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© Dietmar Friedrich 2018

„Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH,
Norderstedt“

ISBN 9-783743-172258

Was ist Leben? Hohler Schaum,

Ein Gedicht, ein Schatten kaum!

Wenig kann das Glück uns geben,

Denn ein Traum ist alles Leben,

Und die Träume selbst ein Traum.

Calderon

Inhaltsverzeichnis

Der Gehörnte

Aus den tiefsten Tiefen steigt er empor, der grüne Engel und Dämon, die gehörnte Gestalt. Nicht Herr des Wissens, doch ahnungstrunken – Genius der Pubertierenden. Voller Lebensgier und voller Bewegung; doch ohne Ziel. Mit seinem Erscheinen brach die hohe Zeit der Narrheiten an. Apfelbäume blühen im Winter, die Nächte illuminiert - von Abenteuern reich. Die Tage verträumt. Lange Sonnenstunden unter ziehenden Wolken am kühlen Bach. Amphipisches Leben. Die Dionysos Dithyramben werden zum hohen Lied einer neuen Religion, eines neuen Anfangs. Das alte Ich sinkt unter. Gierig ergreife ich jede sich mir bietende Lust. Vergesse was ich gewesen. Koste noch einmal die Launen der Jugend. Ja, das absichtslose, zeitlose Dasein der Kindheit. Es scheint mir als müsste ich platzen vor Leben. Alles wandelt sich. Die Wanderung beginnt. Erwartungstrunken setze ich meinen Fuß auf unbetretene Pfade. Nur aus der Lust des Anfangs formt sich das Neue.

Megapolis I

Streifzüge durch die Straßen der Stadt. Kalt und seelenlos recken graue Häuserreihen ihre Giebel in den trostlosen Himmel. Dazwischen hängen giftige Nebel, ausgespien aus schmutzigen Schornsteinen und vermengt mit Ruß und Schweiß und Lärm. Es ist als wolle sie sich selbst ersticken, die Stadt, die trotzdem wächst und wuchert, genährt von Gift und Schweiß und Schuld. Bunte Leuchtreklame lockt, schleicht ins Gehirn wie süßes Gift, und kreischende Gerüche steigen auf, wie plumpe Vögel. Die gähnenden Mäuler der U-Bahnschächte verschlucken ameisenhafte Menschen. Steriler Neonröhrenglanz spiegelt sich im kalten Weiß gekachelter Wände.

Donnernd nähert sich ein Ungetüm aus dunklen Schächten. Kreischend wehren sich die Bremsen gegen die vorwärts strebende Masse des Zuges. Türen springen zischend auseinander. Menschen strömen in den Bauch der Schlange aus Glas, Metall und Kunststoff. Einzelne stürzen verspätet heran.

Erreichen gerade noch die U-Bahn. Schwer atmend wie gehetztes Wild. Eine Lautsprecherstimme mahnt schablonenhaft zur Abfahrt. Die Türen klappen wieder zu. Das künstliche Reptil, das sich aufs Leben nicht versteht, rollt an und verschwindet, hastend wie es gekommen, die Menschenmenge mit sich reißend. Nur ein Mädchen bleibt zurück. Betäubt sitzt sie verkrümmt auf einer Bank. Auf ihren Knien liegt ein zerfleddertes Kreuzworträtsel. Doch die Kästchen bleiben leer. Zwei Männer in schwarzen Uniformen, mit fahlen, gleichgültigen Gesichtern, sprechen sie an. Sie reagiert nicht. Bleibt in ihrer Betäubung gefangen. Da rüttelt der eine das Mädchen an der Schulter. Halb öffnen sich schwere Augenlider und zeigen glasige Augen. Ihr Kopf hebt sich ein wenig. Fällt wieder auf die Brust zurück. Der Mann in der schwarzen Uniform rüttelt sie heftiger. Mühsam findet sie aus ihrer Betäubung zurück. Die Uniformierten reden auf sie ein. Sie könne hier nicht bleiben.

Sie öffnet ihren Mund. Zeigt kaputte Zähne. Lallend gibt sie Antwort. Kaum ist es Sprache zu nennen. Der Sinn der Worte bleibt verborgen. Lauter und deutlicher fordern die Uniformierten ihr Verschwinden. Endlich dringen die Worte bis in ihr dämmerndes Bewusstsein vor. Qualvoll erhebt sie sich. Das Gehen fällt ihr schwer. Sie ist noch jung. Wohl kaum viel mehr als zwanzig Jahre alt, doch schleppt sie ihren zerstörten, kranken Körper unendlich mühsam voran. Methusalem als Mädchen! An einem Abfalleimer stützt sie sich auf. Darin findet sie einen weggeworfenen Kartoffelsalat aus dem Schnellimbiss.

Zitternd kratzt sie den darauf haftenden Dreck ab und verschlingt die gelb-graue Masse mit mechanischen Bewegungen. Dann verschwindet sie in den heran flutenden, gleichgültigen Menschenmassen.

Der Weg

Es ist etwas in mir, etwas unbestimmbares, namenloses, das mich treibt. Etwas, das mich auf einen Weg führt, von dem ich nicht sagen kann, ich hätte ihn aus freier Überzeugung oder verstandesmäßiger Überlegung gewählt. Ein abenteuerlicher, seltsamer und einsamer Weg ist es und ich weiß, dass ich diesen Weg folgen muss, wohin er mich auch führt. Ein Weg, der noch im Dunkeln liegt und auf dem ich erst ein paar, zaghafte Schritte vorwärts gegangen bin. Diesen Weg zu gehen, so schwer es auch sein mag, ist mein innerstes Gesetz, dem ich folgen muss.

Wunsch Indianer zu werden

So formulierte es Kafka. Frei und wild in der Welt umherstreifen, wie einst Wikinger und anderer Raubadel. Danach sehnt sich der Teil in mir, den Kultur und Zivilisation noch nicht zu domestizieren vermochten. Doch ist der moderne Mensch in einem selbst geschaffenen Käfig gefangen. Ein Käfig, der ihn vor Leid, Schmerz, plötzlichem Tod, vor der Härte des Daseins bis zu einem gewissen Grad schützt, der ihn aber auch von Freiheit und Abenteuer abtrennt. Der moderne Mensch hat eine Welt um sich geschaffen, die ihn schwächt, domestiziert und verweichlicht. Er hat es sich bequem gemacht in seinem Käfig. Doch das Tier in ihm leidet. Wie jedes Tier leidet, das in Gefangenschaft lebt.

Träume und Alltag

Mehr und mehr spüre ich den tiefen Zwiespalt zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Traum und Realität. Und dennoch werde ich versuchen das Leben so zu nehmen, wie es eben ist. Ich werde versuchen Glück zu finden, ohne darauf zu hoffen. Ich werde versuchen das Leiden anzunehmen, ohne daran zu verzweifeln. Ich werde versuchen Sinnlosigkeit mit Sinn zu erfüllen, Verzweiflung mit Trost. Nur dem schaurigsten aller Gespenstern, dem Alltag, habe ich nichts entgegenzusetzen. Wie sehr ist dieser doch von den idealen Welten entfernt, die wir als Vorstellung in unserem Herzen tragen. Und doch muss ich versuchen, diese beiden feindlichen Pole zu versöhnen. Den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, wenn nicht aufzulösen, so doch zu versöhnen. Auch wenn der Kampf aussichtslos scheint. Doch eines vermag ich nicht - meine Träume, den kostbarsten Schatz meines Herzens, dem gierigen, alles verschlingenden Rachen des Alltags zu opfern.

Philosophenträume

Mit Arthur Schopenhauer in Traumgebirgen. Er kam in Gestalt eines alten Bettlers zu mir. Erst nach einiger Zeit, an seiner Haltung, an seinem Gesicht, erkannte ich ihn. Er führte mich durch ein grünes Tal, das Wildnis war. Ich folgte ihm mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst, aus Abscheu und Zuneigung. Ich weiß noch, dass er mich vorbei an Wasserfällen und über Geröllhalden führte. Immer höher ins Gebirge, so schien es mir, stiegen wir. Schließlich hockte er sich auf den kahlen Boden und rührte mit dem nackten, rechten Unterarm in einem Gefäß herum, in dem sich irgendeine schwarze, schleimige Masse befand. Kalt überspülte mich der Ekel. Seltsam, dass dieses Gefühl nach dem Erwachen bis weit in den Tag hineinreichte.

Tauwind

Ein Hauch von Vorfrühling weht von einem Tag auf dem anderen über das Land. Der dünne Schnee ist unter den wärmenden Sonnenstrahlen weich und pappig geworden. Überall tropft und rinnt das Tauwasser. Die Bäume stehen starr und stumm und warten auf den Frühling.

Gestern noch herrschte starker Frost. Man dachte ans Ski laufen und an heißen Tee, getrunken in der warmen Stube vor dem knisternden Kachelofen. Heute hingegen glänzt der graue Asphalt der Straße in einem seltsam verlockenden Licht. Die Gedanken schweifen in die Ferne. Gezogen von einem leisen Weh, von einer seltsamen Sehnsucht, will man in die Fremde schweifen. Unruhig rollt das Blut in den Adern. „Hinaus!

Hinaus!“ So klingt der verlockende Ruf des Vorfrühlings. Das ist der uralte Ruf der Natur; ein Ruf voller Lebensgewalt, voller Liebesverheißung, voller Lockung zur Hingabe an das Wandern in der Welt. Und ich weiß, ich muss auch diesmal wieder diesen Ruf folgen, was er mir auch bringen mag an Leid und Freuden. Zu viel uraltes Nomadenblut rollt in meinen Adern, zu viel Sehnsucht wohnt in meinem Herzen.

Mexiko

Das Licht schwindet mehr und mehr. Ich treibe durch die tiefsten und dunkelsten Strömungen des Traums. Es muss in Mexiko gewesen sein. Die genaue Kopie einer Hazienda kämpft sich aus den Nebeln längst verschütteter Zeiten. Ich gehe an einem See spazieren und führe meinen kleinen Sohn an der Hand. Ich bin eine Frau, trage eines jener auf Taille geschnittenen, doch unterhalb der Hüfte ausladenden Kleider, wie sie etwa für die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts typisch waren. Auch bin ich ganz in Schwarz gekleidet und habe mein langes, dunkles Haar, mit Hilfe eines mit Silber verzierten Kammes, nach oben gesteckt. Vielleicht bin ich in Trauer, bin schon Witwe, obwohl ich noch nicht alt bin. Vielleicht ist mein Mann ermordet worden. Es sind unruhige Zeiten in denen ich lebe.

Dann bin ich in meinem Schlafzimmer. Dunkle, schwere und kostbare Möbel füllen den Raum. Ich erblicke mich selbst in dem hohen Spiegel meiner Frisierkommode. Ich bin schön. Auch wenn sich schon Leid und Schmerz um den Mund und auf der Stirn in feinen Linien eingegraben haben. Durch die geschlossenen Fensterläden fällt gedämpft das grelle Licht des Mittags. Dann erschaudere ich, als ich draußen trabende Pferdehufe höre. Mit dem Instinkt eines gesunden Tieres spüre ich, dass das nur Unheil bedeuten kann. Vorsichtig spähe ich durch die Schlitze der Fensterläden auf den Hof hinab. Ein Dutzend wilder Gestalten kommt dort auf schweißtriefenden Pferden angeritten. Nun steigen sie ab. Alle tragen Gewehre und um den Oberkörper haben sie Munitionsgurte geschlungen. Sie stürzen in die Stallungen, die sich schräg gegenüber meines Schlafzimmerfensters, auf der anderen Seite des geräumigen Hofes befinden. Ungeheure, schrecklich peinigende Angst steigt in mir empor. Ich weiß, dort bei den Pferden, ist gerade mein kleiner Sohn mit ein paar Knechten. Die Schüsse, die gleich darauf fallen, schmerzen und brennen in mir, als hätten sie mich selbst getroffen. Ich fühle es. Die da unten haben gerade meinen Sohn ermordet! Überdeutlich sehe ich mich wieder in dem hohen Kommodenspiegel. Weiß wie ein Leichnam starre ich mich selbst mit weit aufgerissenen Augen an. Entsetzen ist es, dass mich gepackt hält. Ich kann nicht weinen. Dann sehe ich wie die Gestalten wieder aus den Stallungen kommen und nun direkt auf das Haupthaus, in dem ich mich befinde, zuhalten. Dabei prägt sich mir einer der schmutzigen und ärmlich wirkenden Männer besonders stark ein. Er stürzt voraus und scheint der Anführer zu sein. Über der hageren Brust trägt er eine abgerissene Schärpe und darunter ein stark ausgewaschenes Hemd, das einmal dunkelrot gewesen sein mag. Dann sind sie auch schon über dem Hof verschwunden und ich höre, wie sie unten in das Haus eindringen, und dann mit schweren Schritten die Treppe in den zweiten Stock empor hasten. Bald werden sie vor meinem Schlafzimmer sein. Der Gedanke reißt mich aus meiner Erstarrung, die mich minutenlang erfasst hatte. Schnell stürze ich zur Türe und sperre ab. Dann nehme ich aus einer der Schubläden meiner Kommode eine kleine, einschüssige Damenpistole, die dort verstaut lag. Wieder sehe ich mich in dem dummen Spiegel mit der Pistole in zitternden Händen. Ich bin einer Ohnmacht nahe. Ich überlege für den Bruchteil einer Sekunde, ob ich fliehen, über die Fassade nach unten klettern kann. Doch verwerfe ich den Gedanken gleich darauf wieder. Mit dem Kleid würde das nicht gehen. Außerdem war einer von den Männern unten auf dem Hof geblieben, um auf die Pferde aufzupassen. Dem würde ich direkt in die Hände laufen. Nun schlagen sie schon dumpf und heftig gegen meine Schlafzimmertür, die den Schlägen nicht lange standhalten wird. Ich überlege, ob ich mich mit der einschüssigen Pistole verteidigen soll. Einfach den ersten niederschießen, der in mein Schlafzimmer eindringen würde. Aber was dann? Sie würden mich schänden. Meine Ehre beschmutzen. Auch fühle ich, dass ich zu feige bin, um auf jemanden zu schießen. Noch einmal sehe ich mich überdeutlich in dem Kommodenspiegel, mit von Todesangst verzerrten Gesichtszügen. Dann umschließe ich den Lauf der Pistole mit meinen Lippen, mache die Augen zu und drücke ab. Wie durch unendliche, dunkle Gänge kehre ich fallend und getrieben zurück. Doch wo war ich? War das nur ein Traum oder vermag das Echo eines anderen Lebens, in nächtlichen Bildern, über die Zeiten hinweg, nachzuklingen?

Aquanautica I

Zu den Vorzügen unserer von Technik beherrschten Zeit gehört es, dass wir in Elemente und Zonen vorzustoßen vermögen, die früheren Generationen weitgehend verschlossen waren. Luftschiffe und Flugzeuge durchpflügen das Blau des Firmaments, der einsame Schritt des Bergsteigers führt in die tödlichen Höhen eisiger Gipfel empor, speziell konstruierte Unterseeboote stoßen bis in die tiefsten Tiefen der Ozeane vor, wo unvorstellbarer Wasserdruck alles zu zermalmen droht; ja selbst auf den Mond setzte der Mensch schon seinen Fuß. Und wir Abenteurer der Seele, wir, die wir selbst dem wilden Minotauros entgegen zu treten wagen, jenem Ungeheuer, das in den tiefsten Schächten der Triebe haust, ergreifen gierig jede Gelegenheit, auch und gerade auf äußere Abenteuer, die durch die Technik erst ermöglicht werden. So tauchte ich, mit künstlichem Lungenautomaten, Pressluftflasche und Bleigewichten ausgerüstet, in das wässrige Element hinab, das mich seit langem in Theorie und Praxis wegen seines ziehenden, weiblichen und geheimnisvollen Charakters faszinierte. So gleicht denn auch das Hinabsinken in die grünen oder blauen Tiefen, vor allem der warmen Meere, ein wenig dem Versinken und Zurückkehren in den Schoss der Mutter. Dort, in diesen unterseeischen Räumen, tun sich fremde Welten auf, denen in ihrer Fremdartigkeit eine seltsame, surreale Traumsubstanz anhaftet. Man wird von einem beinahe bösartigen, unnatürlichen Empfinden, wie es auch Flugträumen anhaftet, gepackt. Die Erinnerung versetzt mich mit jener Sprunghaftigkeit, wie sie manchen chtonischen seelischen Regungen eigen ist, in die Gewässer vor den Küsten Großbritanniens. Die Tauchbasis war dort in einem alten, steinernen Fort untergebracht, das zu den Zeiten von Sir Francis Drake zur Abwehr der spanischen Armada erbaut worden war. Jeden Morgen fuhren wir von dort auf winzigen, doch mit PS-starken Motoren ausgerüsteten Schlauchbooten, hinaus auf die offene See. Kaum aus dem schützenden Hafen ausgelaufen, warf der Atlantik mit aller Macht seine Wellen gegen die winzigen Boote. Draußen ließen wir uns dann mit schwerer Ausrüstung über den Bootsrand kippen und versanken mit kontrollierter Langsamkeit in den kalten, grünlichen Tiefen der See. Mit vorsichtigen Flossenschlägen schwimme ich durch einen grünen Dschungel aus baumhohen Kelplianen, die sich mit der Brandung, wie riesige Seeschlangen winden und den Labyrinthen tropischer Regenwälder in nichts nachstehen. Dazwischen langarmige Seesterne, die wirken als wären es Wesen aus fernen Galaxien. Silbrig, schattenhafte Fische lugen traumschnell hinter dem grünen Vorhang des Kelpes hervor. Wie Pfeilgeschosse stoßen vereinzelte Seevögel, die sich auf der Jagd nach Fischen befinden, tief in die Meereswogen hinab. Dann das surreale Bild. Wie von einem spielenden Riesen abgestellt, erhebt sich das Deck eines gesunkenen Schiffes hoch über den sandigen Meeresboden. Der traumartige Eindruck wird noch dadurch vermehrt, dass die technisch exakten Formen des Schiffes, durch den dichten Bewuchs, bereits in das Vegetativ-Formlose hinüber zu spielen beginnen. Zwei Reiche, die sich sonst auszuschließen scheinen, verbinden sich hier zu einem organischem Ganzen. Und man merkt. Das Lebendige ist das letztlich Stärkere der beiden Systeme. In fünfzig, in hundert Jahren wäre, in einer vom Menschen entvölkerten Welt, die dünne Patina, die die technische Zivilisation über die Erde zog, wieder von Vegetation überwuchert. Neben dem Bösartigen und Dämonischen, die dieser Vorstellung anhaften, besitzt dieser Gedanke doch auch etwas tröstliches für mich.

Aquanautica II

Seesterne. Schattenhafte, grazile Urwesen zwischen den Kelpwäldern. Pentamerische Fortbewegung. Ein Anblick, als schaue man in die bizarrsten Experimentierkammern der Evolution.

Mexikanische Gedanken

Nach dem Erwachen aus jenen seltsamen Traume, in dem ich in eine andere Zeit, ja selbst in eine andere Seinsform zurückgereist zu sein schien, jenen mexikanischen Traum, den ich auf den Waldhöhen hoch über der Mosel träumte, hatte ich ein Gefühl, als wäre mir eine Offenbarung zu Teil geworden. Ungewöhnlich und seltsam ist der Traum in jedem Fall. Wie soll ich es deuten, dass ich in dem Traum eine völlig andere Person war, eine junge Señora aus der kolonialen Oberschicht Mittelamerikas, und mein Ich doch mit dieser ganz anderen Person, die mir fremd sein müsste, so selbstverständlich verbunden war und sich mit dieser Person identifizierte, wie es sich nun mit mir identifiziert und verbunden ist? Das war kein Alter Ego von mir. Diese Traumperson da, war ganz und gar ich und doch von mir so ganz und gar verschieden, wie nur irgend möglich. Wie lässt sich das alles deuten und intellektuell einordnen?

*

Einer der bekanntesten Sätze Michel de Montaignes lautet: „Philosophieren heißt sterben lernen.“ Er meint damit wohl, dass wir durch geistige Arbeit, durch intellektuelle Vorübungen, lernen können, eine gewisse Haltung einzunehmen, die uns einmal den Übertritt erleichtern soll. Sterben ist schwer. Doch ist es bislang noch jeden gelungen. Freilich ist es, wie beim Schicksal, ein Unterschied, ob wir dem Tod einst mit der uns angeborenen menschlichen Freiheit und Würde gegenübertreten, oder ob wir uns sträuben und wehren und uns jammernd und lamentierend in das Dunkel des Todes, in das kein lebendiges Auge vordringt, hinüber zerren lassen. Und in dem wir philosophieren schicken wir Spähtrupps in die dunklen Grenzzonen des Todes, die freilich nicht über die Grenze selbst gelangen können, aber in der Annäherung erste Erkenntnisse über das Vorfeld jener Region einbringen, die wir einmal auch mit allem, was uns ausmacht, durchschreiten müssen. Was hinter der Grenze liegt, können wir freilich allenfalls erahnen. Wissen können wir darüber nichts.

*

Aber ist die Philosophie, das heißt die Reflexion des Themas mittels der Vernunft, das einzige Medium, das uns zur Verfügung steht, um „sterben zu lernen?“ Ich halte das für ausgeschlossen. Schließlich ist nicht ein jeder Philosoph. Doch sterben muss ein jeder. Nein, es gibt da noch Mechanismen, die unterhalb des bewussten Verstandes wirksam sind und die wenigstens ebenso gut unsere Haltung zum Tode formen und uns zum Sterben-Können zu erziehen in der Lage sind. Der Traum, den ich auf den Höhen über der Mosel träumte, unterstreicht diese Ansicht. Auch er war eine Vorübung gewesen, eine Variation zu dem Thema. Doch eine Vorübung nicht auf der Ebene des Verstandes, sondern geboren und emporgestiegen aus der Nachtseite des Bewusstseins. Eine Ebene, die uns allen zur Verfügung steht. Ein Mechanismus, der in uns allen tätig und wirksam ist.

Aphorismus I

Der Beginn der 9. Symphonie Beethovens. - Das Chaos, das um Gestaltung ringt!

Kubistische Träume

Nachtbilder. Von erhöhtem Standpunkt blicke ich auf einen Friedhof herab. Von einem Augenblick auf den Nächsten beginnt sich alles auf eine seltsame, mechanische Weise zu bewegen. Die Gebeine der Toten, die Gedenksteine, der Grabschmuck, wabern nebelartig verschwommen hin und her. Dann, mit einem Male, löst sich das ganze Bild in kleine, rechteckige Rasterpunkte auf, die sich weiterhin unablässig verschieben und übereinander lagern. Immer schrecklicher steigt die Ahnung in mir empor, dass sich dies alles auf eine seltsame, doch bedeutsame Weise auf mich selbst bezieht. Bald würde der Auflösungsprozess auch mich ergreifen. Der Würgegriff der Todesangst packt mich. Endlich, als das Grauen unerträglich wird, wache ich auf. In der Nacht, in meinem klopfenden Herzen, der trotzige Gedanke, dass ich kämpfen werde. Ich werde darum kämpfen, meinem Leben Sinn und Gestalt zu verleihen. Denn dies allein , dieser Versuch dem Leben ein höheres Dasein abzutrotzen, der kindlich und göttlich in einem zu nennen ist, vermag unser Schild und Schwert gegen das Bewusstsein von Tod und Verwesung zu sein.

Aphorismus II

Man muss sich sein Leben erträumen. Nur so lässt sich der Alltag, dieser Abfall der Wirklichkeit, besiegen.

B-52

Die NATO und auch die deutsche Luftwaffe bombardieren Jugoslawien. Ich verfolge die Bilder im Fernsehen. Riesige B-52 Bomber kehren vom Einsatz zu ihren Stützpunkten in England zurück. Im Formationsflug schweben sie vom Himmel herab wie gigantische, düstere Engelswesen. Selbst durch den Filter des elektronischen Mediums ist das Dämonische des Vorgangs spürbar. Um dem Gespenstischen der Aufnahmen zu entfliehen, ging ich hinaus in die Wälder. Buschwindröschen säumen die Wegraine. Vögel zwitschern ihr Lied in der lauen Frühlingsluft. Die Welt zeigt ihr Janusgesicht.

Aphorismus III

Lord Byron: „Es ist diese Leere, die uns treibt“. - Wahlspruch des modernen Menschen!

Hypergirl I

Das Thermometer klettert dieser Tage auf dreißig Grad und mehr. Ich bin zum Sonnenanbeter geworden. Nachdem ich mich am frühen Morgen im Talgrund warm gelaufen habe, lasse ich mich an einem kleinen Steg am Fluss nieder. Ab und zu lese ich ein Gedicht aus einem mitgebrachten Bändchen und liege ansonsten faul in der Sonne. Ich bin ebenso wunschlos glücklich, wie ich es manchmal in seltenen, magischen Augenblicken meiner Kindheit gewesen bin. Nur der Moment zählt! Die Last der Zeit fällt von mir wie ein altes, abgetragenes Kleid. Als es mir schließlich zu heiß wird, steige ich in den Fluss und schwimme ein wenig in den smaragdgrünen Wassern, die ihre Herkunft aus tiefen Felsenschlünden durch ihre Eiseskälte kund tun.

*

In diesen Tagen, in denen der Sommer mein Blut in eine glutrote, rollende Flüssigkeit verwandelt, treffe ich zum ersten Mal Ariadne. Es ist sehr heiß und sie trägt nur eine ganz knappe Badehose. Ihre kleinen Brüste sind nackt. Sie ist braungebrannt und blond und schlank und zierlich. Zwei ihrer Freundinnen hat sie dabei, die eine weitaus weiblichere Figur besitzen. Wir unterhalten uns ein wenig, flirten miteinander. In die Unterhaltung lasse ich auch einige Witze einfließen und nur sie allein versteht meinen Humor, lacht, während ihre Freundinnen mit verständnisloser Miene daneben stehen. Ich frage sie schließlich: „Soll ich Dein Lover sein?“

Sie fragt: „Von was wollen wir leben?“

„Wir rauben Banken aus, so wie Bonnie und Clyde.“ - antworte ich ihr.

Daraufhin umarmt sie mich lachend und eine ungeheure Woge von Glück und Harmonie durchflutet mich.

Hypergirl II

Ariadne. Sie holt mich, wie durch einen uralten, mächtigen Zauber, zu sich in ihr Feen- und Spielzeugland. Mit silbernem Kleide sitzt sie auf einen neonbeleuchteten Thron. Auf ihrem Haar, das nun bläulich-schwarz ist, schimmerte die elektrische Beleuchtung in bunt schillernden Farben. Auf Englisch, das stark von dem Akzent der nördlichen Inseln durchsetzt ist, von denen sie stammt, redete sie in ihrer Jungmädchenstimme zu mir. Noch immer schwirren mir Bruchstücke von dem Gesagten im Kopfe herum: „I can feel it. There´s more to life than this. You should go down to the ocean, and fight with the elements. Don´t waste your time. Live your life!“ Eine grundlegende Begegnung. Ich fühle, wie mein Leben sich zu wandeln beginnt.

Hypergirl III

Ich habe mich am Wein und an Ariadne berauscht. Ihre Existenz durchdringt mich ganz. So als würden von ihr hochenergetische, elektrische Ströme ausgehen. Ihr bloßes Dasein, die Tatsache, das es sie gibt, übt auf mich eine ungeheure Sogwirkung aus. Es ist als würde man durch unendliche Räume stürzen – ihr entgegen. Was für eine magische Frau sie ist. Sie muss eine Hexe oder eine Fee sein. Oder einer jener Naturnymphen, die in den alten Märchen die Flüsse, Seen und Wälder bevölkern.

Traumahnungen

In der Nacht von einem Mann geträumt, der ein paar Straßen von mir entfernt wohnt. Freilich sah ich ihn im meinem gesamten bisherigen Leben kaum öfter als vielleicht ein dutzend Mal. Man kann also nicht unbedingt behaupten, dass ich eine besonders innige Beziehung zu ihm hätte. Im Gegenteil. Schon deshalb war ich am Morgen verwundert, dass ich überhaupt von ihm geträumt hatte. Dann erfuhr ich, dass seine Frau am gestrigen Tage gestorben war...

Der dritte Weltkrieg

Ich war wieder zum Militär einberufen worden. Aus undurchschaubaren Gründen war nun doch noch, trotz des Zusammenbruchs der Sowjetunion, vor mehr als einem Jahrzehnt, der dritte Weltkrieg ausgebrochen. Im Bereitstellungsraum unterhielt ich mich mit einigen Kameraden, die zwar im Range niedriger standen als ich, die aber bereits an Kampfeinsätzen teilgenommen hatten. Plötzlich, inmitten des Gespräches, kam mir der seltsame Gedanke: „Dass du einen höheren militärischen Rang hast als diese, nützt dir jetzt, da du sterben musst, auch nichts mehr“. Sie meinten dieser neue Krieg hätte viel Ähnlichkeit mit dem ersten Weltkrieg. Wieder wären Grabenkämpfe im Gange. Nur hätte man heute fünf Mal weniger Überlebenschancen als damals, da jeder Quadratmeter Boden zig Mal von Granatexplosionen umgepflügt würde. Einer deklamierte lange und gelehrt über „Den Todesmarsch durch den Stacheldraht“.