Ein informativer und amüsanter Alpen Roman. In vier Wochen 500 km zu Fuss, quer über die Alpen, von München nach Venedig. Mein Mann Robert, unser Hund Monet und ich.
Nervenaufreibende und entspannte Momente. Interessante Weggefährten, phantastische Aus- und Einblicke in die grossartige Alpenwelt und ihre charmanten Anekdoten am Rande, die unseren langen Weg in ein spannendes Ziel verwandelten.
Das Buch für alle, die auch gern einmal mit ihrem Rudel oder allein ihr persönliches Wanderabenteuer erleben möchten. Die genauer wissen wollen, wieso die Gliederscharte ihren Namen zu Recht trägt, und wo es auf der Route das beste Schnitzel gibt. Oder die einfach in Gedanken mitwandern wollen, um selbst zu erfahren, wie faszinierend und erholsam ein etwas längerer Gassigang mit Hund sein kann. Mit minimalem Gepäck und der Freiheit, jeden Tag und Ort einfach hinter sich lassen zu können. Um einem neuen, aufregenden entgegen zu gehen. Nur Mut!
(Infos zur Route & Download Bereich im Anhang des Buches.)
Petra Kochgruber, geboren 1966 in Lörrach, hat nach ihrem Wirtschaftsstudium und über zwanzig Berufsjahren im Marketing Management internationaler Unternehmen die klassische Karriere an den Nagel gehängt, um mehr Freiräume zu schaffen für ihre anderen, persönlichen Leidenschaften: Reisen, Texten, Schreiben und Fotografieren. Heute lebt und arbeitet sie in der Schweiz. Mit ihrem Mann und Hund bereist sie Europa und Afrika zu Fuss oder mit dem Wohnmobil. Über ihre Abenteuer, Erlebnisse und Erfahrungen berichtet sie, gemeinsam mit ihrem Mann Robert, in Reportagen, Fotos und Videos auf ihrem Blog Magazin:
www.nurmut.ch
Die im Buch dargestellten Erlebnisse, Dialoge und Personen basieren auf Erinnerungen und weichen an einigen Stellen gewollt oder ungewollt von der Realität ab. Namen und Merkmale einzelner Personen wurden zum Schutz ihrer Privatsphäre mitunter geändert.
Da Geh- und Pausenzeiten beim Wandern individuell verschieden sind, handelt es sich bei den Zeitangaben in diesem Buch um unsere persönlichen Erfahrungswerte, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben.
Bei den Einschätzungen einzelner Übernachtungs- oder Einkehr-Möglichkeiten handelt es sich um unsere persönliche, unabhängige Meinung zum Zeitpunkt der Wanderung. Hieraus sind keine Ansprüche an Leistungen der erwähnten Personen abzuleiten. Das Buch sowie unsere Wanderung wurde von keiner der erwähnten Personen oder Unternehmen in irgendeiner Form finanziell unterstützt.
Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich.
Der Film zum Buch unter: www.nurmut.ch
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über:
www.dnb.de abrufbar
© 2017 Petra Kochgruber
Umschlaggestaltung: Robert Kochgruber
Umschlagfotos: © Robert Kochgruber
Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7448-2452-1
Für meinen Mann Robert,
den allerbesten Begleiter
auf Reisen und durchs Leben.
Und für unseren
Vierbeiner Monet.
Es war wieder einmal einer dieser Tage. In die man viel mehr hineinpackt als gut und notwendig wäre. Um der Welt, aber vor allem sich selbst, zu beweisen, welche Multitasking Fähigkeiten in einem stecken.
Nach vielen arbeitsreichen Stunden schmurgelte das Mittagessen für den nächsten Tag auf dem Herd. Währenddessen spülte ich noch schnell die Töpfe und Gläser vom Abendessen ab und drapierte sie auf der Spülablage zu einem kunstvoll hohen Turm, damit alles trocknen konnte. Als die Suppe überzukochen drohte, flitzte ich zum Herd, um schnell das Gas herunterzuschalten. Und da passierte es.
Ein sattes »Rumms« und Ohren betäubendes Scheppern, gefolgt von einem Herz erweichenden »Klirr« liessen mich herumfahren. Paralysiert starrte ich auf das Ergebnis meines Wirkens. Auf dem Küchenboden, inmitten des heillosen Chaos, funkelten tausend kleine, bunte Scherben.
In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloss. Mein heiss geliebtes, farbig schillerndes Lieblingsglas aus Murano. Kaputt. Ein einziger Scherbenhaufen. Das lieb gewordene, bunte Erinnerungsstück an glückliche Tage in der Lagunenstadt. In wenigen Sekunden Vergangenheit. Unwiederbringlich.
Aufgeschreckt vom Getöse, eilte mein Mann in die Küche.
Beim Anblick dieses Jammerbildes sagte er sarkastisch: »Petra, du Schussel! Ein neues Glas kannst du dir zu Fuss in Venedig holen!«
Ein schlechter Scherz.
Ich schluckte die aufsteigenden Tränen und meine Wut auf mich selbst hinunter. Zerknirscht und traurig räumte ich den Unfall weg. Nicht ahnend, welches Abenteuer hinter diesem Ungeschick lauern würde, stellte ich Roberts buntes Trinkglas vorsichtig in den Schrank. »Gott sei Dank! Seins hat wenigstens keinen Schaden genommen!«
Mit mir hadernd, ob der Verlust meines schönen Glases damals ein böses Omen gewesen ist, oder ob diese Scherben mir tatsächlich Glück gebracht haben, stapfe und keuche ich Monate nach diesem Zwischenfall schwitzend und missmutig den steilen, steinigen und rutschigen Weg hinauf. In Gedanken bei diesem Schlüsselerlebnis vor einem halben Jahr, das mich nun in diese unwirkliche Situation gebracht hat.
Bepackt mit einem elf Kilo Rucksack und mit Wanderstöcken bewaffnet. Hinter Mann und Hund inmitten hoher Alpengipfel. Beim Besteigen einer über 2’600 m hohen Bergscharte in felsigem Geröll.
Auch jetzt kämpfe ich mit den Tränen wie damals. Allerdings vor Erschöpfung und Anstrengung, denn der kräftezehrende Aufstieg will nicht enden.
Das Gewitter letzte Nacht hat die Steine zur schlüpfrigen Unterlage werden lassen, und vom Tal her verfolgt uns schon die nächste drohende Wolkenwand, die nichts Gutes verheisst.
Mit jedem Meter scheint die Luft dünner zu werden. Japsend bleibe ich immer öfter stehen, putze mir trotzig die Rotznase und blicke nach oben, wo der Weg im Nichts zu enden scheint. Tapfer schlucke ich den quälenden Knoten im Hals hinunter, der sich gern hier und jetzt in einem Tränenmeer auflösen würde.
Das kleine Männchen »Verstand« hinter meinem rechten Ohr flüstert mir leise zu: »Weinen und hinsetzen bringt dich jetzt auch nicht weiter. Entweder du kehrst um oder du kämpfst weiter.«
«Umkehren und Aufgeben? So schnell noch nicht!«
Als mein Mann von oben herunter ruft: »Gib mir doch endlich deinen Rucksack bis zur Scharte!«, schüttle ich energisch den Kopf.
»Dem geliebten Partner einen zweiten, schweren Rucksack aufbürden auf diesem blöden Weg? Damit ich es selbst bequemer habe? Kommt gar nicht in Frage!«
Wieder meldet sich mein Verstand zu Wort: »Nicht hineinsteigern, langsamer gehen, gleichmässig und tief atmen, Nase nochmals putzen. Und immer daran denken, alles hat ein Ende. Auch dieser Anstieg.«
Zuvor musste ich sie nur noch besiegen, die heute so unwirtliche Gliederscharte, deren Name für mich in diesem Augenblick Programm ist. Drohte sie doch, eine ordentliche Scharte in meinen eigenen Gliedern zu hinterlassen.
Man sollte die Aussagen seiner Liebsten wirklich immer ernst nehmen. Auch wenn man sie zunächst für einen Scherz hält.
Roberts ironisch dahin geworfene Aufforderung, ich solle mir mein neues Murano Glas doch gefälligst zu Fuss in Venedig abholen, wurde sehr bald zur fixen Idee.
»Lass uns gemeinsam von München nach Venedig wandern!«
Mein Mann hielt die Verbindung meines früheren, langjährigen Wohnorts München mit der Region Venetien, aus der seine Mutter stammte, für eine gelungene Kombination unserer beider Herkunftsorte. Und den Fussmarsch dazwischen für ein unvergessliches Event zu meinem fünfzigsten Geburtstag.
Ich hingegen hielt das Ganze für Unsinn. Und für komplett undurchführbar.
»Wie, zu Fuss nach Venedig gehen?«
Bisher kannte ich die Strecke nur mit Auto oder Flugzeug. Aber zu Fuss?
»Muss man da nicht über die Alpen oder zwischendurch?«
Spontan fiel mir der historische Feldherr Hannibal ein, der ca. 200 v. Chr. mit seinem Heer und einigen Elefanten zu Fuss über die Rhône Alpen zog. Ich machte Witze darüber, dass wir anstatt eines Elefanten ja unseren Hund Monet mitnehmen könnten.
»Klar kommt Herr Monet mit. Der war doch bisher immer überall dabei!«
Als mein Liebster schliesslich damit begann, nächtelang Fernwanderer Berichte im Internet zu lesen und sich intensiv mit »dem perfekten Rucksack für Fernwanderungen«, »der optimalen Packliste«, »den besten wasserdichten Wanderschuhen« und Ähnlichem beschäftigte, wurde mir langsam klar, dass auch ich mich zumindest ansatzweise einmal genauer mit dem Thema auseinandersetzen sollte.
Der Wanderführer München-Venedig, der kurze Zeit später auf unserem Wohnzimmertisch lag, bestätigte schliesslich meine schlimmsten Befürchtungen. Dies war ein Ernstfall. Ich kannte meinen Mann inzwischen gut genug, um zu wissen, was all diese Aktivitäten zu bedeuten hatten.
Auf diese Weise waren wir vor Jahren zu einem zugegebenermassen sensationellen Wohnmobil gekommen, das uns bisher spannende Reisen und Abenteuer beschert hat. Aber das wäre eine ganz andere Geschichte.
Mir war langsam klar, dass es sich bei »München-Venedig zu Fuss« keinesfalls nur um eine fixe Idee oder Spinnerei handelte. Im Gegenteil, das Projekt begann im Geiste meines Mannes zu reifen. In jeder freien Minute war er am Recherchieren. Und jedes Mal, wenn ich an seinem PC vorbei ging, sah ich neue Testberichte wundersamer Produkte, die der Fernwanderer unbedingt braucht. Oder eben auch nicht. Seltsame Videos mit Tipps und Tricks von Überlebenskünstlern und Langstreckenwanderern flimmerten über den Bildschirm. Aus dem Keller zauberte Robert sein altes, noch neuwertiges Zelt samt Isomatte und Schlafsack hervor und baute es an einem Frühlingstag hinter unserem Haus auf.
»Zelten?« Das hatte ich noch nie gemacht und fand den blossen Gedanken daran bisher schrecklich.
»Nur so eine Idee für den Fall, dass wir mit Hund in einer der Alpenhütten nicht unterkommen werden, oder eine Hütte bereits voll sein sollte«, erklärte er mir, während ich skeptisch und mit fragendem Blick vor dem leicht muffigen Gesamtkunstwerk in unserem Garten stand.
»Ach so, ja klar! Und wie lange steht jetzt dieses Zelt hier so rum?«
»Bis es ein wenig ausgelüftet ist, und bis wir wissen, ob es noch dicht ist.«
Innerlich fragte ich mich schon ein wenig, wer hier nicht mehr ganz dicht war, sagte jedoch nichts.
»Manche Dinge erledigen sich manchmal ja von selbst.«
Als er dann an einem der folgenden milden Frühlingsabende im Trainingsanzug mit Schlafsack und Stirnlampe durch unsere Terrassentür hinaus verschwand, um persönlich die Dichtheit unseres Zeltes zu testen, beschloss ich endgültig, nicht weiter tatenlos zu zusehen.
»Was meint er denn überhaupt damit, Hunde sind nicht zugelassen in den Hütten?«, fragte ich mich. Nach einer ziemlich schlaflosen Nacht, in der es wohl geregnet haben musste, denn irgendwann war ein durchnässter Robert mit den undeutlichen Worten »undicht« und »Mistwetter« erst fluchend ins Bade- und dann ins Schlafzimmer eingerückt.
Am nächsten Tag begann ich selbst, im allwissenden Internet nachzusehen. Mein Computer war bei dieser ersten Recherche jedoch überhaupt keine grosse Hilfe. Zum Thema »Alpenüberquerung mit Hunden« und konkret für die Route München-Venedig waren so gut wie keine hilfreichen Informationen im World Wide Web zu finden. Ausser den üblichen Chat Foren, die oft viel heisse Luft aber wenig brauchbare Tipps boten, fand ich nichts. Auch diverse Alpenhütten Websites waren nicht gerade erquicklich, weil man dort in den allgemeinen Regularien des Alpenvereins auch eher »Anti-Hund« eingestellt zu sein schien.
Vorsichtig äusserte ich meine ohnehin schon bestehenden Zweifel, deren Bestätigung ich nun auch noch im Internet gefunden hatte.
»Von München zu Fuss nach Venedig zu gehen, halte ich an sich schon für gewagt. Aber mit Hund erscheint es mir schlicht unmöglich!«
So entschied ich, dem Ganzen weiterhin keine allzu grosse Bedeutung einzuräumen. Und liess ihn weiter planen und lesen.
Ein wenig stutzig machte es mich zwar schon, dass unsere Gassigänge mit Monet plötzlich immer weiter ausgedehnt wurden, bis wir schliesslich jeden Morgen anderthalb bis zwei Stunden zu Fuss unterwegs waren. Und abends nochmals zusätzlich eine halbe Stunde. Aber Kondition hat ja schliesslich noch niemandem geschadet.
Ich merkte, wie sehr mir diese langen Spaziergänge in unserer hügeligen Region und der wunderschönen Natur der Voralpen Spass machten. Dass ich das Laufen bald regelrecht brauchte, um morgens in die Gänge zu kommen. Und wie sich mein schwacher Kreislauf auf einmal normalisierte, Energie durch meinen Körper floss, und die kräftige Durchblutung von den Haar- bis in die Zehenspitzen mir richtig gut tat. Sogar die Laune hob sich, Morgenmuffel, der ich früher einmal war. Schliesslich bestätigte auch unser Hausarzt, dass diese Art der Ausdauerbewegung perfekt zur Steigerung meines zu niedrigen Blutdrucks und zur Senkung von Roberts hohem beitrage.
»Aber das muss ja nicht gleich in einer Alpenüberquerung gipfeln«, fand ich.
Mit der Platzierung diverser Reiseführer und Zeitschriften über das Baltikum in unserer Wohnung versuchte ich, meinen Mann auf ein anderes Reiseziel zu lenken. Und zwar mit unserem Reisemobil. Ich schilderte ihm die unberührte Natur der dortigen Ostseeküste und der Wälder in den schillerndsten Farben.
»Ja,ja, auch sehr schön. Das machen wir sicherlich irgendwann.« Robert hörte mir aufmerksam zu, um sich dann wieder in sein Büro zurückzuziehen, wo plötzlich ausgedruckte Kartenabschnitte an Wänden und Schränken hingen. Darauf sah ich kleine, ominöse Fähnchen, seltsame Zeichen und beängstigende Höhenkurven. Wie von Zauberhand füllte sich dort nebenbei eine graue Kunststoffkiste mit äusserst seltsamen Produkten, die ich noch nie bei uns gesehen hatte.
»Wozu benötigen wir denn eine Stirnlampe?«, wunderte ich mich.
Verständnisloses Stirnrunzeln als Antwort.
Hie und da drangen verhaltene Flüche durch die angelehnte Bürotür an mein Ohr, wenn irgendeine Routenplaner Software offensichtlich mal wieder ihre Tücken zeigte.
»Ruhe bewahren, das geht wieder vorbei«, wurde zu meinem Mantra in solchen Momenten.
Plötzlich hatte dann auch ich eines Tages ein Planungsprogramm für Wanderrouten auf meinem Laptop, das wohl in einer heimlichen Nacht- und Nebelaktion dort installiert worden war. Begleitet von der Aufforderung: »Du könntest langsam aber auch ein bisschen mithelfen bei der Planung und Vorbereitung!«
Weil ich mich immer noch zu entziehen versuchte und die Software auf meinem Computer schlicht ignorierte, zog mein Mann schliesslich alle Register. Er lud mich eines Abends in unser Gästezimmer ein, den einzigen Raum mit Fernsehgerät in unserem Haus, da wir bereits vor Jahren beschlossen hatten, TV abstinent zu leben. Nebenbei bemerkt sehr empfehlenswert, weil man eine Menge Zeit für sinnvolle Dinge gewinnt. Bücher lesen, Reiseplanung oder lange Abendspaziergänge mit Hund zum Beispiel.
Ich erhielt also die Einladung zu einem Filmabend, seit zwei Jahren ein äusserst seltenes und daher höchst willkommenes Ereignis. Inklusive einem Glas Rotwein und feinen Snacks.
Wer kann dazu schon »nein« sagen? Gespannt nahm ich Platz auf dem Gästesofa und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
»Zu Fuss über die Alpen. Von München nach Venedig«, las ich auf dem Bildschirm.
»Aha«, dachte ich, »jetzt sehe ich wenigstens selbst einmal, worüber wir hier eigentlich reden. Wenn Robert das gesehen hat, wird auch er einsehen, dass wir eine solche Route niemals zu Fuss mit Rucksack schaffen können. Schon gar nicht mit Hund.«
Die beiden Wanderer und Filmemacher hatten nämlich auch keinen Vierbeiner dabei.
Der Film begann mit Vorbereitungen im Fitness Studio.
»Siehst du, wir trainieren unsere Muskeln nicht im Fitness Studio«, bemerkte ich kritisch. »Also werden wir eine solche Mammut Wanderung auch nicht schaffen«, ergänzte ich in Gedanken.
»Papperlapapp! Ruhig jetzt, guck mal, die schönen Bilder der Berge.«
Und damit hatte mein Liebster nun ausnahmsweise recht.
Wir bekamen phantastische Bilder der Alpenbergwelt zu sehen. Vor allem die Dolomiten raubten mir den Atem. In doppelter Hinsicht, denn meine Faszination war ebenso gross wie mein Respekt vor den Königen der Alpen, die mir in ihrer grandiosen Schroffheit unüberwindbar erschienen. Zumindest für uns drei, die bis dato noch nie eine Fernwanderung unternommen hatten.
»Was hatte Robert schliesslich alles auf die Beine gestellt, um trotz meiner Zweifel auch in mir die Fernwanderer Sehnsucht zu wecken. Und welche Vorbereitungen hatten wir für unser Abenteuer zu dritt schliesslich gemeinsam in Angriff genommen!«.
Die Gedanken daran gingen mir nochmals im Schnelldurchlauf durch den Kopf, während ich samstagmorgens viel zu früh und ziemlich aufgeregt am Bahnhof unseres kleinen Schweizer Dorfes auf einer Bank sass. Gemeinsam mit Mann und Hund wartete ich dort auf den Zug nach St. Gallen.
Unser Hund Monet sass, freudig erregt über den anstehenden Ausflug, mit seinem neuen roten Rucksack auf dem Rücken erwartungsvoll vor uns auf dem Bahnsteig.
»Sieht ganz schön sportlich aus, der kleine Vierbeiner mit seinem schicken Rucksack und dem speziellen Hundegeschirr«, fand ich. »Gut, dass wir uns doch entschieden haben, beides mitzunehmen.«
Auch Monet und sein Gepäck waren Inhalt endloser Diskussionen, nächtelanger Packversuche und vorbereitender Tragetests gewesen.
»Was nehmen wir mit?«
»Bloss nicht zu viel!«
Das optimale Rucksack Gewicht pro erwachsener Person liegt zwischen sieben und neun Kilogramm für so eine lange Strecke. Für unseren sechzehn Kilo schweren Hund bei höchstens zwei.
»Wie sollen wir denn da alles Notwendige für vier Wochen unterbringen?«
»Was brauchen wir alles, um für jegliche Wetterlagen und Eventualitäten gerüstet zu sein?«
»Wieso darf ich denn kein Sommerkleid mitnehmen?«
»Föhn?«
Fragen über Fragen, die im Vorfeld zu schier endlosen Debatten geführt hatten.
Schliesslich hatte ich anhand einer akribisch aufgestellten Packliste meine Siebensachen zusammengesucht, die ich auf jeden Fall mitnehmen wollte, im Wohnzimmer ausgelegt und in meinen tollen neuen, grossen Rucksack gepackt.
Während ich nun mit dem final gepackten Rucksack auf dem Bahnsteig wartete, schüttelte ich nachträglich schmunzelnd den Kopf bei der Vorstellung, wie schwer er beim allerersten Packversuch gewesen war.
»Wie oft hatte ich ihn wohl bis dato ein- und ausgepackt, diskutiert, aussortiert, abgewogen? Im Geiste und mit der Handwaage.«
Jetzt sass er da mit mir auf der Bank, satt und gut gefüllt mit seinen elf Kilogramm, verteilt auf Hüften, Rücken und Schultern. Sogar mein Reise-Maskottchen Knut, den schwedischen Elch, hatte ich nach zähem Ringen mit meinem Mann durchsetzen können. Der kleine Stoff-Begleiter bringt gerade mal neunzig Gramm auf die Waage.
»Ist aber auch Gewicht, du musst es ja wissen«, hörte ich Robert noch in meiner Erinnerung zetern.
»Bin mal gespannt«, dachte ich, »was ich unterwegs alles vermissen werde, was wirklich fehlen wird, und welche Sachen ich total umsonst mitschleppe.«
»Monet hat es da einfacher! Der hat sein Fell an, schläft auf einer leichten Decke und braucht nur seine beiden kleine Reisenäpfe und ein wenig Futter zu tragen. Fertig!«
Was einem frühmorgens auf einem einsamen, kleinen Dorfbahnhof so alles einfiel, während man auf den Zug wartete.
Wie sehr wir unser Reiseverhalten doch verändert haben, seit dieser kleine Hund vor neun Jahren in unser Leben getreten ist.
Keine Flugreisen mehr. Nur noch Ziele, wohin Monet uns begleiten kann. Selbst Restaurants und Bekannte, die unseren Hund nicht mochten, mieden wir inzwischen, so gut es ging.
Überhaupt hat dieser Vierbeiner unser Leben ganz schön verändert. Niemals zuvor sind wir so fit gewesen. Die langen Spaziergänge an der frischen Luft bei Wind und Wetter und in jedem Gelände haben ihre positiven Spuren in Körper und Geist hinterlassen. Mir fiel ein berühmtes Loriot Zitat ein: »Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.«
»Das kann ich im Fall von Monet nur bestätigen«, dachte ich, während ich ihn liebevoll ansah.
Zwar kein Mops. Dafür aber eine gelungene Mischung mit der agilen Sportlichkeit eines Jack Russel und dem sonnigen Gemüt eines Labradors.
Und seinem Namen macht er alle Ehre. Rehbraunes Fell, vier weisse Pfoten, weisser Kragen und Brust. Dazu eine weisse Schwanzspitze, die er immer hoch erhoben spazieren trägt wie einen frisch in Farbe getauchten Pinsel. In Kombination mit seinem ewig jungen »Welpengesicht« und den charmanten kleinen Stirnfalten nicht nur ein Künstler, sondern auch »Everybody‘s Darling«. Ein Herzensbrecher und treuer Kumpel durch dick und dünn. Kurzum eine eigene kleine Persönlichkeit, weshalb wir ihn oft auch »Herr« oder »Monsieur Monet« nennen.
Schliesslich verdankten wir es mitunter auch Monet, dass wir hier mit gepacktem Rucksack sassen. Am Beginn eines vierwöchigen Abenteuers zu Fuss, quer über die Alpen.
»Dass das überhaupt noch geklappt hat mit Herrn Monet und unserer Reise!«, überlegte ich, während ich auf dem Bahnsteig sass. Nach den ersten paar Hüttenabsagen per E-Mail war ich total demoralisiert gewesen. Trotzig hatte ich das Projekt zunächst abblasen wollen. Doch nach ein paar Tagen war mein Ehrgeiz erst recht erwacht. Ich wollte die Hüttenwirte auf meine Art überzeugen.
»Die wissen eben nicht, dass wir einen gut erzogenen, sozialen und ruhigen Hund haben. Woher sollen sie denn auch?«
Womöglich haben sie bereits schlechte Erfahrungen gemacht und denken bei dem Wort Hund automatisch an Schmutz, Ärger und Lärm. Niemand kauft gern die Katze oder den Hund im Sack. Bei genauerer Überlegung war mir klar geworden, dass ich meine Anfrage ganz anders gestalten musste. Schliesslich war Marketing jahrelang meine Profession gewesen.
»Wär doch gelacht. Herr Monet muss mit all seinen Vorzügen vorgestellt werden. Und wer erst einmal seinen unwiderstehlichen Hundeblick gesehen hat, kann sowieso nicht anders«, das wusste ich aus Erfahrung.
Gedacht, getan.
Ich hatte nochmals eine viel ausführlichere E-Mail mit der Umschreibung unseres Wanderprojektes formuliert, vor allem aber mit einer genauen Beschreibung unseres Vierbeiners.
»Mittelgross, Schulterhöhe 46 cm, kurzes Fell, bellt nicht, sozial verträglich, wohlerzogen. Kurz gesagt: nett! Genau wie wir.«
Diese Vorstellung hatte ich gekrönt mit einem schönen Foto von Monet, der in voller Wandermontur bei strahlendem Sonnenschein an einem plätschernden Gebirgsbach steht. Das Ganze hatte ich zweisprachig formuliert, damit auch die Südtiroler und Italiener unser Ansinnen verstehen konnten.
»Wer sagt‘ s denn? Man muss nur reden mit den Leuten.«
Von einunddreissig Übernachtungsplätzen hatten mir umgehend achtundzwanzig positiv geantwortet. Nur drei hatten mit Hund überhaupt keine Lösung gefunden.
Manche hatten mir so freundlich und charmant geantwortet, dass ich neugierig wurde und darauf brannte, diese Menschen und ihre Gastfreundlichkeit persönlich kennenzulernen.
Dieser kleine Erfolg im Vorfeld hatte auch mir eine ordentliche Portion Motivation beschert, Roberts unglaubliche Idee wirklich in die Tat umzusetzen.
Das Lebensmotto meines Vaters, mit dem er mich als Kind zuweilen ganz schön nervte, hatte sich wieder einmal bewahrheitet: »Es gibt nichts, was man nicht kann! Wenn man es nur wirklich will!«
Abrupt riss Robert mich aus meinen Gedanken und fragte, vor mir auf dem Bahnsteig stehend: »Wieso grinst du denn so?«
»Ach«, antwortete ich, »mir gehen so viele Dinge durch den Kopf, die passiert sind, bevor wir uns mit unseren drei Rucksäcken auf den Weg machen konnten. Und irgendwie kann ich noch nicht ganz glauben, dass es nun wirklich losgehen soll.«
In dem Moment fuhr unser rotes Appenzeller Bähnli in den Gaiser Bahnhof ein, das uns zunächst nach St. Gallen brachte.
Dort hatten wir genügend Zeit für den Bahnsteigwechsel eingeplant, denn unser Fussmarsch sollte auf keinen Fall mit Zeitdruck beginnen.
»Entschleunigung von Anfang an«, war unsere Devise.
So warteten wir erneut am St. Galler Bahnsteig auf den Zug nach München.
In der Stadt war am Samstagmorgen bereits wesentlich mehr los als in unserem kleinen Appenzeller Dorf. Lachende Jugendliche mit grossen Rucksäcken, auf dem Weg zum St. Galler Open Air Festival, hockten auf dem Bahnsteig neben den ersten aufgeregten Sommerurlaubern mit Hartschalenkoffern.
Dazwischen pendelnde Angestellte mit dem obligatorischen »Coffee to go« Becher in der Hand, die rechtzeitig die Geschäfte der Innenstadt öffnen mussten.
Ich liebe die Atmosphäre an Bahnhöfen und das Beobachten anderer Reisender.
»Woher sie wohl kommen, und wohin sie wollen?«
Schon als Kind hatte ich mir zu den einzelnen Bahnpassagieren kleine Geschichten ausgedacht, die in mir die Reisesehnsucht weckten.
Während ich meinen Blick den Bahnsteig entlang wandern liess, blieb er plötzlich für einen kurzen Augenblick hängen, um dann schnell wieder abzuschweifen. Ich wusste nicht genau, warum. Aus Unsicherheit, Verlegenheit oder weil das Bild so gar nicht zu unserer Aufbruchstimmung passen wollte.
Welch ein Kontrast. Wir drei standen dynamisch in sportlicher Wanderkleidung und mit voll bepackten Rucksäcken erwartungsvoll da. Ein Stückchen weiter weg sass eine ältere Dame allein auf dem Bahnsteig. Sie kauerte in einem mächtigen, elektronischen Rollstuhl. Vorne, hinten, seitlich, über und über voll bepackt mit Reisetaschen und gefüllten bunten Tüten, konnte sie gerade knapp unter ihrem hellen Strohhut aus dem beladenen Gefährt herausgucken. Die schmale, blasse Hand am Bedienungs- und Steuerknüppel ihres Fortbewegungsapparates, bot sie auf den ersten Blick ein Mitleid erregendes Bild.
Wie so viele Menschen in dieser Situation schaute ich möglichst unauffällig zur Seite. Obwohl mein Blick wie gefesselt an dieser hilflosen Frau im Rollstuhl hing, die an diesem geschäftigen Ort irgendwie verloren wirkte.
»Was hat sie nur in all den vielen Taschen?«, fragte ich mich. »Und wo will sie hin, so voll bepackt und ganz allein? Ob man ihr wohl helfen könnte nachher beim Einsteigen? Wie kommt sie mit dem breiten Rollstuhl überhaupt in den Zug?«, rätselte ich.
Einmal mehr spürte ich das beklemmende Gefühl, das mich jedes Mal beschlich, wenn ich einen Rollstuhlfahrer sah. War ich doch selbst vor zwanzig Jahren bei einem Sportunfall nur mit viel Glück und den richtigen Ärzten sehr knapp diesem Schicksal entgangen. Und stand hier nun auf meinen gesunden Beinen, die mich in den kommenden vier Wochen kraftvoll über die Alpen tragen sollten.
Ich kam nicht allzu weit mit meiner Vergangenheitsbewältigung, denn die ältere Dame fuhr geradewegs auf mich und Monet zu. Sie lächelte uns freundlich an und rief uns fröhlich in breitem Schweizerdeutsch aus ihrem Taschenberg heraus entgegen:
»Ja, grüezi wohl! Wo will denn der süsse Hund mit seinem roten Rucksack hin?«
Herr Monet, der kleine Charmeur, hatte das Eis in Sekunden gebrochen und das Schweigen auch. Entzückt über Monets Wander Outfit und neugierig interessiert an unserem Ziel, blieb die alte Dame direkt vor uns stehen und musterte uns ungeniert von unten herauf.
Wir erzählten von unserem Vorhaben und fragten sie nun mit weniger Scheu, wohin sie denn mit so grossem Gepäck wolle.
Als ob sie nur auf diese Frage gewartet hatte, sprudelte es enthusiastisch und voller Vorfreude aus ihr heraus.
»Ich fahre jetzt nach München, steige dort um in die Bahn nach Berlin, dann über Potsdam nach Rostock. Und von dort schiffe ich mich ein nach Norwegen, um auf einem Kreuzfahrtschiff die Fjorde zu durchfahren.«
Verblüfft fiel mir die Kinnlade herunter. Ungläubig und bewundernd blickten wir auf diese kleine, zerbrechliche und doch so energiegeladene Person.
»Ganz allein im vollbepackten Rollstuhl solch eine Reise zu unternehmen. Chapeau!«
Dagegen erschien mir unser geplantes Abenteuer plötzlich ziemlich banal und gar nicht mehr unmöglich. Hatte ich vor einigen Minuten noch mit mir gehadert, war ich nun binnen Sekunden davon überzeugt, dass wir die Alpen überqueren würden.
Verschmitzt strahlte sie uns an, die so ungewöhnlich reisende Dame, und ergänzte mit einem gewissen Schalk im Blick:
»Wissen Sie, ich sage immer, ich muss gehen, solange ich noch kann!«
Der Euro City sollte uns in gut drei Stunden von Sankt Gallen nach München bringen.
Dort beginnt am Marienplatz der klassische Traumpfad München-Venedig, den Ludwig Grassler in den Siebziger Jahren ausgearbeitet hat. Seitdem ist er für viele zum grössten Wunschziel aller Fernwanderwege Europas geworden.
Gut, dass wir unsere Sitzplätze vorher reserviert hatten, denn in diesem überregionalen Zug herrschte Hochbetrieb. Mit Mühe und Not bekamen wir unsere Rucksäcke verstaut, bevor wir selbst auf unsere Sitze plumpsten. Monet fand sein Plätzchen unter den Vordersitzen auf dem Boden zu unseren Füssen.
»Schon ein bisschen seltsam«, meinte Robert, als wir endlich sassen, »dass man bei der Bahn für Hunde genauso wie für Kinder den halben Fahrpreis bezahlen muss. Kinder dürfen dafür auf einem Sitz Platz nehmen, während Hunde auf dem Boden liegen müssen.«
Normalerweise scheue ich den Vergleich von Kindern und Hunden. Ich hasse auch den Spruch: »Der Hund ist ein Ersatzkind«. In diesem Fall musste ich meinem Mann jedoch ein wenig recht geben, wenn ich sah, wie Monet unter den eng platzierten Sitzen zusammengerollt kauerte. Vor allem, wenn ich daran dachte, dass wir für Deutschland, Österreich und Italien auch noch einen Maulkorb hatten kaufen müssen, weil dort in den öffentlichen Verkehrsmitteln sogar Maulkorb Pflicht bestand.
»Mit manchen Dingen muss man sich eben einfach abfinden«, sagte ich, »glücklicherweise ist dies nun die letzte lange Bahnfahrt für einige Zeit. Ab heute Nachmittag kann Monet vier Wochen lang seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen. Und dann ist das lästige Bahnfahren hoffentlich schnell vergessen.«
Als wir nach kurzer Zeit in Friedrichshafen hielten, wunderten wir uns darüber, dass sich der ohnehin schon gut besetzte Zug nun bis auf den letzten Platz füllte.
»Wieso ist an einem Samstag, Anfang Juli, der Zug so voll, obwohl die Sommerferien noch gar nicht begonnen haben?«
Nachdem der Zug losgefahren war, betrachteten wir die Zugestiegenen genauer. Viele junge Frauen und Männer, schätzungsweise Anfang Zwanzig, die sich angeregt in verschiedenen Sprachen miteinander unterhielten.
Wie so oft auf langen Bahnfahrten schauten wir entspannt aus dem Fenster, liessen die Landschaft an uns vorbei gleiten und wurden unbeabsichtigt Ohrenzeugen der Gespräche um uns herum.
Ein Grüppchen diskutierte in Englisch angeregt über die aktuelle Europa Politik und den anstehenden »Brexit«. Besonders eine junge Dame übertönte die anderen mit ihrem lauten Lachen und ihrer typisch, breiten englischen Aussprache immer wieder. Eindeutig eine Amerikanerin. Sie unterhielt sich mit einem Deutschen, dessen schwäbische Herkunft er trotz guter Englisch Kenntnisse nicht verleugnen konnte. Ein Belgier mischte sich ein, um seine Sicht der Dinge über Minderheiten in Europa zum Besten zu geben, da er in seinem Heimatland zur kleineren wallonischen Bevölkerungsgruppe gehörte. Neben uns sassen zwei junge Männer, die sich in melodiösem Französisch unterhielten, ein Kanadier und ein Franzose. Direkt vor uns schliesslich sass ein junger Afrikaner aus Mauritius, der in Kapstadt studierte.
Offensichtlich sassen wir inmitten einer Gruppe ausländischer Studenten aus verschiedenen Kontinenten, die gerade von einer Veranstaltung der Universität Friedrichshafen kamen. Sie waren mit ihrem teils riesigen Überseegepäck in Richtung Flughafen München unterwegs, um von dort in ihre Heimatländer zurück zu fliegen.
Wir fühlten uns wohl in diesem fröhlichen, internationalen Esperanto-Kauderwelsch, das uns signalisierte: »Jetzt seid ihr auf Reisen, auf dem Weg in andere Länder und Kulturen.« Die Bestätigung, dass es da draussen soviel mehr gab als unser kleines, beschauliches Schweizer Dorf, in dem wir sehr gern leben, das wir von Zeit zu Zeit jedoch verlassen, um unsere Weltoffenheit zu bewahren und den Tunnelblick zu vermeiden.
In diesem Zugabteil spielte sich die unbeschwerte Kommunikation über Grenzen hinweg ab. Das friedliche Miteinander und der interessierte, konstruktive Austausch junger Menschen aus der ganzen Welt, die sich gegenseitig von ihrer Heimat erzählten, von der wirtschaftlichen und politischen Lage dort und ihrer persönlichen Meinung dazu. Leben und leben lassen.
Endlich München Hauptbahnhof.
Beim Betreten des Bahnsteiges beschlich mich ein seltsam vertrautes Gefühl des Heimkommens. Wohlwissend, dass auch ich heute nur eine Durchreisende sein würde, und meine Heimat inzwischen längst woanders lag.
»Wie oft habe ich an diesem Bahnhof lieben Besuch abgeholt oder bin selbst von hier aus irgendwohin gefahren in den zwölf Jahren, die ich insgesamt in München gearbeitet und gelebt habe? Allerdings habe ich die Stadt noch nie mit dem Zug angefahren, um sie zu Fuss gleich wieder zu verlassen. Wie lang bin ich jetzt schon nicht mehr hier gewesen? Zwei oder drei Jahre?«
Melancholie machte sich in meinem Herzen breit, während ich den Fotoapparat zückte, um das Münchner Bahnhofsschild zu fotografieren. Ein tiefer Seufzer, und schon wurde ich fortgerissen vom Strom der Ankommenden und den Rufen meines Mannes, der mit Monet an der Leine bereits vorn am Ende des Bahnsteigs stand, zur Eile drängend. Schliesslich wollten wir noch den halben Tag wandern und hatten ein reserviertes Zimmer, das abends auf uns wartete. Keine Zeit für Sentimentalität.
»Wo geht‘s denn hier zu den S-Bahnen?«,
Um uns den Fussmarsch durch die samstäglich volle Innenstadt vom Bahnhof zum Marienplatz zu ersparen, hatten wir uns für zwei Stationen mit der S-Bahn entschieden. Vor dem Ticket Automaten gab Robert bald schlecht gelaunt auf. Wer die Münchner Verkehrsbetriebe mit ihrem komplizierten Zonensystem kennt, weiss warum. Ich erinnerte mich noch vage, wie das mit den Innen- und Aussenzonen, Streifen- und Tageskarten funktionierte, obwohl ich früher nie ein regelmässiger S- und U-Bahn Fahrer gewesen war.
Als Produktmanager beim grössten Münchner Automobilkonzern war ich in der Vergangenheit meist mit dem Auto gefahren und so gut wie nie mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Dennoch schaffte ich es nach einer Weile, dem Automaten die richtigen zwei Tageskarten zu entlocken und herauszufinden, dass Monet bei den Münchner Verkehrsbetrieben offensichtlich ein gern gesehener Fahrgast zum Nulltarif ist.
»Wer hätte das gedacht?«
Schnell hinein in die nächste S-Bahn, Richtung Marienplatz, die erwartungsgemäss samstagmittags zum Bersten voll war. Stehplätze mit drei vollen Rucksäcken inmitten von Einkaufstüten, Eis essender Kleinkinder und gestresster Mütter, ganz zu schweigen von mürrisch dreinblickenden Rentnern.
»Puuh!«, zwei Stationen sozialer Dichtestress und dann nichts wie rauf ans Licht und in die frische Luft.
Inmitten einer undefinierbaren Duftwolke aus allerlei Parfums, Deos, Fast Food Dämpfen und Ausdünstungen der Mitfahrenden wurden wir schliesslich über eine breite Treppe zum Wahrzeichen und Treffpunkt der City hinaufgespült. Auch oben, wie nicht anders zu erwarten, ein wildes Getümmel, sommerlicher Hochbetrieb und wir drei mittendrin.
»Wann tritt sie denn nun endlich ein, die angestrebte Entschleunigung und Ruhe?« Oder gehörte die Hektik einfach zwingend dazu, um nachher die Stille und Natur umso mehr geniessen zu können? Der Sturm vor der Ruhe, sozusagen.
Da standen wir nun und rätselten, wie wir unser Marienplatz Startfoto bewerkstelligen könnten, als wir von der Seite angesprochen wurden.
Ein älterer Herr, offensichtlich Mitglied einer grossen, geführten Reisegruppe, die hinter uns stand, fragte uns, ob wir echte Münchner seien.
Entgeistert schauten wir ihn an. Er musste definitiv ein Tourist von sehr weit her sein. Sonst hätte er gewusst, dass am Samstag so gut wie kein echter Münchner auf dem Marienplatz zu finden ist. Vor allem nicht mit einem 11 und 15 kg schweren Fernwanderer Rucksack auf dem Rücken.
»Ideen haben die Leute!«
Wir schmunzelten, klärten ihn auf und fragten ihn, woher er denn komme.
»Südafrika, nähe Johannesburg.«
Verständlich, dass er noch nie einen waschechten Münchner gesehen hatte und somit vermutlich jeden Menschen mit Rucksack für einen solchen hielt. München wirbt ja schliesslich mit den Alpen für sich.
Der gute Mann kam wie gerufen. Er schoss mit unserem Fotoapparat zwei perfekte Bilder von Robert, Herrn Monet und mir, die berühmte Marienkirche im Hintergrund. Der Grundstein für unsere Wanderung war nun endlich gelegt und der offizielle Startschuss damit gefallen.
Wir bedankten uns herzlich bei dem freundlichen Herrn und verabschiedeten uns vom Samstagswahnsinn auf dem Marienplatz. Ich tat dies allerdings etwas zögerlich.
»Was könnte man an einem so sonnigen Samstag in der Innenstadt von München alles unternehmen? In welchem charmanten Strassen Café sitzen und das Stadtflair ein wenig geniessen? Vielleicht käme ja wie früher der eine oder die andere Bekannte vorbei flaniert auf einen kleinen Schwatz?«
Heimweh, ein Gefühl, das ich so viele Jahre nie verspürte hatte, machte sich plötzlich breit beim Anblick der altbekannten, geliebten Umgebung. Ein Verweilen leider nicht möglich. Wir hatten einen ganz anderen Plan.
Auch ein sanfter Abschied von München, durch die Innenstadt zu Fuss, war mir nicht vergönnt. Denn unsere ursprünglich geplante Wanderetappe des ersten Tages vom Marienplatz durchs Tal, am Deutschen Museum vorbei zur Isar bis zum Kloster Schäftlarn war uns versagt geblieben, da wir dort im Klosterbräu Stüberl schon Tage zuvor kein freies Zimmer mehr bekommen hatten. Auch Alternativen in und um Schäftlarn hatten wir kurzfristig leider keine gefunden. Schweren Herzens mussten wir deshalb das erste Teilstück, aus München heraus, mit der S-Bahn bestreiten, um unser heute angepeiltes Übernachtungsziel, Geretsried, noch zu einer christlichen Zeit zu Fuss zu erreichen.
Ich war wirklich enttäuscht, dass diese Etappe ausfiel, weil ich zu meiner Münchner Zeit jeden Morgen die glücklichen Hundebesitzer beim Spaziergang an der Isar beneidet hatte, während ich zur Arbeit fahren musste. »Einmal mit meinem eigenen Hund in München an der Isar entlang spazieren!« Das war damals immer mein sehnlichster Wunsch gewesen. Jetzt war ich diesem Traum um Haaresbreite nahegekommen und konnte ihn doch wieder nicht erfüllen
»Dinge passieren eben, weil sie passieren. Alles ist immer für etwas gut!«, hatte meine weise Grossmutter früher in solchen Fällen immer zu sagen gepflegt. Wie sehr sie auch in diesem Fall recht behalten sollte, verstanden wir erst einige Tage später.
Wir stiegen also erneut die Treppen zu den Katakomben der Münchner Verkehrsbetriebe hinunter.
Auf der ersten grossen Plattform des unteren Marienplatzes orientierten wir uns kurz und suchten nach dem weiteren Treppenabgang zur S7, Richtung Wolfratshausen, die wir bis Ebenhausen-Schäftlarn nehmen mussten.
Da Monet eine totale Abneigung gegen Rolltreppen hat, wählen wir in solchen Fällen immer die normale Treppe.
»Schau, dort drüben ist das Schild zum Treppenabgang S7«, rief Robert, und ich folgte ihm dorthin. Als wir schliesslich unten ankamen, erschien mir der Bahnsteig irgendwie seltsam. Keine digitalen Abfahrtstafeln und vor allem keine Menschen.
»Hier stimmt was nicht.«
Wir stiegen die Treppe wieder hinauf und schauten nochmals nach.
»Schau doch mal, eindeutig der Treppenabgang zur S7 nach Wolfratshausen«, grummelte Robert und stieg erneut hinab. Ich mit meinem Rucksack hinterher. Wieder der leere Bahnsteig, keine Anzeigetafel. Auch keine weiterführende Treppe. Wir erneut nach oben, um dort in einen Lift zu steigen, der ebenfalls wieder auf dem leeren, falschen Bahnsteig endete.
»Verflixt!« Robert maulte mich an. »Du hast doch zwölf Jahre in München gelebt. Wie kommen wir den nun auf den richtigen Bahnsteig?«
Ausser Atem vom vielen Treppensteigen antwortete ich trotzig:
»Wieso in aller Welt hätte ich jemals nach Wolfratshausen fahren sollen? Und früher ohne Hund hätte ich sowieso die Rolltreppe benutzt.«
Das fing ja gut an mit unserer Fernwanderung. Gestrandet in der Münchner S-Bahn Unterwelt. Ich sah schon die Schlagzeile in der Münchner Abendzeitung vor meinem geistigen Auge:
»Skelette zweier verirrter Schweizer Alpinisten samt Hund in der Münchner S-Bahn gefunden!«
Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, ich hätte schallend losgelacht über diese absurde Situation.
»Blöde Idee, diese Wanderung«, schoss es mir durch den Kopf.
Robert behielt im Gegensatz zu mir einen klaren Kopf.
»Dann nehmen wir halt die Rolltreppe. Wozu trägt Monet schliesslich sein Hundegeschirr mit dem praktischen Tragegriff auf dem Rücken? Damit hebe ich ihn hoch und halte ihn auf der Rolltreppe fest.«
Das sind die Momente, für die ich meinen Mann liebe, lösungsorientiert statt lamentierend. Und siehe da, die Rolltreppe transportierte uns doch tatsächlich ein Stockwerk tiefer als die normale Treppe. Direkt auf den richtigen Bahnsteig, wo unsere S-Bahn 7 just in diesem Moment einfuhr.
Das Geheimnis des ominösen Treppenabgangs zur S7 haben wir allerdings bis heute nicht gelöst. Möglicherweise führt dieser, ähnlich wie bei »Harry Potter«, auf einen geheimnisvollen, versteckten Bahnsteig »Neun Dreiviertel«, der uns, wer weiss wohin, geführt hätte.
Nach insgesamt sechs Stunden Bahnfahrt und den ersten interessanten Reiseimpressionen stiegen wir schliesslich am frühen Nachmittag gegen 13:00 Uhr am S-Bahnhof Ebenhausen-Schäftlarn aus. Um von hier aus endlich die eigentliche Wanderung zu beginnen.
Da wir mitten in der ersten Etappe der Ludwig Grassler Route einstiegen, ging es zunächst einmal darum, vom Bahnhof den Weg zur Isar zu finden. Leichter gesagt als getan. Denn in dieser Gegend war ich früher auch noch nie gewesen und kannte mich überhaupt nicht aus. Um diese Zeit wirkte der kleine Ort wie ausgestorben. Niemand, den man nach dem Weg hätte fragen können. Das GPS Gerät hatte hier irgendwie auch keinen Empfang. Spontan fühlte ich mich erinnert an den alten Western Klassiker »Spiel mir das Lied vom Tod«, fehlte nur noch ein einsamer Mundharmonika Spieler.
Wir schulterten unsere Rucksäcke und marschierten einfach aufs Geratewohl los in Richtung Hauptstrasse.
Es war warm und schwül an diesem ersten Samstag im Juli, die langen Bahnfahrten hatten uns träge gemacht, und die ersten Schritte mit den vollen, schweren Rucksäcken fielen uns entsprechend schwer. Monet hingegen sprang fröhlich neben uns her, froh über das Ende der ewigen Fahrerei.
»Schnell an die Leine nehmen, hier an der viel befahrenen Landstrasse.«
Gerade noch rechtzeitig, bevor ein aufgemotzter BMW rasant an uns vorbei donnerte. Wenig glücklich über die erneute Gängelei trottete unser Hund neben mir her, auf der Suche nach dem Weg zur Isar und zur Natur.
Mattheit, Orientierungslosigkeit und die Aussicht auf die vor uns liegenden 20 km zu Fuss bei 30 Grad im Schatten mit einer gefühlten Luftfeuchtigkeit von 80 Prozent sorgten nicht für die beste Startlaune in unserer kleinen Reisegruppe.
»Schau mal, da vorn kommt ein kleines Restaurant«, warf ich hoffnungsfroh in die Runde, »dort frag ich nach dem Weg.«
Auch hier sah ich zunächst keine Menschenseele. Da die Tür jedoch offen stand, trat ich zögernd ein und traf schliesslich den italienischen Inhaber, der im Gespräch mit einer älteren Dame am Tresen stand. In freudiger Erwartung eines potenziellen Gastes unterbrach der Wirt sein Gespräch sofort und fragte mich geschäftstüchtig mit italienischem Akzent nach meinem Anliegen.
»Können Sie uns bitte sagen, wo wir den Fussweg hinunter zur Isar finden?«, fragte ich, beinahe schon ein wenig verzweifelt, denn er sah mit seiner kleinen, rundlichen Statur so gar nicht nach Wanderer oder Fussgänger aus.
Typisch italienisch strahlte er mich hilfsbereit an, führte mich vor die Tür, wo Robert und Monet warteten, begrüsste die beiden freundlich und erklärte uns den Weg.
»Iste diese keine Problem. Gehe du einfach zwei Kilometer diese Strasse bis Kurve, dann links zur Isar.«
Er fragte uns leicht amüsiert, wohin wir denn mit soviel Gepäck wollten. Nachdem wir ihm erzählt hatten, dass unser Endziel Venedig zu Fuss sei, taute er erst recht auf und hielt meinem Mann seine Hand hin mit den Worten: »Piacere, mi chiama Roberto. Sono di Venezia!«
Als er vernahm, dass Robert ein Namensvetter ist, schüttelte er lachend den Kopf, wünschte uns eine gute Reise und nahm uns das Versprechen ab, seine alte Heimat von ihm zu grüssen, wenn wir Venedig irgendwann endlich erreicht hätten.
Winkend verabschiedeten wir uns von unserem italienischen Wegweiser, dem einzigen Menschen ohne Auto, der uns in dieser Gegend für die nächsten zwei Stunden begegnen sollte.
Vorsichtig wanderten wir an der viel befahrenen Hauptstrasse ohne Seitenstreifen auf der grasbewachsenen schmalen Böschung entlang, während die Sonne gnadenlos auf uns herunterbrannte. In diesem Moment erschien mir Venedig so unerreichbar wie der Mond, und ich beschloss, ab jetzt nur noch in Tagesetappen zu denken.
Der Spruch eines früheren Vorgesetzten fiel mir ein, den er zu Beginn grösserer Projekte immer zitiert hatte:
»How to eat an elephant - wie man einen Elefanten isst.« Nämlich, indem man ihn in kleine, gut verdauliche Portionen zerteilt. Und dann Stück für Stück, eins nach dem anderen verspeist.
Eine gute Metapher für Unternehmungen, deren Dimensionen unsere menschliche Vorstellungskraft sprengen. Unser Elefantenstück, das es heute zu verdauen gab, waren die 20 km Fussmarsch nach Geretsried. Nicht mehr und nicht weniger.
Endlich sahen wir einen Feldweg, der nach links in Richtung Isarauen abzweigte, vorbei an Sträuchern, Bäumen und grünen Wiesen. Herrn Monet schnell wieder von seiner Leine befreien, die Wanderstöcke aus den Rucksäcken holen, tief durchatmen und loslaufen.
Doch halt, stopp. Welches Geräusch schlug da plötzlich Alarm in meinen Ohren, kaum dass wir ein Stückchen weiter weg die Isar rauschen hörten?
Ein unerbittlich hohes, singendes Summen neben meinem Kopf, das mein Unterbewusstsein sofort mit geistigem Gefrierbrand und abruptem Stehenbleiben quittierte. Plötzlich war ich wieder hellwach. Dynamisch entledigte ich mich meines Rucksackes, in dem wir in weiser Voraussicht das rettende Antiserum verstaut hatten. »AntiBrumm«, eine wirksame Geheimwaffe gegen stechende Plagegeister, die nach einem feuchten Frühsommer hier in den Isarauen an warmen Tagen zu Millionen umher schwirrten, und vor denen es sich zu schützen galt. Vor allem, weil ich allergisch auf Insektenstiche aller Art reagiere.
Nach einer kurzen Pause, in der Robert und ich uns mit der chemischen Keule gegen Moskitos parfümiert haben, konnten wir endlich entspannt den lieblichen Isarauen folgen.
Wie schön war es hier, wenn die Sonne durch das dichte, hellgrüne Blätterwerk rechts und links des Wegs helle Flecken auf den Boden warf. Das ferne Rauschen der Isar und die fröhlichen Wortfetzen, Gelächter und Musiktöne, die von den Isar Flössen zu uns heraufdrangen. Ja, hier waren wir endlich richtig. So stellten wir uns unsere Wanderung vor. Natur pur und nur ganz fern ab und zu eine leise Idee von Zivilisation und anderen Menschen.
Nach zwei entspannten Wanderstunden in fast ebenem Gelände kamen wir vorbei am Ickinger Wehr und dem Riemerschmiedt Stein, von wo wir eine wunderbare Aussicht auf das Isartal hatten.
Von Wolfratshausen, wo laut Wanderführer und Ludwig Grassler normalerweise die erste Etappe von München aus endet, mussten wir noch weitere zweieinhalb Stunden zu unserem selbstgewählten, ersten Etappenziel, Geretsried, weitermarschieren. Vorbei an den Isar Flossbauern führte unser Weg direkt durch Wolfratshausen hindurch, wo die Julisonne auf geteerten Wegen und Strassen gnadenlos auf uns herab brannte.