
Rolf Haubl, Brigitte Hausinger, G. Günter Voß
Riskante Arbeitswelten
Zu den Auswirkungen moderner Beschäftigungsverhältnisse auf die psychische Gesundheit und die Arbeitsqualität
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Entgrenzte Arbeit, hochflexible Arbeitsorganisationen und die »Erosion des Normalarbeitsverhältnisses« sind viel thematisierte Schlagworte des heutigen Berufslebens. Druck, Stress, Erschöpfungszustände und Unzufriedenheit gelten als die symptomatischen Begleiterscheinungen dieser postfordistischen Arbeitskultur. Aus der Perspektive von Wissenschaftlern, Gewerkschaften, Arbeitsmarktforschung, Krankenkassen, Berufs- und Fachverbänden analysieren die Autoren zentrale gesamtgesellschaftliche Fragen: Was ist das Riskante an den Arbeitswelten und wie wirkt sich der Wandel von Arbeit auf die Qualität der Tätigkeit aus?
Über den Autor
Rolf Haubl ist Professor und Geschäftsführender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt am Main, Brigitte Hausinger, Dr. phil., ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Supervision in Köln, G. Günter Voß ist Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der TU Chemnitz.
Inhalt
Riskante Arbeitswelten – Zur Einführung
G. Günter Voß, Brigitte Hausinger, Rolf Haubl
I. Riskante psychosoziale Folgen des Wandels der Arbeit aus der Sicht institutioneller Akteure
Arbeitsmarktforschung
Qualität der Arbeit im Wandel
Stefanie Gundert
Gewerkschaft (Industriegewerkschaft Metall, IGM/DGB)
Gute Arbeit im Finanzmarktkapitalismus – Arbeitspolitische Strategieansätze der IG Metall
Hans-Jürgen Urban
Krankenkasse (WIdO)
Betriebliche Gesundheitsförderung – Fehlzeiten im Fokus
Helmut Schröder
Berufs- und Fachverband (Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V.)
Riskante Arbeitswelten – Die Expertise der Supervision
Brigitte Hausinger
II. Aspekte riskanter Arbeit aus der Sicht der Wissenschaft
Qualität und Professionalität
Ende oder Neuformierung qualitätsvoller und professioneller Arbeit?
G. Günter Voß, Christoph Handrich
Zeit und Identität
Zeitgewinn und Selbstverlust in verdichteten Arbeits- und Lebenswelten
Vera King
Selbstfürsorge und Gender
Selbstfürsorge im Kontext von Geschlechterverhältnissen
Anke Kerschgens
Organisation und Gesundheit
Resilienzfaktoren einer salutogenen Organisationskultur
Rolf Haubl
Autorinnen und Autoren
Riskante Arbeitswelten – Zur Einführung
G. Günter Voß, Brigitte Hausinger, Rolf Haubl
Vielfältige, oft als Megatrends bezeichnete Entwicklungen von großer Tragweite verändern nachhaltig unsere Gesellschaft: Globalisierung, Migration, Individualisierung, demographischer Wandel, neue Technologien, Finanzkrisen, Umweltprobleme oder der Anstieg der sozialen Ungleichheit greifen tief in unsere Sozialstruktur und schließlich in unsere Lebenswelt ein. Eine besondere Bedeutung haben dabei die Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf die Arbeitswelten. Es vollzieht sich kontinuierlich ein Strukturwandel von (erwerbsförmiger) Arbeit und Beschäftigung in modernen Gesellschaften. Seit den 1980er Jahren ist jedoch nach übereinstimmender Beurteilung zahlreicher Expert/innen ein erheblich beschleunigter Wandel der Arbeitswelten in den meisten Industrienationen und dabei noch einmal in besonderer Weise in Deutschland zu beobachten. Dieser Wandel kann auf allen Ebenen festgestellt werden, etwa bei Veränderungen der großflächigen Berufs- und Qualifikationsstrukturen, auf dem Arbeitsmarkt (Gundert und Urban in diesem Band; Voß/Wetzel 2012) oder im Bereich der betrieblichen Organisation von Arbeit sowie in den unmittelbaren Arbeitsverhältnissen. Gerade die Veränderungen auf diesen Ebenen sind höchst vielgestaltig und betreffen nahezu alle Dimensionen der Organisation von Arbeit und Beschäftigung (Hausinger in diesem Band). Die schon länger vor diesem Hintergrund diskutierten Schlagwörter zur Benennung des Wandels sind die »Erosion des Normalarbeitsverhältnisses« (Sauer 2005) und die »Entgrenzung von Arbeit« (Gottschall/Voß 2005; Kratzer 2003). Damit werden Aspekte des Wandels von Arbeit benannt, die mit einer im Zuge systematischer Flexibilisierung oder Deregulierung sich einstellenden Ausdünnung (und nicht selten auch der Wegfall) über viele Jahrzehnte für die Regulierung von Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen geltenden typischen Strukturen (etwa der Arbeitszeiten) einhergehen.
Diese Entgrenzung, Flexibilisierung und Deregulierung von Arbeit fordern vor allem die betroffenen Erwerbstätigen auf neue Art und Weise. Mit dem Begriff der »Subjektivierung von Arbeit« (Moldaschl/Voß 2003) wird hervorgehoben, dass die Auflösung von begrenzenden Regulierungen von Arbeit für Beschäftigte bedeutet, immer mehr eigenverantwortlich die Organisation und den Inhalt ihrer Arbeit zu entwickeln und zu gestalten. Daraus folgt, dass die Beschäftigten verstärkt ihre gesamten persönlichen Potenziale einbringen und selbstständig mit den Auswirkungen einer sich intensivierenden und völlig neuartigen Anforderungen stellenden Arbeit fertig werden müssen.
Dieser Strukturwandel und diese (neuen) Arbeitsformen und -anforderungen zeigen zum einen Folgen für die Qualität und Professionalität von Arbeit (Voß/Handrich in diesem Band), aber auch Folgen für die Art und das Ausmaß psychosozialer Belastungen (King in diesem Band). Druck, Stress, Erschöpfungszustände und Arbeitsunzufriedenheit sind trotz Unterschieden zwischen Branchen, Berufsgruppen und Geschlechtern längst in der Masse der Organisationen und in den Führungsetagen angekommen (Haubl und Kerschgens in diesem Band). Aus immer mehr Bereichen wird berichtet, dass arbeitsbedingte Erschöpfungserkrankungen und psychische Symptomatiken (zum Beispiel das öffentlich viel diskutierte Burnout) bei Erwerbstätigen in einem steigenden Ausmaß auftreten (Schröder in diesem Band). Inzwischen liegen eine große Zahl von wissenschaftlichen Studien unterschiedlichster Art vor, die derartige Folgen des Wandels der Arbeit untersucht und dokumentieren haben (Keupp/Dill 2010; Lohmann-Haislah 2012; Schröder/Urban 2012; DGB-Index 2013; Voß/Weiß 2013). Parallel wird dieses Thema auch von Beobachtern mit allgemeiner gesellschaftlicher Perspektive aufgegriffen und breit diskutiert. Zeitdiagnostische Begriffe, wie das »erschöpfte Selbst«, die »erschöpfte Gesellschaft« (etwa Ehrenberg 2011a, 2011 b; Neckel/Wagner 2013) oder die »Müdigkeitsgesellschaft« (Han 2010) finden große öffentliche Aufmerksamkeit.
Der Anstieg der Belastungen und psychischen Erkrankungen sowie die Zunahme von Gefährdungen der psychischen Gesundheit hat aus Sicht der Herausgebenden viel mit den Arbeitsprozessen und deren stetigen Reformen und Umstrukturierungen zu tun. Die Arbeitswelten sind unsicherer, volatiler und komplexer geworden. Fragen, vor denen Mitarbeitende wie Organisationen und Einzelne wie Gesellschaft gleichermaßen stehen, lauten: Was ist das Riskante an den Arbeitswelten? Und wie kann ein adäquates Verständnis von und ein Umgang mit riskanten Auswirkungen erfolgen?
Vor dem Hintergrund der oben genannten Entwicklungen und Fragen präsentiert der vorliegende Band einen Überblick und Stellungnahmen zu möglichen Risiken oder bereits eingetretenen Folgen. Um diesen Entwicklungen und den Fragen auch in ihrer Komplexität und Verwobenheit gerecht zu werden, greift der Band unterschiedliche Perspektiven relevanter gesellschaftlicher Akteure sowie von Wissenschaftler/innen auf und stellt deren Befunde und Einschätzungen vor.
Diese Ausgangsbasis bietet in der heterogenen und kontrovers diskutierten Situation die Möglichkeit, über erforderliche wissenschaftliche und politisch-praktische Schritte nachzudenken, um so von der vereinzelten Bestandsaufnahme auf Grundlage gemeinsamer Einschätzungen zu zukünftigen Gestaltungsempfehlungen zu gelangen. Denn trotz der offenkundigen Präsenz, Relevanz und öffentlichen Aufmerksamkeit der Problematik mangelt es an Vernetzung und tragfähigen Optionen, die die Vielschichtigkeit der Arbeitswelten mit einbeziehen.
Im ersten Teil des Buchs findet sich ein Überblicksartikel zum Wandel der Arbeitsqualität in Deutschland (Gundert) sowie Kommentierungen der riskanten psychosozialen Folgen des Wandels der Arbeit aus der Sicht wichtiger Interessenpositionen bzw. von institutionellen Akteuren, die im Problemfeld aktiv sind: der Gewerkschaften, hier die IG Metall bzw. des DGB (Urban), der Krankenkassen, hier das WIdO (Schröder), und eines Berufs- und Fachverbands, hier die Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) (Hausinger). Der zweite Teil des Buches enthält weiterführende Überlegungen zu ausgewählten Themenaspekten »riskanter Arbeit« im oben genannten Sinne aus der Sicht der Wissenschaft, darunter mehrheitlich Beteiligte an den Studien Arbeit und Leben in Organisationen, die hier einzelne Aspekte wie Qualität und Professionalität (Voß/Handrich), Zeit und Identität (King), Selbstfürsorge und Gender (Kerschgens) sowie Resilienz und Organisationskultur (Haubl) herausgreifen und vertiefend erörtern.
Auch die Herausgeber dieses Bandes haben Untersuchungen (siehe Exkurs) vorgelegt, mit denen schon früh auf eine sich zuspitzende psychosoziale Situation in der sich wandelnden Arbeitswelt hingewiesen wurde. Die Befunde erfuhren eine breite öffentliche Reaktion, und sie regten weitere gesellschaftliche Diskurse und kontroverse Debatten über den arbeitsweltlichen Wandel und seine Folgen an. Es fanden mehrere Tagungen mit dem Titel »Veränderungsdynamik und deren Folgen« sowie eine Tagung mit dem Titel »Riskante Arbeitswelten« in der Evangelischen Akademie Tutzing statt. Die Tagungen waren jeweils prominent und interdisziplinär besetzt. An dieser Stelle danken wir Herrn Dr. Martin Held (Studienleiter für Wirtschaft, Nachhaltige Entwicklung an der Evangelischen Akademie Tutzing) für die langjährige, erfolgreiche und konstruktive Zusammenarbeit und den anregenden Austausch! Ebenso danken wir den zahlreichen Vortragenden und Mitwirkenden auf den Tagungen, die mit der Vielfalt ihrer Beiträge dazu beigetragen haben, zu weiteren fundierten Erkenntnissen auf der Suche nach Antworten für eine zukunftsfähige Arbeitswelt, die auch Gesundheit, Beschäftigungsfähigkeit, Anerkennung und soziale Gerechtigkeit mit bedenkt und beinhaltet, zu gelangen. Ein besonderer Dank geht an Jörg Fellermann (Geschäftsführer der DGSv), der all diese Projekte maßgeblich unterstützte und wichtige Impulse setzte. Danken möchten wir auch der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. (DGSv) für ihre Unterstützung bei der Herausgabe dieses Buches.
Exkurs: »Arbeit und Leben in Organisationen«
Da mehrere Beiträge des Bandes auf die Studien »Arbeit und Leben in Organisationen« aus den Jahren 2008 und 2011 Bezug nehmen, diese aber nicht ausführlicher vorgestellt werden, erscheinen uns einige nähere Erläuterungen zu Zielen und Anlagen der Studien erforderlich:
Die Studien wurden im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Supervision e.V. vom Sigmund-Freud-Institut (Leitung Prof. Dr. Rolf Haubl) und der Professur für Industrie- und Techniksoziologie der Technischen Universität Chemnitz (Leitung Prof. Dr. G. Günter Voß) in zwei Wellen zwischen 2008 und 2012 durchgeführt. Ziel der Studien war es, die Arbeits- und Lebensbedingungen und insbesondere die psychosoziale Situation von Mitarbeitenden in Organisationen vor dem Hintergrund sich wandelnder Arbeitsbedingungen aufzuzeigen.
Hierzu wurden Supervisor/innen auf der Grundlage ihres berufsspezifischen Zugangs zu Organisationen um ihre Einschätzung bezüglich der Veränderungsprozesse in Organisationen und insbesondere zu deren psychosozialen Folgen für die Beschäftigten gebeten. Durch die Befragung von Expert/innen kann, so eine leitende methodische Annahme, ein breites Spektrum verschiedenartiger Organisationen in den Blick genommen werden. Dabei fungieren die befragten Supervisor/innen nicht als Untersuchungsgruppe im engeren Sinne, sondern sozusagen als vermittelnde »Erhebungsinstrumente«, da sie über weitreichende Erfahrungen und Eindrücke aus vielfältigen Arbeitskontexten verfügen (ausführlicher dazu Hausinger in diesem Band).
Die Erhebungen der ersten Welle (2008–2009) basierten auf 14 themenzentrierten Intensivinterviews und zwei Gruppendiskussionen sowie einer quantitativen Online-Befragung von 3.600 Mitgliedern der DGSv (Rücklauf 28 Prozent, circa 1.000 realisierte Interviews). Die Auswahl der qualitativ befragten Supervisor/innen erfolgte danach, dass die Befragten über eine möglichst intensive Berufserfahrung sowie einen breiten Überblick über mehrere Organisationen haben sollten. Sie basiert daher nicht auf einer Zufallsstichprobe. Die erste Befragungswelle hatte zudem einen primär explorativen Charakter und war darauf angelegt, eine möglichst große Bandbreite an Eindrücken und Informationen zu gewinnen. Entsprechend der fachlichen Ausrichtung der beiden Forschergruppen bildeten arbeitspsychologische und -soziologische Schwerpunkte den Inhalt der Untersuchung. Das Spektrum der Themen umfasste Aussagen zu allgemeinen strukturellen Entwicklungen in Organisationen, zur Qualität von Arbeitsleistungen, zu professionellem Arbeitshandeln, Führungsverständnis, kollegialem Verhalten, Arbeitsbelastungen und Selbstfürsorge.
Im Rahmen der zweiten Welle (2011–2012) wurde die Anzahl der qualitativen Befragungen erhöht (30 Intensivinterviews, vier Gruppendiskussionen). Analog zur ersten Welle wurde eine quantitative Online-Befragung unter allen DGSv-Mitgliedern durchgeführt (Rücklauf 25 Prozent, circa 900 realisierte Interviews). Zusätzlich zu den Auswahlkriterien der ersten Welle wurde bei der Auswahl der qualitativ befragten Supervisor/innen das Alter sowie die berufliche Ausrichtung der Befragten gezielt berücksichtigt. Dabei wurden insbesondere jüngere Supervisor/innen zur Teilnahme aufgefordert und solche, deren Tätigkeitsfeld in Organisationen des Profit-Sektors liegt. Die Befragungen der zweiten Erhebungswelle knüpften inhaltlich und methodisch in weiten Teilen an die erste Welle an, wurden aber zusätzlich um zwei Schwerpunkte – gesundheitliche Auswirkungen steigender Arbeitsbelastungen und Strategien der Mitarbeiter/innen, sich vor diesen Belastungen zu schützen (Selbstfürsorge) und die Auswirkungen der Arbeitsbedingungen bezüglich Qualität und Professionalität der Arbeit – ergänzt.
Pointierte Kurzinformationen zu den Ergebnissen der beiden Untersuchungswellen finden sich in Haubl/Voß (2009) und Forschungsgruppe (2012). Ausführliche Darstellungen enthalten die beiden Bände Haubl/Voß (Hg.) (2010) und Haubl/Voß/Alsdorf/Handrich (Hg.) (2013).
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Forschungsgruppe Arbeit und Leben in Organisationen 2011 (2012), Risikofaktoren für Arbeitsqualität und psychische Gesundheit: Aktuelle Befunde und ein erstes Fazit. Positionen 2/2012, Kassel.
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Haubl, Rolf/Voß, G. Günter (2009), Psychosoziale Kosten turbulenter Veränderungen. Arbeit und Leben in Organisationen 2008, Positionen 1/2009, Kassel.
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Haubl, Rolf/Voß, G. Günter (Hg.) (2011), Riskante Arbeitswelt im Spiegel der Supervision. Eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen spätmoderner Erwerbsarbeit, Göttingen.
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Haubl, Rolf/Voß, G. Günter/Alsdorf, Nora/Handrich, Christoph (Hg.) (2013), Belastungsstörung mit System. Die zweite Studie zur psychosozialen Situation in deutschen Organisationen, Göttingen.
Literatur
Ehrenberg, Alain (2011a), Das erschöpfte Selbst, Berlin.
(2011b), Das Unbehagen der Gesellschaft, Berlin.
DGB-Index Gute Arbeit (2013), Wachsender Psychostress, wenig Prävention – wie halten die Betriebe es mit dem Arbeitsschutzgesetz, Berlin.
Gottschall, Karin/Voß, G. Günter (Hg.) (2005, zuerst 2003), Entgrenzung von Arbeit und Leben. Zum Wandel der Beziehung von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre im Alltag, München und Mering.
Han, Byung-Chun (2010), Müdigkeitsgesellschaft, Berlin.
Keupp, Heiner/Dill, Helga (Hg.)(2010), Erschöpfende Arbeit. Gesundheit und Prävention in der flexiblen Arbeitswelt, Bielefeld.
Lohmann-Haislah, Andrea (2012), Stressreport Deutschland 2012. Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Dortmund, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
Kratzer, Nick (2003), Arbeitskraft in Entgrenzung. Grenzenlose Anforderungen, erweiterte Spielräume, begrenzte Ressourcen, Berlin.
Lohr, Karin/Nickel, Hildegard Maria (Hg.) (2005), Subjektivierung von Arbeit. Riskante Chancen, Münster.
Minssen, Heiner (Hg.) (1999), Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin.
Moldaschl, Manfred/Voß, G. Günter (Hg.) (2003, zuerst 2002), Subjektivierung von Arbeit, München und Mering.
Neckel, Sighard/Wagner, Greta (Hg.) (2013), Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Frankfurt a. M.
Sauer, Dieter (2005), Arbeit im Übergang – Zeitdiagnosen. Hamburg.
Schröder, Lothar/Urban, Hans-Jürgen (Hg.)(2012), Gute Arbeit – Ausgabe 2013, Anti-Stress-Initiativen, Impulse aus Praxis und Wissenschaft, Köln.
Voß, G. Günter G./Weiß, Cornelia (2013), Burnout und Depression. Leiterkrankungen des subjektivierten Kapitalismus oder, Woran leidet der Arbeitskraftunternehmer?, in: Neckel, Sighard/Wagner, Greta (Hg.), Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, Frankfurt a. M.
Voß, G. Günter/Wetzel, Martin (2012), Berufs- und Qualifikationsstruktur, in: Mau, Steffen/Schöneck, Nadine M. (Hg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Wiesbaden, S.80–96.
Teil I
Riskante psychosoziale Folgen des Wandels der Arbeit aus der Sicht institutioneller Akteure
Arbeitsmarktforschung
Qualität der Arbeit im Wandel
Stefanie Gundert
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt hat sich in den letzten Jahren spürbar verbessert. Seit Mitte der 1990er Jahre nimmt die Erwerbsbeteiligung in Deutschland zu (OECD 2011b), und die Arbeitslosenquote ist zwischen 2005 und 2011 von 11,7 Prozent auf 7,1 Prozent zurückgegangen (Bundesagentur für Arbeit 2012a). Dieser Aufwärtstrend wurde selbst während der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht nachhaltig gebremst. Zugleich setzt sich ein grundlegender Strukturwandel am Arbeitsmarkt fort, der bereits seit dem Ende der 1980er Jahre in Wissenschaft und Medien unter dem Stichwort »Erosion des Normalarbeitsverhältnisses« diskutiert wird. Gemeint ist der zunehmende Anteil so genannter atypischer Beschäftigungsverhältnisse an der Gesamtbeschäftigung. Dazu zählen insbesondere Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung, befristete Beschäftigung und Leiharbeit. Diese Beschäftigungsverhältnisse gelten als atypisch, weil sie in einem oder mehreren Aspekten vom Normalarbeitsverhältnis abweichen, zum Beispiel von der Sozialversicherungspflicht, dem Kündigungsschutz oder der Vollarbeitszeit. Ein weiterer Trend ist die Ausweitung der Niedriglohnbeschäftigung und damit einhergehend die Zunahme von Lohnungleichheit in Deutschland.
Vor diesem Hintergrund hat sich der Fokus arbeitsmarktpolitischer Debatten verschoben, die in Deutschland unter dem Stichwort »Gute Arbeit« und international unter dem Begriff decent work geführt werden. Diskutiert werden heute nicht mehr nur Strategien zur Verringerung der Arbeitslosigkeit, sondern zunehmend auch mögliche Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität von Arbeit. So zielt auch die Lissabon-Strategie zur Schaffung von »mehr und besseren« Arbeitsplätzen in Europa (European Commission 2008) nicht ausschließlich auf Beschäftigungswachstum ab, sondern auf die Qualität der Beschäftigung: Es sollen vor allem »gute« Arbeitsplätze entstehen. Die Annahme eines Grundkonflikts zwischen Beschäftigungsqualität und -quantität wird dabei zunehmend in Frage gestellt (OECD 2011a; Antón u.a. 2012). Demnach muss eine hohe Beschäftigungsqualität nicht zwangsläufig mit niedrigen Beschäftigungs- bzw. hohen Arbeitslosenquoten erkauft werden. Ein hohes Maß an Arbeits- und Beschäftigungsqualität kann sich im Gegenteil sogar positiv auf das Arbeitskräfteangebot und die Arbeitnehmerproduktivität auswirken. Attraktive Jobs fördern die Bereitschaft zur Teilnahme am Erwerbsleben und die Motivation am Arbeitsplatz. Zudem ist eine hohe Arbeitsqualität wichtig für den Erhalt der körperlichen und seelischen Gesundheit und somit auch der Arbeitsfähigkeit von Erwerbstätigen.
Politische Forderungen nach guter Arbeit werfen allerdings die Frage auf, wie sich die Qualität von Arbeit und Beschäftigung definieren und bewerten lässt. Hilfreich ist hierbei zunächst die analytische Unterscheidung zwischen den Begriffen »Arbeitsqualität« und »Beschäftigungsqualität«, die in diesem Beitrag synonym verwendet werden (Muñoz de Bustillo u.a. 2009; Koch 2010).1 In der Beschäftigungsqualität spiegeln sich vor allem arbeitsvertraglich geregelte Aspekte der Arbeit wider, die das Wohlbefinden von Beschäftigten beeinflussen, zum Beispiel Regelungen zu Arbeitszeit, Arbeitsorganisation, Gesundheitsschutz oder Arbeitssicherheit. Auch der Anspruch auf Sozialleistungen oder Vereinbarungen über die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen gelten als Kriterien der Beschäftigungsqualität. Der Begriff der Arbeitsqualität zielt hingegen eher auf die ausgeübte Tätigkeit selbst und die konkreten Bedingungen am Arbeitsplatz ab. Zu den klassischen Indikatoren der Arbeitsqualität zählen u.a. der Grad der Autonomie am Arbeitsplatz, die Beschaffenheit der Arbeitsumgebung oder das soziale Arbeitsumfeld.
Im ersten Teil dieses Beitrags werden ausgewählte theoretische Konzepte der Qualität von Arbeit und Beschäftigung vorgestellt und gängige Erhebungsmethoden präsentiert. Der zweite Teil widmet sich den Fragen, wie sich die oben skizzierten Trends am Arbeitsmarkt und im Beschäftigungssystem auf die Qualität von Beschäftigung auswirken und in welcher Form Individuen und Gesellschaft die Folgen dieses Wandels zu spüren bekommen. Im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen dabei die Expansion des Dienstleistungssektors, die Zunahme atypischer Beschäftigung sowie die Ausweitung von Niedriglohnbeschäftigung und Lohnungleichheiten.
1.
Was ist »gute Arbeit«? Theorien, Definitionen und Indikatoren
1.1
Theoretischer Hintergrund
Welche Eigenschaften machen »gute Arbeit« überhaupt aus? Mit dieser Frage befassen sich unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, wie etwa die Arbeits- und Organisationspsychologie, Ökonomie oder Soziologie. An dieser Stelle kann nur eine Auswahl an theoretischen Überlegungen dargestellt werden, die ihren Ursprung in unterschiedlichen Theorien haben.2 Sie alle eint die Annahme, dass sich die Qualität von Erwerbsarbeit auf das individuelle körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden auswirkt.
In der modernen Arbeitsgesellschaft wird Erwerbsarbeit im Vergleich zu Arbeitslosigkeit eine gesundheitsfördernde Wirkung zugeschrieben, weil sie über die Befriedigung materieller Grundbedürfnisse hinausgehend auch der Erfüllung psychosozialer Bedürfnisse dient (Jahoda 1981; Warr 1987). Im Hinblick auf das individuelle Wohlbefinden ist die erste Funktion von Erwerbsarbeit so bedeutsam, weil der Zugang zu finanziellen Ressourcen in Konsumgesellschaften eine grundlegende Voraussetzung für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben ist. Erwerbsarbeit ist jedoch mehr als nur »Broterwerb«. Sie ist auch identitätsstiftend, da sich in der Arbeitsgesellschaft der soziale Status und die soziale Anerkennung eines Individuums maßgeblich vom Erwerbsstatus ableiten. Erwerbsarbeit stellt eine soziale Norm dar und dient deshalb auch der Selbstlegitimation (Ezzy 1993). Überdies bieten sich im Arbeitsumfeld die Möglichkeiten, soziale Kontakte und Netzwerke zu knüpfen, was dem menschlichen Bedürfnis nach sozialer Integration entspricht (Kronauer 1998; Castel 2000). Ebenfalls zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen Sicherheit, Verlässlichkeit und Autonomie bei der Lebensplanung. Die individuelle Wahrnehmung, den eigenen Lebenslauf planen und kontrollieren zu können, wird durch die Integration ins Erwerbsleben bestärkt (Fryer 1986).
Kurz gesagt: Erwerbsarbeit dient der Sicherung des Lebensunterhalts und verschafft Planungssicherheit im Lebensverlauf. Sie vermittelt Identität, Autonomie, Status, soziale Anerkennung und fördert den Aufbau sozialer Beziehungen. Dies sind selbstverständlich nicht die einzigen Funktionen, die Erwerbsarbeit erfüllt. Diese werden aber in der Literatur besonders hervorgehoben, weil sie maßgeblich zur Erklärung des positiven Einflusses von Erwerbsarbeit auf das individuelle Wohlbefinden beitragen. Aus dieser Perspektive betrachtet, hängt die Qualität der Arbeit von der Erfüllung dieser Funktionen ab, da andernfalls negative gesundheitliche Konsequenzen drohen.
Die Arbeits- und Organisationspsychologie widmet sich der Frage, welche Faktoren am Arbeitsplatz und im Arbeitsumfeld das individuelle Wohlbefinden konkret beeinflussen und in diesem Sinne die Qualität von Arbeit ausmachen. In der Stressforschung sind dazu verschiedene so genannte Anforderungs-Ressourcen-Modelle entwickelt worden (Becker 2006; Bakker/Demerouti 2007), denen zufolge die Arbeitsqualität maßgeblich von der Verfügbarkeit adäquater Ressourcen zur Bewältigung von Arbeitsanforderungen abhängt. Die Qualität von Arbeit bemisst sich an der Ausgewogenheit von Anforderungen und Ressourcen.3 Ein ausgeglichenes Verhältnis wirkt sich positiv auf das individuelle Wohlbefinden aus. Überwiegen hingegen die Anforderungen, werden diese als Belastung empfunden und es kommt zu einer Stressreaktion, die sich negativ auf das Wohlbefinden auswirken kann.
1.2
Indikatoren zur Messung der Qualität von Arbeit und Beschäftigung
Aufbauend auf den Modellen und empirischen Befunden der Arbeits(markt-)forschung wurden auf nationaler und internationaler Ebene Indikatoren der Qualität von Arbeit und Beschäftigung definiert, die mittlerweile auch in der amtlichen Berichterstattung einen festen Platz eingenommen haben. Sie erstrecken sich auf verschiedene Kerndimensionen wie zum Beispiel: Einkommen und Arbeitgeberleistungen; Beschäftigungssicherheit; Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten; Autonomie und Einfluss; Arbeitsanforderungen und -belastungen; Arbeitssicherheit; soziale Beziehungen am Arbeitsplatz sowie die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben. Die im Rahmen der europäischen Beschäftigungsstrategie definierten Laeken-Indikatoren (European Commission 2008) lassen sich diesen Dimensionen ebenso zuordnen wie der 2010 vorgestellte gemeinsame Indikatorenrahmen der europäischen statistischen Ämter und des Statistischen Bundesamts (Körner u.a. 2010). Wenngleich die wissenschaftliche Literatur zur Qualität von Arbeit immer wieder um diese Kerndimensionen kreist, bestehen zwischen einzelnen Studien dennoch zum Teil große Unterschiede hinsichtlich der Gewichtung einzelner Aspekte. Ähnlich heterogen fallen die gewählten Messmethoden aus.
Bei der Messung der Qualität von Arbeit lassen sich grundsätzlich ein »subjektiver« und ein eher »objektiver« Ansatz unterscheiden (Kalleberg/Vaisey 2005; Muñoz de Bustillo u.a. 2009). Letzterer gilt als objektiv, da die Beschäftigungsqualität aus dem Vorliegen bzw. Fehlen vorab definierter Beschäftigungsmerkmale abgeleitet wird, die relativ einfach zu erheben sind, wie beispielweise die Lohnhöhe, Länge und Lage der Arbeitszeit, die vertraglich vereinbarte Dauer des Beschäftigungsverhältnisses oder die Sozialversicherungspflicht. Die Bezeichnung als objektiv sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass in vielen sozialwissenschaftlichen Studien Personenbefragungen als Quelle solcher Informationen genutzt werden. Und selbst der Rückgriff auf administrative Datensätze garantiert nicht automatisch Objektivität im Sinne von Fehlerfreiheit. Die Indikatoren werden zum Beispiel häufig herangezogen, um so genannte Normalarbeitsverhältnisse (Mückenberger 1985) qualitativ von atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu unterscheiden.
Des Weiteren lassen sich die Relevanz von Qualitätsindikatoren oder die Qualität von Arbeit anhand der subjektiven Einschätzung der Beschäftigten selbst bestimmen. So kann im Rahmen von Personenbefragungen beispielsweise erhoben werden, welche Bedeutung die Befragten einzelnen Beschäftigungs- oder Arbeitsplatzmerkmalen beimessen,4 oder die Befragten werden gebeten, Qualitätseinschätzungen für ausgewählte Merkmale anhand von Antwortskalen vorzunehmen. Teilweise werden solche Erhebungen in große Bevölkerungssurveys integriert, beispielsweise in das deutsche Sozio-oekonomische Panel (SOEP) oder das International Social Survey Programme (ISSP). Darüber hinaus gibt es zahlreiche großangelegte themenspezifische Erhebungen, wie etwa den European Union Labour Force Survey (EU-LFS), den European Working Conditions Survey (EWCS) oder die BiBB/BAuA-Erwerbstätigenbefragung5 für Deutschland. Einen Überblick über Struktur und Inhalte der verfügbaren Studien geben Muñoz de Bustillo u.a. (2009).
Ein Beispiel für die Erhebung der Relevanz von Merkmalen der Arbeitsqualität aus der subjektiven Perspektive von Erwerbstätigen ist die Studie Was ist gute Arbeit?, die im Auftrag der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) durchgeführt wurde (Fuchs 2006). In dieser repräsentativen Befragung von mehr als 5.000 Erwerbstätigen ab 15 Jahren bewerteten die Befragten die Wichtigkeit verschiedener Arbeitsdimensionen. Auf diese Weise wurde ein Ranking der wichtigsten Kriterien guter Arbeit aus Sicht der Beschäftigten6 erstellt, an dessen Spitze Einkommens- und Beschäftigungssicherheit stehen: Die überwiegende Mehrheit der Befragten hält demzufolge ein verlässliches Einkommen und regelmäßige Einkommenssteigerungen für sehr wichtig, ebenso ein sicheres, unbefristetes Arbeitsverhältnis. Ebenfalls von hoher Bedeutung sind die Sinnhaftigkeit der ausgeübten Tätigkeit, gute soziale Beziehungen zu Kolleg/innen am Arbeitsplatz und gesunde Arbeitsbedingungen. Die Beschäftigten empfinden es zudem als sehr wichtig, bei der Arbeit ausreichend Handlungsspielraum und Einflussmöglichkeiten zu haben, etwa im Hinblick auf Arbeitstempo und Arbeitsmenge. Zugleich wird auch der Führungsqualität von Vorgesetzten ein hoher Stellenwert beigemessen. Schließlich sollte die Arbeit Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten bieten.
Wie lässt sich nun anhand der verfügbaren Datenquellen die Qualität von Beschäftigung konkret quantifizieren? Eine Möglichkeit bildet die Berechnung von Qualitätsindices. Angesichts der Mehrdimensionalität von Arbeits- und Beschäftigungsqualität liegt bei der Generierung solcher Gesamtmaße die besondere Herausforderung in der Wahl geeigneter Methoden zur Gewichtung einzelner Qualitätsdimensionen. Dafür gibt es keine Standardlösung. Die gewählte Methodik hängt neben den spezifischen Studienzielen häufig auch von praktischen Erwägungen im Hinblick auf die Datenverfügbarkeit ab. Wie Beispiele nationaler und internationaler Qualitätsindices verdeutlichen, spiegeln sich in der Methodik nicht zuletzt auch politische Entscheidungen wider. Die Indices unterscheiden sich insbesondere in ihrer Zielsetzung, der Analyseebene und dem Grad der Verdichtung.
Bekannte Beispiele sind der vom European Trade Union Institute (ETUI) entwickelte European Job Quality Index (JQI)7 oder die Decent Work Indices der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)8. Wenngleich beide Indices aggregierte Maße der Beschäftigungsqualität auf Länderebene darstellen, zielt der JQI explizit auf die Perspektive von Beschäftigten ab und basiert daher großteils auf Individual- und Befragungsdaten, wohingegen sich die ILO-Indikatoren auf länderspezifische Makrodaten stützen (zum Beispiel zu Arbeitslosenquoten, Kündigungsschutzregelungen, Sozialversicherungsausgaben). Zur Beschreibung der Qualität von Arbeit und Beschäftigung in Deutschland wird seit 2007 der auf einer repräsentativen Erhebung basierende DGB-Index Gute Arbeit9 des Deutschen Gewerkschaftsbundes und seiner Mitgliedsgewerkschaften erstellt.
Ein zentrales Motiv bei der Entwicklung von Qualitätsindices ist die verdichtete Darstellungsweise. Internationale Indices sind meist auf Länderebene mit dem Ziel, das durchschnittliche Qualitätsniveau von Arbeit in verschiedenen Ländern vergleichen zu können, zusammengefasst. Andere, weniger stark aggregierte Indikatoren erlauben die Bestimmung der Beschäftigungsqualität auf Personenebene und ermöglichen somit die Analyse von Subgruppenunterschieden, zum Beispiel zwischen Männern und Frauen oder Beschäftigten in unterschiedlichen Branchen bzw. Berufsgruppen. Die vordergründige Einfachheit der Darstellung sollte allerdings nicht über damit einhergehende Schwierigkeiten hinweg täuschen. Jedem Index liegen spezifische, meist sehr komplexe Verfahren der Erhebung, Gewichtung und Zusammenfassung zu Grunde, wodurch sich ein einfacher Vergleich unterschiedlicher Maße oder Länder verbietet. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb die Ergebnisse von Untersuchungen zur Qualität der Arbeit mitunter sehr unterschiedlich ausfallen.10
Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass eine Reihe von Kerndimensionen der Qualität von Arbeit, die nicht nur Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Definitionen sind, sondern auch aus Sicht der Arbeitnehmer eine wichtige Rolle im Hinblick auf ihre Arbeitszufriedenheit spielen, existieren. Hervorzuheben ist der Aspekt der Einkommens- und Beschäftigungssicherheit. Dass Beschäftigte dieser Dimension einen sehr hohen Stellenwert beimessen, ist wenig überraschend. Schließlich bilden eine stabile Arbeitsmarktintegration und ein sicheres Einkommen die Voraussetzung zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Aus diesem Grund wird das Kriterium der Einkommens- und Beschäftigungssicherheit im folgenden Teil dieses Beitrags im Mittelpunkt stehen.
2.
Qualität der Arbeit im Wandel – Auswirkungen struktureller Veränderungen am Arbeitsmarkt
Zu den grundlegenden Veränderungen am deutschen Arbeitsmarkt zählten in den vergangenen Jahren neben der fortschreitenden Expansion des Dienstleistungssektors die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse sowie die Ausweitung der Niedriglohnbeschäftigung. Diese Trends lassen sich mit Blick auf die Entwicklung der Qualität von Beschäftigung nicht pauschal bewerten, sondern erfordern ein differenziertes Urteil.
2.1
Qualität der Beschäftigung im Dienstleistungssektor
Seit Jahrzehnten vollzieht sich in Deutschland wie in anderen entwickelten Industrieländern ein Tertiärisierungsprozess, bei dem die relative Größe des Dienstleistungssektors zunimmt. Damit steigt auch der Anteil der Erwerbstätigen, die Dienstleistungstätigkeiten ausüben. Das Beschäftigungswachstum in Europa in den Jahren 2000 bis 2008 geht überwiegend auf die Entstehung neuer Stellen in diesem Sektor zurück (Holman/McClelland 2011). Vor diesem Hintergrund erscheint ein näherer Blick auf die Qualität von Beschäftigung im Dienstleistungsbereich geboten.
In einer Teilstudie des europäischen Forschungsprojekts Work and Life Quality in New and Growing Jobs (WALQING), gehen Holman and McClelland (2011) der Frage nach, ob die Zunahme von Arbeitsplätzen in der Dienstleistungsbranche mit einer Verbesserung der Beschäftigungsqualität in Europa einhergegangen ist. Unter Verwendung des European Working Conditions Survey (EWCS) aus dem Jahr 2005 analysieren die Autoren die Qualität von Beschäftigungsverhältnissen in 24 Ländern anhand zahlreicher Indikatoren, die sich den oben dargestellten Kerndimensionen der Qualität von Arbeit zuordnen lassen.
Die Autoren bewerten das Beschäftigungswachstum im Dienstleistungsbereich zwiespältig. Zwar zeichneten sich neu entstandene Beschäftigungsverhältnisse mit relativ hohen Qualifikationsanforderungen durch ein hohes Maß an Beschäftigungssicherheit, Autonomie, flexiblen Arbeitszeiten und guten Möglichkeiten zur beruflichen Weiterentwicklung aus. Zugleich sei diese Entwicklung aber durch einen Zuwachs an qualitativ schlechteren Jobs im Bereich gering qualifizierter Arbeit überlagert. Qualitativ hochwertige Arbeitsplätze seien vor allem in der Finanzbranche, der öffentlichen Verwaltung und dem Gesundheitssektor entstanden. Jobs von eher geringer Qualität konzentrierten sich auf Handel, Bau, Hotelgewerbe, Gastronomie und die privaten Haushalte. Im Ergebnis der Studie zeigt sich mit anderen Worten eine Polarisierung der Arbeitsqualität zwischen hoch und gering qualifizierten Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor in Europa.
In Deutschland finden sich im Dienstleistungssektor überproportional häufig Niedriglohnjobs und atypische Beschäftigungsverhältnisse (Bosch/Weinkopf 2011). Bei der Interpretation dieses Befundes ist allerdings Vorsicht geboten. Inwieweit sich daraus eine Tendenz zu qualitativ geringwertiger Beschäftigung im Dienstleistungsbereich ableiten lässt, hängt vor allem davon ab, ob diese Stellen als »prekär« – im Sinne einer Gefährdung des Lebensunterhalts der Beschäftigten – bezeichnet werden können. Mit dieser Frage befassen sich die nächsten beiden Abschnitte genauer.
2.2
Qualität atypischer Beschäftigungsverhältnisse
Auch der häufig konstatierte Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses gegenüber atypischen Beschäftigungsformen lässt sich unter dem Aspekt der Beschäftigungsqualität diskutieren. Dies erfordert zunächst eine Begriffsklärung, da unterschiedliche Definitionen von »Normalarbeitsverhältnissen« existieren, die sich nicht in allen Aspekten decken (vgl. Mückenberger 1985; Bosch 1986; Hoffmann/Walwei 1998; Keller/Seifert 2007; Wagner 2000). Häufig bezieht sich der Begriff auf nicht staatlich geförderte, sozialversicherungspflichtige, unbefristete Vollzeitbeschäftigungen außerhalb der Leiharbeit. Als atypisch gelten somit alle von diesen Kriterien abweichenden Beschäftigungsformen wie etwa Teilzeitbeschäftigung, geringfügige Beschäftigung (Minijobs), befristete Beschäftigung oder Leiharbeit.
In den vergangenen Jahrzehnten hat das Normalarbeitsverhältnis an Bedeutung verloren: Waren im Jahr 2001 noch fast 71 Prozent der Erwerbstätigen in einem Normalarbeitsverhältnis beschäftigt, lag der Anteil 2011 bei nur noch bei knapp zwei Dritteln (66,2 Prozent), wie das Statistische Bundesamt auf Basis des Mikrozensus errechnet hat (Wingerter 2012).11 Während auch heute noch 73 Prozent der erwerbstätigen Männer in einem Normalarbeitsverhältnis tätig sind, beträgt der Anteil bei Frauen nur etwa 58 Prozent. Demgegenüber hat sich der Anteil atypischer Beschäftigung vergrößert. Dies verdeutlicht Abbildung 1, die auf einer Auswertung des Mikrozensus basiert, deren spezifische Definition von Normalarbeit und atypischer Beschäftigung jedoch – vor allem im Hinblick auf die Arbeitszeit – von der obigen abweicht (Statistisches Bundesamt: Sonderauswertung des Mikrozensus vom 28.02.2013). Zur Darstellung der Entwicklung verschiedener Erwerbsformen seit Anfang der neunziger Jahre wurde ein auf das Jahr 1991 normierter Index gebildet. Ausgehend von diesem Jahr hat atypische Beschäftigung zugenommen. Der Rückgang des Normalarbeitsverhältnisses ist stark von der zunehmenden Verbreitung der Teilzeit- und der geringfügigen Beschäftigung geprägt, welche sich seit Anfang der 1990er Jahre vervierfacht hat. Dies ist einer der Hauptgründe, warum Frauen deutlich seltener als Männer in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigt sind.
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Abb. 1: Entwicklung der Erwerbsformen 1991–2011 (Index: 1991=100)
Quelle: Statistisches Bundesamt, Sonderauswertung aus dem Mikrozensus vom 28.02.2013.
Besonders intensiv wurde in den vergangenen Jahren in Wissenschaft, Politik und Medien die Debatte um befristete Beschäftigung und Leiharbeit geführt, deren Anteil an der Gesamtbeschäftigung im Zuge verschiedener Gesetzesreformen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes gestiegen ist. Dabei erweckt der Anteil an Befristungen zunächst nicht den Eindruck eines Massenphänomens. Laut Mikrozensus hatten im Jahr 2010 gut zehn Prozent aller abhängig Beschäftigten (ausgenommen Auszubildende, Soldaten sowie Wehr- und Zivildienstleistende) einen befristeten Arbeitsvertrag – 1996 waren es lediglich 6,5 Prozent (Statistisches Bundesamt: Sonderauswertung aus dem Mikrozensus vom 25.6.2012). Bei jungen Arbeitnehmern unter 25 Jahren lag der Anteil jedoch stets deutlich darüber und ist zudem besonders stark gestiegen: von knapp 14 Prozent 1996 auf 32 Prozent im Jahr 2010. Die zunehmende Bedeutung befristeter Verträge belegen außerdem Auswertungen des IAB-Betriebspanels, wonach 2011 fast die Hälfte (45 Prozent) aller Neueinstellungen befristet erfolgte. Dies war im Jahr 2001 bei weniger als einem Drittel (32 Prozent) der Fall.
Besonders drastisch fällt der Zuwachs an Leiharbeitsverhältnissen aus. Zwar ist der Anteil der Leiharbeiter an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit drei Prozent sehr gering, doch Abbildung 1 verdeutlicht das rasante Wachstum dieser Beschäftigungsform, das nur zwischen 2008 und 2009 bedingt durch die Wirtschaftskrise unterbrochen wurde. Seit 1991 hat sich der Anteil der in Vollzeit beschäftigten Leiharbeitnehmer verfünffacht. Die Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit (2013) weist für Juni 2012 mehr als 900.000 Leiharbeitnehmer aus.
Welche Schlüsse lässt die Zunahme atypischer Erwerbsformen im Hinblick auf die Qualität von Beschäftigung in Deutschland zu? Atypische Beschäftigung ist nicht per se mit prekärer Beschäftigung bzw. geringer Beschäftigungsqualität gleichzusetzen. Der Begriff Prekarität zielt häufig auf eine eingeschränkte Existenzsicherung während des Erwerbslebens und im Alter ab (vgl. Brinkmann u.a. 2006; Kraemer 2008; Bartelheimer 2011; Jürgens 2011; Klenner 2011). Auch impliziert er ein hohes Armutsrisiko. Zur Einschätzung inwiefern atypische Beschäftigung zu diesen Risiken beiträgt, sind die Lebensumstände des Einzelnen, insbesondere der Haushaltskontext, zu berücksichtigen.
»Freiwillig« ausgeübte Minijobs oder Teilzeitarbeit werden häufig als Beispiele für nicht-prekäre, formal atypische Beschäftigungsformen angeführt, die besonders bei verheirateten Müttern weit verbreitet sind. Im Rahmen des in Deutschland gängigen männlichen Familienernährer-Modells erscheinen diese Erwerbsformen – vordergründig – nicht als prekär.12 Hier wird in Paarhaushalten bei der Aufteilung von Erwerbs- und Hausarbeit dem Mann die Rolle des Hauptverdieners und der Frau die Rolle der teilzeitbeschäftigten Mutter zugeschrieben. Den Lebensunterhalt des Haushaltes sichert entweder bereits das Einkommen des Hauptverdieners oder die Kombination aus Haupt- und Zuverdienst. Allerdings findet man auch, vor allem in Ostdeutschland, einen relativ hohen Anteil unfreiwillig geringfügig oder in Teilzeit beschäftigter Frauen und Männer, die aus unterschiedlichen Gründen keine Beschäftigung mit höherem Stundenumfang aufnehmen können (Puch 2009; Wanger 2011; Klenner/Schmidt 2012). Unfreiwillige Teilzeitarbeit wird häufig als Indikator für eingeschränkte Beschäftigungsqualität gewertet, wenngleich sie ebenfalls nicht zwangsläufig auf prekäre Lebensumstände hindeutet. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Studien zu so genannten »Aufstockern«, also Personen, die zusätzlich zu ihrem Erwerbseinkommen Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (zum Beispiel Arbeitslosengeld II) erhalten. Einer Untersuchung von Dietz, Müller und Trappmann (2009) zufolge findet ein relativ großer Teil der Aufstocker – trotz hoher Arbeitsmotivation – keine Vollzeitstelle. Der Anteil der Aufstocker, die eine Vollzeitstelle suchen, ist unter kinderlosen Singles und Alleinerziehenden besonders hoch, was die Autoren der Studie als Hinweis auf Restriktionen am Arbeitsmarkt und fehlende Kinderbetreuungsangebote deuten.