Kathrin Hanke / Claudia Kröger
Heidegrab
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © LP12inch / photocase.de
ISBN 978-3-8392-4482-1
Für Piffi.
Kathrin Hanke
Für Andreas – weil das Leben mit dir voller Überraschungen ist.
Claudia Kröger
»Hühte Dich und thu kein Böses nicht,
So komstu auch nicht In s gericht«
(Inschrift auf einem Richtschwert)
Sie lag ausgestreckt auf dem Rücken. Normalerweise schlief sie ähnlich einer Katze zusammengerollt auf der Seite. In ihrem Kopf dröhnte es. Als hätte jemand von weit her einen tiefen Trompetenstoß hineingeblasen, der jetzt zwischen ihren Schädelknochen gefangen war und darin so schnell, wie es nur ein Schall vermochte, von einer Wand ihres Kopfes zur anderen geworfen wurde. Nur um ein ums andere Mal verzweifelt wieder abzuprallen, ohne den erlösenden Ausweg zu finden. Gleichzeitig schien ihr Kopf von außen in einem Schraubstock festzustecken, der übel machenden Druck auf ihre Schläfen ausübte.
Sie versuchte ihren Mund aufzusperren, in der Hoffnung, dass auf diese Weise der Trompetenstoß mitsamt der Übelkeit aus ihrem Schädel strömte. Es gelang ihr nicht. So sehr sie ihre Lippenmuskeln auch einsetzte, sie wollten sich nicht bewegen.
Nur langsam, erschwert durch das Dröhnen in ihrem Hirn, erkannte sie, dass ihre Lippen versiegelt waren. Versiegelt von einem fest haftenden Klebeband, das an ihren feinen Gesichtshärchen zerrte, wenn sie ihre Lippen um einen Millimeter spielen ließ. Sie konnte den Leim schmecken, der sich mit einem anderen eigentümlichen Geschmack in ihrem trockenen Mund mischte, den sie jedoch nicht einzuordnen wusste. Sie versuchte ihre Hand zu heben, um ihren Mund zu befreien, doch ihre Arme lösten sich nicht von ihrer Unterlage. Wie sie ihre Lippen nicht öffnen konnte, so ließen sich auch ihre Arme nicht anheben. Zwar fühlte sie die Kraftanstrengung ihrer regelmäßig im Fitnessstudio gestählten Muskeln, aber ihre Arme blieben liegen, wo sie waren.
Panik stieg in ihr hoch. Trotz des Klebebandes war es ihr möglich, auszuatmen, das Atemloch schien aber zu klein, um die Übelkeit – geschweige denn das Dröhnen ihres Kopfes − daraus zu entlassen.
Mit nach wie vor geschlossenen Augen tasteten ihre Sinne ihren Körper weiter ab. Auch auf ihrem Nasenrücken lag etwas auf, das sich einmal um ihren gesamten Kopf wand und nicht abschütteln ließ. Zweimal versuchte sie es. Für ein drittes Mal war sie zu schwach. Außerdem hatte das Kopfschütteln tausend kleine Zwerge, die in ihrem rechten Ohr zu sitzen schienen, wachgerüttelt. Zunächst etwas verschlafen wurden sie jetzt munterer und meißelten in ihrer Ohrmuschel herum, als gäbe es dort pures Gold zu finden. Begleitet wurde die Zwergenarbeit von regelmäßigen tiefen Paukenschlägen, die ihr Trommelfell zum Pochen brachten, sodass es zu zerspringen drohte.
Die Panik hatte nun vollends von ihr Besitz ergriffen, und ihr Herz bummerte wild, als wolle es einen Hundertmeterlauf gewinnen.
Was war mit ihrem Ohr los – und was war das für ein Ding auf ihrer Nase?
Eine Sauerstoffmaske vielleicht?
Hatte sie einen Unfall gehabt und erwachte gerade in einer Klinik? Oder war das Ganze nur ein mieser Albtraum?
Sie hatte oft Albträume, doch drehten sich diese meist um Babys, die anstelle von Rasseln scharfe Fleischermesser in ihren Fäustchen hielten und sie verfolgten. Wie kleine Racheengel sahen diese Babys aus. Manchmal auch wie Chucky, die Mörderpuppe. Normalerweise waren diese Träume jedoch nie so real wie dieser. Sie wusste dann stets, dass sie in einem Traum gefangen war, jetzt war sie sich nicht sicher.
Mach einfach die Augen auf, und alles ist gut, schoss es ihr durch den schmerzenden Kopf, und das Dröhnen verstärkte sich, obwohl der Gedanke allerhöchstens eine Zehntelsekunde durch sie hindurch gewandert und in ihrem pochenden Ohr hängen geblieben war.
Widersinnigerweise kam ihr in diesem Moment ihr mechanisches Kopfmassageteil in den Sinn, das aussah wie ein Handquirl, dessen Stäbe auseinandergebrochen sind. Oder wie eine mutierte Spinne mit dünnem Körper und vielen, viel zu langen Armen, die mich gefangen halten, einlullen, um mich besser in die Netzspeisekammer tragen zu können, wo ich darauf warten muss, ausgesaugt zu werden, dachte sie voller Grauen. Ein Schauer durchrieselte ihren Körper.
Aufwachen, wach endlich auf!, schrie alles in ihr, und mit einem angestrengten Ruck öffnete sie die Augen.
Was sie sah, war nichts.
Weiterhin absolute Dunkelheit.
Hatte sie die Augen gar nicht geöffnet?
War sie nach wie vor in ihrem Albtraum gefangen?
Oder war sie tatsächlich ein Unfallopfer und lag jetzt im Koma?
Sie hatte hier und da etwas über Komapatienten gelesen, die daraus erwacht waren und von ihrer Zeit der Abwesenheit aus dem eigentlichen Leben berichtet hatten. Besonders gut konnte sie sich allerdings nicht erinnern. Hatten diese Menschen von einer undurchdringlichen Dunkelheit erzählt, die sie in diesem Moment umgab? War da nicht eher von einem hellen Licht die Rede gewesen, das so lockend war, dass man ihm entgegeneilen wollte? Oder waren das die Berichte von Menschen gewesen, die dem Tod ins Auge geschaut hatten? Sie wusste es nicht mehr.
Sie versuchte, ihre Beine zu bewegen. Was war mit ihren Beinen? Sie spürte sie genauso wie ihre Arme, obwohl sie sie nicht auseinanderspreizen konnte – ihre Füße schienen an den Fesseln wie siamesische Zwillinge miteinander verbunden zu sein.
War sie gelähmt?
Hatte der Unfall, von dem sie inzwischen fest ausging, ihr Rückenmark durchtrennt?
Anwinkeln konnte sie die Beine. Also konnte sie die Befürchtung einer Lähmung beiseiteschieben. Aber was war dann mit ihr?
Langsam zog sie ihre Knie hoch, doch sie wurden abrupt gestoppt. So sehr sie sie weiter anziehen wollte, es ging nicht. Da war irgendein kalter, ebenmäßiger Widerstand. Eine Decke, ja, das war es: eine niedrige Decke aus glattem, massivem Holz. War Holz so kalt? Es konnte auch Stahl oder ein ähnliches Material sein. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass etwas ihre Beine stoppte. Lag sie etwa immer noch unter dem Auto, das sie vermutlich überfahren hatte, und nicht sicher in einem Krankenhausbett? Aber dann wäre die Decke über ihr nicht so glatt und kalt … Und warum konnte sie das überhaupt so genau an ihrer Haut spüren?
Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nackt sein musste.
Erneut breitete sich Panik in ihr aus. Ihr Herz begann wild zu hämmern, sodass sie es bis in den Hals spürte. Kalte Angst schnürte ihr obendrein die Kehle zu.
Wo war sie?
Warum kam ihr niemand zu Hilfe?
Die Erkenntnis schlug ein wie der unvorhergesehene Stich einer Wespe: Sie war tot, oder zumindest tot geglaubt, und lag gefangen in einem Sarg.
»In frühester Zeit war das Abschneiden der Ohren eine Strafe für Knechte, denn sie beließ diesem die volle Arbeitskraft. Im Mittelalter war Ohrenabschneiden häufig mit der Landesverweisung verbunden. Bei Diebstahl war es Strafe und zugleich Kenntlichmachung. Auch bei Gotteslästerung und Tragen verbotener Waffen fand diese Strafe Anwendung. Meist wurde nur ein Ohr, häufig aber auch beide abgeschnitten. Die alten Gerichtsurteile lassen erkennen, daß es sich um eine meist an Frauen vollzogene Strafe gehandelt haben muß. Verhältnismäßig selten wurde sie an Männern vollzogen. Die Ursache dafür mag darin liegen, daß man Männer bei Diebstahl henkte. Das Ohrenabschneiden war, da es ja nur geringen körperlichen Schaden zurückließ, eine Strafe, die dem Missetäter als Warnung dienen sollte, künftig ein ordentliches, den Gesetzen entsprechendes Leben zu führen.«
(aus: Gustav Radbruch, Heinrich Gwinner: Geschichte des Verbrechens, Die Andere Bibliothek, Frankfurt am Main 1990)