Titel

Hildegunde Artmeier

Katzenhöhle

Der dritte Lilian-Graf-Krimi

Impressum

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Sollte es trotzdem Übereinstimmungen geben,

so würden diese auf jenen Zufällen beruhen,

die das Leben schreibt.

 

 

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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1. Auflage 2005

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von photocase.de

Gesetzt aus der 10,2/13 Punkt Stempel Garamond

ISBN 978-3-8392-3188-3

 

 

 

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Widmung

Für Fanny und David, zwei kleine Sterne am Himmel

 

 


1

Sie wusste nicht, wie lange sie noch hier bleiben würde. Auf jeden Fall nicht für immer, das hatte sie schon als Kind gespürt – vielleicht eine Woche oder zwei oder auch länger. Im Augenblick tendierte sie eher zu letzterem. Die Wohnung gefiel ihr, auch wenn sie die drei Zimmer anders gestaltet hätte, mit mehr Eleganz, Esprit und vor allem ohne die vielen Statuen in diesen widerwärtigen Stellungen. Was fand Lena bloß daran? Erotisch sollten sie sein, so genannte Akt-Studien. Stattdessen waren sie einfach nur vulgär. Da trieben es Männer und Frauen von hinten, vorne, oben und unten, sogar von seitwärts miteinander.

Sie knotete den Bademantel zu und begutachtete eine der Skulpturen genauer. Es war eine etwa 40-cm-große, massive Plastik aus Carrara-Marmor. Wo Lena die wohl her hatte? Von einer der Auktionen, die sie heimlich besuchte, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wie man einem verborgenen Laster frönte? Die feinen, rötlichen Adern zauberten Leben in die blassen Arme und Schenkel aus Stein, die sich so eng umschlangen, als ob sie nie wieder voneinander lassen könnten. Die Köpfe waren ohne Gesicht. Was zählte, waren die Leiber, dem ewigen Spiel zwischen den Geschlechtern verfallen, voller Hingabe und ohne einen Gedanken an das Danach. Ob diese beiden wussten, was sie am nächsten Tag erwartete? Oder in ein paar Wochen, Monaten? Ob sie jetzt schon an die endlosen Streitereien dachten, die zu jeder Beziehung gehörten – ebenso wie Verlangen und Lust? An die ermüdenden Vorhaltungen, an falsche Träume und Erwartungen? Sicher nicht, sonst hätten sie sich nicht so leidenschaftlich aneinander geschmiegt, ineinander versunken, für immer.

Angeekelt wandte sie sich ab. Sie hatte nicht die geringste Absicht, ausgerechnet jetzt über dieses lästige Thema nachzudenken. Schließlich war sie deshalb hierher gekommen: um Ruhe zu finden. Weg mit den dummen Gedanken, die plagten sie ohnehin viel zu oft – und raubten ihr die Energie. Wie lange würde sie dieses Mal brauchen, um sich wieder zu fangen? Oder gar, um sich für neue Wege zu entscheiden? Schließlich weiß niemand, was der Morgen bringt.

Ein paar Tropfen Wasser sammelten sich auf dem Teppich, sie hatte sich nicht sorgfältig genug abgetrocknet. Die Entspannung in der Badewanne hatte ihr gut getan. Es war ihr sogar gelungen, die Auseinandersetzung mit Lena zu verdrängen. Aber jetzt perlten die Erinnerungen daran wie das ölige Wasser über ihre Haut und suchten nach einer Öffnung, in die sie ungehindert eindringen konnten. Auf einmal bezweifelte sie, ob es eine so gute Idee gewesen sei, ausgerechnet bei Lena Schutz zu suchen.

Ein Luftzug streifte sie. Sie hatte das Fenster im Bad offen gelassen – das musste sie noch zumachen, bevor sie zu Bett ging. Sie war zwar nicht in Berlin oder London, nur in Regensburg. In diesem Kaff gab es bestimmt nicht einmal halb so viele Gelegenheitseinbrecher wie anderswo. Vorher aber würde sie sich einen Whisky genehmigen. Darauf freute sie sich schon den ganzen Abend. Ach was, den ganzen Nachmittag, seit den zwei Gläsern nach dem Mittagessen.

Sie ging zur Glasvitrine und goss sich großzügig ein Glas voll. Das bernsteinfarbene Gold funkelte verheißungsvoll in dem dickwandigen, milchig gewordene Trinkrelikt aus früheren Tagen. Lena hatte es bei ihrem Auszug von zu Hause mitgenommen, gegen den Rat der Mutter, die das Pressglas am liebsten zum Entrümpeln gegeben hätte. Aber so war Lena: Sie hielt an allem fest, was alt und vergangen war. Egal ob an Dingen, Menschen oder Gefühlen. Schon immer hatte sie sich gegen das Neue gesperrt, gegen Veränderungen und Wagnisse. Kein Wunder, dass sie es nicht zu mehr als zu dieser einfachen Wohnung gebracht hatte, voll gestopft mit ungelebten Träumen und Sehnsüchten nach Abenteuern, die sie nie erleben würde.

Entschlossen setzte sie sich so auf die Couch, dass sie die Marmorskulptur mit dem seitwärts kopulierenden Paar nicht mehr sehen konnte. Solche unnützen erotischen Phantasien überließ sie lieber Lena. Ihr Blick fiel auf die gelben Rosen auf der Holzkommode. Was für ein kluger Schachzug, Lena ausgerechnet diese Blumen mitzubringen ... Obwohl sie nicht mehr daran denken wollte, grübelte sie wieder darüber nach, wie die Verrenkung dieser Zwei in der Praxis überhaupt möglich sein sollte. Oder versteckte sich hinter Exzessen wie diesem die schöpferische Freiheit eines durchgeknallten Bildhauers, der im Drogenwahn nicht mehr wissen konnte, wozu der menschliche Körper fähig war? Sie wusste genug über die Anatomie des Menschen, um sich ein Urteil erlauben zu dürfen.

Sie trank einen großen Schluck. Das war wirklich etwas Besonderes – ungestört trinken zu können. Allein deshalb hatte es sich gelohnt, diese Reise auf sich zu nehmen. Das Reisen an und für sich war etwas Alltägliches für sie, doch sonst waren die Umstände anders. Genießerisch nippte sie ein zweites Mal von dem verbotenen Nass. Betörend und herb zugleich sickerte es durch ihre Kehle und erwärmte ihren Bauch nach dem ausgiebigen Bad jetzt auch von innen. Außerdem übertönte es den Hunger. Diesen ständigen Hunger, an den sie sich wohl nie gewöhnen würde. Obwohl es eine Selbstverständlichkeit war, so wenig wie möglich zu essen. Sogar jetzt, wo es nicht zählte und sie nach Herzenslust hätte schlemmen können.

Sie fing zu kichern an – wenn Larissa sie jetzt sehen könnte. Was für ein Vergnügen es doch wäre, über ihr dummes Gesicht zu lachen. Sollte sie Larissa anrufen und ihr anschaulich schildern, was sie sich eben leistete? Besser nicht, das Telefonat von gestern hatte ihr gereicht. Allerdings hätte sie gerne mit Ced gesprochen, vielleicht sollte sie sich bei ihm melden? Nein, keine gute Idee. Sie brauchte Abstand. Er hatte sie so tief verletzt wie noch niemand vor ihm. Trotzdem wusste sie, dass er bald angekrochen käme, wenn sie ihm nur die Gelegenheit böte. Lang würde er es nicht aushalten, ohne sie. Wie sollte er auch – sie war das Beste, was ihm je begegnet war.

Der Alkohol beschwingte und beruhigte sie. Sie fühlte sich losgelöst. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich gewünscht, sich genau so leicht zu fühlen wie jetzt. Wenn sie nur gewusst hätte, wie einfach das war. Diese endlosen Stunden schwerer Arbeit, in denen sie sich beharrlich darin geübt hatte, wie eine Feder durch den Raum zu schweben – was für eine ermüdende Aufgabe. Das Einzige, was ihr gelungen war, war, ein Trugbild zu erschaffen, für andere. Hatte sich diese Mühsal gelohnt? Hatte sie ihr Ziel erreicht?

In einem Zug leerte sie das Glas. Taumelnd stand sie auf und wankte zur Glasvitrine. Ihre Finger zitterten, als sie das Gefäß erneut bis zum Rand füllte. Sie verschüttete etwas von der funkelnden Flüssigkeit, aber sie kümmerte sich nicht um die Flecken auf Lenas Teppich. Etwas fehlte ihr. Natürlich: Musik! Die Auswahl der CDs war nicht berauschend. Doch schließlich fand sie etwas nach ihrem Geschmack und legte Mozarts Requiem in den CD-Player ein. Die düstere Musik passte zu ihrer Stimmung. Was wäre Lenas Kommentar, wenn sie morgen von Nürnberg zurück käme? Würde die sie an die Luft setzen, weil sie dem Whisky wieder nicht hatte widerstehen können? Nein, das würde sie nie wagen. Da gab es einfach zu viel, was sie verband. Immer noch und für immer.

Sie schloss die Augen und fing an, sich an ihren Traum heranzutasten, den sie sich für Momente wie diese bewahrte. Er verzauberte sie und machte sie gleichzeitig unsagbar traurig – und doch würde sie ihn nie aufgeben, so lange sie lebte. Jetzt konnte sie die beiden schon sehen, wie sie über die blühende Wiese am Waldrand liefen, wo sie nach ihren Bäumen suchen würden, für jede den Richtigen. Sie rannten und rannten, die eine fing die andere, sie lachten und prusteten. Ihre jungen Körper wälzten sich im Gras, die Gesichter glänzten vor Schweiß und Übermut. Vorwitzig tasteten sich die Sonnenstrahlen über zerzauste Haarsträhnen und brachten etwas Glanz in das stumpfe Braun. Das Schönste aber waren diese zarten Hände, die sich umfingen, als ob sie auf ewig zusammen gehörten, untrennbar ...

Ein Geräusch ließ sie auffahren. War Lena schon wieder zurückgekommen? Hatte sie etwas vergessen? Oder suchte sie eine klärende Aussprache anstelle von Vorwürfen und neuen Worten voller Hass?

Sie wollte sich zur Tür umdrehen. Doch sie war nicht schnell genug. Der Schlag traf sie mit solcher Wucht am Kopf, dass sie sofort auf dem Sofa nieder sank. Ihr blieb keine Zeit mehr. Nicht einmal so viel, um verstehen zu können, dass dies das Letzte war, was sie spüren sollte.

 

Hanna sah aus, als sei sie in reinstes Gold getaucht: Die tizianroten Locken schlangen sich wie ein glühender Lichterkranz um den Hinterkopf, dazu ein ockerfarbenes, mit glitzernden Fäden durchwobenes Kleid. Das hatte Lilian noch nie gesehen, es musste neu sein. An den Augen und am Dekolleté schimmerte Goldpuder. Und sogar in Hanna selbst schien etwas zu flackern – als ob eine Sonne in ihrem Inneren leuchtete.

Lilian Graf, Kriminaloberkommissarin bei der Kripo Regensburg, war wie geblendet. Krampfhaft blätterte sie in der Fernsehzeitung auf ihrem Schoß, um die Freundin nicht dauernd anstarren zu müssen. Am liebsten wäre Lilian aufgesprungen und hätte sich auch so schön zurecht gemacht. Ein Abend im Theater – wie verführerisch. Und doch freute sie sich auf die paar gemütlichen Stunden zu Hause. Endlich einmal konnte sie so lange vor dem Fernseher sitzen, wie sie wollte, ohne gestört zu werden. Die Kinder – ihre Tochter Miriam und Hannas Sohn Tobias – lagen schon im Bett. Man hörte sie noch tuscheln. Wahrscheinlich erzählten sie sich eine Gruselgeschichte nach der anderen, bis ihnen vor Müdigkeit die Augen zufielen. So würden sie Lilian wenigstens nicht in die Quere kommen.

»Toll siehst du aus, Hanna. Was schaut ihr an?«

»›Was ihr wollt‹, von Shakespeare, soll total gut sein.«

»Dann mal viel Spaß. Sag Viktor einen schönen Gruß, er soll gut auf dich aufpassen.«

»Mach ich. Aber aufpassen kann ich schon selber auf mich!«

Hanna Freileben drückte Lilian einen Kuss auf die Wange und klemmte die perlenbestickte Abendtasche unter den Arm.

»Ich muss los. Schätze mal, es wird später. Vielleicht gehen wir nach dem Theater noch irgendwo was trinken. Ciao!«

Trotz der filigranen Stöckelschuhe, die Hanna erst vor zwei Tagen gekauft hatte, schaffte sie es, wie ein Wirbelwind aus dem Raum zu fegen. Als die Haustür mit einem schwungvollen Knall ins Schloss fiel, lag der Duft ihres neuen Parfüms noch in der Luft.

Lilian durchforstete weiter das Fernsehprogramm. Irgendetwas an Hanna war anders gewesen. Diese atemlose Art sicher nicht, die hatte sie oft. Eher diese Sorgfalt, die sie auf Kleidung und Make-up verwendet hatte. Natürlich war sie froh, einen Abend auswärts zu verbringen anstatt nur zuhause vor dem Schreibtisch, wo sie oft bis spät in die Nacht französische und spanische Texte übersetzte. Heute konnte sie am Leben draußen Teil nehmen, die erwartungsvollen Gesichter im Theatersaal beobachten, bei einem Glas Sekt in der Pause mit dem einen oder anderen Bekannten flirten. Viktor würde ihr zwischendurch mit einer seiner Geschichten die Zeit vertreiben. Eigentlich war Viktor Wannsee mit seinen 53 Jahren ein langjähriger Freund von Lilians Vater. Inzwischen war er aber für Lilian selbst zu einem so engen Vertrauten geworden, dass er aus ihrem Leben nicht mehr wegzudenken war. Auch mit Hanna verstand er sich gut. Die beiden Frauen waren allein erziehend und lebten gemeinsam mit ihren Kindern in einem Altbauhaus in Regensburg. Heute allerdings waren die beiden schon zum dritten Mal unterwegs – und das in den letzten vier Wochen. Lilian hatte mitgezählt. Denn sie selbst wäre auch gerne mal wieder mit ihm ausgegangen.

Nach fünf Minuten wusste sie immer noch nicht, was in welchem Programm lief. Also legte sie die Fernsehzeitung beiseite und schaltete den Fernseher an. Auf einem Sender erschütterte irgendein weiterer Lebensmittelskandal die deutschen Gemüter, von BSE sprach schon lange kein Mensch mehr. Zwei Kanäle weiter ging es um die aktuellste Spendenaffäre in hohen Politikerkreisen. Die Namen waren unwesentlich, das Prinzip dafür altbekannt. Auf einem anderen Sender diskutierten Teilnehmer einer Talkrunde, welche negativen Auswirkungen die in Deutschland geltenden Exportverbote auf das Bruttosozialprodukt und so auf den nicht absehbaren, doch dringend erwarteten Wiederaufschwung der deutschen Wirtschaft hätten. Jeder wusste mehr als die anderen und drückte das in möglichst klugen und möglichst verschachtelten Sätzen aus. Ein Diskussionsteilnehmer wies in erstaunlich klaren Worten darauf hin, wie lasch die Einhaltung der bestehenden Gesetze gehandhabt würde. Schließlich sei es eine Tatsache, dass sich viele deutsche Firmen über die Außenhandelsbeschränkungen bewusst hinweg setzten – und das schon seit Jahren. Immer wieder gäbe es schwarze Schafe, die Waffensysteme oder Zubehör für Giftgasanlagen an extremistische Länder verkauften, zwar ohne Genehmigung des Bundesausfuhramtes, aber trotzdem.

Gelangweilt schaltete Lilian weiter. Musikclips, Werbung, Container- und Realityshows: Brot und Spiele für alle. Es hatte sich noch nichts geändert, seit die Römer die keltischen Lande verlassen hatten. Und wo gab es den heißersehnten Feierabend-Spielfilm? Sie suchte irgendeine Schnulze von Anno dazu mal, zumindest Brad Pitt oder Jonny Depp, wenn schon Robert Redford und Humphrey Bogart nicht über den Bildschirm flimmerten. So hatte sie sich diesen freien Abend wirklich nicht vorgestellt. Resigniert drückte sie weiter. Die Klänge einer bizarren Musik ließen sie innehalten: dumpfe Trommelschläge, übertönt von eigenartig klingenden Violinen. Dazu tanzte eine Frau. Ein rauchfarbener Anzug klebte an ihr wie eine zweite Haut und ließ sie zart und zerbrechlich erscheinen. Hüftlange, schwarze Haare umfluteten sie wie ein dichtes Fell, in dem rote Strähnen aufblitzten und den Betrachter irritierten. Mit langsamen, ausdrucksstarken Bewegungen nahm die Tänzerin den ganzen Raum des Bühnenbildes ein. Auch das verwirrte auf den ersten Blick: Boden, Wände und Unmengen von schleierartigen Tüchern leuchteten in einem satten Orange. Jetzt wurden die Musiktöne lauter und wilder, und in gleicher Weise veränderte sich auch der Tanz. Die Frau sprang ausgelassen von einem Eck ins andere, schlug um sich, schnellte hier hin und dort hin. Ihre Haare peitschten über den Boden, sie schien zu fliegen.

Fasziniert beobachtete Lilian die ungewöhnliche Ballettinszenierung. Es war eine Übertragung aus dem London Royal Theatre von Ende Januar. Der Reporter, der die Vorführung kommentierte, konnte seine eigene Verblüffung nicht verbergen. Seinen Worten zufolge handelte es sich um ein sehr umstrittenes Projekt, das ein erfolgreicher, als eigenwillig bekannter Ballettintendant inszeniert hatte. Der Künstler stammte aus Schottland und lebte seit einigen Monaten mit der Tänzerin zusammen. Das Musikstück war von einem zeitgenössischen Komponisten, dessen Namen Lilian unbekannt war. Sie war sich sicher, dass diese Aufführung sehr unterschiedliche Reaktionen bei Zuschauern und Kritikern hervorrufen würde. Genauso war es: Als der Vorhang fiel, mischten sich auch unwillige Stimmen unter die begeisterten Jubelrufe aus dem Publikum. Jetzt betrat der Maestro selbst die Bühne und nahm die Hände der schwer atmenden Balletttänzerin souverän in die seinen. Mit seinen langen, schneeweißen Haaren und dem schmalen Gesicht erinnerte er eher an einen intellektuellen Existenzialisten als an einen Ballettdirektor. Sein durchtrainierter Körper, der unter dem eleganten Anzug nicht ganz verborgen blieb, zeugte aber davon, dass der Mann bei praktischen Aspekten der Choreographie durchaus wusste, wovon er sprach. Er war ungewöhnlich groß, wodurch die Frau neben ihm noch graziler und winziger wirkte. In perfekter Manier verbeugten sich beide vor dem Publikum. Es war ihnen nicht anzusehen, ob die zwischendurch deutlich hörbaren, entrüsteten Rufe aus den Zuschauerreihen sie verunsicherten.

»Was für ein Paar!« Der Reporter klatschte begeistert in die Hände. »Wenn man Cedric Ormond und seine Lieblingsdarstellerin Mira Scheidt so einträchtig nebeneinander sieht, kann man gar nicht glauben, dass an dem Gerücht von ihrer Trennung etwas dran ist. Allerdings rätselt man in Bühnenkreisen darüber, warum sich die kapriziöse Primaballerina seit ihrer letzten Aufführung nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt hat. Ob sie wohl genug hat von Cedric Ormonds amourösen Abenteuern mit diversen Ballett- und Theatersternchen, wie es ihr die bösen Zungen nachsagen? Ihre Agentin weist solche Spekulationen allerdings entschieden von sich.«

Gerade betrat erwähnte Agentin mit strahlender Miene die Bühne und überreichte der Tänzerin einen Blumenstrauß. Das zarte Gesicht der jungen Frau verschwand hinter einem Meer aus gelben Rosen, dem Reporter zufolge die Lieblingsblumen der aus Deutschland stammenden Balletttänzerin. Lilian war sicher, dass sie den Namen der Ballerina schon einmal gehört hatte. Sie glaubte sogar, die Frau selbst in einem anderen Ballettstück gesehen zu haben. Aber in welchem? Auf jeden Fall in einem klassischen, vielleicht in ›Schwanensee‹ oder im ›Nussknacker‹. Wie ein Engel war sie über die Bühne geschwebt und hatte in Lilian Erinnerungen an die Ballettsäle ihrer Kindheit geweckt. Fast hatte sie gedacht, die unerbittliche Stimme ihres eigenen Ballettlehrers wieder zu hören: »Un, deux, trois ... Knie durchdrücken! Auf die Haltung achten! Lilian, zieh den Bauch ein! Und lächeln! Nicht wie ein Pferd – wie eine Elfe! Nimm dir ein Beispiel an Helena!« Lilian hatte immer gewusst, dass sie niemals so leichtfüßig wie die zierliche Helena sein würde, von einer Elfe ganz zu schweigen. Dafür sorgten nicht nur die paar Kilos zuviel sondern auch die zusammengezogenen Augenbrauen ihrer Mutter, die sie während der Stunde immer genau beobachtet hatte. Selten hatten sich ihre Gesichtszüge entspannt und die Augenbrauen sich geglättet.

Frustriert drückte Lilian auf die Fernbedienung. Aber das Programm war so nervtötend wie immer: eine Talksendung, eine ›Wie-gewinne-ich-meine-erste-Million-Show‹, wieder Werbung. Am besten, sie machte den Kasten gleich ganz aus und nie wieder an. Als das Telefon zu läuten anfing, empfand sie das als willkommene Abwechslung.

 


2

Eine halbe Stunde später saß Lilian im Auto. Sie hätte zu Fuß gehen können, denn der Fundort der Leiche war ganz in der Nähe. Aber bei diesem matschigen, nasskalten Februarwetter nahm sie lieber den Wagen. Sie hatte Hannas Mutter angerufen, die bei organisatorischen Engpässen als Babysitter aushalf.

Lilians Ziel war ein Mehrparteienhaus mit Eigentumswohnungen in der Nähe des REZ, dem Rennplatz-Einkaufszentrum in Regensburgs Westen. Als einziges sechsstöckiges Gebäude überragte es alle anderen Häuser. Es war in einem kräftigen Dunkelrot gestrichen. Im Dunkeln konnte man das zwar nicht erkennen, aber Lilian kannte die Gegend. Erst gestern Morgen war sie hier vorbei gejoggt. Da hatte es zu regnen angefangen, und sie hatte sich furchtbar geärgert, nicht doch die Jacke mit der Kapuze angezogen zu haben. Zu allem Überfluss war dann auch noch ein schwarzer BMW so knapp an ihr vorbei gefahren, dass der graue Schneematsch vom Straßenrand bis zu den Oberschenkeln an ihr hochgespritzt war.

Lilian parkte auf einem Seitenstreifen hinter ein paar Mülltonnen. Genau, die Tonne – die musste sie noch rausstellen, wenn sie wieder nach Hause kam. Morgen war Ausleertag. Die Müllabfuhr tauchte immer ziemlich bald auf, da blieb ihr in der Früh keine Zeit mehr.

Sie stieg aus, schlüpfte in einen der weißen Schutzanzüge aus Plastik, die sie immer im Kofferraum hatte, steckte Handschuhe und Schuhüberzüge ein und ging in Richtung Haus. Vor dem Eingang hatte sich eine kleine Menschenansammlung gebildet, dank Kranken- und Streifenwagen. Auf einmal stolperte Lilian. Im Licht der Straßenlaterne sah sie etwas auf dem Gehsteig liegen. Sie bückte sich. Es war eine weiße Kappe aus Plastik mit einem Schraubverschluss, mit einem Durchmesser von etwa drei Zentimetern, vielleicht ein Deckel für ein Duft- oder Medizinfläschchen. Sie roch daran. Nein, kein Parfum. Also Medizin – bei diesem miesen Wetter brauchte man ständig irgendwelche Mittelchen gegen alle möglichen Krankheitserreger. Im Weitergehen warf Lilian die Kappe in eine der Mülltonnen, aus der diese beim Aufstellen heraus gefallen sein musste.

An der Eingangstür zeigte sie dem dort postierten Beamten ihren Ausweis. Die Wohnung war gleich die erste links im Erdgeschoss. Sie hätte sie gar nicht verfehlen können, denn die Tür stand weit offen. ›Lena Zolnay‹ stand auf dem Namensschild.

In der Wohnung begegnete Lilian zuerst Peter Kuhnert. Er arbeitete beim Kriminaldauerdienst, einer speziellen Einrichtung der Regensburger Polizei, die an Sonn- und Feiertagen und unter der Woche nach Dienstschluss aktiv wurde. Wie immer sah er furchtbar müde aus. Da Lilian ihn auch von der privaten Seite kannte – an dem einen oder anderen Wochenende drehten sie eine gemeinsame Laufrunde an der Donau oder um den Baggersee hinterm Westbad – wusste sie, dass er seit einiger Zeit mit einem chronisch wiederkehrenden Magengeschwür zu kämpfen hatte. Vor drei Wochen war er ins Krankenhaus eingeliefert worden, wo man ihn stationär behandelt hatte. Er musste starke Medikamente nehmen, bestimmt hatte er noch Schmerzen. Lilian war ihm nicht böse, dass er sie um diese Uhrzeit angerufen hatte.

»Tut mir Leid, Lilian, dass ich dich rausgeklingelt hab. Heut ist es wie verhext: Zwei Kollegen sind bei einem Suizid in Cham, zwei bei einem Totschlag in Neumarkt, einer ist krank ...«

»Und du sollst das hier ganz alleine machen. Ist schon okay, im Fernsehen läuft eh nichts. Wie geht’s dir sonst?«

Er winkte ab – seine fahle Gesichtsfarbe sprach für sich – und führte sie in ein kleines Wohnzimmer. Ein Kollege von der Schutzpolizei betrachtete gerade eine Bronzestatue in einem Regal, wo sich Skulpturen aus Bronze, Holz und Marmor eng aneinander reihten. Sein Gesichtsausdruck hatte etwas Ungläubiges und gleichzeitig Wollüstiges an sich. Die Figur zeigte zwei nackte Frauentorsi, die sich innig umschlungen hielten. Ihre fast bodenlangen Haare schmiegten sich so eng um die Körper, als wollten sie diese vor allzu neugierigen Blicken verbergen. Und doch zeigte sich dazwischen ein entblößter Arm oder ein schlanker Rücken, so dass die Ausprägung der weiblichen Formen nicht ganz der Phantasie überlassen war. Die Art ihrer intimen Begegnung war es ohnehin nicht. Auch die anderen Plastiken zeigten ähnliche Situationen. Nur die Stellungen der Beteiligten – Männer und Frauen in den unterschiedlichsten Kombinationen – variierten.

Lilian schickte den Mann hinaus. Sie war beeindruckt. Nicht, weil sie solche Skulpturen noch nie zu Gesicht bekommen hätte. Viel mehr faszinierte sie die Vollkommenheit dieser Bildhauerkunst und eine reine, fast unschuldige Darstellungsweise von durchaus anrüchigen Szenen. Etwas Vergleichbares hatte sie nur bei Figuren des französischen Bildhauers Rodin gesehen.

Auf dem Sofa lag die Leiche einer Frau, seitlich vornüber gesunken. Sie trug einen blau-weiß-gestreiften Bademantel. Schwarze Haare, jetzt blutverklebt, zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eine große Wunde klaffte am seitlichen Hinterkopf schräg über dem linken Ohr, Frotteemantel und Sofakissen waren voller Blut, es war bereits eingetrocknet. Auf dem Boden lag eine Marmorplastik, ebenfalls blutverschmiert. Ein halbvolles Glas stand auf einem Tisch vor der Couch. Lilian roch daran: Whisky. Sie beugte sich über die Frau und berührte sie an der Hand. Sie war noch warm. Die Frau kam Lilian bekannt vor. Vielleicht war sie ihr einmal beim Einkaufen über den Weg gelaufen. Hier in dieser Gegend traf man oft vertraute Gesichter.

Sie richtete sich auf. »Erzähl mal.«

»Sie wurde mit einem schweren Gegenstand erschlagen, so wie’s aussieht mit der Marmorstatue, die da liegt«, fing Kuhnert an. »Der Schlag wurde von hinten ausgeführt, mit voller Wucht. Sie muss sofort tot gewesen sein – oder zumindest das Bewusstsein verloren haben, hat der Notarzt gesagt. Im Bad war ein Fenster offen. Vielleicht hat sie vergessen, es zuzumachen. Sie hat wohl vorher gebadet, denn als wir ankamen, war das Wasser in der Wanne noch warm. Sieht so aus, als sei der Täter durch das Fenster in die Wohnung gekommen.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Ihre Schwester.«

»Wo ist sie?«

»In der Küche.«

»Wie geht’s ihr?«

»Erstaunlich gut. Macht einen ziemlich gefassten Eindruck.«

»Ich will mit ihr reden.«

 

Die Frau in der Küche stand am Fenster und starrte hinaus in die spärlich erleuchtete Dunkelheit. Es hatte wieder zu regnen angefangen. Wie silberhelle Fäden fielen die feinen Tropfen auf die Straße und verwandelten diese in einen übergroßen Spiegel, dessen Helligkeit sich in alle Richtungen verlor. Wenn es nicht wieder kälter wurde, würde der Regen die letzten Schneereste auch in den hintersten Ecken zum Verschwinden bringen.

»Guten Abend, ich bin Kriminaloberkommissarin Lilian Graf von der Kripo Regensburg. Es tut mir Leid, dass ...«

»Sparen Sie sich den Schmus.«

Die Frau drehte sich nicht um. Sie schaute unentwegt aus dem Fenster, als wäre sie sich Lilians Gegenwart nicht bewusst. Auch sie trug die Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Nur die Haarfarbe war etwas heller, ein mattes Braun.

»Sie tun auch nur Ihren Job. Also, was wollen Sie wissen?«

Eine mehr als direkte Antwort auf eine noch nicht einmal gestellte Frage.

»Sie haben Ihre Schwester gefunden. Wann genau war das?«

»Vor einer dreiviertel Stunde.«

»Wie sind Sie in die Wohnung gekommen?«

»Mit dem Schlüssel.«

»Die Tür war also nicht auf?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Was passierte, als Sie die Wohnung betraten?«

»Ich wollte nur schnell den Stadtplan holen, den hatte ich in der Garderobe liegengelassen. Ich nahm ihn, rief kurz: ›Hab was vergessen, bin gleich wieder weg!‹ und wollte schon wieder los. Da hörte ich ein Geräusch, so eine Art Poltern. Ich wollte nachschauen, was das war, und ging ins Wohnzimmer.«

Sie legte den Kopf an die Fensterscheibe, als sei er ihr auf einmal zu schwer geworden.

Lilian war irritiert. Sie redete nicht gern mit jemandem, der ihr den Rücken zuwandte. Außerdem benahm sich die Frau seltsam. Zuerst dieser unerwartet forsche Ton und jetzt eine noch unerwartetere Gefühlsdusselei. Aber gut, die meisten Menschen, die eine Leiche fanden, reagierten nicht so, wie sie hätten reagieren sollen – auch wenn es nicht die eigene Schwester war.

In der Mitte der kleinen Küche stand ein Tisch. Darauf eine hellblaue Leinentischdecke, eine mit Blättern verzierte Vase, in der ein kleiner Blumenstrauß steckte. Gelb, lila, orange – ein erster Frühlingsgruß in diesem nasskalten Winter, der schon viel zu lange dauerte.

Lilian setzte sich an den Tisch. »Bitte, kommen Sie her.«

Die junge Frau drehte sich um. Ihre Augen leuchteten in einem tiefen, warmen Braun, doch sie scheuten jeden direkten Blickkontakt. Alles an ihr war zart, fast filigran, die Augenbrauen ebenso wie die hohen Wangenknochen, auch die Lippen, die sich kaum von ihrer alabasterfarbenen Haut abhoben, dazu ein schlanker Hals und ungewöhnlich zierliche Hände. Sie erinnerte Lilian an Helena, die Lieblingsschülerin ihres Ballettlehrers, die alle Übungen anmutig wie ein Reh absolviert hatte. Auf einmal kam Lilian sich wieder so plump vor wie damals auf jenen Holzbrettern, auf denen man jeden falschen Schritt hören konnte, auch wenn man ihn übersehen hatte. Was im Falle des Ballettlehrers so gut wie nie vorgekommen war.

Auch bei dieser Frau hatte Lilian auf einmal das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Und wenn sie sich nicht täuschte, dann sah sie der toten Frau dort draußen im Wohnzimmer zum Verwechseln ähnlich. Aber immerhin waren sie ja Schwestern.

Langsam kam die Frau näher. Ihre Bewegungen waren geschmeidig, fließend. Als sie sich setzte, war fast kein Geräusch zu hören. Sie schaute Lilian nicht an, musterte nur den Blumenstrauß, als hätte sie diesen noch nie zuvor gesehen. Das dunkle Lila der Veilchen hatte den gleichen Farbton wie die seidige Bluse, die sie unter ihrem eleganten Hosenanzug trug.

»Was geschah, als Sie ins Wohnzimmer kamen?«

»Da ... sah ich sie dann, sie lag auf dem Sofa. Ich wusste sofort, dass sie tot war – mit dem ganzen Blut.« Sie schüttelte den Kopf, als verstünde sie etwas nicht. »Sie hat sie gehasst. Alle.«

»Wer hat wen gehasst?

»Na, Mira – sie hat meine Statuen gehasst. Jede einzelne. So was Obszönes, Anstößiges, hat sie dauernd gesagt. Vor allem die rot-weiße Marmorstatue war ihr zuwider. Und dann wird sie ausgerechnet damit erschlagen. Was für eine Ironie.«

»Wieso Mira? An der Eingangstür steht doch ›Lena Zolnay‹.«

»Das bin ich: Lena. Mira liegt da draußen.« Sie sagte das ohne jede erkennbare Emotion. Jetzt glich sie nicht mehr einem Reh, denn das wäre schon längst davongesprungen.

»Sie haben zu zweit hier gewohnt?«

»Nein. Das ist meine Wohnung. Mira war zu Besuch.«

»Seit wann?«

»Seit Freitag letzter Woche.«

»Für wie lange?«

»Das hatte sie offen gelassen. So lange es ihr eben gefiel, für ein paar Tage oder Wochen.« Gleichgültig zuckte sie mit den schmalen Schultern. »Mira war so, schon immer. Man wusste nie, was als Nächstes passieren würde.«

»Gut, Sie haben Ihre Schwester Mira also auf dem Sofa liegen gesehen. Was haben Sie dann gemacht?«

»Ich bin zum Telefon und hab die Polizei angerufen. Dann hab ich mich hingesetzt, bis die Streife kam. Auch der Notarzt war bald da.«

»Wo haben Sie gewartet?«

»Im Wohnzimmer, auf dem Sessel neben dem Sofa.«

Die Streife musste nach sechs, sieben, höchstens zehn Minuten angekommen sein. Ziemlich lange Zeit, um sie mit einer Toten zu verbringen.

»Hat es Ihnen nichts ausgemacht, ausgerechnet dort zu warten?«

»Nein. So hatte ich Zeit, mich von ihr zu verabschieden.«

Lenas Stimme hatte sich nicht verändert, als hätte sie davon gesprochen, wie sie sich das letzte Mal mit ihrer Schwester in einem Café verabredet hätte. Nur ihre Augen waren auf einmal ganz dunkel geworden, trübe. Doch der Moment war sofort wieder vorbei.

»Was für eine Beziehung hatten Sie zu Ihrer Schwester?«

Lena schwieg. Sie starrte verkrampft auf ein Veilchen und fing an, dieses mit ihren feingliedrigen Fingern zu berühren. Zuerst strichen sie über ein behaartes Blatt, dann über den Stengel, schließlich zupften sie an einem Blütenblatt.

»Ich habe Mira seit fünf Jahren nicht mehr gesehen«, sagte sie zögernd. »Damals ist sie von München nach Berlin, später nach Mailand, vor eineinhalb Jahren nach London. Sie lebte ein ganz anderes Leben als ich. Es war schwierig.«

»Warum hat Mira Sie jetzt nach dieser langen Zeit besucht?«

»Wo hätte sie sonst hin sollen? Nur bei mir konnte sie sich zurückziehen. Sie war in einer künstlerischen Krise, vielleicht auch in einer persönlichen. So genau weiß ich das nicht.« Lena lächelte, wirkte fast amüsiert. »Mira war oft in irgendeiner Krise. Da ist sie immer zu mir gekommen, früher meine ich. Ich hab ihr geholfen, so gut es ging. Hab sie jedenfalls nie gedrängt. So war es auch dieses Mal.«

»Ihre Schwester war also Künstlerin?«

»Sie war Balletttänzerin.« Ein hölzern klingendes Geräusch, das ein Lachen sein sollte. »Sie war richtig berühmt. Die große Primaballerina Mira Scheidt, ihr gehörte die ganze Welt.«

Na bravo, das würde der Presse gefallen. Da würde es noch schwieriger werden als sonst, die Ermittlungen in Ruhe führen zu können. Gut, dass Peter Kuhnert sie angerufen hatte. So konnte sie jetzt vor Ort wenigstens auf alle Kleinigkeiten achten. Am besten wäre es, wenn auch Helmut käme. Aber zu dieser Zeit wollte sie ihn nicht mehr stören.

»Niemand.« Lena fingerte immer noch an dem Veilchen herum. »Aber das ist doch egal. Das Poltern, das ich gehört habe – das muss aus dem Badezimmer gekommen sein. Dieser Kollege von Ihnen, der so müde aussieht, der hat gesagt, dass das Fenster im Bad auf war. Richtig auf, nicht bloß gekippt, da konnte jeder rein. Ich versteh zwar nicht, was man in meiner Wohnung klauen könnte. Aber vielleicht ist es wegen dieser Statue aus Carrara-Marmor, die hat ein Künstler aus Italien gemacht. Sie ist die Einzige aus meiner Sammlung, die einen gewissen Wert darstellt. Wahrscheinlich war Mira einfach zur falschen Zeit am falschen Ort – genauso gut hätte es mich treffen können.«

»Nein. Es ist die, mit der Mira getötet wurde.«

Falsche Frage – bestimmt hatte Lena bisher weder die Zeit noch die Kraft gehabt, die Wohnung in dieser Hinsicht zu überprüfen.

Lena schien Nerven wie Drahtseile zu haben.

»Ich war unterwegs nach Nürnberg. Da hab ich morgen Früh ein Vorstellungsgespräch, gleich um acht. Ich wollte in einer Pension übernachten, damit ich pünktlich bin. Ich war schon auf der Autobahn, da merkte ich auf einmal, dass ich den Stadtplan von Nürnberg vergessen hatte. Also hab ich wieder umgekehrt.«

»Eine halbe Stunde, vielleicht ein bisschen länger.«

»In der Badewanne.«

»Nein.« Sie zögerte. »Da muss ich jetzt wohl absagen. Und den Papa muss ich auch anrufen. Er muss es ihr sagen.«

»Meiner Mutter – dass Mira tot ist. Sie wussten nicht mal, dass Mira in Regensburg war.« Lena stand auf, hielt sich krampfhaft an der Tischplatte fest. »Sie wird es schwer verkraften. Mira war wie ihr Augapfel.«

»Und dann muss ich unbedingt ins Bett. Ich bin total fertig.« Lena sagte das mehr zu sich selbst als zu Lilian. »Wann verschwinden die Leute hier endlich?«

»Wann ist das?«

»Und wo soll ich solange schlafen?«

Ein rauer Ton – der klägliche Versuch, wieder so etwas wie ein Lachen zu imitieren. »Das geht nicht.«

»Und wer bezahlt die Rechnung?«

»Ihre Schwester ist ermordet worden, in Ihrer eigenen Wohnung. Die Reinigung des Sofas, auf dem sie liegt, kostet bestimmt mehr als eine Übernachtung im Hotel. Doch Sie machen sich nur Gedanken darum, wer das Zimmer bezahlt. Das finde ich etwas seltsam.«

Sie zerkrümelte die Blüte. Kleine lilafarbene Flocken wie aus feinstem Samt fielen auf die Tischdecke.