der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer
Unsere Gesellschaft wird immer vielfältiger: In Deutschland leben rund 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund. Der Anteil der Migrantinnen und Migranten an der Gesamtbevölkerung beträgt in einigen Ballungszentren sogar um die 40 %. Diese Menschen kommen aus vielen unterschiedlichen Ländern und bringen verschiedene kulturelle Hintergründe mit. Dies schlägt sich in ihren Gewohnheiten, Anliegen und Bedürfnissen nieder, gerade auch im gesundheitlichen und sozialen Bereich.
Diese Hintergründe zu kennen und zu berücksichtigen, ist grundlegend für eine erfolgreiche soziale Arbeit mit Migrantinnen und Migranten. Die Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens müssen sich auf diese Zielgruppe einstellen. Sie sind gefordert, ihre Angebote so zu gestalten, dass sie alle Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, Erwartungen und Ansprüchen erreichen und von diesen auch angenommen werden. Es geht dabei nicht darum, für jede Gruppe, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, ein gesondertes Angebote vorzuhalten. Von zentraler Bedeutung ist es, die Angebote so offen zu gestalten, dass sich alle Menschen von diesen angesprochen fühlen. In diesem Zusammenhang sprechen wir auch von Konzepten der interkulturellen Öffnung oder Kultursensibilität, im unternehmerischen Bereich hingegen von Diversity Management. Gemeinsam ist all diesen Konzepten, dass sie sich zunächst die Wertschätzung und Akzeptanz aller Menschen in ihrer Vielfalt zum Grundsatz gemacht haben. Es geht um den Umgang mit Patientinnen und Patienten im Gesundheitswesen, mit Klientinnen und Klienten in der Sozialarbeit sowie mit Kundinnen und Kunden im unternehmerischen Bereich. Gefordert sind aber auch geeignete Personalentwicklungskonzepte, in denen darauf geachtet wird, dass sich die Vielfalt der Bevölkerung in der Auswahl der Belegschaft widerspiegelt und das bereits vorhandene Personal in die Lage versetzt wird, mit Vielfalt in angemessener Weise umzugehen.
Die Entwicklung und Erprobung von Diversity-Ansätzen für das Gesundheits- und Sozialwesen sind bereits seit Jahren Bestandteil der interkulturellen Öffnung des Gesundheitswesens. Auch das Forum für eine kultursensible Altenhilfe, das seine Arbeit auf das 2002 verabschiedete Memorandum für eine kultursensible Altenhilfe gründet, befasst sich mit dem Thema.
Der vorliegende Band setzt sich in den Beiträgen mit Diversity-Ansätzen in unterschiedlichen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens auseinander. Ich bin zuversichtlich, dass diese Publikation die Entwicklung neuer Diversity-Konzepte anstoßen und deren Verbreitung in der Praxis unterstützen wird. Wie die Initiative „Charta der Vielfalt“ zeigt, haben viele Unternehmen bereits erkannt, dass die Umsetzung eines Diversity-Leitbildes in der Unternehmenskultur, das der Verschiedenheit aller Menschen gerecht wird, zum wirtschaftlichen Erfolg beiträgt. Gleiches gilt für die Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens. Denn nur, wenn sie mit ihren Angeboten die Unterschiedlichkeit der Bevölkerungsgruppen berücksichtigen, können sie wirklich effizient und entsprechend ihres jeweiligen Auftrags arbeiten. Eine umfassende Einführung von Diversity-Konzepten im Gesundheits- und Sozialwesen dient dazu, den Anliegen und Bedürfnissen aller Bevölkerungsgruppen gleichermaßen gerecht zu werden.
Liebe Leserin, lieber Leser,
Vielfalt begegnen wir in einer Zeit der raschen Veränderungen in fast allen Lebensbereichen. Die Diversität der Weltanschauungen und Identitäten durch Globalisierung, demographischen Wandel, Mobilität und Migration führen uns zu neuen gesellschaftlichen Erfahrungen und stellen uns vor die Herausforderung, mit dieser Vielfalt, ihren Chancen und Risiken im Privat- und im Berufsleben umzugehen. In diesem Buch geht es um die Fähigkeiten, die wir brauchen, um mit kultureller Vielfalt in gesundheitlichen und sozialen Handlungsfeldern professionell umzugehen.
Wir Herausgeberinnen kommen aus der transkulturellen, klinischen Arbeit (ambulante und stationäre Psychotherapie, Beratung) und der Fortbildungen für MedizinerInnen und PsychotherapeutInnen. Uns verbindet seit einigen Jahren die gemeinsame Bemühung „Wie vermitteln wir das, was wir täglich machen, an andere?“ mittels Diversity-Fortbildungen. Diese Diversity-Fortbildungen führen wir seit 2005 im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf (PSZ) durch, im Rahmen des Projektes „Dialog-Kultur“, gefördert vom Europäischer Integrationsfond EIF und in Kooperation mit der Ärztekammer Nordrhein, der Psychotherapeutenkammer NRW und dem Bildungsinstitut im Gesundheitswesen BiG. Unsere eigene transkulturelle Praxis, die didaktische Herauforderung der Fortbildungen und die Fragen der TeilnehmerInnen veranlassten uns, unsere eigenen Konzepte zu überprüfen, uns mit konträren Positionen zu beschäftigen, Widersprüche aufzugreifen, uns mit wissenschaftlichen Konzepten zu befassen, auf der Suche nach einem pragmatischen Ansatz für die Praxis. Der Diversity-Ansatz ermöglicht in diesem Zusammenhang, sich dem Begriff „Kultur“ zu nähern, ohne vorschnell zu kulturalisieren, d. h. alle individuellen Merkmale einer Person wie Geschlecht, Alter, Bildung, sexuelle Orientierung, Familienstatus, sozioökonomischer Status, Behinderung explizit zu berücksichtigen, wobei „Zuwanderung“ nur ein Merkmal unter vielen ist.
Unser Ziel ist es nicht, sozialwissenschaftlich und konzeptionell Diversity zu beleuchten, sondern aufzuzeigen, wie dieses – im deutschen Sprachraum recht neue Konzept – im Praxistransfer, speziell im Gesundheits- und Sozialwesen, umgesetzt werden kann. Daher haben wir Experten angesprochen und gebeten, ihre eigenen Tätigkeitsschwerpunkte in Bezug auf Diversity zu setzen. Da das Thema Diversity in sozialen und klinischen Handlungsfeldern ein noch relativ unbearbeitetes Feld ist, konnten die AutorInnen, die wir eingeladen haben zu schreiben, entsprechend wenig auf diesem Feld ernten. Die meisten mussten das Feld zunächst selbst beackern, indem sie diese Einladung zur Annäherung und Auseinandersetzung mit Diversity in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld (Zuwanderung, Gender, Behinderung, Lebensende und weitere) angenommen haben.
Dabei geht das „Feld“, um bei dem Bild zu bleiben, über eine Landschaft hinaus, die wir nicht weit oder scharf genug in einem Buch aufzeigen können. Doch das Buch als Gesamtes zeigt die Sicht durch verschiedene diversitäts-sensible Fenster, bei dem ein Fenster – das soziokulturell differenzierte – besonders groß und weit geöffnet wird. Das bedeutet aber auch, dass nicht alle relevanten Aspekte entsprechend gewürdigt werden konnten (z. B. Transsexualität).
Dabei ist nicht beliebig, welcher Autor vor einem Fenster steht und die jeweilige Sicht eröffnet. Je nach Zugang und Perspektive präsentiert sich eine andere Landschaft – aus der Perspektive als VerhaltenstherapeutIn oder als PsychoanalytikerIn, als Mehrheits- oder Minderheitsangehörige, als Mann oder Frau. Diese Subjektivität spiegelt sich in allen Texten – Objektivität vermögen wir nicht zu bieten, aber vielleicht reflektierte Subjektivität. Diese Sichtweise möchten wir auch Ihnen beim Lesen ans Herz legen – denn abhängig von Ihrem beruflichen und persönlichen Kontext werden Sie sicherlich die eine oder andere Formulierung als fremd oder berührend wahrnehmen.
Einer unreflektierten Subjektivität haben wir uns bemüht zu begegnen, durch die Wahl der AutorInnen (mit und ohne Zuwanderungsgeschichte, mit und ohne Melaninmangel, mit und ohne zweites X-Chromosom, aus Wissenschaft und Praxis), und ihrer unterschiedlichen, nicht-identischen Themenfelder, die sich aber überkreuzen konnten oder benachbart gelegen waren.
Die Kapitel sind unterschiedlich zu sehen, abhängig von der Thematik und ihrer Präsenz im Gesundheitswesen, in den Medien, im gesellschaftlichen Diskurs. Bei manchen Bereichen geht es darum, spezifische Bedürfnisse einer speziellen Gruppe überhaupt wahrzunehmen (z. B. Flüchtlinge). Bei anderen Themengebieten gibt es bereits dieses gesellschaftliche Bewusstsein, und es geht viel mehr um die innere Diversität (z. B. Gender). Wiederum werden Sie feststellen, dass einige AutorInnen mehr die Unterschiede, andere eher die Gemeinsamkeiten (z. B. bei Diversität am Lebensende) fokussieren, wobei beide wichtige und sich ergänzende Blickwinkel innerhalb des Diversity-Konzepts darstellen.
Die unterschiedlichen Blickwinkel der AutorInnen zwingen uns einerseits, die universellen Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Gruppen wahrzunehmen, und andererseits werden uns immer wieder die Grenzen der eigenen Wahrnehmung und der eigenen Gruppenzugehörigkeit deutlich, also das Anderssein.
Sie merken, dieses Buch ist zwar ein Lehrbuch, aber keines, aus dem Sie ohne die persönliche Auseinandersetzung mit sich und den eigenen Gewohnheiten eine „Lehre“ ziehen und auswendig lernen können. Denn die Praxis der Diversity-Kompetenz ist Wissens- und Erfahrungswert zugleich. Wir können Ihnen die Fenster zeigen, die AutorInnen können ihre Sicht beschreiben, erlernbar und erfahrbar wird die Lehre erst, wenn Sie selbst schauen.
Um Ihnen ein wenig die Arbeit zu erleichtern, möchten wir Ihnen an dieser Stelle eine kleine „Gebrauchsanweisung“ für das Buch geben: Während die Kapitel Ihnen einen vertiefenden Einblick in die Themen bieten, werden Sie auf einige kürzere Beiträge („Exkurse“) stoßen. Diese kurzen Überblicke umreißen Themengebiete, die kein eigenes Kapitel haben, uns aber so wesentlich erscheinen, dass wir Sie mit den kurzen Beiträgen auf diese brisanten und wichtigen Themen aufmerksam machen und zum Weiterlesen motivieren möchten.
Der erste Teil des Buches (Einführung: Warum „Diversity“ in sozialen und Heilberufen) zeigt die gesellschaftspolitische Relevanz der Implementierung von Diversity in Heil- und sozialen Berufen aufgrund veränderter demographischer Entwicklungen und Migration (Anton Rütten, Bernhard Santel). Die veränderte Bevölkerungsstruktur in Deutschland, wirft die damit einhergehende Identifikationsfrage des „Deutschsein“ auf (Andreas Ackermann). Jenseits von nationalen Identifizierungen erfordern diese Veränderungen einen strukturellen Wandel im Gesundheitswesen (Dagmar M. David).
Im zweiten Teil, Grundlagen von transkultureller Öffnung und Diversity, werden die theoretische Basis von Diversity (Rebekka Ehret) und die damit angrenzenden relevanten Grundlagentheorien beschrieben, wie das Konzept der Vorurteile und das Syndrom Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Andreas Zick, Beate Küpper). Ein handlungsorientierter Ansatz, der den vorurteilsbewussten Umgang mit Differenzen schult, ist der „Anti-Bias“ (Exkurs Marina Chernivsky).
Die rechtlichen Grundlagen von Diversity sind die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie und das Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Dessen Wirkkraft wird am Beispiel der Diskriminierung durch fehlende sprachliche Verständigungsmöglichkeiten im Bereich des Sozial- und Gesundheitswesens untersucht (Dorothee Frings). Weiterhin wird in diesem Grundlagenkapitel die Umsetzung von Diversity-Kompetenz im klinischen und sozialen Alltag fokussiert (Eva van Keuk, Ljiljana Joksimovic, Cinur Ghaderi), die konkrete Umsetzung des Diversity-Management im Gesundheitswesen am Beispiel eines Krankenhauses dargestellt (Wolfram Gießler) und schließlich wird Diversity theoretisch mit Gender und Intersektionalität (Cinur Ghaderi, Ilse Lenz) in Bezug gesetzt und es werden Methoden zur Wahrnehmungssensibilisierung für eine geschlechter-detypisierenden kommunikative Praxis benannt.
Im dritten Teil, Diversity in klinischen Handlungsfeldern, werden unterschiedliche klinische Handlungsfelder aus diversitäts-sensibler Perspektive beleuchtet, wie das ärztliche Patientengespräch (Ljiljana Joksimovic), die Psychotherapie (Eva van Keuk, Cinur Ghaderi), die Arbeits- und Sozialmedizin (Ulrike Hein-Rusinek) und die Patientenpflege (Abdulillah Polat). Die weiteren Beiträge dieses Kapitels befassen sich zunächst mit der Diversity-Kompetenz in der gesundheitlichen Versorgung von Frauen (Dela Apedjinou, Şengül Boral, Matthias David & Theda Borde), Männern (Norbert Hartkamp), Jugendlichen (Wilfried Huck) und alten Menschen (Murat Ozankan, Josef Kessler). Schließlich wird das Thema Tod und Sterbebegleitung (Christian Schulz, André Karger, Martin W. Schnell) und Trauer (Exkurs Meera Sivaloganathan) fokussiert. Bei der Auswahl dieser Themengebiete haben wir uns bemüht, einerseits universelle Aspekte zu analysieren, die Menschen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialer Gruppe (z. B. Frau, Mann, Altersgruppe) machen, gleichzeitig aber auch kulturelle oder milieuspezifische Aspekt in Augenschein zu nehmen (z. B. Exkurs Mboyo Likafu zu Beschneidung, Exkurs Michael Hoshino zu Männern der japanischen Exil-Community).
Der vierte Teil, Diversity in sozialen Handlungsfeldern, gliedert sich in vier thematische Felder. Zunächst wird der Einsatz von Sprach- und Kulturmittlern aus der psychosozialen Arbeit (Sabine Rauch) und aus der Sicht eines Sprach- und Kulturmittlers dargestellt (Abdoulaye Amadou), die Berichte werden abgerundet von einem Leitfaden für die Praxis.
Die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention dienen als Basis, um in dem nächsten Beitrag die Diversity-Kompetenz im Umgang mit Menschen mit Behinderung aus kultursensibler Sicht (Cornelia Kaiser-Kauczor) zu beleuchten.
Der dritte Kernbereich befasst sich mit der Arbeit mit Flüchtlingen in der Psychotherapie (Jutta Bierwirth), der Begutachtung (Hans Wolfgang Gierlichs) und in Krisensituationen wie der Abschiebeandrohung (Barbara Eßer).
Das letzte Themenfeld handelt von der Diversity-Kompetenz in der Paar- und Familienberatung und spannt einen Bogen von der Diversität von Erziehungsvorstellungen (Joscha Kärtner, Heidi Keller), zur Schulberatung (Haci-Halil Uslucan) bis hin zur Identitätsarbeit mit Jungen (Abousoufiane Akka).
Die Beiträge des Buchs sind einheitlich gegliedert: Jeder Artikel beginnt mit einer Zusammenfassung und endet mit Fragen oder Übungen. Anhand von zahlreichen Beispielen aus der Praxis haben die AutorInnen dazu beigetragen, einen möglichst anschaulichen Zugang zu einem ohnehin komplexen Thema beizutragen. Literaturverweise, nützliche Links, Einrichtungen und das Schlagwortverzeichnis finden Sie im Anhang.
Liebe Leserin, lieber Leser, liebe LeserIn, gerade in einem Buch über Diversity haben wir uns aufgerufen gefühlt, genau auf eine gender-sensible Sprache zu achten, doch keiner der drei Umgangsvarianten der Ansprache können derzeit unseres Erachtens eine sprachlich überzeugende geschlechtergerechte Lösung bieten. Daher haben wir die Sprachwahl jedem Autor individuell überlassen, ihre eigene Anspracheform zu wählen. Allen gemeinsam ist die Absicht, alle Geschlechter mit einzubeziehen.
Dieses Buch ist ein Herausgeberwerk, d. h. es konnte nur entstehen, weil eine Vielzahl an AutorInnen mit hoher Expertise und Fachkompetenz in unterschiedlichen Bereichen unsere Einladung zur Annäherung und Auseinandersetzung mit Diversity engagiert angenommen haben und die Texte verfasst haben – ihnen allen hier ein ganz herzliches Dankeschön!
Die Zusammenarbeit mit dem Kohlhammer Verlag, besonders mit Frau Ulrike Merkel, die das Projekt von Anfang an mit ihrem guten Rat begleitet hat, war eine angenehme Erfahrung.
Danken möchten wir dem Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge in Düsseldorf, der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Düsseldorf, der Ärztekammer Nordrhein, unseren PatientInnen und KlientInnen in Therapie und Beratung, unseren FortbildungsteilnehmerInnen, unseren ReferentInnen und allen weiteren Diversity-Verbündeten, die uns fachlich angestoßen und mit Hand und Fuß – zuweilen kritisch – in unserer Arbeit begleitet haben.
Nicht zuletzt danken wir unseren Ehemännern für ihre aufrichtige Unterstützung.
Cinur Ghaderi, Eva van Keuk, Ljiljana Joksimovic und Dagmar David
Düsseldorf, im Herbst 2010
Dagmar M. David
Der Beitrag zeigt die Notwendigkeit der transkulturellen Öffnung im Gesundheitswesen, indem er das Spannungsfeld zwischen den personellen Gegebenheiten im Gesundheitswesen (individuelle Prägung und vermitteltes Wissen in Aus- und Weiterbildung) und den unterschiedlichen Bedürfnissen der zu behandelnden und zu betreuenden Personen umschreibt. Er benennt u. a. mangelnde sprachliche Verständigung und fehlende transkulturelle Fähigkeiten der handelnden Personen im Gesundheitswesen als „Systemproblem“. Kommunikative Fähigkeiten sind ein zentraler Faktor für die Qualität des Gesundheitssystems, der sich auf Wirtschaftlichkeit und Behandlungserfolg auswirkt.
Das deutsche Gesundheitswesen ist zum thematischen Dauerbrenner in Öffentlichkeit und Politik geworden. Je nach Interessenlage wird es als „zu teuer“, „das Beste der Welt“, „mit noch reichlich Rationalisierungsmöglichkeiten“ oder als „ausgepresste Zitrone“ bezeichnet. Einigkeit besteht aber weitgehend darüber, dass nicht alles so gut läuft, wie es vielleicht könnte. Die Gründe hierfür sind vielfältig, einige wichtige liegen in den handelnden Personen begründet. Bei der Diskussion um die steigenden Kosten im Gesundheitswesen bzw. dessen Finanzierung werden oft Systemeingriffe vorgeschlagen, die große Bereiche verändern – „das Krankenhaus“ oder „die Arzneimittelverschreibung“. Eine differenziertere Betrachtung der Versorgung einzelner Personengruppen könnte in dieser Frage neue Möglichkeiten eröffnen. Dabei sind nicht Interessensgruppen gemeint, die die „beste Versorgung“ für „ihre“ Erkrankung fordern, sondern Bevölkerungsgruppen, die im Wesentlichen unabhängig vom individuellen Krankheitsbild im Gesundheitswesen durch ein anderes Nutzungsverhalten auffallen und dabei auch mehr Kosten verursachen als der Durchschnitt. Menschen aus sozial schwachen Schichten, ältere Menschen oder Menschen mit Zuwanderungshintergrund sind beispielsweise Patientengruppen, die in unserem Gesundheitssystem auf eine Vielzahl von Problemen treffen. Bisher haben nur einzelne Gesundheitsprofessionals bzw. einzelne Krankenhäuser die Vorteile entdeckt, die eine diversity-orientierte Ausrichtung – beispielsweise eine transkulturelle Öffnung – mit sich bringen.
Wie in den vorherigen Kapiteln beschrieben, hat sich unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht in den letzten Jahrzehnten verändert, dazu zählen neben einem Wertewandel auch die veränderte „Zusammensetzung“. In der Öffentlichkeit ist die prozentuale Zunahme der älteren Bevölkerung ebenso bemerkbar wie die der Menschen anderer Kulturen. Menschen sind wesentlich durch ihre Herkunft und Erziehung geprägt und obwohl es diverse Berichte und Studien gibt, die Aspekte der veränderten gesellschaftlichen „Zusammensetzung“ näher betrachten, werden diese Erkenntnisse kaum in Handlungsschritte umgesetzt. Sowohl die einzelnen handelnden Personen als auch „das System“ (z. B. das Gesundheitswesen, das Bildungssystem) scheinen diese Diversität erst allmählich wahrzunehmen und damit auch, dass nicht alle Menschen, die in Deutschland leben, den gleichen freien Zugang zum Gesundheitswesen haben. 2000 befand das Bundessozialgericht, dass die von einem vertragsärztlich niedergelassenen Arzt pauschal geltend gemachten signifikanten Unterschiede (bezüglich des Ausländeranteils) zu der für ihn relevanten Vergleichsgruppe nicht ohne weiteres ausreiche, um auf einen erhöhten Behandlungsbedarf zu schließen (BSG 2000). Auch wenn dieses Urteil in seinem konkreten Anwendungsfall die Hypothese nur bedingt stützt, dass das „System“ Vielfältigkeit nicht als solche berücksichtigt, setzten solche Entscheidung Signale. Das Robert Koch-Institut (2008) beschreibt im Gegensatz dazu verschiedene Bereiche, in denen die Inanspruchnahme von Leistungen im Gesundheitswesen durch zugewanderte Menschen anders ist als die der deutschen Bevölkerung.
In der Regel wird, wenn vom Gesundheitssystem die Rede ist, nur von „dem Patienten“ gesprochen oder von „dem Arzt“. Dies kann und soll auch individuelle „Ausprägungen“ unberücksichtigt lassen. Medizin und medizinische Wissenschaften, ähnlich wie das Bildungswesen, sind zunächst Systeme von Normen und Normalitäten. Nach wie vor wird in der Medizin von der Norm „männlich, weiß, ca. 1,70 m“ ausgegangen, beispielsweise in der medizinischen Grundlagenlehre wie Anatomie. Laborwerte sind Normwerte von einer großen Anzahl von „Normalen“. Dass „Normabweichungen“ durchaus konkrete medizinische Relevanz haben, ist zwar in verschiedenen Fällen (z. B. Medikamentengabe bei Kindern) eine Selbstverständlichkeit, aber erst seit Kurzem wird das „Anderssein“ systematischer thematisiert. Dank der Gender-Diskussion ist die Forschung zu den Besonderheiten des weiblichen Organismus am weitesten. Als weitere Subgruppe mit gemeinsamen Merkmalen werden alte Menschen und Kinder gesehen. Die Spezifika von bestimmten sozialen Gruppen unterschiedlicher Herkunft – hier werden gerne „Japaner“, „Mittelmeerbewohner“ oder „Amerikaner“ betrachtet – werden meist nur auf einzelne Gesundheitsmerkmale bezogen. So werden z. B. mit „Japanern“ Laktosemangel und Magenkrebs assoziiert. Demgegenüber hat der Boom in der Genforschung bereits zur Diskussion von „individualisierten“ Medikamenten geführt, die für Bevölkerungsgruppen mit bestimmten genetisch bedingten Besonderheiten anders ausfallen als für andere (z. B. für Menschen mit besonderen Enzymmustern, die Medikamente anders verstoffwechseln als „normal“ oder gar unwirksam machen). All diese Betrachtungen lassen außer Acht, dass Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher sozialer Prägung insgesamt einer „individualisierten“ Medizin bedürfen. Ein noch fast unbearbeitetes Feld in der Versorgungsforschung.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass es auch positive Beispiele dafür gibt, wie der medizinische Standard auf andere „Lebensrealitäten“, sei es eine andere Kultur, hohes Alter oder eine Behinderung, anzupassen ist. Jedoch sind diese Differenzierungen bisher nicht Gegenstand einer strukturierten Wissensvermittlung in der Aus- und Weiterbildung. Sowohl in der ärztlichen, pflegerischen oder der Ausbildung anderer gesundheitlicher Fachberufe wird auf die Vermittlung sozialer, aber besonders transkultureller Kompetenzen noch zu wenig Wert gelegt. Obwohl inzwischen an den Pflegeschulen oder in der ärztlichen Aus- und Weiterbildung teilweise solche Inhalte in den Katalog aufgenommen wurden, sind tausende Pflegekräfte, Fachangestellte, Ärztinnen und Ärzte etc. berufstätig, die keine Gelegenheit hatten, bestimmte Kompetenzen strukturiert zu erwerben.
Der veränderte Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in der Bevölkerung hat inzwischen auch dazu geführt, dass sich diese Bevölkerungsgruppe in allen Sparten des Arbeitsmarktes wiederfindet. Dies ist ein langsamer Prozess und führt dazu, dass sich besonders in Ballungsräumen, wo bestimmte Bevölkerungsgruppen mit gleicher Zuwanderungsgeschichte stark vertreten sind, kulturspezifische Versorgungsstrukturen bilden. Beispiele finden sich in Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Köln. In den Stadtteilen mit hoher türkischer Bevölkerung praktizieren türkische bzw. deutsche Ärztinnen und Ärzte mit türkischen Wurzeln, in den Praxen werden entsprechende Medizinische Fachangestellte beschäftigt. In Krankenhäusern arbeitet türkischsprachiges Personal, und dort werden auch die entsprechenden Aufklärungsmaterialen in Türkisch vorgehalten. Dies ist einerseits zu begrüßen, damit diesen Patientengruppen der Zugang zur Versorgung leichter fällt, anderseits stellen getrennte Versorgungsangebote nach Sprachgruppen nur teilweise einen Prozess im Sinne des Diversity-Ansatzes dar (s. Kap. 2.4).
Wie im vorherigen Kapitel zu lesen war, wurde erst 2006 für die staatliche Beobachtung der Bevölkerungsentwicklung die Grundlage des Mikrozensus erweitert, so dass eine differenziertere Information zu Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland möglich wurde. In Kapitel 2.5 finden sich noch einige Zahlen zur Repräsentanz in Berufen des Gesundheitswesens, die im Heft 46 „Beschäftigte im Gesundheitswesen“ des Robert Koch-Instituts veröffentlicht wurden. Die dort zitierten Daten des Bundesamtes für Statistik dokumentierten für Deutschland 2006, dass 12 % der Ärztinnen und Ärzte einen Migrationshintergrund hätten, 3,9 % seien Ausländer und von den 8,1 % Deutschen seien 2,2 % (Spät-)Aussiedler sowie 5,9 % eingebürgert. Anfang 2010 hatten im Kammergebiet Nordrhein 6,9 % der gemeldeten Ärztinnen und Ärzte eine andere als die deutsche Staatsbürgerschaft. Das ist ein deutlich geringerer Anteil als in der Gesamtbevölkerung, aber deutlich mehr als es 2006 vom Bundesamt für Statistik beschrieben wurde. Man kann aber davon ausgehen, dass noch ein- bis zweimal so viele Personen eine Zuwanderungsgeschichte haben. Eine Schätzung, da solche Informationen für die Melderegister der verkammerten Berufe bisher nicht erfasst werden.
Viele Reformen wurden in den letzten Jahren im Gesundheitssystem durchgeführt. Welche Ziele auch immer in den Begründungstexten aufgeführt wurden, so war der Versuch, die Kostenentwicklung der Gesetzlichen Krankenversicherung einzudämmen, doch die Kernaufgabe dieser Reformen. Je nachdem, wie man die Kosten berechnet und dann darstellt, wird mit anderen Zahlen zur Kostenentwicklung argumentiert (Beske, 2005; OECD, 2009). Unabhängig von den zur Diskussion stehenden Summen und deren Verteilung sollte eine optimale Verwendung der Gelder angestrebt werden.
Es gibt viele Gründe, warum medizinische Versorgung nicht immer optimal ist, der zunehmende ökonomische Druck trägt aber kaum zu einer Verbesserung der Situation bei. Wer in Einrichtungen der Krankenversorgung geht, wird oft auf Personal stoßen, das gehetzt wirkt. Menschen, die – real oder „gefühlt“ – zu wenig Zeit für ihre Patientinnen und Patienten haben, haben für Patienten mit besonderen Bedarfen und Bedürfnissen keine Zeit, ja, diese werden als besondere Belastung wahrgenommen.
Neben der Zeitbelastung werden die Kommunikation und das Verständnis von weiteren Faktoren beeinflusst. So wird als erste „Hürde“ zum Verstehen bei Personen mit Migrationshintergrund oft das Sprachproblem benannt. Beim Vorliegen eines echten Sprachproblems kann dies zu Fehlbehandlungen führen, trotzdem wird in solchen Fällen noch sehr oft „improvisiert“. Zunehmend können Krankenhäuser auf das hausinterne (Fach-)Personal zurückgreifen, das selbst zur Gruppe der Personen mit Zuwanderungsgeschichte zählt. Es werden hausinterne Dolmetscherdienste organisiert, die wesentlich besser geeignet sind, die erforderlichen Gespräche zu dolmetschen als Familienangehörige (womöglich Kinder), da hier sowohl die Kenntnisse der Fachsprache vorliegen als auch Kenntnisse zum kulturellen Verständnis des Gegenübers. Aber diese „Zusatztätigkeit“ bedarf klarer arbeitsrechtlicher Regelungen und sollte auch durch geeignete Bildungsmaßnahmen unterstützt werden. Diese „Lösung“ kann nur ein Baustein sein, der das grundsätzliche Problem abmildert. Insbesondere Menschen, die nur seltene Sprachen sprechen, können so nicht adäquat behandelt werden, da auch große Einrichtungen nicht Mitarbeiter aller Sprach- bzw. Kulturräume beschäftigen (können). Vor den Kosten für professionelle Dolmetscher oder die für solche Dienste noch besser geeigneten Sprach- und Kulturmittler (vgl. Kap. 4.1) scheuen die Häuser oft zurück.
Die andere Hürde zum Verstehen liegt im Verständnis. Diese Dimension der Verständigungsproblematik wird durch die Grundlagen der Kommunikationslehre erklärt. Der „Empfänger“ entscheidet, was er versteht, d. h. der „Sender“ kann nicht voraussetzen, dass er verstanden wird, selbst wenn beide die gleiche Sprache sprechen. Da wir alle durch unsere soziokulturelle Herkunft bestimmten Denkmustern folgen, führt die Kommunikation zwischen Personen mit verschiedenen Denkmustern zu Missverständnissen. Die meisten im Gesundheitswesen handelnden Personen haben Vorstellungen von „dem Asiaten“ oder „der Araberin“. Unbewusst wird angenommen, das Gegenüber sei anders, da er aus einer anderen Kultur stammt. Dabei werden individuelle Unterschiede vernachlässigt, wenn es sich um Menschen handelt, denen wir unterstellen, sie hätten die gleiche Kultur wie wir. Die eigene Lebenserfahrung und der Bildungsstand nehmen massiv Einfluss auf das Verstehen, Interpretieren und Handeln (vgl. Kap. 2.1). Gemeinsame Herkunft ist eben nicht mit gemeinsamer Kultur gleichzusetzen – wenn eine ältere Frau aus einem Dorf den Arzt in der Stadt weder in seinem Hochdeutsch, noch in seiner Ausdruckweise versteht, kann es ebenfalls zu Missverständnissen im transkulturellen Sinne kommen. Gleichzeitig könnte eine deutsche Sozialarbeiterin große Gemeinsamkeiten mit einer usbekischen Patientin feststellen, die ebenfalls einen sozialen Beruf studiert hat. Wie Kapitel 2.1 zeigt, liegt eine Herausforderung darin, durch das Wissen über andere Kulturen nicht neue Schubladen aufzumachen.
Der Diversity-Ansatz hat ein hohes Ziel (vgl. Kap 2): Egal ob Alter, Geschlecht, Kultur, Bildungsstand oder eine einschränkende Erkrankung, die Akzeptanz und der offene Umgang mit Anderen stellt eine Herausforderung für alle Menschen – insbesondere der im Gesundheits- und Sozialsystem Tätigen – dar. Durch einen entsprechenden Umgang können Missverständnisse bei der Anamneseerhebung vermieden werden, was unnötige Untersuchungen vermeiden hilft. Gerade in der Schmerzäußerung gibt es sehr unterschiedliche kulturelle und gleichzeitig individuelle Verhaltensmuster. Hier gilt es, eine angemessene Selbstreflexion zu praktizieren, um dieses wichtige Symptom nicht durch falsche Kulturisierung fehlzudeuten. Auch die Krankheitsbewältigung kann kulturell sehr unterschiedlich sein – viel Besuch kann für manche Patienten heilsam sein, andere aber noch kränker machen (vgl. Kap. 4.1 Exkurs).
Wer versucht, sein Gegenüber und dessen Selbstverständnis zu begreifen, kann die eigene Rolle den jeweiligen Erwartungen anpassen und die Compliance fördern. Allein das kann helfen, die Behandlungskosten in den jeweils einzelnen Fällen zu reduzieren. Inwieweit eine gesamtwirtschaftliche Einsparung resultieren kann, bleibt angesichts des Fehlens einer solchen Betrachtung für fast alle Maßnahmen im Gesundheitssystem offen. Dass ein angemessener Umgang das Miteinander in fast allen Bereichen der klinischen und sozialen Handlungsfelder vereinfachen kann, sollen die nachfolgenden Kapitel zeigen. Ungeachtet der Forderung nach mehr geeigneten Fortbildungsmaßnahmen zur Schulung von kommunikativen und sozialen Fähigkeiten im Gesundheitswesen, soll dieses Buch helfen, den Mangel an strukturierter Wissensvermittlung zu mildern und den gesellschaftlichen Prozess zu beschleunigen. Erfahrungen muss jede/jeder selbst sammeln.
Beske, F., Dabrinski, T., Golbach, U. (2005). Leistungskatalog des Gesundheitswesens im internationalen Vergleich. Band 104. Kiel: Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung (IGSF).
Statistische Ämter des Bundes und der Länder (2007). Demografischer Wandel in Deutschland. Heft 1.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2009). Projektgruppe Soziale Sicherheit und Migration, Dokumentation „Gesundheitsversorgung von Personen mit Migrationshintergrund“. Zugriff am 30.05.2010, von www.bmas.de/portal/37698/property=pdf/2009__09__09__gesundheitsversorgung__migrationshintergrund.pdf
Bundessozialgericht (BSG). Urteil vom 10.05.2000. B 6 KA 25/99 R (Hess. LSG).
Gardemann, J., Müller, W., Remmers, A. (2000). Migration und Gesundheit. Perspektiven für Gesundheitssysteme und öffentliches Gesundheitswesen. Tagungsdokumentation. Berichte und Materialien, Band 17. Düsseldorf.
Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen (2004). Zuwanderung und Integration in Nordrhein-Westfalen. 3. Bericht der Landesregierung. Düsseldorf.
Nagel, E. (2009). Der Arzt im Spannungsfeld von Versorgungsgerechtigkeit und Wirtschaftlichkeit. In E. Nagel (Hrsg.), Das Bild des Arztes im 21. Jahrhundert. Heidelberg: Springer.
OECD (2009). OECD Health Data 2009: Statistics and Indicators for 30 Countries. PC-Programm. Zugriff am 30.05.2010, von www.oecd.org/health/healthdata
Robert Koch-Institut (2008). Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Migration und Gesundheit. Berlin.
Robert Koch-Institut (2009). Beschäftigte im Gesundheitswesen. Berlin.
1 Die Entwicklung der Einwanderung nach Deutschland war bis zur Wiederherstellung der deutschen Einheit in den beiden ehemaligen Teilen Deutschlands sehr unterschiedlich. Dies wirkt sich bis heute auf Unterschiede der Bevölkerungszusammensetzung zwischen den östlichen und den übrigen Bundesländern aus.
2 Die Unterscheidung „im Ausland geboren“ bzw. „im Inland geboren“ ist Grundlage der Zuwanderungsstatistiken in den klassischen Einwanderungsländern.
3 Die von dem ehemaligen Vorstandsmitglied der Bundesbank, Thilo Sarrazin, jüngst angestoßene Integrationsdebatte scheint diesen Befund aufs Eindrücklichste zu bestätigen.
Eva van Keuk, Ljiljana Joksimovic & Cinur Ghaderi
Während in den bisherigen Kapiteln die Grundlagen von Diversity aus politischer und wissenschaftlicher Sicht dargelegt wurden (Zuwanderung, Konstruktion von Deutschsein, Strukturen des Gesundheitswesen, Konzeptionen von Diversity, Vorurteilsforschung), übertragen wir mit diesem Kapitel das Konzept Diversity auf den beruflichen Alltag: Was genau bedeutet denn jetzt „kompetenter Umgang mit Vielfalt“ in der Berufspraxis, in den zahllosen Situationen in Beratungsstellen, Schulen, Praxen und Krankenhäusern? Diversity kann nicht umgesetzt werden, ohne sich mit Mehrheiten und Minderheiten, mit unsichtbaren Normen zu beschäftigen. Entlang eines Fallbeispiels aus dem Krankenhaus werden die vier Schritte des Diversity -Prozesses (Erkennen von Unterschieden, Wahrnehmen von Gemeinsamkeiten, Klären von Zielen und Veränderung von Strukturen) verdeutlicht. Die Diversity -Kriterien (Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung, soziokultureller Hintergrund, Hautfarbe, Religion) werden mit dem Fallbeispiel verknüpft. Wir stellen Definitionen von „Kultur“ vor, wobei wir offen gegen nationale, starre Typisierungen („Deutsche sind…“, „Türken sind…“) und für ein prozesshaftes Kulturverständnis, beispielsweise nach Clifford Geertz, plädieren. Zuletzt wird zusammengefasst, wie sich Diversity-Kompetenz in unserem konstruierten Fallbeispiel, das reale Situationen aus Trainings enthält, konkret ausdrücken kann.
„Dieser Patient, Herr M., kommt einfach aus einer anderen Kultur, ich kann ihm als Nicht-Muslimin schlichtweg nicht helfen“, berichtet eine Krankenschwester Frau S., Teilnehmerin im Rahmen einer Diversity-Fortbildung über einen Patienten, den sie als schwierig empfindet. Er liegt zum wiederholten Male wegen akuten Bluthochdruck, „unklaren“ Herzbeschwerden bei bekannter schlecht eingestellter Diabeteserkrankung und Übergewicht im Krankenhaus.
Wie kommt es, dass diese erfahrene Krankenschwester, die auf einer internistischen Station arbeitet und bisher die unterschiedlichsten Patienten erfolgreich betreut hat, genau diesen Patienten als „muslimisch“ wahrnimmt – und sich deshalb in ihrem professionellen Handeln eingeschränkt fühlt? Wieso glaubt sie, genau für diesen Patienten – mit einem ungünstigen Risikoprofil bei einer doch üblichen Diabetes- und Bluthochdruckerkrankung – nicht hilfreich sein zu können? Was ist in der Kommunikation zwischen den beiden abgelaufen? Genau auf diese Fragen bietet der Diversity -Ansatz hilfreiche Antworten für den klinischen Alltag und ermöglicht eine genauere Problemanalyse und die Entwicklung von konkreten Problemlösungen.
„Diversity“ wird im Deutschen häufig übersetzt mit Vielfalt – und meint doch wesentlich mehr als die bloße Feststellung von Differenzen zwischen Individuen (vgl. Kap. 2.2). Im Folgenden werden wir uns immer wieder an einem Fallbeispiel orientieren, um die Grundlagen der Diversity-Kompetenz zu verdeutlichen. Zunächst aber noch einige Worte zu den Wurzeln von Diversity:
Während Diversity aus der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung stammt und eine gemeinsame Wurzel mit den Antidiskriminierungsgesetzgebungen hat (vgl. Kap. 2.3), wird dieses Konzept heutzutage hauptsächlich in wirtschaftlichen Arbeitsfeldern aus marktökonomischen Beweggründen eingesetzt. Wir denken, dass die menschenrechtlichen Aspekte der Geburtsstunde von Diversity wieder mehr in den Fokus gerückt werden sollten. Gleichzeitig stellt der ökonomische Vorteil einer Diversity-Orientierung in Zeiten von Umstrukturierungen und Sparzwängen im Sozial- und Gesundheitswesen ganz sicher eine wichtiges Argument für die Institutionen dar, sich überhaupt mit dem kompetenten Umgang mit Vielfalt auseinander zu setzen (Krell et al., 2007; vgl. Diversity-Management, Kap. 2.5).
Eine der Wurzeln von Diversity, die „Anti Defamation League“ (ADL), entstand aus einer US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zu Anfang des letzten Jahrhunderts, nachdem 1915 in Georgia ein aufgebrachter Mob einen Bürger umgebracht hatte – er war verdächtigt worden, einen Mord begangen zu haben. Zu Unrecht, wie es sich später herausstellte. Im Anschluss fragten sich die Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung: „Wie kann es sein, dass genau dieser Bürger ermordet wurde? Welche seiner Merkmale brachte die Menge dazu, ihn zu verdächtigen?“ Dieses Mordopfer war Mitglied der jüdischen Minderheit gewesen, und die Ziele von ADL waren daher zunächst vor allen auf die Bekämpfung von Antisemitismus ausgerichtet. Seit den 1990er Jahren hat sich das Institut „A world of difference“ etabliert, mit Anti–Bias- und Diversity-Ansätzen. Recht schnell erweiterten sich die Merkmale von ADL und A world of difference auf folgende, die auch häufig als „the big six“ aufgezählt werden:
Diversity-Merkmale („The big six“):
Je nach Kontext kommen hinzu:
Es existieren unzählige Variationen dieser Kategorien, je nach dem Kontext, in dem Diversity angewendet werden soll. In wirtschaftlichen Zusammenhängen wird die Stellung innerhalb der Institution besonders relevant sein. In Unternehmen mit dem Ziel, geschlechterbezogene Ungleichheiten aufzuheben, wird der Familienstand mehr in den Fokus rücken, um nur zwei häufige Beispiele zu nennen. In der transkulturellen klinischen Arbeit spielen schwerpunktmäßig die Diversity-Merkmale „soziokultureller Hintergrund und Hautfarbe“ und „Religion“ eine wesentliche Rolle, wobei alle anderen Merkmale in keinem Kontakt vernachlässigt werden können. Soziokultureller Hintergrund meint hierbei im Einzelnen:
Große Unterschiede können zwischen unterschiedlichen Milieus in der gleichen Stadt vorhanden sein (vgl. Kap. 3.2), und sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen ähnlichen Milieus in den Großstädten rund um den Globus (vgl. Erziehungsvorstellungen Kap. 4.4.1) – insofern ist es selten die Dimension „Nationalität“, die bei der Abbildung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten hilfreich ist. Gleichzeitig sind auch die genannten Unterkategorien durchaus komplex. Bei „Sprache“ ist es beispielsweise auffällig, wie sehr in Deutschland auf eine akzentfreie Aussprache Wert gelegt wird (was international nicht immer im gleichen Ausmaß der Fall ist). Doch auch unter den Akzenten gibt es eine gesellschaftliche Hierarchie – während ein französischer oder skandinavischer Akzent häufig als charmant gewertet wird, passiert das mit einem türkischen Akzent im Alltag eher selten.
Wichtig ist bei dem Umgang mit Diversity -Merkmalen, dass sie keine Charaktereigenschaften, sondern Kategorien beschreiben, anhand derer Menschen Ausgrenzung oder Diskriminierung erfahren. „Alter“ jenseits der 50 Jahre oder Migrationshintergrund können auf dem heutigen Arbeitsmarkt ein handfestes, individuelles Benachteiligungsmerkmal darstellen, unabhängig von den individuellen Fähigkeiten. Diese Merkmale sagen also keineswegs etwas über die Qualitäten eines Menschen aus, sondern drücken Gruppenzugehörigkeiten aus (vgl. Intersektionalität, Kap. 2.6). Gleichzeitig erlauben diese Kategorien im Rahmen des Diversity-Prozesses, eine unsichtbare Norm zu hinterfragen und sogar idealerweise aufzulösen, wie wir im Weiteren verdeutlichen werden.
In den sozialen und klinischen Arbeitsfeldern wie den Beratungsstellen, Psychotherapiepraxen, Schulen und Krankenhäusern nimmt die Vielfalt unter den KlientInnen und PatientInnen zu: Verschiedene Lebensentwürfe und Familienkonstellationen (von Patchworkfamilien über homosexuelle Elternpaare bis hin zu Alleinerziehenden und klassischen Kleinfamilien), Einwanderung und globalisierte Arbeitszusammenhänge sind einige der Ursachen. Gleichzeitig wird in den meisten Berufsausbildungen, ebenso in den gesellschaftlichen Debatten und in den Medien weiterhin eine enge Norm (vgl. Krell et al., 2007) vorgegeben, an der sich die Methoden und Interventionen der unterschiedlichen Berufsgruppen ausrichten: die unsichtbare Norm der Mehrheit, die vermittelt wird anhand der weißen, bürgerlichen, deutschen Kleinfamilie mit christlichem oder weitgehend atheistischem Hintergrund. In den medizinischen Studiengängen und Fortbildungen gelingt es erst in den letzten Jahren, sich von der Norm „männlich, weiß, 70 kg“ zu lösen und beispielsweise Frauen in der spezifischen Medikation stärker zu berücksichtigen (vgl. Kap. 1.3). Hier wird deutlich: Diese unsichtbare Norm hat weniger mit zahlenmäßiger Mehrheit zu tun, sondern eher mit einer gewissen Dominanz, die schlichtweg wenig hinterfragt wird. Gemessen an dieser „Norm“ erscheinen dann eine Vielzahl von NutzerInnen in den sozialen und klinischen Diensten als eine „Ausnahme von der Regel“: Familien mit sehr geringen Einkommen, Familien mit sehr hohen Einkommen, Menschen mit Migrationshintergrund, mit muslimischer, jüdischer oder hinduistischer Religionszugehörigkeit, homo- und transsexuelle Menschen, Menschen mit Behinderungen (vgl. Kap. 4.2). Auch wenn in vielen Gebieten in NRW (vgl. Kap. 1.2) inzwischen Kinder mit verschiedenen Muttersprachen mehr als 50 % der Kindergartengruppen repräsentieren, werden sie weiterhin gefragt, aus welchem Ausland sie stammen.
Relevant ist in diesem Zusammenhang, dass die Bundesrepublik ursprünglich als ethnischer Nationalstaat (vgl. Kap. 1.2) konzipiert war, d. h. auf einem festgelegten Territorium, auf dem Deutsche leben, die hier geboren sind, leben, arbeiten und sterben. Deutschsein gilt zwar offiziell nicht als ethnische Kategorie, aber sie ist doch eine unausgesprochene Norm – und erst seit 2005 gelten wir als ein offizielles Einwanderungsland. Diese Selbst- und Fremdethnisierung wird allerdings der gesellschaftlichen Realität in Deutschland nicht gerecht: Die deutsche Gesellschaft war nie homogen, ferner ist sie durch Migrationsbewegungen, von den klassischen „Gastarbeitern“ in den 1960er Jahren bis hin zu den Arbeitsmigranten, Flüchtlingen, Aussiedlern usw. diverser geworden. Die Realität – vor allem in den großstädtischen Räumen – hat mit komplexen soziokulturellen Identitäten unsere Wahrnehmung also bereits überholt. Vielfalt ist vorhanden, aber unsere Konzepte in den sozialen und klinischen Berufen haben sich noch nicht so recht darauf eingestellt.
Seyla Benhabib (2008, 18) vergleicht unseren Umgang mit der Zuwanderungsrealität mit einer veralteten Landkarte: „Die überkommenen politischen Strukturen mögen an Kraft verloren haben, doch neue, globalisierte Formen der Politik sind noch nicht in Sicht. Insofern geht es uns wie dem Wanderer, der versucht, sich in unbekannten Terrain mit einer uralten und für andere Zwecke gezeichneten Karte zurecht zu finden. Während sich das Terrain, auf dem wir uns bewegen, also die globale Staatengemeinschaft, verändert hat, ist unsere normative Landkarte die alte geblieben.“
Ständig ärgern wir uns über die Landschaft – anstatt eine neue Karte, zu erstellen.
Was genau bedeutet es, wenn Diversity umgesetzt wäre? Hierzu ein verdeutlichendes Fabelbeispiel aus der Tierwelt (Thomas & Woodruff, 1999), das auf den ersten Blick stark vereinfachend erscheinen mag, bei den TeilnehmerInnen in den Diversity-Fortbildungen aber immer wieder das Verstehen von Diversity ermöglicht:
In einem Giraffenhaus war alles auf die Bedürfnisse der Giraffen ausgerichtet: Hohe Räume für diese großen Tiere, schmale Flure, Fenster auf Augenhöhe, ebenso Trinkmöglichkeiten. Mit der Zeit bemerkten die Giraffen, dass zunehmend Elefanten zuzogen. Anfangs fanden sie die Elefanten abstoßend, sie waren so dick und schwerfällig. Bis eine Giraffe meinte, die armen Elefanten könnten doch nichts dazu, dass sie so dick und schwerfällig seien, sie dürften deswegen nicht mehr beleidigt werden. Außerdem sollten die armen dicken Elefanten ein Recht auf Chancengleichheit erhalten. Mit viel Aufwand wurden bauliche Veränderungen umgesetzt, unter anderem wurde die Treppe in den ersten Stock wesentlich verstärkt, um das Gewicht der Elefanten auszuhalten. Einige Giraffen fanden den Aufwand übertrieben. „Wir erkennen unser Haus nicht mehr. Und überhaupt – die Elefanten könnten sich auch mal anpassen, Integration sollte schließlich von beiden Seiten ausgehen“. Also wurden unter dem Motto „Fördern und fordern“ die Elefanten zu Diätkursen verpflichtet. Sie sollten lernen, sich leiser und leichter zu bewegen, und sich auf die Hinterbeine zu stellen, um ebenfalls an die Trinkgefäße zu kommen. Letztendlich fühlte sich niemand so recht wohl – die Elefanten spürten, dass sie weiterhin eigentlich Außenseiter waren, die mal protegiert und mal abgewertet wurden, und dass sie eigentlich nicht dazugehörten. Die Giraffen fremdelten mit dem eigenen Haus und fanden insgeheim die Elefanten weiterhin als Störfaktor, auch wenn es sich niemand mehr traute, das offen auszusprechen.
Beim Lesen dieser Tierfabel werden Sie vielleicht Unbehagen empfinden, wenn Sie sich mit den Elefanten identifizieren, vielleicht werden Ihnen Parallelen zu der aktuellen Integrationsdebatte auffallen. In diesem Beispiel ist die Norm der Giraffen nicht hinterfragt, die aus ihrer Machtposition den Elefanten Rechte zubilligen, dafür aber auch eine Gegenleistung fordern. Die Umsetzung von Diversity-Strategien würde in diesem Giraffenhaus Folgendes bedeuten:
Elefanten und Giraffen kommen gleichberechtigt an einem runden Tisch zusammen und stellen fest: Es gibt Unterschiede (Giraffen sind höher und länger, Elefanten niedriger und schwerer) und Gemeinsamkeiten (essen beide gerne Heu, mögen es warm und hell). Wie könnte jetzt ein gemeinsames Haus aussehen? Schließlich, nach sehr vielen Auseinandersetzungen und Diskussionen, entsteht ein neues Haus, das völlig anders ist als das alte Giraffenhaus: Die Elefanten, so stellt es sich während der Planungsphase heraus, wollen gar nicht in den ersten Stock, sie bevorzugen den Bodenkontakt. Der Treppenumbau ist nicht nötig. Aber im Erdgeschoß entstehen sehr breite Türe und Flure, die gleichzeitig hoch sind und großzügig wirken. Damit auch die Elefanten Tageslicht erhalten, werden die Fenster heruntergezogen und weiter unten ebenfalls Trinkgefäße installiert. Der Boden aus Sand bewirkt eine Geräuschdämpfung und ist für alle Bewohner gelenkschonend. Die Giraffen stellen fest: Es ist heller und großzügiger als zuvor, und auch im Liegen können sie jetzt trinken und hinaussehen. Und die Elefanten fühlen sich als Bewohner eines gemeinsamen Hauses.
Das Konzept Diversity, wie wir es verstehen und im Rahmen unserer Fortbildungen umsetzen, meint einen Prozess, der es ermöglicht, die vorhandene Vielfalt wahrzunehmen und mit erlebter Fremdheit umzugehen. Dieser Diversity-Prozess umfasst vier Schritte: