Vorwort

In einer viel beachteten Untersuchung trugen 179 Jugendliche und Erwachsene eine Woche lang Geräte, sodass sie nach Zufall und im Durchschnitt alle zwei Stunden während des Tages „angepiept“ werden konnten. Die Personen sollten dann angeben, was sie gerade machten. Es zeigte sich, dass die Personen in 70 % ihrer Angaben nicht allein, sondern mit anderen Personen zusammen waren (vgl. Larson, Csikszentmihalyi & Graef, 1982). Rechnet man diese Angaben auf das Leben eines Erwachsenen zwischen 18 und 65 hoch, so bedeutet dies, dass jeder Erwachsene insgesamt über 200 000 Stunden mit anderen Menschen zusammen ist. Soziale Beziehungen machen einen zentralen Teil unseres Lebens aus, und Beziehungen wie Freundschaft, Liebe, Abschied, Nachbarschaft, Beziehungen am Arbeitsplatz usw. erlebt jeder täglich. Zur Entstehung dieser Beziehungen, zur Bedeutung für den Einzelnen, zur Aufrechterhaltung, Gestaltung und Verbesserung sowie zur Beendigung dieser Beziehungen hat die Psychologie inzwischen eine Fülle von Forschungsergebnissen zusammengetragen, sodass die Psychologie sozialer Beziehungen zu einem wichtigen Forschungsbereich der Psychologie geworden ist.

Als Steve Duck 1988 das Handbook of Personal Relationships veröffentlichte, stellte er im Vorwort fest, dieses Gebiet sei etwa vor 10 Jahren entstanden. Das würde heißen, etwa im Jahr 1978 – also erst vor ca. 30 Jahren. Eine solche Datierung ist immer willkürlich, aber sicher ist die Psychologie sozialer Beziehungen ein junges Forschungsgebiet, allerdings mit allen Anzeichen schnellen Wachstums: Es gibt heute Lehrbücher, Handbücher, Fachzeitschriften und Kongresse, die nur der Psychologie sozialer Beziehungen gewidmet sind. Kaum ein Lehrbuch der Sozialpsychologie verzichtet auf entsprechende Kapitel und in der Entwicklungspsychologie, die noch in den sechziger Jahren fast ausschließlich das sozial isolierte Individuum im Blick hatte, ist die Bedeutung der sozialen Beziehungen für die Entwicklung erkannt worden und zu einem der wichtigsten Themen der Entwicklungspsychologie geworden. Soziale Beziehungen – in der englischsprachigen Literatur meist „Personal Relationships“ oder „Close Relationships“ genannt – ist also ein vergleichsweise neues, interdisziplinäres Unterfangen, mit Bezügen zu Biologie, Systemtheorie und zu anderen Gebieten.

In dieser Einführung versuchen wir einen verständlichen Überblick über die heutige Forschung zu geben. Hierbei beziehen wir auch Untersuchungsergebnisse mit ein, die in den letzten 15 Jahren in Zusammenarbeit mit unseren Doktoranden und Studierenden an der Fern-Universität gewonnen wurden. Diesen Studierenden, die unsere Interessen teilten, sagen wir an dieser Stelle Dank. Wir danken ferner Herrn Dr. Ruprecht Poensgen und Frau Ulrike Merkel vom Verlag Kohlhammer für die engagierte und kompetente Betreuung des Buchprojektes. Andrea Hampe und Gabriela Sewz danken wir für die kritische Durchsicht des Buchmanuskriptes.

Horst Heidbrink

Helmut E. Lück

Heide Schmidtmann

Hagen und Bochum, im Herbst 2008

1 Einführung in die Psychologie sozialer Beziehungen

1.1 Ein Blick zurück: Freiherr von Knigge

Wer kennt ihn nicht, den Namen „Knigge“? Umgangssprachlich steht der Name für Benehmen, Manieren, gute Umgangsformen – also für ein bestimmtes, konformes Verhalten im Alltag. Aber mit dieser Auffassung vom „Knigge“ missversteht man das Anliegen des Freiherrn von Knigge ganz grundlegend.

Seit Menschen leben ist es notwendig, das soziale Verhalten zu regeln. Zum Teil ergaben sich diese Verhaltensregeln aus biologischen oder physiologischen Grundlagen. Auf die Jagd gehen besser die Stärkeren, den Neugeborenen geben die Mütter Nahrung, Lebenserfahrungen haben eher die Älteren usw. In jedem Fall muss das Verhalten zwischen den Menschen geregelt werden. Hier waren in früheren Jahrhunderten kulturelle Regeln entstanden, die ihre Wurzeln zum größten Teil in religiösen Vorstellungen hatten. Im Mittelalter war der Lebenslauf einer Person weitgehend durch die Geburt bestimmt. Welchen Beruf eine Person ergreifen oder wer geheiratet werden konnte oder wurde, war durch Regeln festgelegt bzw. wurde durch andere Personen (Eltern, Zünfte usw.) nach überlieferten Vorschriften entschieden.

Mit der Aufklärung waren alte Verhaltensregeln und historisch vorgegebene Rollenvorschriften fraglich geworden. Mit seinem Buch „Ueber den Umgang mit Menschen“, das zuerst 1788 erschienen war, gab Adolph Freiherr von Knigge (1752–1796) seinen Zeitgenossen Hilfestellung. Knigge wurde in Bredenbeck bei Hannover geboren. Er entstammte einer verarmten Adelsfamilie, lebte in adeligen Diensten und trat als Autor und Herausgeber von Büchern – in späteren Lebensjahren vor allem als Autor von Satiren – hervor. Knigge zeigte Sympathie für die französische Revolution und verzichtete selbst auf seinen Adelstitel; seine Position ist als „radikal aufklärerisch“ bezeichnet worden.

Knigges Buch über den Umgang mit Menschen war an bürgerliche Kreise gerichtet und erwies sich schon zu Knigges Lebzeiten als Erfolg. Das Buch wurde immer wieder aufgelegt, dabei gekürzt und dem Zeitgeschmack angepasst. Auf diese Weise wurde es schon im 19. Jahrhundert verwässert. Hatte Knigge damals eine zeitgemäße Lebensphilosophie entworfen, reduzierte sich das Buch später nur noch zu einer Zusammenstellung von Empfehlungen zur äußerlichen Anpassung („Welche Handschuhe zu welcher Gelegenheit?“).

Über sein Anliegen schreibt Knigge im Vorwort zur ersten und zweiten Auflage:

„Wenn ich zum Beispiel lehren will, wie vertraute Freunde im Umgange mit einander sich betragen sollen, so scheint es mir sehr passend, erst etwas über die Wahl eines Freundes und über die Grenzen freundschaftlicher Vertraulichkeit zu sagen, und wenn ich über das Betragen im geselligen Leben mit manchen Classen von Menschen rede und zeige, wie man ihrer Schwächen schonen soll, so stehen philosophische Bemerkungen über diese Schwächen selbst und über deren Quellen nicht am unrechten Orte“ (Knigge, 1788 / 1975, S. 5f.).

Der psychologische Gehalt des Originalbuches von Knigge ist also nicht in dessen „charakterpsychologischen“ Empfehlungen zu sehen, die mit Ergebnissen der modernen Psychologie nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Seine Stärke liegt in den differenzierten Beobachtungen zu Persönlichkeitszügen, Erziehungswirkungen und in den genauen Beobachtungen der Menschen und ihrer sozialen Beziehungen.

Wenn man über den Sprachstil des 18. Jahrhunderts und manches andere hinwegsieht, klingen Knigges Empfehlungen durchaus plausibel und sinnvoll. Knigge:

„Klagt dir ein Freund seine Noth, seine Schmerzen, so höre ihn mit Theilnehmung an! Halte dich nicht mit moralischen Gemeinsprüchen auf, mit Bemerkungen über das, was anders hätte sein und was er hätte vermeiden können, da es doch einmal nicht anders ist. Hilf, wenn du es vermagst; tröste und verwende alles, was ihm Linderung geben kann; aber verzärtle ihn nicht an Leib und Seele durch weibische Klagen. Erwecke vielmehr seinen männlichen Muth, daß er sich erhebe über die nichtigen Leiden dieser Welt“ (1788 / 1975, S. 204).

Das klingt doch ganz vernünftig! Sieht man einmal von der heutigen „Lebenshilfe“-Literatur ab, so muss man sagen, dass in der psychologischen Fachliteratur der Gegenwart Empfehlungen der Art von Knigge sehr selten zu finden sind. Michael Argyle und Monika Henderson (1986) gehören zu den wenigen psychologischen Autoren, die aus ihren Forschungsergebnissen in England Empfehlungen abgeleitet haben. So findet man bei ihnen u. a. folgende Regeln für Freunde und Freundinnen (S. 121):

  1. freiwillig Hilfe anbieten, wenn sie benötigt wird,
  2. die Privatsphäre des Freundes/der Freundin respektieren,
  3. Geheimnisse wahren,
  4. einander vertrauen, sich aufeinander verlassen,
  5. sich für den anderen in dessen Abwesenheit einsetzen und
  6. einander nicht öffentlich kritisieren.

Solche Regeln – nur etwas anders formuliert – könnten ohne Weiteres von Knigge stammen. Historisch betrachtet: Unsere heutigen Lebenserfahrungen und Lebensregeln haben ihre Wurzeln zum nennenswerten Teil in der Zeit der Aufklärung.

In den Kapiteln 2–4 dieses Buches geht es weniger um die Geschichte der sozialen Beziehungen und um Lebensregeln, sondern um Probleme und Ergebnisse neuer empirischer Forschung.

1.2 Psychologie sozialer Beziehungen – ein neues Forschungsgebiet

Der Begriff der sozialen Beziehungen taucht Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem in der amerikanischen psychologischen Literatur auf, zunächst als „interpersonal relations“ und – später häufiger – als „social relationships“. Noch 1958 (deutsch 1977) schrieb Fritz Heider in seiner Psychology of interpersonal relations, „The study of interpersonal relations has been treated only tangentially in the field of personalitity and social psychology“ (1958, S. 3). Mit seiner Behauptung, die Psychologie sozialer Beziehungen sei von der Persönlichkeitspsychologie und Sozialpsychologie nur „berührt“ worden, hatte er Recht. Die Untersuchung der zwischenmenschlichen Beziehungen rechnet Heider dann vor allem der Sozialpsychologie zu. Und heute, 50 Jahre später, ist das Gebiet der Psychologie sozialer Beziehungen ein großes Forschungsgebiet geworden, in dem vor allem Sozialpsychologen arbeiten, außerdem einige Kommunikationspsychologen, wenige Soziologen, Familienpsychologen und Klinische Psychologen (vgl. Perlman & Duck, 2006, S. 23).

Verfolgt man die Geschichte des Begriffs, dann verfolgt man zugleich die Geschichte der theoretischen Ansätze, die sich mit Beziehungen zwischen Menschen befasst haben. Zu diesen Ansätzen zählen mindestens die folgenden:

Dies sind einige Meilensteine in der Beziehungsforschung, auf die wir im vorliegenden Buch mehr oder weniger ausführlich Bezug nehmen. Man sieht auf den ersten Blick, dass diese Theorien und Forschungsaktivitäten in sehr verschiedenen Bereichen entwickelt wurden. Dementsprechend hat sich auch die Forschung nicht „gradlinig“ entwickelt. Schon Robert A. Hinde, von Hause aus Ethologe, versuchte mit seinem Buch Towards Understanding Relationships (1979) Forschungsergebnisse aus vielen Bereichen zu integrieren. Dieses Buch wird daher von manchen als Beginn der Erforschung sozialer Beziehungen als eigenes Wissenschaftsgebiet angesehen.

Eine eigene Fachorganisation, die International Association for Relationship Research (IARR) (http://www.iarr.org/), wurde 2004 durch Fusion von zwei vorher bestehenden Vereinigungen gegründet und hat heute bereits ca. 700 Mitglieder. Die erste spezialisierte Zeitschrift, das Journal of Social and Personal Relationships, wurde 1984 begründet, zehn Jahre später kam Personal Relationships, eine zweite Zeitschrift, hinzu. 1988 erschien das erste Handbuch, das Handbook of Personal Relationships, herausgegeben von Steve Duck. Eine überarbeitete Neuauflage erschien 1997. Ein zweites Handbuch haben Clyde und Susan S. Hendrick 2000 unter dem Titel Close Relationships veröffentlicht. 2006 erschien das Cambridge Handbook of Personal Relationships, herausgegeben von Vangelisti und Perlman. Diese wenigen Fakten zur Institutionalisierung der Psychologie sozialer Beziehungen als eigenes Wissensgebiet lassen erkennen, dass es sich um ein neues Gebiet in schnellem Wachstum handelt.

Auffällig ist, dass es zunehmend Verbindungen zwischen verschiedenen Bereichen gibt. Um eine andere Metapher zu verwenden: Die einzelnen Seen der Forschung werden inzwischen zunehmend durch Wasserstraßen verbunden (vgl. Perlman & Duck, 2006).

1.3 Abgrenzungen

Fritz Heider hat in seinem „Klassiker“ Psychologie der interpersonalen Beziehungen (engl. 1958, deutsch 1977) den Gegenstand seines Buches so umrissen:

„Im Rahmen dieses Buches bezeichnet der Begriff „zwischenmenschliche Beziehungen“ Relationen zwischen wenigen, für gewöhnlich zwischen zwei Personen. Wie eine Person über eine andere denkt und fühlt, wie sie sie wahrnimmt und was sie mit ihr tut, welche Taten oder Gedanken sie von ihr erwartet, wie sie auf Handlungen der anderen Person reagiert – dies sind einige Phänomene, die behandelt werden sollen. Dabei werden wir uns in erster Linie mit „Oberflächen“-Angelegenheiten beschäftigen, Ereignissen, die sich im täglichen Leben auf bewusster Ebene abspielen, und nicht so sehr mit unbewussten Prozessen, wie sie die Psychoanalyse mit der „Tiefen“-Psychologie studiert“ (Heider 1977, S. 10).

Harold H. Kelley u.a. definierten „close relationships“ so:

„Zwei Personen stehen in einer Beziehung zueinander, wenn eine Person auf die andere Einfluss hat und wenn sie in der Weise voneinander abhängig sind, dass eine Veränderung bei der einen Person eine Veränderung bei der anderen verursacht, und umgekehrt“ (vgl. Kelley et al., 1983).

Mit dem Hinweis auf die Wechselbeziehung verweisen Autoren wie Kelley auf die sozialen Interaktionen zwischen Personen, zwischen denen eine Beziehung besteht. Sehr weit fasst Günter Wiswede in seinem Lexikon der Sozialpsychologie den Begriff der sozialen Beziehung (2004, S. 61):

„Ganz allgemein bezeichnet man als B. jede Form permanenter Interaktion. I.e. S. werden engere (private, intime) Austauschprozesse als B. angesehen. B. haben verschiedene Wurzeln (z.B. Verwandtschaft, Zuneigung und Liebe, gemeinsamer Arbeitsplatz, Rollenkontext usw.)“.

Besonders anschaulich ist die Definition von Michael Argyle und Monika Henderson (1986, S. 12):

„Als ‚Beziehungen‘, ‚persönliche Beziehungen‘ oder ‚Dauerbeziehungen‘ bezeichnet man regelmäßige soziale Beziehungen mit bestimmten Personen über eine gewisse Zeit hinweg. (…) In vielen Fällen finden wir Bindung oder gegenseitige Verpflichtung; das bedeutet, dass der andere bei Abwesenheit vermisst und das Ende der Beziehung als schmerzlich und belastend erlebt wird.“

Diese Definition kann uns zunächst einmal als anschauliche Beschreibung genügen.

Mehrere Autoren haben versucht, soziale Beziehungen zu klassifizieren oder in Dimensionen einzuordnen. Argyle und Henderson (1986, S. 13) unterscheiden vier Dimensionen:

Dabei beziehen sich Argyle und Henderson vermutlich auf Wish, Deutsch & Kaplan (1976). Diese Autoren haben empirisch die Merkmale von sozialen Beziehungen erfasst und durch multidimensionale Skalierung auf vier Dimensionen reduzieren können (s. auch Kap. 2.4):

In der Analyse sozialer Netzwerke wird zusätzlich zwischen starken und schwachen Bindungen unterschieden (vgl. Kap. 3.6). Starke Bindungen bestehen z. B. zwischen Eltern untereinander oder zwischen Geschwistern. Schwache Beziehungen sind weniger starr und dauerhaft, dafür haben sie aber den Vorteil größerer „Beweglichkeit“.

Manche Beziehungen sind ferner erzwungen (etwa zur Familie, in die ein Kind hineingeboren wird oder zu Arbeitskollegen in derjenigen Abteilung, in der man anfängt), andere sind freiwillig (z.B. studentische Arbeitsgemeinschaft oder Mitgliedschaft im Alpenverein).

Ohne große Mühe kann man Beziehungen zwischen Geschäftsfreunden, zwischen Sangesbrüdern im Männerchor, eigene Beziehungen zur Patentante, zum One-Night-Stand usw. in solchen Dimensionen kategorisieren. Natürlich kann man sich weitere Dimensionen vorstellen und zur Beschreibung nutzen. Wichtig ist uns aber der Hinweis, dass jede Beziehung ihre Besonderheiten hat. Man kann in sozialen Beziehungen außerdem auch Verhaltensweisen finden, die den Kategorien nur unvollkommen entsprechen: Wenn sich beispielsweise zwei Personen regelmäßig zum Schachspiel treffen, ist dann die Beziehung überwiegend freundlich-kooperativ oder kompetitiv, weil jeder gewinnen will?

Schließlich haben Kategorien und Dimensionen der genannten Art ihre Begrenzungen, weil sich Beziehungen über die Zeit hinweg ändern. Aus oberflächlichen Beziehungen können intensive werden, aus aufgabenorientierten sozio-emotionale usw. – und umgekehrt.

Zur Abrundung des ersten Kapitels werden nachfolgend zwei „klassische“ Untersuchungen zur Erforschung sozialer Beziehungen skizziert. Kapitel 2 beinhaltet eine Beschreibung der sozialen Beziehungen, wie wir sie im Alltag erleben: Beziehungsformen wie Freundschaft, Partnerschaft und Liebe, Beziehungen in der Familie, in Beruf, Nachbarschaft und Beziehungen per Internet. Die Darstellung dieser Beziehungsformen ist an neueren Forschungsergebnissen orientiert, aber doch überwiegend beschreibend und absichtlich weniger theorieorientiert. Kapitel 3 enthält dann relevante theoretische Ansätze, die aus recht verschiedenen Wissenschaftsgebieten stammen. Wir gehen von der Evolutionstheorie aus, die in der neueren Psychologie in Form der Evolutionären Psychologie (oder Evolutionspsychologie) eine unerwartete Bedeutung bekommen hat. Es schließen sich psychoanalytische Ansätze an. Diese wiederum bildeten zunächst die Grundlage für die Bindungstheorien. Die Bindungsstilforschung hat sich inzwischen weiterentwickelt und ist zu einem tragenden Ansatz der Entwicklungs- und der Sozialpsychologie geworden. Die nachfolgend dargestellten austausch- und gleichgewichtstheoretischen Ansätze greifen auf genuin sozialpsychologische Theorien zurück. Das Theoriekapitel 3 schließt mit Theorien zu sozialen Netzwerken. Mit der Darstellung der Beziehungsformen (Kapitel 2) und den erst dann folgenden Theorien (Kapitel 3) hoffen wir eine leichtere Lektüre des Buches zu erreichen. Dass Ansätze wie Evolutionäre Psychologie und Psychoanalyse hierdurch in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt werden, war unvermeidbar, ist aber vermutlich kein Nachteil bei der Nutzung des Buches. Das Buch schließt in Kapitel 4 mit einem Ausblick in die Zukunft ab: Welche sozialen Beziehungen werden wir in ein paar Jahren und Jahrzehnten in Zeiten der Globalisierung, des Internet und der Vielfalt möglicher Lebensstile erleben? Demographischer und kultureller Wandel zeichnet sich ab und hat Auswirkungen auf Lebensformen und soziale Beziehungen der Zukunft.

1.4 Wirkungen sozialer Beziehungen: Die Hawthorne-Studien

Die Entdeckung der Bedeutung sozialer Beziehungen für das Arbeitsverhalten wird meist mit den sog. Hawthorne-Studien in Verbindung gebracht. Diese Studien sind benannt nach den Hawthorne Werken der Western Electric Company in Chicago. Sogleich ist zu sagen, dass es sich um eine ganze Serie von einzelnen Untersuchungen mit verschiedensten Fragestellungen und Forschungsmethoden handelt, die von verschiedenen Forschern, teilweise zeitlich parallel, über längere Zeit durchgeführt wurden. Als führender Kopf wird Elton Mayo (1880–1949), ein Arzt australischer Herkunft, angesehen. Er war zwar nicht von Anfang an im Forscherteam, aber er war an der Planung einiger Untersuchungen und vor allem an der Darstellung der Ergebnisse beteiligt.

Nach der Erfindung von Telefon und Grammophon gewannen die Elektro- und insbesondere die Telefonindustrie in den USA schnell an wirtschaftlicher Bedeutung. 1927 beschäftigten die Hawthorne-Werke der Western Electric Company in Chicago 22 000 Mitarbeiter. Rationalisierungsmaßnahmen und die Schaffung von Spezialabteilungen und arbeitspolitische Maßnahmen hatten bereits ihre Wirkungen gezeigt. Das Unternehmen arbeitete nach diesen Reorganisationen (1908–1923) sehr erfolgreich. Die Arbeiterschaft bestand in dieser Zeit überwiegend aus Einwanderern in zweiter Generation. Industriearbeit von unverheirateten Frauen war üblich. Die meisten Arbeiten konnten von angelernten Kräften verrichtet werden.

Und doch gab es Probleme, wie z.B. große Fluktuation (vgl. Gillespie, 1991, S. 17). Die Western Electric Company hatte die nachteiligen Wirkungen der Fluktuation erkannt und in den Zehner- und Zwanzigerjahren bereits eine Reihe von Sozialleistungen eingeführt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an das Unternehmen binden sollten. Als die Hawthorne-Untersuchungen 1924 begannen, war die Bedeutung sozialer Faktoren vom Management bereits in zahlreiche Maßnahmen umgesetzt worden (vgl. Gillespie, 1991, S. 145).

Zu den bekanntesten Versuchsreihen der Hawthorne-Studien zählen die mehrjährigen Experimente im Relay Assembly Test Room. Das Unternehmen produzierte für Telefonvermittlungen jährlich mehrere Millionen Relais in vielen verschiedenen Typen. Diese Relais wurden aus Einzelteilen von Hand zusammengesetzt und kontrolliert. Fünf Arbeiter bzw. Arbeiterinnen saßen nebeneinander, eine sechste Kraft (layout operator) bestückte die fünf Arbeitsplätze. In einem Saal saßen mehrere hundert Personen in solchen Gruppen zusammen. Für eine Versuchsserie wurden nun im April 1927 sechs Arbeiterinnen ausgewählt, die in einem Testraum einem Beobachter gegenüber saßen, der Leistungen erfasste und auf einem laufenden Papierstreifen Vorkommnisse, wie z. B. Unterhaltungen der Arbeiterinnen, registrierte. Ergebnis war zunächst eine unglaubliche Datenflut über Wochen und Monate. Aber die Ergebnisse waren nicht eindeutig. Es gab Leistungssteigerungen, die aber z.T. mit dem Gruppenakkord erklärbar sind; es gab auch sinkende Fehlzeiten, Proteste der Arbeiterinnen gegen regelmäßige medizinische Untersuchungen usw.

Zur Interpretation der Daten wurden Forscher herangezogen. Als Elton Mayo gebeten wurde, die vorliegenden Daten zu interpretieren, schlug er vor, die Untersuchungen um physiologische Messungen zu erweitern. Diese erbrachten jedoch keine wichtigen neuen Erkenntnisse. Zusammen mit Fritz Jules Roethlisberger (1898–1974) – einem Hochschullehrer – und William John Dickson (geb. 1904) – einem Manager des Unternehmens – (vgl. Roethlisberger & Dickson, 1939) führte Mayo 1927–1932 dann weitere Studien zu Arbeitsbedingungen und Arbeitsleistungen durch. Hatte es schon vor Mayos Zeit in den Hawthorne-Untersuchungen Mitarbeiterbefragungen gegeben, so weitete Mayo diesen Bereich beträchtlich aus. Bei der Befragung von 20 000 Mitarbeitern nach deren Arbeitsmotivation konnte Mayo seine klinisch-psychologischen Erfahrungen nutzen. Die Befragungen führten zu weiteren Untersuchungen zur Bedeutung sozialer Beziehungen in der Arbeitswelt. Deutlicher als je zuvor wurde der Einfluss informeller sozialer Normen auf die Leistung von Arbeitsgruppen und Personen ermittelt.

Mayo bezeichnete sein Vorgehen als Klinische Soziologie (clinical sociology), gekennzeichnet durch sorgfältige Beobachtung und Vertrautheit des Forschers mit den Phänomenen. Die persönliche Befragung von Unternehmensmitarbeitern sollte den Mitarbeitern helfen, gefühlsmäßige Belastungen loszuwerden, Probleme zu lösen und die sozialen Beziehungen im Unternehmen bis hin zur Unternehmensleitung zu verbessern. Gleichzeitig sollte die Befragung eine wichtige Informationsquelle für die Unternehmensleitung sein. Zu den Mitarbeitern Mayos gehörte zeitweise Carl Rogers (1902–1987), der innerbetriebliche Beratungsmethoden entwickelte und wenig später die Gesprächspsychotherapie entwickelte.

Mayos These war, dass nicht die Bezahlung, sondern die informellen Beziehungen am Arbeitsplatz für die Arbeitsmotivation ausschlaggebend seien, und er wurde nicht müde, in zahlreichen Vorträgen in Amerika und Europa, in mehreren Büchern (vgl. Mayo, 1933) und einigen hundert Aufsätzen die Bedeutung der Human Relations zu predigen. Durch die von Mayo verfassten und gesteuerten Publikationen zieht sich als „Story“ die „Entdeckung“ der sozialen Bedingungen menschlicher Arbeitsleistung und die Aussage, dass die von ihm geleiteten Untersuchungen zu erheblichen Produktionssteigerungen geführt hätten. Heute weiß man, dass beide Aussagen nur teilweise oder gar nicht zutreffend sind, die empirischen Daten gestatten teilweise nicht diese Schlussfolgerungen (vgl. Walter-Busch, 1989, Gillespie, 1991, Lück, 2004). Trotzdem hat es nach den Hawthorne-Untersuchungen geradezu eine Welle der Human-Relations-Bewegung gegeben, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch Westdeutschland erreichte und zu einem veränderten Bild des Mitarbeiters in Unternehmen führte. Mitarbeiter sollten geachtet, verständnisvoll geführt sowie ihre Vorschläge beachtet und gefördert werden. Nur so sah man auf Dauer Möglichkeiten der Produktivitätssteigerung.

Der Begriff „Hawthorne-Effekt“ gehört heute zum sozialwissenschaftlichen Grundwissen. Leider wird der Begriff in mindestens zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet. Einige Autoren verbinden mit ihm die erhebliche Bedeutung der sozialen Beziehungen für Leistungsverhalten, andere verwenden den Begriff in eingeengter Bedeutung und sehen in ihm ein methodisches Kunstprodukt (Artefakt), das dann entstehen kann, wenn Versuchspersonen wissen, dass sie Gegenstand der Forschung sind.

Die Bedeutung sozialer Beziehungen während des Arbeitsprozesses und für das Leistungsverhalten ist aber unbestritten (vgl. Kap. 2.4).

1.5 Wahrnehmung sozialer Beziehungen: Die Heider-Simmel-Studien

Am Anfang der experimentellen Erforschung sozialer Beziehungen steht eine kleinere experimentelle Studie, die Fritz Heider (1896–1988) zusammen mit seiner Studentin Marianne Simmel vor vielen Jahrzehnten am Smith College durchführte (vgl. Heider & Simmel, 1944). Heider und Simmel beginnen mit der Feststellung, dass die Wahrnehmungspsychologie sich bislang wenig mit der Wahrnehmung anderer Personen befasst habe, und dass diese Untersuchung sich von früheren dadurch unterscheide, dass nicht Gesichter ohne Handlungen, sondern Situationen und Handlungen ohne Gesichter dargeboten würden.

Im Experiment wurden die Versuchspersonen aufgefordert, einen kurzen Zeichentrickfilm zu interpretieren, in dem drei geometrische Figuren (ein großes Dreieck, ein kleines Dreieck und eine Scheibe oder Kreis) gezeigt wurden, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit umherbewegten. Die einzige weitere Figur im Feld bildete ein Rechteck, von dem ein Teilstück, ähnlich einer Tür, geöffnet und geschlossen werden konnte (s. Abb. 1.1).

Insgesamt führten Heider und Simmel drei Teilexperimente durch:

Experiment I: Freie Beschreibung durch die Vpn (34 Vpn)

Experiment II: Strukturierte Befragung nach der Filmdarbietung (36 Vpn)

Experiment III: Kurze, strukturierte Befragung nach rückwärts dargebotenem Film (44 Vpn).

Abb. 1.1 Bild aus dem Heider-Simmel-Film (nach Heider & Simmel, 1944, S. 244)

Als Ergebnisse des ersten Experiments stellten Heider und Simmel heraus, dass alle 34 Vpn (bis auf eine) die Bewegungen als Handlungen von Lebewesen deuteten, in den meisten Fällen von Personen, in zwei Fällen von Vögeln. Die abstrakten geometrischen Figuren, die im Film Ortsveränderungen in Raum und Zeit durchführen, werden nicht nur abstrakt erlebt, sondern sie werden als handelnde Personen aufgefasst und beschrieben; ihre Bewegungen haben Ursachen, und die Personen scheinen Ziele anzustreben. Als typische Geschichte berichten Heider und Simmel:

„Ein Mann hat sich vorgenommen, ein bestimmtes Mädchen aufzusuchen, und dieses Mädchen begegnet ihm nun mit einem anderen Mann. Der erste Mann fordert den zweiten auf fortzugehen. Der zweite schüttelt verneinend den Kopf. Dann kämpfen die beiden Männer miteinander, und das Mädchen, da es dem Kampf aus dem Wege gehen will, schickt sich an, in den Raum zu gehen, zögert noch und geht schließlich doch hinein. Sie will anscheinend nicht mit dem ersten Mann zusammen sein. Der erste Mann folgt ihr in den Raum, nachdem er sich draußen von dem zweiten getrennt hat, der nun ziemlich geschwächt an der Außenwand des Raumes lehnt. Das Mädchen läuft im hinteren Teil des Raumes aufgeregt von einer Ecke in die andere. Nachdem er sich eine Zeit lang ruhig verhalten hat, geht der erste Mann nun einige Male auf sie zu, doch in dem Augenblick, in dem das Mädchen die Ecke gegenüber der Tür erreicht hat, schickt sich der zweite an, die Tür zu öffnen. Offensichtlich ist er zusammengeschlagen worden und ganz erschöpft von seinen Bemühungen, die Tür zu öffnen. In dem Moment, in dem es dem zweiten Mann gelingt, die Tür zu öffnen, verlässt das Mädchen fluchtartig den Raum. Die beiden jagen außerhalb des Raumes herum, der erste Mann folgt ihnen. Sie können ihn aber abhängen und entkommen. Der erste Mann geht zurück und versucht, seine Tür zu öffnen, doch Wut und Frustration machen ihn derart blind, dass es ihm nicht gelingt. Deshalb stößt er sie ein, rast wie verrückt im Raum herum und bricht dabei erst eine, dann noch eine Wand nieder.“

In der Wahrnehmung des Geschehens werden den Personen also Motive und Absichten zugeschrieben. Diese sog. Attributionen erfolgen offenbar ganz selbstverständlich, und zwar auch dann, wenn die geometrischen Figuren nicht als Personen benannt werden, sondern ihre abstrakte Form beibehalten. Die Zuschreibungen erfolgen mit großer Übereinstimmung der Betrachter.

Dieses Experiment gab den Anstoß zur Attributionsforschung. Für die Psychologie sozialer Beziehungen lässt sich aus diesem klassischen Experiment entnehmen, dass wir Menschen offenbar nur wenige Informationen benötigen, um belebte und unbelebte Objekten in unserer Umgebung zu klassifizieren. Ebenso sind wir sehr schnell bereit, anderen Personen Absichten, Motive, Gefühle zuzuschreiben, die wir keineswegs direkt erfahren, sondern aus den Zusammenhängen erschließen. Diese Schlussfolgrungen erfolgen sehr schnell aufgrund einzelner Wahrnehmungen. Manchmal hilft uns der Zusammenhang. Wenn sich im Trickfilm zum Beispiel zwei Objekte mit gleicher Geschwindigkeit hintereinander her bewegen, kann das zweite dem ersten „folgen“, es kann aber auch sein, dass das zweite das erste „jagt“. Was nun „stimmt“, folgern die Zuschauer aus dem Gesamtzusammenhang.

Im Lauf der Jahrzehnte hat es einige Wiederholungen des Versuchs gegeben, auch in anderen Kulturkreisen, teils mit dem alten Originalfilm, teils mit neu erstellten Filmen (vgl. Lück, 2006). Im Großen und Ganzen konnten die Ergebnisse von Heider und Simmel in diesen Studien bestätigt werden. Zum einen bestätigte sich die Beschreibung der Symbole in anthropomorphisierenden Begriffen sowie die Darstellung des Handlungsablaufs, bei dem typischerweise der Kreis eine Frau darstellt, die von einem aggressiven Mann (großes Dreieck) bedroht wird und der schließlich ein zweiter Mann (kleines Dreieck) zu Hilfe kommt und zur Flucht verhilft.

Bei Experimenten mit Kindern als Versuchspersonen ließ sich allerdings nicht ohne Weiteres die „Dreiecksgeschichte“ von Heider und Simmel replizieren. Kleinere Kinder waren noch nicht in der Lage, Absichten und Gefühle aus dem Zusammenhang zu erschließen oder gar die „Rivalität“ zwischen dem kleinen und großen Dreieck zu beschreiben.

Allerdings gibt es seit wenigen Jahren in gewisser Weise eine „Fortsetzung“ der Heider-Simmel-Studien, nämlich beachtliche Untersuchungen an Kindern im jüngsten Kindesalter. David Premack hat angenommen, dass sehr kleine Kinder eigentlich alle Objekte für Lebewesen halten, die sich bewegen. Objekte, die sich nicht bewegen können, werden als unbelebt wahrgenommen (vgl. Premack, 1990).

Doch die Sache ist differenzierter, Kinder können nämlich noch mehr: Wenn man Kindern im Einzelversuch Zeichentrickfilme mit bewegten einfachen Objekten, wie z.B. einem „Ball“ darbietet, lässt sich messen, ob die Kinder diese Objekte anschauen, weil die Bewegung ihr Interesse findet, oder ob die Kinder wegschauen, weil diese Objekte uninteressant geworden sind. Gemessen wird die Zeit des Hinschauens. Gergely Csibra (2003) berichtet über derartige Versuche an Kindern und fragt sich, ob Kinder im vorsprachlichen Alter eher teleologisch oder eher mentalistisch denken und wann und wie sich diese Denk- bzw. Sichtweisen entwickeln und verbinden. Zu den einfallsreichen Versuchsreihen gehören Zeichentrickfilme, in denen – ähnlich wie bei Heider und Simmel – ein größerer Ball hinter einem kleineren „herläuft“. Biegt dieser größere Ball schließlich ab und gibt sozusagen die Verfolgung auf, findet die Filmsequenz stärkere Beachtung, als wenn der größere Ball den kleineren erreicht, wie es zu erwarten war. Csibra schließt aus derartigen Versuchen, dass Kinder bereits in der zweiten Hälfte ihres ersten Lebensjahres Handlungsziele vorwegnehmen können, also teleologisch denken können.

Wenn dem so ist, dann ist sehr wahrscheinlich, dass die Voraussetzungen für dieses Denken angeboren sind. Neugeborene Kinder (1.–5. Lebenstag) schauen häufiger und länger in ein Gesicht, von dem sie angeschaut werden, als wenn der Blick dieses Gesichtes zur Seite gerichtet ist (vgl. Farroni, Csibra, Simion & Johnson, 2002). Und bereits nach wenigen Monaten folgen Kinder mit ihrem Blick der Blickrichtung der Erwachsenen. Dies wiederum deutet darauf hin, dass Kinder bereits in den ersten Lebensmonaten Raumvorstellungen annähernd wie Erwachsene entwickeln (vgl. Butterworth & Jarrett, 1991). Befinden sich Kleinstkinder in unbekannter Umgebung, richtet sich ihr Blick auf ihre Mutter oder eine andere Bezugsperson, um zu erfahren, was zu tun ist.

Diese neueren Experimente mit Kleinstkindern überschreiten weit die Zielsetzungen, die Heider und Simmel mit ihrer Studie 1944 hatten. Ein wichtiger Unterschied liegt darin, dass diese neuen Experimente keine „Geschichten“ auswerten, sondern durch systematische Beobachtung die Wahrnehmung, Blickrichtung und Aufmerksamkeit der Kinder erfassen. Hauser (2007) geht sogar davon aus, dass sich aus den Ergebnissen der Kleinstkindforschung angeborene Prinzipien ableiten lassen, auf denen die Entwicklung der sozialen Wahrnehmung und des moralisches Urteils („Moralsinn“) aufbauen.

2 Beziehungsformen

Der Begriff „Beziehungen“ hat im Deutschen verschiedene Bedeutungen. Hat jemand „Beziehungen“, um über einen Freund Elektrogeräte mit günstigem Rabatt einzukaufen, dann spricht das bestimmt für Lebenstüchtigkeit. Nur ist das nicht die Bedeutung, die wir meinen. Seit ein paar Jahren wird unter „Beziehung“ auch einfach Freund/Freundin/Lebenspartner verstanden: „Wer ist das denn, die kenne ich gar nicht?“ „Das ist doch Melanie, die neue Beziehung von Bernd!“ Auch diese „Beziehung“ trifft nur zum Teil die Bedeutung des Begriffs in diesem zweiten Kapitel.

Uns geht es hier natürlich um verschiedene soziale Beziehungen zwischen Freunden, Liebespaaren, Arbeitskollegen, Nachbarn, Eltern und Kindern, Geschwistern und schließlich um „virtuelle“ Beziehungen. Alle diese Beziehungsformen sind uns aus dem Alltag gut bekannt: Wir haben Eltern, Großeltern, die meisten Menschen haben Geschwister; fast alle haben Freunde. Unser Arbeitsleben bringt mit sich, dass wir dort gute Bekannte oder gar Arbeitsfreunde finden. Mit unseren Nachbarn ist es ähnlich. Und schließlich hat auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung über das Internet Kontakte zu anderen Menschen.

Man kann also davon ausgehen, dass diese sozialen Beziehungen ein ganz wichtiger Teil unseres Lebens sind und dass wir alle differenzierte Erfahrungen zur Schaffung, zur Gestaltung, zum Gelingen und zur Beendigung dieser Beziehungen haben. Anders gesagt: Wir haben alltagspsychologische Theorien zu Gestaltung und für das Gelingen dieser Beziehungen entwickelt. „Gleich und Gleich gesellt sich gern“, „Früh gefreit, nie gereut“. Solche Lebensweisheiten des Volksmundes haben allerdings ihre bekannten Grenzen. Es fällt auf, dass trotz all unserer Lebenserfahrungen sehr viele Menschen mit der Art und Weise ihrer sozialen Beziehungen unzufrieden sind. Dies beginnt schon beim Kennenlernen. Lebenshilfeliteratur wird in Mengen angeboten und seit ein paar Jahren hilft man sich in Internetforen:

Conny7 schreibt in einem dieser Foren am 5.11.2007:

„Ich sortiere gerade mein Leben neu. Hierzu soll auch ein neues Hobby gehören. Da die Freizeit aber bekanntermaßen begrenzt ist, frage ich mich nun, welches Hobby den netten Nebeneffekt hat, auch interessante Männer kennen zu lernen. Jazz-Dance wäre da sicher verkehrt, Standardtanz zieht meiner Meinung nach eher die uninteressanten Männer an – sonstige Mannschaftssportarten liegen mir nicht besonders. Was schlagt ihr also vor, wo lernt ihr eure Männer kennen?“

Antworten hierzu kommen reichlich. Carlamia sorgt sich:

„Schon oft gehört, dass man in den Bergen bzw. auf dem Berg ganz gute Männer kennenlernen kann. Aber so ganz allein ins Gebirge mag ich auch nicht.“

C. reagiert zwei Minuten später:

„In den Bergen. Hmm, hab ich jetzt noch nie gehört. Wo denn da?“

YoungAngel weiß:

„Männer sind doch überall…am schnellsten hat man welche im Job kennengelernt… genügend Kunden und Kollegen hat man ja…Fitnessstudio ist auch sehr beliebt – aber Vorsicht – sehr merkwürdig die Herren!!! :-)“

Wir verlassen diese Gruppendiskussion und lenken die Aufmerksamkeit wieder auf Forschungsergebnisse der Psychologie und ihrer Nachbarwissenschaften.

2.1 Freundschaftsbeziehungen

Freundschaft hat in unserer Kultur eine feste Tradition. Vor allem in der Klassik und der Romantik wurde ein wahrer Freundschaftskult gepflegt, der auch heute noch die Idealvorstellungen von Freundschaft mitprägt. Gleichzeitig wird immer wieder beklagt, Freundschaft habe in unserer Gesellschaft gegenüber früher an Bedeutung verloren (vgl. Brain, 1978). In der Psychologie ist das Interesse am Thema Freundschaft in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Vor allem zahlreiche populärwissenschaftliche Darstellungen haben Frauen- und vereinzelt auch Männerfreundschaften in den Blickpunkt des Interesses gerückt – Valtin und Fatke (1997, S. 9) sprechen sogar von einem „Modethema“. Vor allem die Entwicklungs- und die Sozialpsychologie haben sich vermehrt mit Freundschaftsbeziehungen beschäftigt. Im psychologischen Alltagswissen nimmt die Bedeutung von Freundschaften für das psychische Wohlergehen des Einzelnen einen festen Platz ein. So machen sich Eltern ernsthafte Sorgen um ihre Kinder, wenn diese keine Freunde haben, aber auch dann, wenn es aus ihrer Sicht die falschen Freunde sind. Aber auch für die meisten Kinder stellen Freundschaften die wichtigsten Beziehungen nach der zu den eigenen Eltern dar. Krappmann (1991, S. XI) stellt fest, dass kein Wunsch in den mittleren Kindheitsjahren mehr an Bedeutung gewinnt, als „gute Freunde, gute Freundinnen zu haben, Freunde und Freundinnen, mit denen man spielen kann, auf die man sich verlassen kann, die zu einem stehen“. Insbesondere die Social Support-Forschung hat bislang Belege für die Bedeutsamkeit von Freundschaften geliefert. So ergab eine Studie von Nestmann und Schmerl (1992), dass „Freundin“ und „Freund“ vor „Mutter“ und „Vater“ sowie „beruflichen Helfern“ ganz oben in der Liste der häufigsten alltäglichen Helfern/Helferinnen stehen.

2.1.1 Definitionen und Konzepte von Freundschaft

Was sind eigentlich „Freundschaften“? Wen bezeichnen wir als unseren „Freund“ bzw. unsere „Freundin“? Umgangssprachliche Begriffe weisen meist einen für empirische Forschungen unliebsamen Mangel an exakter Definiertheit auf – der Begriff der Freundschaft kann diesbezüglich als ein Musterbeispiel angesehen werden. Komplizierend kommt hinzu, dass wir den Begriff der Freundschaft im Alltag in unterschiedlichen Bedeutungen verwenden. Zum einen bezeichnet er eine spezifische Art der Sozialbeziehung zwischen Personen, zum anderen können wir mit dem Begriff Freundschaft nicht nur die Art, sondern auch die Qualität einer Beziehung kennzeichnen. In diesem Sinne kann eine Mutter eine „freundschaftliche“ Beziehung zu ihrer Tochter haben oder ein Angestellter die Beziehung zu seinem Chef als „freundschaftlich“ beschreiben. Mit einer solchen Redeweise soll meist deutlich gemacht werden, dass eine bestimmte formelle Rollenbeziehung durch eine informelle Freundschaftsbeziehung „überlagert“ wird. Die Kennzeichnung von Beziehungen als „formell“ oder „informell“ ist allerdings insofern unscharf, als es sich hierbei um keine präzise Abgrenzung, sondern eher um die Extrempole eines Kontinuums handelt (vgl. Gaska & Frey, 1992, S. 281).

Freundschaften haben einen „informellen“ Charakter, wobei eine genauere Präzisierung jedoch schwer fällt. Was der eine schon als „Freundschaft“ ansieht, mag für den anderen „nur“ eine Arbeitsbeziehung sein. Die Abgrenzung fällt jedoch nicht nur in Bezug auf „formellere“, weniger emotionale Beziehungen schwer, sondern auch in die entgegengesetzte Richtung. Was unterscheidet eine Freundschafts- von einer Liebesbeziehung? Die Freundschaftsforschung ist dieser Frage bislang meist ausgewichen, beispielsweise mit Hilfe der expliziten Ausklammerung „offener Sexualität“ aus dem (wissenschaftlichen) Freundschaftsbegriff. Auhagen (1991, S. 17) schlägt nach der kritischen Diskussion anderer Definitionen die folgende Definition von Freundschaft (unter Erwachsenen) vor: „Freundschaft ist eine dyadische, persönliche, informelle Sozialbeziehung. Die beiden daran beteiligten Menschen werden als Freundinnen/Freunde bezeichnet. Die Existenz der Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit; sie besitzt für jede(n) der Freundinnen/Freunde einen Wert, welcher unterschiedlich starkes Gewicht haben und aus verschiedenen inhaltlichen Elementen zusammengesetzt sein kann. Freundschaft wird zudem durch vier weitere Kriterien charakterisiert: 1. Freiwilligkeit (…) 2. Zeitliche Ausdehnung (…) 3. Positiver Charakter (…) 4. Keine offene Sexualität.“

Kolip (1993, S. 82) kritisiert an dieser Definition, dass in ihr explizit formelle Beziehungen ausgeschlossen werden. Tatsächlich bezeichneten in einigen Untersuchungen vor allem Männer relativ häufig eine Frau als „engsten Freund“, wobei sie meist ihre Ehefrauen meinten (vgl. Lowenthal, Thurnher & Chiriboga, 1975, Rubin, 1985). Kolip selbst definiert Freundschaften „als freiwillige Zusammenschlüsse zwischen Menschen beiderlei Geschlechts, die auf wechselseitiger Intimität und emotionaler Verbundenheit begründet sind“ (1993, S. 83). Diese Definition ist deutlich weiter als die von Auhagen, überzeugt jedoch auch nicht recht. Zum Einen lässt sie kaum eine Abgrenzung zu Liebesbeziehungen zu, zum Anderen bleibt unklar, ob die geforderten „freiwilligen Zusammenschlüsse“ nicht auch bestimmte formelle Beziehungen ausschließen (z.B. die Freundschaft zu einem Vorgesetzten).

Der alltägliche Sprachgebrauch kennt diffizile sprachliche Nuancierungen zur Verdeutlichung von Übergängen und Grenzen zwischen Freundschaft und Liebe. Je nach Kontext kann die Bezeichnung Freundin bzw. Freund die Partnerin bzw. den Partner in einer Freundschafts- oder in einer Liebesbeziehung meinen. Eine kontextbezogene Begriffsverwendung erhöht zwangsläufig die Wahrscheinlichkeit von Missverständnissen bzw. von Fehldeutungen durch Dritte. Dies erklärt vermutlich einige der eigentümlichen Sprachregelungen bei gegengeschlechtlichen Freundschaften. Spricht beispielsweise ein verheirateter Mann von seiner „Freundin“, verbleibt in Bezug auf die Art der hiermit gekennzeichneten Beziehung ein großer Interpretationsspielraum. Die semantische Vieldeutigkeit des Freundschaftsbegriffs ermöglicht es außerdem, die „Qualität“ hiermit bezeichneter Beziehungen tatsächlich weitgehend offen zu lassen. Die Unbestimmtheit des Begriffs wird zum Charakteristikum einer gewissermaßen „schwebenden“ Freundschaftsbeziehung. Dies ist mit Vor- und Nachteilen verbunden. Beispielsweise ist zwischen befreundeten Paaren häufig mehr oder weniger ungeklärt, wer denn nun tatsächlich mit wem befreundet ist. Trennt sich eines der Paare, führt dies dann meist zu einer „Neudefinition“ des Beziehungsnetzwerkes. Kommt es dabei zu einer „Aufteilung“ der gemeinsamen Freundschaft, sind einzelne oft bitter überrascht, dass für sie nichts übrig bleibt. Auch empirisch lässt sich zeigen, dass die Begriffe Liebe und Freundschaft eine hohe semantische Ähnlichkeit aufweisen. In einer Untersuchung schätzten 58 Studenten und Studentinnen mit dem semantischen Eindrucksdifferential von Ertel (1965) die Begriffe Freundschaft, Liebe, Sympathie, Zuneigung, Anziehung und Attraktivität ein (vgl. Heidbrink, 1993). Die folgende Tabelle 2.1 zeigt die Interkorrelationen der Polaritätsprofile.

Tab. 2.1 Korrelationen zwischen Begriffspolaritäten

Begriff

Liebe

Sympathie

Zuneigung

Anziehung

Attraktivität

Freundschaft

.91

.95

.92

.89

.79

Liebe

.96

.97

.97

.86

Sympathie

.98

.94

.81

Zuneigung

.97

.81

Anziehung

.88

Die ausnahmslos hohen Korrelationen verdeutlichen die große Ähnlichkeit der Begriffe. Die niedrigste Korrelation besteht zwischen Freundschaft und Attraktivität (.79), die höchste zwischen Sympathie und Zuneigung (.98). Freundschaft und Liebe weisen bei einer Korrelation von .91 eine gemeinsame Varianz von 83 % auf. Es ist also nicht verwunderlich, dass eine exakte Abgrenzung der einzelnen Begriffe schwierig ist.

Trotz dieser semantischen Irritationen kommen Eberhard und Krosta (2004, S. 161) in ihrer Freundschaftsstudie aufgrund von Gruppeninterviews zu dem Schluss, dass den Befragten der Unterschied zwischen Liebes- und Freundschaftsbeziehungen subjektiv durchaus klar war – sie aber Schwierigkeiten hatten, diese Unterschiede sprachlich zu beschreiben (vgl. Krosta & Eberhard, 2007).

Argyle und Henderson (1986, S. 84) fassen die Ergebnisse von Untersuchungen aus verschiedenen Ländern, in denen Personen gefragt wurden, was sie unter einem „Freund“ verstehen, folgendermaßen zusammen: „Freunde sind Menschen, die man mag, deren Gesellschaft man genießt, mit denen man Interessen und Aktivitäten teilt, die hilfreich und verständnisvoll sind, denen man vertrauen kann, mit denen man sich wohl fühlt und die emotionale Unterstützung gewähren“.

2.1.2 Freunde – beste und enge Freunde

Wie viele Freunde haben wir? Die Angaben zu dieser Frage differieren deutlich danach, wie die Frage nach der Anzahl der Freunde gestellt wird, aber auch danach, was wir selbst unter einem „Freund“ bzw. einer „Freundin“ verstehen.