieben (2006), die Neuausgabe ihres gefeierten Debüts Fromme Lügen (2007) und zuletzt der Roman Schwarz und Weiß (2017).

Hatte er sich denn noch nie verliebt? Es war ein schöner Frühlingsnachmittag in Paris. Liebeslaute drangen von nebenan herüber, sonderbar, dass die Nähe des Krieges die Gelüste nicht dämpfte, und er konnte sich kaum an eine andere Frau erinnern, so überzeugt war er: DAS IST ES! Aber Madame, die Hotelbesitzerin, bedrängte den seltsamen kleinen Juden mit dem hübschen Profil, drängte ihn, sich zu erinnern, sagte ihm, sie sei eifersüchtig auf jeden Kuss, den er je gegeben habe. Deshalb zählte Monsieur sie (mit heimlichem Vergnügen) noch einmal nach, jeden Kuss auf jeden süßen Mund. Die allererste (eifersüchtiges Keuchen von Madame: Wäre doch sie es gewesen!) war eine Bäckerstochter in Krakau, und er hatte sie sehr geliebt, ja, warum das jetzt leugnen, ihr Haar war betörend rot gewesen, genau wie das der Hotelbesitzerin, die sich bei diesen Worten an ihn schmiegte und glaubte, sie werde sich jedes Mal, wenn sie an dieses Flittchen dachte, an ihn schmiegen müssen. Lange Abende hatte das junge Paar in der Backstube neben dem Ofen gesessen, und schließlich hatte er es fertiggebracht, sie ein paarmal auf die Lippen zu küssen, immer dann, wenn sich ihr Vater abwandte, um den Eierkuchenteig umzurühren. Diese Küsse machten der Bäckerstochter Mut, und als sie sich das nächste Mal trafen, bat sie ihn, zum Katholizismus überzutreten. Danach gab es nie wieder einen Kuss. Er war damals in der österreichisch-ungarischen Armee, und sein wohlhabender Vater hatte regelmäßig einen gewissen Betrag aufgebracht, damit der befehlshabende Offizier seinen Sohn einmal im Monat nach Krakau schickte, wo er in einem Laden neben der Bäckerei Papier und Briefumschläge für die Kompanie kaufen sollte. Als der Soldat seinem Vater erklärte, weitere Ausflüge

Es gab andere Küsse, danach. Eine polnische Tänzerin namens Giedonka (deren Bild er immer noch in seiner Brieftasche bei sich trug), die ihm Dutzende Gefälligkeiten abverlangte, wofür er sie wie rasend küssen durfte, aber nur in seiner Phantasie, denn sie pochte auf ihre Verlobung mit einem mysteriösen polnischen Grafen. Eine italienische Dame, der er die Miete bezahlt hatte, obwohl er sich immer ein wenig vor ihr fürchtete, zu Recht, wie sich herausstellte, als er später in der Zeitung las, sie sei von einem eifersüchtigen Liebhaber, ihrem eigenen Vetter, ermordet worden. Und andere mehr, bis zu seinem jetzigen Verhältnis mit seiner rothaarigen Vermieterin Blanche, die das Hotel führte, in dem er seit seiner Ankunft wohnte. Er erzählte nicht alles, ein paar Auslassungen waren angebracht, damit sein Sinn fürs Geschichtenerzählen mit seinem Selbstwertgefühl in Einklang blieb.

Das Mädchen nebenan sagte gerade, noch nie sei es mit einem Mann so schön gewesen, noch nie. Bald vernahm man Wasserplätschern und Kleiderrascheln und eine Tür, die geöffnet und wieder geschlossen wurde. Monsieur begann (mit wenig Aussicht auf Erfolg, sonst hätte er es nicht gewagt), Madame, die Hotelbesitzerin, zu drängen, sie möge ihren Mann verlassen. Der fuhr einen Lastwagen und hätte Monsieur mit zwei Fingern den Hals umdrehen können, wie ihn Madame voller Sorge (mit heimlichem Vergnügen) warnte. Madame wehrte sich verzweifelt, und Monsieur versuchte sich gerade darüber klar zu werden, ob er sie anziehend genug fand für einen zweiten Akt, als drüben die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde, dann hörte man Worte. Madame und Monsieur sprachen weiter über die Zukunft oder über deren betrüblichen Mangel und hielten gelegentlich inne, um zu lauschen, während die Wand in rhythmische Schwingungen geriet. Madame fiel die Szene ein, die ihr Mann ihr gemacht hatte, als er herausgefunden hatte, dass der Jude seine Miete nicht, wie es üblich war, im Voraus bezahlte. Zum Glück hatte sie sein Misstrauen mit eigenem Bargeld zerstreuen können (es kam ihr vor, als hätte sie beide Männer verraten, indem sie

Das stilvolle Hotel der Madame L. im Herzen von Paris, sagte Monsieur, um sie zu kränken. Solange du keine Miete zahlst, erwiderte Madame und gab die Kränkung zurück, kannst du nicht erwarten, dass ich bei zahlungskräftiger Kundschaft besonders wählerisch bin. Schon gut, Liebling. Er lachte versöhnlich und streckte die Hand nach ihr aus. Aber in diesem Augenblick fand sie ihn gar nicht anziehend, stand auf und ging.

Ein paar Tage später marschierten die Deutschen in Paris ein, und nun behauptete die rothaarige Hotelbesitzerin, sie habe den komischen kleinen Juden aus Polen mit dem hübschen Profil kaum gekannt, habe sich nur darüber geärgert, dass sie seinen Versprechungen Glauben schenkte, er würde die Miete bald bezahlen. DAS WAR’S, riefen sie und ihr Mann ihm wie aus einem Munde nach, als sie ihn hinauswarfen.

Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er auf solche persönlichen Zurückweisungen anders als mit Fatalismus reagieren konnte. Er machte sich nicht die Mühe, ihrer Geschichte zu widersprechen. Es gelang ihm, auf ein Schiff nach Amerika zu kommen, unterwegs verliebte er sich in eine andere Frau, die auf der Flucht war wie er, sie hatte sogar rote Augenbrauen, und seine Aufmerksamkeit schmeichelte ihr während der ganzen Reise nach New York, wo ihr Mann sie erwartete.

Manchmal an den langen Nachmittagen tat es Madame, der Hotelbesitzerin, leid, dass der jüdische Mieter verschwunden war. Überall herrschte Krieg, und dennoch – die eigenen Gelüste dämpfte er kaum.

Aus dem amerikanischen Englisch von Reinhard Kaiser

Nichts auf der Welt spricht dagegen, dass man es sich gutgehen lässt, sagen sie. Für das Geld, das ein Auto kosten würde – und Günther Neutz versagt sich schon ein Auto –, könne man sich sehr schön einrichten. Gegen solche Überlegungen hegte er eine Art linker Abneigung. Als er mit fünfunddreißig heiratete, verließ er den traditionellen Neuköllner Neubau seiner Mutter, denn seine Frau Margarete, die wusste, dass gewisse Opfer, Kompromisse genannt, dargebracht werden müssen, um zum Glauben an die stabile Ehe übertreten zu können, bestand auf einer Umgebung, die zu einem immer noch jungen linken Akademikerpaar passte. Ästhetische Urteile sind universell, heißt es. Auch wenn Günther für Margaretes Aussehen nicht immer empfänglich bleiben würde (blondes Haar, feiner Teint und hübsches Gesicht sind schließlich nichts Ungewöhnliches und unterliegen der Veränderung), so doch gewiss und trotz seiner naturwissenschaftlichen Interessen für die Picasso-Lithographie. Und wenn nicht für Margaretes wohlhabende Familie in Pöseldorf, so doch und trotz seiner politischen Anschauungen für die Biedermeiermöbel, die sie von einer Tante geerbt hatte.

Als Margarete Neutz ihre Wohnung in einem Berliner Altbau plante, hielt sie sich penibel an die Auffassung der lokalen Intelligenzija, hohe Stuckdecken sollten sich in blanken Parkettfußböden spiegeln, und die Asymmetrie des Berliner Zimmers sollte durch wohlüberlegte Platzierung des perfekten altdeutschen Möbelstücks nicht verdeckt, sondern betont werden. Das mit weißen Teppichen ausgelegte Schlafzimmer der Neutzes liegt hinter zwei Schiebetüren, eine breite weiße

Bestimmte Spielarten der Monogamie funktionieren nur ohne Kinder. Auch das ist eine ästhetische Frage. Kinderlosigkeit segnet das Paar mit Ruhe und beschert ihm die Vielfalt der eigenen Interessen. Bei den Neutzes hinterlassen gelegentlich Freunde eine Spur, meist in Gestalt guter Bücher, die dann auf dem Teakholztisch im Wohnzimmer ausliegen. Neulich drang der Hausbesitzer ein, um das Badezimmer mit neuen Chrom-Armaturen versehen zu lassen, die zwar ihrem Stil nach nicht passen, aber ohne Frage komfortabel sind. Auch die im Bad postierten Kosmetika deuten nicht auf einen ästhetischen Kompromiss hin, nicht einmal die bombenförmigen Glyzerinzäpfchen, die im Kühlschrank neben den Trüffeln deponiert sind. Im Übrigen bringt die Art, wie der Raum bewohnt wird, den erlesensten Geschmack zum Ausdruck: Bunzlauer Porzellan ist zauberhaft, Anemonen sollen nie mit Ziergrün arrangiert werden, Blumen gehören in Vasen und nicht als Muster auf die Möbelbezüge, Jugendstil und langhälsige Stehlampen aus Mailand haben Form, Vorhänge sollen weiß, die Wände chamois sein und unsichtbar das Wirken der Putzfrau einmal die Woche, anfangs verschämt eingestellt, dann begeistert behalten, deren Telefonnummer auf Prosciutto- und Melonen-Partys weitergegeben wird und die ihre Arbeit, so heißt es, kreativ verrichtet.

Bei Neutz aber, so heißt es weiter, ist das offenbar verlorene Liebesmüh. Seine Frau hat sich mit seiner Geistesabwesenheit, seiner schrulligen Enthaltsamkeit abgefunden, damit, dass er immer überarbeitet ist, ihre besten Filetsteaks ohne ein Wort der Anerkennung herunterschlingt, auf Partys nie tanzt, niemals Wein trinkt und sich auf das Türschild verlässt, um festzustellen, wo genau er wohnt.

In Wirklichkeit jedoch ist Günther Neutz Schöner-Wohnen durchaus nicht gleichgültig. Im Gegenteil, was Wohnungseinrichtungen angeht, ist Neutz sentimentaler als die meisten. Er weiß es nur noch nicht. Noch glaubt er, wenn ihn an einem Zimmer mehr interessiert, als dass es warm ist und Obdach bietet, so bekunde sich darin gut

Seine Studentin, eine Frau Khan, wohnt in der Kölner Straße 76. Während er an Nummer 22 und Nummer 24 vorbeigeht, sieht er, wie er sich aus Schaufensterscheiben entgegenspringt, ein krummes Strichmännchen mit gutmütigem Hundegesicht. Die Geschäftsstraße geht in eine Wohnstraße über.

»Wer je die Flamme umschritt, bleibt der Flamme Trabant.« Nummer 32, Nummer 36.

»Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst.«

Endlich. Drücken. Khan bei Schmidt. Lebt in Untermiete. Kein

»Habe vergessen, Ihnen das hier zu schicken, dumm von mir. Sie hätten es das ganze Wochenende über nicht gehabt«, sagt er. Seine Füße haben schon wieder kehrtgemacht Richtung Treppe, während die schmalen Schultern noch wie bei einem Setter auf die offene Tür zeigen.

»Wollen Sie einen Augenblick hereinkommen«, sagt sie.

Er denkt: Nur einen Augenblick. Tritt ein. Interessiert sich eigentlich nicht für andere Wohnungen, die Möbel, welche Bilder an der Wand hängen. Seine Frau macht nachher immer ihre Bemerkungen. Hast du den chinesischen Läufer gesehen? Hoffe immer, dass nichts von Ikea dabei ist, wenn man die Leute schon mag. Wohnungen sagen einem alles.

Aber wo sind die Möbel? Frau Khan bringt auf einer Heizplatte unter dem Fenster Teewasser zum Kochen, steht abgewandt, sodass er sich auf den kargen viereckigen Raum konzentrieren kann. Grüne Tapete wächst aus dem blanken, grau gestrichenen Fußboden hervor, oben eine niedrige, grüne Decke. Zwei kleine schräge Dachfenster stehen offen, durch die das Zimmer nach Luft schnappen kann. Möbel gibt es natürlich. Eine Luftmatratze, die man auch mit an den Strand nehmen könnte, ein Apollinaris-Karton, Queen of Table Waters, als Couchtisch. Weitere Pappkisten, mit der Öffnung nach vorn säuberlich an der Wand aufgetürmt, gefüllt mit Büchern und Kleidern. Über dem Bett, in der Höhe von Neutzes Knie, eine nackte Glühbirne, deren

Wie ein kleiner Junge sitzt Professor Neutz auf dem Boden, die Ellbogen auf den Apollinariskarton gestützt, und trinkt unter Herzklopfen in hastigen Schlucken schwarzen Tee. Die nackten grauen Dielen! Diese grün tapezierten Wände! Die Abendröte streckt ihre Schmutzfinger durch die vorhanglosen Fenster herein! Alles ist unbefleckt, Jacken und Kleider auf drei Bügeln, die an Haken an einer Wand hängen. Das Bettkissen schaut aus dem blauweiß gestreiften Bezug hervor, an dem immer noch ein Preisschild baumelt, Bilka, 19,90 DM. Die Bücher in Pappkisten aufgestellt! Während es im Zimmer dunkler wird, spricht sie über die neueste Evolutionstheorie aus Amerika, und er hört kaum zu. Aus diesem Grund redet sie. Der berühmte Professor Neutz trinkt Tee bei mir und beginnt sich zu langweilen und will gehen, schrecklich; verzweifelt bemüht sie sich, ihn mit ihrem Verstand zu beeindrucken.

Unvermittelt erhebt er sich, will sich verabschieden. Auch sie steht traurig auf, um ihn an die Tür zu bringen. »Sprechen Sie am Montag über Genetik?«, fragt sie und bückt sich, um die Lampe über dem Bett anzuschalten. Als die Lampe aufflammt und ihn und sie in reinstes gelbes Glühlampenlicht taucht, kann Günther Neutz seine Leidenschaft nicht länger zurückhalten und offenbart sie.

 

Der liebe Günther war in letzter Zeit zerstreuter als sonst. Läuft mit verschiedenfarbigen Socken herum, wie man an seinen Sandalen sieht, die er nach dem Ersten Mai immer trägt. Die Shorts hat seine Frau weggeworfen. Er arbeite mehr denn je, werde sich noch krank arbeiten, prahlt Margarete. Er kommt pünktlich zum Abendessen, wenn Kollegen oder Presseleute eingeladen sind.

Eines Tages jedoch riskiert sie es, ihre Bekanntschaft zu offenbaren. Nachdem er mit »Vielen Dank« geschlossen hat, springt Gerda Khan auf und tritt zu ihm. »Was haben Sie vor?«, fragt er munter, und sie gehen zusammen aus dem Hörsaal. »Oh, ich wollte einen Spaziergang machen«, erwidert sie. »Vielleicht mit Ihnen zusammen« – und ihr Ge

 

Günther Zeus Neutz heimwärts schlendernd in der U-Bahn, erstaunt über die Volkstümlichkeit seiner eigenen Geste – dass er seinen Arm an einem schönen Tag um ein schönes Mädchen gelegt hat, wie ein junger Mann. Als er jung war, hat er so etwas nie getan. Sieben Jahre lang hatte er ein Verhältnis mit einer Frau aus Neukölln, fünfzehn Jahre älter als er, mit zwei Kindern und einem teilnahmslosen und dennoch eifersüchtigen Mann. Sie hatte sich ihm an den Hals geworfen, als er achtzehn war und sich zwischen den Abiturprüfungen in der Cafeteria von Karstadt ein Mittagessen bestellte. Er hatte sie am Anfang der Schlange erblickt, ein Gesicht im Dampf, und dann funkelte die Metallschiene, auf der sein Tablett plötzlich wie von selbst vorwärtsglitt, bis er vor ihr stand, schweigend, und plötzlich ganz deutlich den Geruch von heißem, sauberem Porzellan wahrnahm, dazu die Romantik der »rustikalen« Tische und Bänke und das plötzliche Verlangen, dicht vor die schöne Farbvergrößerung eines Schweizer Alpengipfels zu treten. Dann kam ihr Lächeln, und sie streckte ihren kurzen Arm aus, um ihm seine Bockwurst zu reichen, Glanz des Eherings und

Als Margarete ihn Jahre später übernahm, musste sie ihm zunächst die Grundkenntnisse romantischen Verhaltens beibringen: gewisse Ausdrücke und Gesten, die Verwandlung beim Ausziehen, die Symbolik eines weichen, sauberen Bettes. Mit der Zeit gab er seine verschrobenen Gewohnheiten auf, wenngleich er nachts in sein altes Verhalten zurückfiel und ganz für sich schlief; auf dem Bauch, die langen, dünnen Beine hochgezogen, wie ein Neugeborenes.

Margarete war mit allem zufrieden. Immerhin erklärte er ihr seine Liebe, wenn auch auf altmodische Weise (»Ich bin dir gut«). Und auch wenn er nie das geringste Interesse an ihr persönlich entwickelte, akzeptierte er sie als seine Frau. An Bewunderern fehlt es der Frau eines berühmten Mannes nie, vor allem dann nicht, wenn dieser Mann an seiner Beziehung nicht »arbeitet«. Jeder konnte sehen, dass Günther viel zu beschäftigt war. Zur Monogamie gehören zwei. Man erwartete, sie würde Gesellschaft suchen. Günther würde gar nichts merken.

Eben kommt er durch die hölzerne Tür mit der Art déco-Verglasung in der Mitte, drückt die wertvolle, antike Klinke behutsam. Aber gleichzeitig fragt er sich, ob er dieses Mädchen nicht irgendwohin mitnehmen könnte, auf einen langen Spaziergang oder eine kleine Reise, diese Gerda, Dritte Welt, obwohl sie nicht danach aussieht – ach ja, sie hat mal von einem persischen Urgroßvater erzählt, einem Kaufmann. Flitterwochen, verliebter junger Mann, hübsches Mädchen, so geht das.

»Habe ich dir schon gesagt, dass ich morgen nach Hamburg muss? Ich muss Professor Becker besuchen«, erklärt er seiner Frau, die sich gerade um das Abendessen kümmert und beim lauten Gebrutzel der Filetsteaks die Unbestimmtheit in seiner Stimme nicht bemerkt. »Es ist wichtig.« Dass das Mädchen vielleicht gar nicht fahren will, darauf

»Übernachtest du da, wo du immer wohnst?«, fragt sie. Natürlich. In dem Hotel, das die Uni immer bezahlt hat. Er hat noch gar nicht daran gedacht. Wie aufmerksam von Margarete; er klopft ihr auf die Schulter.

Der Morgen braucht die ganze Nacht, bis er endlich kommt. Neutz packt seinen Nadelstreifenanzug zwischen einige Bücher in seine Aktentasche und macht sich in neuen, lauten Halbschuhen auf den Weg. Er stapft die dunkle Kölner Straße hinunter, zu Khan bei Schmidt, poltert die Treppe hinauf, schnauft beim Anblick des rosa Himmels in den kleinen, schrägen Fenstern, des gelben Glühens der Birne, der vier kahlen Zimmerecken, des überraschten, verschlafenen Mädchens, das sich jederzeit freut, ihn zu sehen. »Ich fahre nach Hamburg. Kommst du mit?«

Sie kommt mit. Aber klar doch. Nimmt eine Unterhose aus einem Karton, in dem mal bulgarische Tomatenkonserven verpackt waren. Ein angeborener Ordnungssinn, den ich gar nicht bemerkt habe, staunt er. Und schon gehen sie los. Lesen Zeitschriften im Flugzeug. Sehen einander nicht an. In Hamburg ist man im Nu. Sie nehmen den Bus zum Hotel, melden sich an als Herr und Frau Neutz.

»Gnädige Dame«, sagt der Portier augenzwinkernd. Der Aufzug. Hier entlang. Der Flur beginnt hier. Und hier ist Ihr Zimmer. Wilhelminische Schlafzimmereinrichtung mit allen Raffinessen, modernisiert. Tageslicht dringt durch die Gardinen herein. In romantischer Absicht zieht Günther Neutz die schweren dunkelroten Vorhänge zu und stolpert anschließend auf der Suche nach einem Lichtschalter durchs Zimmer. Schließlich bekommt er die Nachttischlampe mit ihrem Kupferfuß zu fassen.

Frau und Herr Neutz lächeln ängstlich und ziehen sich aus, legen ihre Kleider säuberlich zusammen. Gerda hat die Gewohnheit von ihm übernommen, die er von seiner Frau übernommen hat, die sie ihrerseits bei einem französischen Soldaten gelernt hat. Mit verkrampfter

»Was ist los?«

Aber ehe dieser Verstoß gegen den guten Geschmack beantwortet werden muss, klingelt grob das Telefon. Professor Becker: »Herr Professor Neutz, es freut mich sehr, dass Sie endlich gekommen sind.« Professor Neutz: »Ich wollte gerade zu Ihnen kommen.« Die Schluchzer des Mädchens verschluckt die Zimmerecke. Sie kann sich die Alster ansehen. »Bis heute Abend«, verspricht er.

Heute Abend wird er sehr müde sein, zu müde – überhaupt zu müde für diese Affäre. Sie wird nicht mehr in sein Seminar kommen. »Armes Fräulein Khan«, wird er an künftigen Morgen wehmütig denken, wenn er neben dem heiligen, vertrauten Berg, seiner Frau, liegen bleibt. »Was für ein Glück, dass ich ein schönes Zuhause habe.« Und durch eine geheimnisvolle Bewegung tun die weißen Vorhänge ihre Zustimmung kund, während in ebendiesem Augenblick ein Luftzug ins Zimmer fährt, einen Kontoauszug von dem kleinen Schreib

Aus dem amerikanischen Englisch von Reinhard Kaiser

Am meisten wird mir die Waffensammlung fehlen«, klagte Wolfgang, als er zum letzten Mal vor die Tür seiner Villa in Ostberlin trat. Er war wacklig auf den Beinen, es lag aber nicht an seiner Ernährung, in der Sättigungsbeilagen reichlich vorkamen. Es war der Schock, der Verlust seiner Stelle, die er zwanzig Jahre lang gehabt hatte. Auf dem Grund der Spree, die an seinem Grundstück vorbeifloss, lagen hunderteinundzwanzig Gewehre, Pistolen und Revolver, die schönste illegale Waffensammlung in ganz Ostdeutschland. Unterdessen sah sich seine Frau noch einmal in der Diele um. Zum letzten Mal staubte sie das altdeutsche Buffet ab, da bemerkte sie den großen Stapel Briefumschläge. »Alle adressiert und frankiert?«, fragte sie ungläubig. Verschwendung war ihr zuwider.

»Es sind Autogramme von mir«, erwiderte Wolfgang. »Aber wozu sie noch losschicken?« Was bedeutete jetzt der Name Schulze, oder das Hochglanzfoto dieses Schulze aus der Zeit, als er noch Verkäufer gewesen war? Der billige Abzug zeigte Schulze schwefelgelb und schwarz, die Unterschrift über die runde linke Backe gekritzelt. So hatte er sich dargestellt vor zwei Jahren, als er noch in der Sportabteilung des großen Kaufhauses am Alexanderplatz arbeitete. Die Zeichnungen, die er jahrelang zum eigenen Vergnügen angefertigt hatte, waren damals gerade in einem kleinen Buch veröffentlicht worden, nichts Anspruchsvolles, »Arbeiterkunst« eben – allerdings pornographisch, aber ein aufgeschlossener »Sachbearbeiter für Kunst« hatte erkannt, dass sie etwas taugten: »Schulzes Welt« war eine Geographie der erogenen Zonen im Kaufhaus, auf der Straße, im Café. Fünfzig Jahre lang hatte Wolfgang im selben Haus gewohnt, an einer Straße,

Auch die Kritik im Westen hatte »Schulzes Welt« entdeckt. Artikel über einen neuen Trend im Osten erschienen im politischen Teil der Tageszeitungen. Westverleger kämpften um den Vertrag für eine Neuausgabe. Die Publicity im Westen machte Schulze im Osten noch bekannter. Aber dann zog der ostdeutsche Staat »Schulzes Welt« aus dem Verkehr und stellte ihn vor die Wahl: Entweder er würde alle Angebote, sein Buch im Westen zu veröffentlichen, ablehnen, oder er müsste das Land verlassen.

Er hatte die ganze Nacht darüber nachgedacht. Und während er nachdachte, hatte er sämtliche Autogrammwünsche seiner Landsleute, die sich in diesem Monat angesammelt hatten, erfüllt. Einhundertzehn Briefe. Am nächsten Morgen tat ihm die weiche Hand weh, aber zu einem Entschluss war er nicht gekommen.

Er begegnete seiner Frau Inge. Sie trat gerade aus dem Bad und hatte das Haar voller Lockenwickler. Im Westen würde das altmodisch sein; das wusste sie nicht. Später ging er zum Postamt und kaufte einhundertzehn Briefmarken. Den ganzen Morgen leckte er und schrieb Adressen auf die Umschläge, ohne an etwas zu denken. Doch abends sagte er zu seiner Frau: »Komm, wir fahren!« Sie klatschte in die Hände und rief Bravo! und war plötzlich sehr zärtlich. Vielleicht würde ihm drüben etwas anderes einfallen als diese peinlich zweideutigen Bilder. Sie holte eine Flasche zuckrigen ungarischen Champagner hervor. »Wäre doch Verschwendung, den hierzulassen.« Die hundertzehn Briefe hatte sie in das Handschuhfach des Wagens gestopft und dann vergessen, sie vor der Grenze einzuwerfen.

»Und was machen wir nun damit?«, rief Wolfgang, als sie ihm aus dem Handschuhfach entgegenquollen. Er sammelte sie ein, und später lagen sie auf einem Tisch in der Diele ihrer Westberliner Wohnung, alle hundertzehn.

Er war hier ordentlicher als in Ostberlin. Inge wusste diese Verände

Er war über sich selbst verblüfft. Oft bedauerte er, dass er und Inge die falschen Sachen in den Mercedes gepackt hatten. Er vermisste die schweren Trinkpokale und die altrosa Badezimmergarnitur. Statt all der Bücher hätte er lieber seine rote Thermoskanne mitnehmen sollen! Seine Frau sagte jedes Mal nur: »Macht doch nix!«

Schon am ersten Nachmittag, an dem sie in ihrem sperrigen braunen Dufflecoat und ihren wulstigen Schuhen in die Innenstadt gefahren war, mit einem Haarnetz auf dem Kopf wie eine Ostrentnerin auf Tagesausflug im Westen, hatte Inge Schulze Unterschiede erkannt, doch um nichts, was sie zurückgelassen hatte, tat es ihr leid, auch wenn das eine Schande war. Später stopfte sie sogar ihren Dufflecoat in den Mülleimer.

Sie lehnte es ab, sich zu grämen. Als er klagte, dass er sich entscheiden musste, ob er einer Krankenversicherung beitreten oder eine Lebensversicherung abschließen sollte, sagte sie: »Überlass das mir«, und freundete sich mit dem besten Steuerberater der Stadt an. Angesichts ihrer gnadenlosen Begeisterung für ihre luxuriöse Neubauwohnung getraute er sich nicht, auch noch der Villa in Ostberlin nachzutrauern, ihrem Geruch, den Wäldern draußen, dem Fluss (in dem, wie Perlen und Korallen, die Schätze seiner Waffensammlung lagen). Seinen neuen westdeutschen Pass legte er in eine Schublade neben den ostdeutschen, der jetzt nutzlos war. Dieser neue mit seiner seltsam olivgrünen Farbe und seinem unmöglichen Format sprach ihn nicht an. Der alte dunkelblaue mit Hammer und Sichel in Goldprägung auf dem Umschlag hatte genau die richtige Größe, einen Zentimeter kleiner und einen halben Zentimeter schmaler als der neue.

Welcher von beiden barg eine Sommerreise zu den masurischen Seen in Polen, eine Woche Prag zurzeit der Apfelblüte, das Geschaukel nach Leningrad in einem bequemen Reisebus?

Die Presse wollte Interviews von ihm. Er lehnte ab. Die Journalisten

Wolfgang dachte nur an sein Heimweh. Er versuchte ein Bild für dieses Gefühl zu finden, ein Bild, das ihm Linderung verschaffen würde. Aber in seinem Kopf fand er keine Bilder, bis auf ein paar realistische, materialistische Großaufnahmen. Immer wieder zeichnete und aquarellierte er seine rote Thermoskanne. Sein Kindergesicht blickte mürrisch und bekümmert drein. Alles, was er zum Zeichnen brauchte, hatte er aus dem Osten mitgebracht. Als die Tusche eingetrocknet und die letzte Zeichenfeder stumpf geworden war, kaufte er nichts nach.

Seine neuen Bekannten im Westen verstanden nicht, wie jemand, der sein Los derart verbessert hatte und außerdem noch berühmt geworden war, so lustlos sein konnte: »Komisch, man sollte meinen … was für ein fader Kerl.« Trotzdem luden sie ihn zu ihren Partys ein. Er kam immer, im Schlepptau seiner Frau, und jedes Mal rief sie vorher an, um genaue Anweisungen einzuholen. Frau Schulze galt als langweilig, aber bemüht. Aus lauter Höflichkeit erkundigte sie sich bei ihren Gastgeberinnen nach deren Rezepten und wollte dann aus lauter Neugier wissen, wie viel sie für das Kilo Fleisch bezahlt hatten. Immer trank sie ein bisschen über den Durst, aber nicht so viel, dass sie zu einer fröhlichen Zechkumpanin geworden wäre. Man konnte nicht sagen, woran es lag, aber ihre Kleidung wirkte unmodisch. Alle wunderten sich darüber, wie durchschnittlich die Schulzes waren. Man hätte ihn für einen Warenhausverkäufer halten können. Die Schlaueren kamen zu dem Schluss, er sei depressiv. »Ich verstehe Sie vollkommen!«, rief eine junge Frau auf einer Party. »Ihnen fehlen die echten menschlichen Beziehungen.« Sie war in der Sowjetunion gewesen und hatte zum ersten Mal in ihrem Leben intakte Ehen gesehen. »Ist Ihnen im Westen je ein Paar wie die Sacharows begegnet?«

Wolfgang erwiderte: »Nein, Nein«, und wollte damit sagen: Nein, darum geht es nicht. Aber die junge Frau fasste es als Bestätigung ihrer Theorie auf.

Inge ertrug es schweigend. Sein Zeichentisch stand zuerst vor dem einen Fenster, dann vor dem anderen, dann vor einer Wand. Nur die hundertzehn Autogramme in den grauen Briefumschlägen blieben unverändert darauf liegen, wie Grabsteine für die einzigen Anhänger, die ihm je etwas bedeutet hatten und die es nun nicht mehr gab.

Immer stimmte irgendetwas mit der Wohnung nicht. Eines Tages, als Inge ausgegangen war, wischte er den Boden auf, weil sich dort Schmutz angesammelt haben konnte, der womöglich die Ursache für sein Unbehagen war. Am nächsten Tag wusch er seine Kleider in der Badewanne, um festzustellen, ob sie nachher womöglich weicher an der Haut lagen.

An diesem Nachmittag erhielt er einen Anruf von Frank Schumann, einem ehemals ostdeutschen Studenten, den man eingesperrt hatte, weil im Westen eine Erzählung von ihm erschienen war, in der er das Leben im Osten als Unterdrückung darstellte. Nachdem Frank seine Strafe abgesessen hatte, war er an der Grenze abgesetzt worden. Er hegte eine Vorliebe für Leute, die das gleiche Schicksal wie er erlitten hatten, und lud Wolfgang ein, um sich dessen Martyrium in allen Einzelheiten erzählen zu lassen.

»Was mir am meisten fehlt, ist meine Waffensammlung«, gestand ihm Wolfgang.

Frank Schumann brachte vor Missbilligung kein Wort heraus. Er hatte Ostdeutschland mit neunundzwanzig Jahren verlassen, seine ganze Jugend war für ihn mit der ostdeutschen Friedensbewegung verbunden, und beides fehlte ihm sehr. Seit neun Jahren war er im Westen, aber alles, war er schrieb, spielte im Osten. Die ostdeutschen Leser fanden das langweilig, aber die westdeutschen waren fasziniert. Frank Schumann wusste nicht, dass er im Osten kein Publikum hatte, er setzte nie einen Fuß vor die Tür seiner von Kindern wimmelnden Wohnung und rauchte eine Ostzigarette nach der anderen, die

»Mein Hinterlader, das Chassepot, das halbautomatische Jagdgewehr, meine Minies, Paixhans und Martinis-Henry. Meine Mannlicher!«, rief Wolfgang. »Zwanzig Jahre habe ich gebraucht, um sie zusammenzukriegen. Am Ersten Mai habe ich sie immer abgefeuert. Die Polizei glaubte, es seien einfache Kracher.«

»Du kannst doch jederzeit eine neue Sammlung anfangen«, schlug Frank vor. »Du wirst doch reich hier, oder?«

Wolfgang antwortete auf diese rhetorische Frage nicht. Frank hatte recht. Auf Wolfgangs Konto vermehrte sich das Geld. Wie eine Bakterienkultur, dachte er. Eine saubere Sache war das nicht. Plötzlich fragte er sich, ob Frank auch genug Staub wischte. Trotzdem ließ er sich zu einem dritten Wodka überreden. Frank würde herumerzählen, dass Wolfgang zu viel trinke. Franks Kinder tobten herein, ohne Rücksicht auf das Gespräch der Erwachsenen, aber Frank machte ein zufriedenes, beseligtes Gesicht. Seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis hatte er ein paar Pfund zugenommen. »Haftverfettung«, murmelte Wolfgang vor sich hin. Frank hörte es, verstand aber nicht, was es bedeuten sollte. Führt Selbstgespräche, merkte er sich; Pornographie war ja keine Kunst.

Wolfgang kehrte heim und klammerte sich an seine Frau. Es war ja sonst niemand da. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, keine Kinder zu haben. Ein Tag glich dem anderen. Jeden Morgen wusch er seine Sachen mit der Hand und entwickelte im Laufe der Zeit ein regelrechtes System – vom Rumpfteil nach außen zu den Ärmel- oder Hosenaufschlägen, als würde er seine Hemden und Hosen massieren. Da lud ihn eines Tages ein anderer Maler zu sich ein, den er auf einer Party kennengelernt hatte.

Maik war vor fünf Jahren nach Westberlin gekommen, nachdem er im Westen ein paar andeutungsweise antisozialistische Karikaturen ausgestellt hatte. Wie alle Berliner in Ost und West war er scharf auf New York und träumte von einer amerikanischen Karriere. Aber auf der Schule hatte er Russisch gelernt und sprach kein Englisch, sodass

Maik verstand Schulzes Sehnsucht nach dem Osten vollkommen. »Meine Frau Inge ist hier wirklich glücklich«, sagte Schulze, der schlichte Pornograph vor dem grübelnden Künstler. Etwas anderes fiel ihm nicht ein. »Die Frauen kommen immer besser zurecht«, meinte Maik gehässig. Sie gingen in eine heruntergekommene Arbeiterkneipe, wo sie niemand erkennen würde, und betranken sich.

 

»Es liegt am Publikum hier. Die Leute erwarten von uns eine Vorstellung, als ob wir Tanzbären wären.« Georg Klein ahnte, wie die Medien Schulze jetzt unter Druck setzten. Er war froh, dass es einen anderen traf, und rief ihn an, um ihn zu trösten. Georg Klein war Gefühlskommunist und Theatermann, der den Osten auf sehr elegante Weise verlassen hatte, indem er eine begeisterte Westberliner Lehrerin heiratete, deren Begeisterung auch dann nicht erlahmte, als seine Muse ihn verließ und er anfing, Werbetexte zu schreiben. Als Ehemann und mit einem Westberliner Personalausweis versehen, lebte er auf ebenso großem Fuße wie vorher in Ostdeutschland. Zwar hatte er vor dem Snobismus seiner Umgebung kapituliert und trank Espresso, dennoch würde Nescafé für ihn immer der Inbegriff des Luxus bleiben.

Schulze lehnte seine Einladung ins teure Lokal ab. Er blieb zu Hause und räumte seine Sachen um. Jeden Morgen wusch er entweder die graue Hose und das weiße Hemd, die er getragen hatte, als er über die Grenze gegangen war, oder die graue Hose und die weißen Hemden, die er damals mitgenommen hatte. Das jeweils trockene Paar zog er an. Danach schnitt er sich die Fingernägel und tat die Nagelreste in einen Umschlag. Wenn der Umschlag voll war, klebte er ihn zu, schrieb ein Datum darauf und legte ihn in seinen Schrank. »Auch das ist Kunst, es stammt von mir«, erklärte er Inge. Das, was er sich von seinem rasch ergrauenden Haar abschnitt, bewahrte er ebenfalls auf. Am späteren Vormittag las er drei Seiten in einem Roman, hörte eine Seite von einer Schallplatte, wischte den Boden auf und bezog das Bett neu. Dann machte er einen Spaziergang, wobei er einer ganz bestimmten Route durch sein Viertel folgte. Er aß spät zu Mittag, spülte das Geschirr, hielt ein Nickerchen und las noch einmal drei Seiten in einem Roman. Auf diese Weise brachte er den Tag herum. Er sprach nur noch selten, und die Wörter kamen langsam aus seinem Mund, eins nach dem anderen, wie ein Trauermarsch.

Seit ihm die Tusche ausgegangen war, hatte er keinen Strich mehr gezeichnet, und trotzdem war er noch immer trendbildend. Er erhielt viele Briefe mit Autogrammwünschen, die er alle in den Papierkorb warf. Seine Frau fischte sie wieder heraus und löste die Briefmarken auf den Umschlägen für die Rückantwort ab; Verschwendung war ihr noch immer zuwider.

Sechs Monate vergingen. Die Kritiker schrieben lange Artikel über sein bisheriges Schaffen und »warteten mit Spannung« auf seine ersten Arbeiten im Westen.

Inge fing an, sich Sorgen zu machen. Was würden die Biographen sagen, wenn sie erführen, wie Wolfgang Schulze in Wirklichkeit lebte? Sie versuchte, sein Interesse für die Kunst neu zu wecken. Sie tat, was sie konnte, um ihn über Ausstellungen und Vernissagen auf dem Lau

Inge errettete ihren Mann in der Weihnachtszeit. Sie stieß zufällig auf eine Anzeige und dachte sofort an ihn. »Wolfgang, komm mit!« Sie nahm ihn an die Hand und führte ihn zu einem großen Warenhaus in der Nähe. Dort sorgte sie dafür, dass er sich um eine frei gewordene Stelle bewarb. Mit seinem tadellosen Lebenslauf – zwanzig Jahre am selben Arbeitsplatz – wurde er sofort als Verkäufer in der Sportabteilung eingestellt.

Niemand hat es je herausbekommen. Die Leute, die ihn kannten, die ostdeutschen Künstler und die Westberliner Schickeria, kamen nie in das Warenhaus, in dem nur Leute aus der Unterschicht kauften; dies hatte zu Inges Kalkül gehört. Sie lehnte es ab, sich in Interviews über Wolfgang zu äußern, und man hielt ihn für einen exzentrischen Einsiedler. Er verkehrte mit seinen Arbeitskollegen, die nie die Feuilletons lasen, in denen er erwähnt wurde, und nach Feierabend spielte er regelmäßig Karten mit ihnen.

Er entwickelte eine Zuneigung zu seiner neuen Thermoskanne, die mit einer naiven Dorfszene dekoriert war. »Schulzes Welt« wurde zu einem Klassiker. Nachahmer beschäftigten die Kunstwelt. Es ging völlig an Schulze vorbei. Seine Tage waren glücklich und erfüllt. Morgens um halb acht ging er zur Arbeit, und abends um halb acht kehrte er zurück, nach einem Bier mit seinen Freunden (Ausschweifungen brauchte er nicht). Er sammelte Zuckerwürfel und Bierdeckel aus verschiedenen Lokalen. Wenn er frei hatte, wischte er den Fußboden, wusch seine Sachen, las in einem Roman und machte einen Spaziergang. An den anderen Tagen überließ er es Inge, sich um die Wohnung zu kümmern. Nach mehr als dreißig Ehejahren traute er ihr das zu.

Zu Hause erinnerte nichts an Schulzes frühere Welt, ausgenommen die hundertzehn Briefe, die noch immer in zehn Stapeln auf seinem Tisch lagen. Aber eines Tages kam Schulze von der Arbeit und sagte: »Ein Kollege von mir fährt rüber nach Ostberlin.« Er sagte es langsam, ausdruckslos, wie es seine Art war. »Macht doch nix«, erwiderte Inge sofort. »Ich habe ihn gefragt, ob er ein paar Briefe für mich einstecken

Die Bilder mit den Autogrammen waren inzwischen einiges wert. Im Osten wurden sie von einem zum anderen weiterverkauft, aber im Laufe der Jahre wanderten sie alle hinüber in den Westen, in die Sammlungen der Spezialisten und in die Auktionshäuser, wo man Preise für sie zahlte, wie antike Gewehre sie nie erzielt hätten.

Aus dem amerikanischen Englisch von Reinhard Kaiser