© Carolin von Wendt
Karl Olsberg, geb. 1960, studierte Betriebswirtschaft in Münster und promovierte über Künstliche Intelligenz. Er war Unternehmensberater bei McKinsey, Marketingleiter eines TV-Senders, erfolgreicher Gründer von zwei Unternehmen der New Economy, u. a. Preisträger »Start-up des Jahres 2000« der »Wirtschaftswoche«. Heute ist er Unternehmensberater in Hamburg und schreibt seit einigen Jahren. 2005 wurde er Sieger des Kurzgeschichtenwettbewerbs des »Buchjournals«.
www.karl-olsberg.de
Alle Handys klingeln zur selben Zeit. Humanoide Spielzeugroboter entwickeln ein seltsames Eigenleben. Navigationssysteme spielen verrückt. Modellflugzeuge attackieren eine Militärbasis. Wer steckt dahinter? Nur Michael Ogilvy und sein bester Freund, die künstliche Intelligenz Raf2, ahnen die Wahrheit. Doch ehe sie Beweise vorlegen können, wird Michael gekidnappt.
Spannung pur für Jugendliche ab 12 Jahren
Für Leopold
Mary Bloom schreckte aus dem Schlaf. Waren da Geräusche auf der Treppe? Ihr vom Punsch immer noch benebeltes Gehirn brauchte eine Weile, um zu begreifen, wo sie war. Sie setzte sich im Bett auf und versuchte, die leuchtenden Zahlen auf dem Wecker zu erkennen.
Sie rüttelte sanft an der Schulter ihres Mannes. »George, wach auf. Ich glaube, es ist so weit.«
»Hmrmpf. Was?«
»Guten Morgen, Schatz!« Sie beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Fröhliche Weihnachten!«
»Du machst wohl Witze! Es ist noch nicht mal fünf!« Er drehte sich auf die andere Seite.
»Aber ich habe gerade jemanden auf der Treppe gehört!«
»Na und, lass sie doch!«
»Willst du denn nicht dabei sein, wenn die Kinder ihre Geschenke auspacken?«
»Ich will vor allem eins: schlafen! Dieser Punsch deiner Mutter gestern …«
Typisch! Wann immer George schlechte Laune hatte, gab er ihrer Mutter die Schuld! Mary unterdrückte eine bissige Bemerkung. Immerhin war Weihnachten.
Aus dem Wohnzimmer drang das Geräusch zerreißenden Papiers, dann ein Laut des Entzückens. Mary seufzte, zog sich den Morgenmantel an und wankte die Treppe hinunter.
Matthew hatte die Tannenbaumbeleuchtung eingeschaltet. Der Raum strahlte im rhythmischen Blinken computergesteuerter Lichterketten. Mary musste unwillkürlich an die Casinos in Las Vegas denken. Als sie in Matthews Alter gewesen war, hatten die elektrischen Kerzen einfach nur geleuchtet. Manchmal erschien ihr die ganze Weihnachtsdekoration etwas zu viel des Guten, vor allem die vielen Lichterketten und blinkenden Skulpturen draußen vor dem Haus. Aber George hatte den Hang zur Übertreibung von seinem Vater geerbt und den Ehrgeiz entwickelt, die spektakulärste Weihnachtsdekoration in der ganzen Nachbarschaft zu haben. Wahrscheinlich mussten sie im Elektrizitätswerk in der Weihnachtszeit Sonderschichten einlegen. Manchmal fragte sich Mary, was wohl Jesus Christus davon halten würde, wenn er heutzutage durch die amerikanischen Städte spazierte.
»Guten Morgen, Schatz! Fröhliche Weihnachten!« Sie gab Matthew einen Kuss.
»Morgen, Mom!« Er riss den Rest des Geschenkpapiers von dem Paket in seiner Hand. »Oh, ein Buch!« Achtlos legte er es beiseite und wandte sich dem nächsten Geschenk zu.
Mary hörte leise Schritte die Treppe herunterkommen. Es war Emma, die gerade acht geworden und somit anderthalb Jahre jünger war als ihr Bruder. »Das ist gemein!«, rief sie. »Du hast gesagt, wir packen die Geschenke gemeinsam aus!«
»Du hast ja noch geschlafen!«, erwiderte Matthew, ohne von dem riesigen Paket aufzublicken, das er gerade bearbeitete.
»Das ist trotzdem gemein!« Emma stürmte zu ihrem Geschenkestapel und begann, hektisch das Papier aufzureißen, als wolle sie ihren Rückstand so schnell wie möglich aufholen.
»Fröhliche Weihnachten, mein Schatz!«, sagte Mary und gab ihr einen Kuss, doch Emma beachtete sie kaum. Sie stieß einen Schrei des Entzückens aus, als sie das größte Paket vom Papier befreit hatte.
»Wow! Guck mal, Matthew, eine iDolly! Eine echte iDolly!«
Ihr Bruder warf ihr einen kurzen, gelangweilten Blick zu. »Das ist doch bloß eine Puppe!«
»Aber die kann richtig sprechen!«, erwiderte Emma. »Und sogar verstehen, was ich sage! Das hab ich im Fernsehen gesehen!«
»Na und? Guck mal hier, was ich habe: einen iBot TX-8! Der kann sprechen und Sprache verstehen und Fotos machen und auf zwei Beinen gehen und richtig klettern! Und das Beste ist, dass ich ihn sogar mit dem Handy fernsteuern kann!«
»Kannst du gar nicht!«, sagte Emma. »Du hast ja gar kein Handy!«
»Ich hab ja noch nicht alle Geschenke ausgepackt«, erwiderte Matthew. »Da ist bestimmt noch eins drin!«
Mary zuckte innerlich zusammen. Ein Handy hatte er sich schon lange gewünscht, aber George und sie waren sich einig gewesen, dass es dafür noch etwas zu früh war.
Inzwischen hatte Emma ihre Puppe aus der Styroporverpackung befreit. Sie drückte einen Knopf auf der Rückseite. »Bitte schließe mich an deinen Computer an!«, sagte die Puppe mit einer quäkenden Stimme.
Emma hielt das Spielzeug mit beiden Händen vor sich in die Luft. »Hallo, iDolly!« Sie sprach betont laut und langsam. »Mein Name ist Emma!«
»Bitte schließe mich an deinen Computer an!«, gab die Puppe zurück.
»Aber … aber ich habe doch gar keinen Computer!«, sagte Emma. Tränen traten in ihre Augen.
»Das macht doch nichts«, warf Mary schnell ein. »Wir nehmen nachher Dads Computer.«
»Aber ich will jetzt mit iDolly spielen!«
»Dad schläft noch, Schatz, und du weißt doch, dass wir den Computer nicht ohne seine Erlaubnis einschalten dürfen!«
»Das … das ist ganz gemein!«, rief Emma. Enttäuscht starrte sie die Puppe an.
Inzwischen hatte auch Matthew sein Geschenk ausgepackt und auf den Boden gestellt. Es war ein silbern glänzender Roboter mit langen Armen und Beinen und einem Kopf, in dem ein einziges Kameraauge prangte. Für Mary sah er ein bisschen gruselig aus, wie die feindlichen außerirdischen Roboter aus einem dieser billigen Science-Fiction-Filme, die sie in ihrer Kindheit gesehen hatte.
Matthew drückte einen Schalter auf dem Rücken des Roboters. Surrende Geräusche waren zu hören, dann erklang eine glockenartige Melodie. »Hallo!«, sagte eine metallisch klingende Stimme. »Bitte gib mir einen Namen!«
»Ha!«, sagte Matthew triumphierend. »Siehst du, meiner funktioniert richtig!«
»Mein Name ist ›Hasiestu‹«, wiederholte der Roboter mit seiner schnarrenden Stimme. Offenbar war er in der Lage, die Laute, die er hörte, zu analysieren und irgendwie in seiner eigenen Sprache wiederzugeben. Erstaunlich, was man heute alles für 199 Dollar kaufen konnte!
»Nein, nein!«, sagte Matthew rasch. »Dein Name ist nicht ›Ha, siehst du‹! Das hab ich nur so gesagt.« Er zog die Stirn kraus. »Dein Name ist ›Robby‹!«
»Ich verstehe die Eingabe nicht«, gab der Roboter zurück, wobei er eine metallische Greifhand hob, als wolle er sich am Kopf kratzen. Er drehte seinen Kopf mit dem Kameraauge einmal um seine Achse. »Es ist schön hier!«, stellte er fest.
Mary lief ein Schauer über den Rücken. Konnte der Roboter wirklich erkennen, was er sah? Besaß er gar so etwas wie Geschmack? Nein, natürlich war die Aussage bloß vorprogrammiert – dasselbe hätte das Gerät auf einer Müllkippe von sich gegeben, wenn man es dort erstmals eingeschaltet hätte.
»Wie ist dein Name?«, fragte der Roboter.
Bevor Matthew reagieren konnte, rief Emma geistesgegenwärtig: »Blödmann!«
»Es freut mich, dich kennenzulernen, Blödmann!«, sagte der Roboter, während er die Hand ausstreckte und sich leicht vorbeugte. »Ich bin Hasiestu!«
»Nein, nein, nein!«, rief Matthew. »Das ist ganz falsch!« Tränen traten ihm in die Augen und sein Gesicht lief rot an.
Mary erkannte die Zeichen eines bevorstehenden Wutanfalls. Sie wollte ihn in den Arm nehmen, um ihn zu beruhigen und ihm zu erklären, dass man die Fehler sicher korrigieren konnte, doch er entwand sich ihr, rannte zu Emma und riss ihr die Puppe aus der Hand. »Da, da siehst du, was ich mit deiner Puppe mache!«, schrie er und schleuderte sie quer durch den Raum. Sie krachte gegen den unechten Kamin und riss einen der dort aufgehängten, prall mit Süßigkeiten gefüllten Strümpfe mit sich herunter. Schokolade, Kekse und Zuckerstangen kullerten über den Boden.
»Bitte schließe mich an deinen Computer an!«, kommentierte die Puppe ungerührt.
Emma stieß einen spitzen Wutschrei aus und stürzte sich auf den Roboter. Sie packte ihn am Arm und schleuderte ihn auf den Boden.
»Bitte sei etwas vorsichtiger mit mir!«, protestierte das Spielzeug. »Ich bin ein empfindliches elektronisches Gerät!« Es versuchte, sich auf die Seite zu drehen, um sich von selbst aufzurichten. Die Bewegung wirkte verblüffend menschlich.
Emma gab dem Roboter einen Fußtritt, sodass er quer über den Laminatboden unter die Kommode rutschte.
»Du … du blöde Kuh!«, schrie Matthew und stürzte sich auf seine Schwester. »Na warte!«
Mary hatte Mühe, die beiden kreischenden und heulenden Kinder voneinander zu trennen.
»Was ist denn hier los?«, fragte George, der plötzlich auf der Treppe stand. »Könnt ihr nicht etwas leiser sein? Ich möchte noch schlafen!«
»Haben wir den Herrn etwa gestört?«, zischte Mary, während sie Emma und Matthew an je einem ausgestreckten Arm festhielt. »Das tut mir aber sehr leid! Dabei feiern wir doch gerade so ein harmonisches Weihnachtsfest!«
»Was ist denn los? Warum macht ihr so ein Theater?«
»Sie … sie hat meinen Roboter kaputt gemacht!«, schluchzte Matthew.
»Stimmt ja gar nicht!«, erwiderte Emma. »Er hat angefangen!«
»Hab ich gar nicht!«
»Hast du wohl!«
»Hab ich nicht!«
George seufzte theatralisch. »Kinder, beruhigt euch bitte! Schließlich ist Weihnachten! Da muss man lieb zueinander sein. Und jetzt sagt mir mal, was eigentlich los ist.«
»Meine … meine Puppe geht nicht«, schluchzte Emma. Sie entwand sich Marys Griff und lief zu ihrem Dad, der sie in den Arm nahm. Typisch, er war mal wieder der Gute. »Und Mat ist daran schuld!«, ergänzte sie.
»Bin ich nicht!«
»Nun mal langsam. Warum funktioniert die Puppe denn nicht?«
»Sie sagt immer nur, ich soll sie an meinen Computer anschließen«, rief Emma unter Tränen. »Dabei hab ich doch gar keinen!«
»Das macht doch nichts!«, sagte George und strich ihr durch das lange braune Haar. »Wir schließen sie einfach an Daddys Computer an. Du wirst sehen, dann ist alles wieder gut!«
»Und ich?«, schrie Matthew und stampfte mit dem Fuß auf. »Immer kriegt sie alles! Und ich bekomme bestimmt schon wieder kein Handy!«
»Ein Handy?«, erwiderte George. »Hör mal, mein Sohn, wir haben doch darüber gesprochen, und …«
»Aber ich brauche ein Handy, sonst kann ich meinen Roboter nicht steuern! Und außerdem ist er sowieso kaputt!«
»Kaputt? Jetzt schon?«
»Er hat einen ganz falschen Namen und er denkt, ich heiße ›Blödmann‹. Bloß wegen dieser blöden Kuh da!«
»Wo ist er denn, dein Roboter?«
»Emma hat ihn getreten und er ist da unter die …« Er hielt inne und starrte hinter den Tannenbaum. »Was … was macht er denn da? Wow, cool!«
Mary folgte seinem Blick, dann klappte ihre Kinnlade herunter.
Der Roboter war dabei, an der Gardine hochzuklettern! Mit seinen Greifarmen hangelte er sich geschickt wie ein Affe an dem dicken Stoff empor. Schon erreichte er das Fensterbrett. Mit surrenden Elektromotoren balancierte er darauf entlang wie ein Hochseilartist. Schließlich reckte er beide Arme empor und versuchte, den Fenstergriff zu erreichen, doch dafür war er nicht groß genug.
»Was zum Teufel macht der denn da?«, fragte George.
Mary gab keine Antwort. Für sie sah es eindeutig so aus, als versuche der Roboter, das Fenster zu öffnen, um zu fliehen. Sie konnte es ihm nicht einmal verübeln.
»Morgen bringst du das Ding ins Geschäft zurück!«, sagte sie zu George.
»Nein!«, kreischte Matthew, riss sich von ihr los, packte den Roboter und presste ihn an seine Brust. »Ich will ihn behalten!«
Die Spielzeugmaschine schien Berührungssensoren zu besitzen, denn sie quittierte Matthews Liebesbezeugung mit den Worten: »Bitte drück mich nicht so fest, Blödmann!«
Der Schnee in der Stadt war anders als der, den ich von früher kannte: Anstelle des weiß glitzernden Pulvers, das unseren großen Garten immer in eine Märchenlandschaft verwandelt hatte, bedeckte brauner Matsch die Straßen. Schneite es, dann herrschte nicht etwa anmutige Stille, sondern die Straßen dröhnten vom Hupen frustrierter Autofahrer und dem dumpfen Grollen der Räumfahrzeuge. Winter war in der Stadt kein Grund zu ausgelassener Freude, sondern ein permanentes Ärgernis.
Trotzdem war ich gut gelaunt, als ich Richtung Schule stapfte. Zwar dachte ich immer noch mit Wehmut an meinen Zwillingsbruder Rafael, doch die Wunde, die sein Tod gerissen hatte, war inzwischen fast vernarbt und schmerzte nur noch dumpf, wenn ich mit meinen Gedanken daran rührte. Rafael hatte sich in seinen letzten Tagen gewünscht, dass ich ein glückliches Leben führe. Wenn ich das Andenken meines Bruders ehren wollte, war Trübsal fehl am Platz.
Möglicherweise – rein theoretisch natürlich – konnte meine gute Laune auch etwas damit zu tun haben, dass ich in wenigen Minuten im selben Klassenraum sitzen würde wie Sophie Bonham.
Paff! Etwas Schweres, Kaltes traf mich im Nacken und riss mir fast die Mütze vom Kopf. Hämisches Gelächter erklang. Ich fuhr herum.
»He, Tillerman, so wie du aussiehst, brauchst du dringend eine Gesichtswäsche!«
Ich hatte gerade noch Zeit, mich unter zwei weiteren Schneebällen wegzuducken. Es war Ron Foster in Begleitung der beiden Typen, mit denen er immer rumhing. Wer auch sonst? Aus irgendeinem Grund hatte er es auf mich abgesehen. Vielleicht, weil ich für die meisten weiterhin nur der »Neue« war und kaum Freunde hatte, obwohl ich jetzt schon fast acht Monate auf die Parson Hills High School ging. Vielleicht auch deshalb, weil ich der jüngste Schüler war. Ron war der Typ Mensch, der die Schwächen anderer nutzte, um seine eigenen zu überspielen. Indem er andere piesackte, fühlte er sich selbst stark.
Ich hätte ihm nur zu gern eine kleine Lektion erteilt, so wie damals diesem arroganten Trottel Bruce Kelley im Internat Windcliff Manor, einem schrecklichen Ort, von dem ich nach nur einem Tag geflohen war. Aber das ging natürlich nicht – ich musste es unbedingt vermeiden aufzufallen. Wenn die übrigen Schüler jemals rauskriegten, dass ich in Wirklichkeit Michael Ogilvy hieß und der Sohn eines Milliardärs war, wäre es mit meinem beschaulichen Leben vorbei. Dabei wünschte ich mir nichts mehr, als ganz normal aufzuwachsen.
»Hey, ich glaube, den Typ müssen wir mal richtig einseifen«, rief Carlos, einer von Rons Begleitern. Allein war er eigentlich ganz in Ordnung, aber wenn er mit Ron und Steve Fowley zusammen war, mutierte er zu einem gehässigen Ekel.
»Jau, schnappen wir ihn uns«, rief Ron.
Sie kamen langsam auf mich zu. Als Träger des Braunen Gürtels in Jiu-Jitsu hätte ich es leicht mit den dreien aufnehmen können, aber das durften sie nicht wissen. Also rannte ich los.
»Die feige Sau haut ab!«, schrie Steve. »Hinterher!«
Ich wäre ihnen wahrscheinlich entwischt, wenn ich nicht im Matsch ausgerutscht wäre, als ich gerade eine Häuserecke umrundete. Ich schlug hin, und im Nu waren sie über mir. Sie rissen mir die Mütze vom Kopf und rieben mir das Gesicht mit schmutzigem Schnee ein. Sand und kleine Steine zerkratzten mir die Haut. Ich brauchte all meine Willenskraft, um meine Wut zu unterdrücken und mich nicht zu wehren.
»Was für ein Loser!«, rief Ron, als die drei endlich von mir abließen. Seine Kumpane lachten.
Ich rappelte mich auf und sammelte die Mappen ein, die aus meinem Rucksack gefallen waren. Meine Kleidung war von oben bis unten verdreckt. Die Hexe würde einen Anfall kriegen, wenn ich nach Hause kam.
Wir hatten uns darauf verständigt, dass ich Nancy zu ihr sagte. Nach außen taten wir so, als sei sie meine Mutter, aber dazu, sie »Mom« zu nennen, hätte ich mich niemals durchringen können. Im Geiste blieb sie für mich »die Hexe«. Ich wusste längst, dass sie nicht so böse war, wie ich früher geglaubt hatte, und dass ihre Strenge uns gegenüber in Wahrheit der Liebe zu Rafael und mir geschuldet war. Trotzdem: Alte Gewohnheiten sind nur schwer abzulegen.
Als die drei außer Sichtweite waren, holte ich das Smartphone aus der Innentasche meiner Jacke und schaltete es ein. Eine kurze Melodie ertönte, dann blickte mir ein vertrautes Gesicht entgegen. Für einen Beobachter hätte es wahrscheinlich so ausgesehen, als hätte ich ein Video von mir selbst auf das Handy gespielt, doch in Wirklichkeit war es das animierte Gesicht meines Zwillingsbruders, das jetzt meinem besten Freund gehörte – einer Maschine.
»Geht es dir gut?«, fragte das Computerprogramm »Rafael 2.0«, das ich der Einfachheit halber Raf2 nannte. Die ursprüngliche Programmversion, die mein Vater gemeinsam mit dem Programmierer Ozelot und meinem Bruder entwickelt hatte, war bei einem Angriff des bösartigen Computersystems Metatron zerstört worden. Zwar war es meinem Vater gelungen, in mühevoller Kleinarbeit den größten Teil der Software zu rekonstruieren, doch Raf2s Gedächtnis hatte Lücken. Dafür lief er jetzt auf einem Computersystem, das um ein Vielfaches leistungsfähiger war. Das Smartphone in meiner Hand stellte nur die Kommunikation zu dem Rechenzentrum her, das mein Vater extra für ihn gebaut hatte.
»Ich bin okay«, sagte ich.
»Ich verstehe nicht, warum sich diese Menschen so verhalten haben«, kommentierte Raf2. »Sie hatten doch keinen Grund, aggressiv gegen dich zu sein.« Offenbar hatte er eine Menge von der Auseinandersetzung mitbekommen, obwohl ich das Handy in einer gepolsterten Innentasche meiner Jacke versteckt hatte.
»Wenn Menschen nur mit gutem Grund aggressiv wären, gäbe es keine Kriege auf der Welt«, erwiderte ich.
»Möchtest du, dass ich die Polizei informiere?«
»Raf2, ich habe dir schon zigmal gesagt, dass du keinen Kontakt mit irgendwelchen Behörden aufnehmen darfst.«
»Die Zahl ›Zig‹ ist mir nicht bekannt.«
Ich seufzte innerlich. Raf2 war eben manchmal doch bloß ein Computer. »Das sagt man nur so. Zigmal bedeutet so viel wie ›sehr oft‹. Ist ja auch egal. Jedenfalls darf niemand wissen, dass es dich gibt.«
»Viele Menschen wissen, dass es mich gibt. Dein Vater, Ozelot, die Techniker im Rechenzentrum, Nancy, Rebecca, Carl …«
»Jaja, schon gut!«, unterbrach ich ihn. »Aber niemand sonst! Was immer du tust, du musst verhindern, dass noch mehr Menschen von deiner Existenz erfahren! Hast du das verstanden?«
»Ja.«
»Gut.«
»Aber ich habe nicht verstanden, warum niemand von meiner Existenz erfahren darf.«
»Weil die Leute Angst vor dir haben.«
»Angst? Ich tue doch keinem etwas. Im Gegenteil: Ich habe dir geholfen, die Welt vor einer großen Gefahr zu bewahren.«
Das stimmte: Ohne Raf2s Hilfe wäre es niemals gelungen, Metatron zu besiegen. Raf2 hatte ihn zum Kampf herausgefordert, die Auseinandersetzung im Internet übertragen und so der ganzen Welt gezeigt, dass es dieses Programm tatsächlich gab – auch wenn mein Vater die Sache später als Werbegag hinstellte, um die Familie und die Firma zu schützen. Der Präsident selbst hatte schließlich dafür gesorgt, dass das Metatron-System abgeschaltet wurde. Raf2 – die ursprüngliche Version – war bei dem Kampf zerstört worden. Die künstliche Intelligenz hatte sich für die Menschheit geopfert.
Konnte es sein, dass Raf2 traurig war, weil er dafür keine Anerkennung bekam? Hatte er das Bedürfnis nach Bewunderung durch die Menschen? Fühlte er sich vielleicht manchmal einsam? Unsinn. Neugierig, wie er programmiert worden war, wollte er bloß verstehen, was um ihn herum vorging.
»Die Menschen haben Angst vor dem, was sie nicht verstehen,« antwortete ich.
»Wir könnten ihnen doch erklären, wie ich funktioniere. Dann würden sie wissen, dass ich …«
»Nun hör schon auf! Nicht mal Dad versteht in allen Einzelheiten, wie du funktionierst.«
»Wirklich nicht? Aber er hat mich doch geschaffen!«
»Schon, aber das bedeutet nicht, dass er genau weiß, wie du unter bestimmten Umständen reagieren wirst.«
»Das verstehe ich nicht.«
Ich überlegte, wie ich ihm das erklären sollte. Mir fiel ein Experiment aus dem Physikunterricht ein. »Weißt du, was ein Doppelpendel ist?«
»Natürlich. Es handelt sich um ein Pendel, an dessen Ende ein weiteres Pendel angebracht ist. Ein simples physikalisches System.«
»Was passiert, wenn du dieses Pendel in Bewegung versetzt?«
»Das ist einfach zu berechnen. Die Bewegungsvektoren des Pendels hängen von dem Impuls ab, den das System erhält. Augenblick, ich berechne eine Funktion, die …« Raf2 schwieg einen Moment, wobei sich die Stirn seines Gesichts auf dem Smartphone kräuselte. »Oh«, sagte er nach einer Weile. »Ich stelle fest, dass ich trotz all meiner Rechenleistung nicht exakt vorausberechnen kann, wie sich das Pendel bei bestimmten Impulsen verhält. Jetzt verstehe ich, was du mir sagen willst: Selbst bei einem einfachen System wie einem Doppelpendel ist es unmöglich vorherzusagen, was es unter bestimmten Umständen tut. Bei einem so komplexen System wie mir geht das erst recht nicht. Aber … aber das bedeutet doch, dass praktisch alle technischen Systeme nicht exakt zu berechnen sind. Müssten die Menschen dann nicht vor all der Technik Angst haben?«
»Eigentlich schon. Aber Menschen gewöhnen sich an unbekannte Dinge. Beim ersten Mal haben sie vielleicht noch Angst davor, in ein Flugzeug zu steigen oder ein Auto zu steuern. Aber wenn sie es ein paarmal gemacht haben, denken sie nicht mehr darüber nach.«
»Vielleicht könnten wir die Menschen dann auch an mich gewöhnen.«
»Vielleicht. Möglicherweise würden sie dich jedoch vorher abschalten. Wie dem auch sei: Niemand darf wissen, dass ich Michael Ogilvy bin und mit der leistungsfähigsten künstlichen Intelligenz der Welt in Kontakt stehe. Also tu mir den Gefallen und halt dich zurück. Ich komm schon allein zurecht.«
»Ich habe verstanden.«
Ich schaltete das Display aus und steckte das Smartphone wieder ein. Als ich auf die Uhr sah, bekam ich einen Schreck: Ich war schon wieder zu spät dran! Jetzt half nur noch ein Sprint …
Alle Augen waren auf mich gerichtet, als ich verdreckt und außer Atem das Klassenzimmer betrat. Ron, Steve und Carlos grinsten hämisch, die anderen wirkten eher peinlich berührt.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte Dr. Frenzen, unser Mathe- und Physiklehrer.
»Entschuldigen Sie die Verspätung«, erwiderte ich. »Ich bin auf dem Weg hierher ausgerutscht und habe mir den Fuß verstaucht.« Ich hinkte zu meinem Platz in der vorletzten Reihe. Sophie warf mir einen missbilligenden Blick zu, bevor sie sich wieder ihrem Buch zuwandte. Sie musste mich für einen Riesentrottel halten, wenn ich nicht mal den Schulweg schaffte, ohne hinzufallen.
»Vielleicht solltest du lieber zum Arzt gehen«, sagte Dr. Frenzen.
»Nein, nein, es geht schon wieder«, antwortete ich.
Den Rest der Stunde sann ich darüber nach, wie ich es Ron Foster heimzahlen konnte, ohne meine überlegene Kampftechnik einzusetzen. Was Dr. Frenzen uns über Differenzialrechnung erzählte, wusste ich längst. Mit der Schulausbildung, die ich durch unsere Privatlehrer erhalten hatte, hätte ich mühelos eine oder sogar zwei Klassen überspringen können. Aber wir hatten entschieden, darauf zu verzichten, weil auch das nur unnötiges Aufsehen erregt hätte. So machte ich in Klassenarbeiten absichtlich Fehler und galt als eher durchschnittlicher Schüler.
Endlich kam die große Pause. Wie üblich hielt ich mich etwas abseits; ich hatte immer noch Schwierigkeiten, mich mit anderen Schülern anzufreunden. Nicht, weil ich übermäßig schüchtern bin, mir fehlte einfach die Erfahrung. Bis zu meinem 13. Lebensjahr hatte ich außer zu meinem Zwillingsbruder nie Kontakt zu Gleichaltrigen gehabt. Außerdem hatte ich Angst, dass mein Geheimnis auffliegen würde, wenn ich mich zu eng mit meinen Klassenkameraden einließ. Die anderen mussten mich für seltsam halten, aber das war mir gerade recht.
Oder besser gesagt, es war mir bis vor Kurzem recht gewesen. Aber dann hatte mir Sophie einen Blick zugeworfen – und der hatte alles verändert! Jetzt stand sie mit ihren Freundinnen zusammen und beachtete mich nicht. Sollte ich mich ihr nähern und sie ansprechen? Nein, undenkbar, so wie ich aussah.
»Hast du dich wieder in Schweinemist gewälzt, oder was?«
Ich fuhr herum. Rebecca tauchte hinter mir auf und lächelte. Sie war die Nichte der Hexe und somit offiziell meine Cousine. Sie hatte eine wilde Lockenmähne und die dunkle Hautfarbe ihrer Mutter, die, genau wie meine, früh gestorben war. Da ihr Vater Carl und sie zusammen mit Nancy Tillerman und mir eine Wohnung teilten, war sie aber eher so etwas wie eine Schwester für mich: Manchmal nervte sie und wir stritten uns heftig, trotzdem war ich froh, jemanden zu haben, mit dem ich offen reden konnte. In den Pausen hätte ich gern mehr Zeit mit ihr verbracht, aber sie ging in eine andere Klasse und hing immer mit ihren Freundinnen rum. Außerdem wollte ich nicht, dass sie das Gefühl hatte, sich um mich kümmern zu müssen.
»Ich hab gedacht, jemand wäre hinter mir her«, sagte ich und tat so, als sähe ich mich ängstlich nach irgendwelchen Verfolgern um.
Rebecca grinste, wurde jedoch rasch wieder ernst. »Hast du Ärger?«
Ich winkte ab. »Nein, alles okay.«
Ihre Augen wurden schmal. »Du weißt genau, dass du mir nichts vormachen kannst, Michael.«
»Es ist nichts, ehrlich. Nur so ein blöder Angeber in meiner Klasse.«
»Ron Foster?«
Ich nickte.
»Das ist ein mieser Typ. Er hat mich mal blöd angemacht. Ich hab ihm eine reingehauen, seitdem lässt er mich in Ruhe. Er ist ein Schwächling, der so tut, als sei er ein harter Kerl. Deshalb hat er sich auch die beiden größten Loser der Schule als Verstärkung geholt.«
Jetzt war es an mir zu grinsen. Rebecca war im Grunde gutmütig, aber wenn man sie reizte, konnte sie ganz schön unangenehm werden.
»Wieso erteilst du dem nicht mal eine Lektion? Du kannst es doch locker mit ihm aufnehmen!«
»Du weißt genau, dass ich kein Aufsehen erregen darf! Bisher gelte ich als ängstlicher Außenseiter. Wenn ich plötzlich den Schul-Grobian vermöbele …«
Sie nickte. »Vielleicht gibt es ja cleverere Methoden. Ich muss los. Viel Glück!«
»Wie siehst du denn aus!«, schimpfte die Hexe erwartungsgemäß, als ich spätnachmittags nach Hause kam. »Kannst du nicht ein bisschen sorgfältiger mit deinen Sachen umgehen? Wir haben hier keine Angestellten, die sich um die Wäsche kümmern!«
»Tut mir leid, Nancy. Ich bin ausgerutscht und hingefallen.« Ich sah keinen Sinn darin, ihr von meiner Begegnung mit Ron Foster zu erzählen, sie hätte sich nur unnötig aufgeregt.
Sie warf mir einen skeptischen Blick zu. »Hingefallen? Du siehst aus wie damals, als du dich im Schweinemist gewälzt hast!«
Ich seufzte. Die Geschichte würde mir wohl mein Leben lang nachhängen. Ich hatte mich auf der Flucht aus dem Internat tatsächlich im Schlamm eines Schweinepferchs herumgewälzt, um die Hunde meiner Verfolger zu verwirren. Genützt hatte es nichts, denn eine Bäuerin hatte mich verraten. Wenn mir die Hexe und der treue Fahrer meines Vaters damals nicht in letzter Sekunde zur Hilfe gekommen wären, säße ich jetzt wahrscheinlich immer noch in diesem als Internat getarnten Jugendgefängnis namens Windcliff Manor fest – und Metatron würde insgeheim seine Fäden spinnen, um die ganze Welt unter seine Kontrolle zu bringen. Ich schüttelte mich bei dem Gedanken.
»Wie siehst du denn aus? Hast du dich in Schweinemist gewälzt, oder was?« Das war Carl, Nancys Bruder, der gerade zur Wohnungstür hereinkam, die Tasche mit seiner E-Gitarre über die Schulter geschlungen. Er verdiente etwas Geld mit Gelegenheitsjobs, verbrachte jedoch die meiste Zeit im Übungsraum seiner Band Devil’s Tooth. Ich erinnerte mich mit einer Mischung aus Schaudern und Freude an den Auftritt dieser Band, bei dem ich selbst als Keyboarder mitgespielt hatte. Seit damals war ich ein paarmal bei den Proben gewesen und hatte auch bei einigen Sessions mitgemacht, dennoch war ich kein (richtiges) Bandmitglied. Vielleicht würde ich irgendwann meine eigene Band gründen. Bisher fehlten mir dafür allerdings die anderen Musiker …
»Ist hier vielleicht noch jemand, der mich das fragen möchte?«, fragte ich genervt.
»Am besten duschst du erst mal und ziehst dir saubere Sachen an«, meinte die Hexe.
Wir lebten in einer nicht sehr großen Wohnung in einer nicht sehr angenehmen Nachbarschaft. Manchmal bedauerte ich Nancys Eigensinn. Sie hatte sich geweigert, in eine größere Wohnung in ein schöneres Viertel zu ziehen, obwohl mein Vater das gern finanziert hätte. Sie war der Ansicht, ich sollte in derselben Gegend aufwachsen wie sie. Ich war einverstanden gewesen – wenn schon, denn schon – und dazu bereit, die Nachteile, die damit verbunden waren, in Kauf zu nehmen, wie zum Beispiel ein einziges Badezimmer für vier Personen. Rebeccas Mädchenkram nahm darin Dreiviertel der verfügbaren Regalfläche ein und sie blockierte es jeden Morgen so lange, dass ich eine halbe Stunde früher aufstehen musste als notwendig.
Das Leben als Sohn eines Milliardärs in einer riesigen, einsamen Villa voller Angestellter hatte durchaus seine Vorzüge gehabt. Trotzdem hätte ich nicht dorthin zurück gewollt.
Nachdem ich geduscht hatte, ging ich in mein Zimmer. Es war nicht sehr groß; das einzige Fenster zeigte auf einen kleinen, schäbigen Innenhof, auf dem es oft ziemlich laut zuging. Ein Bett, ein kleiner Schreibtisch, ein Bücherregal und ein schmaler Kleiderschrank waren die ganze Einrichtung. An den Wänden hingen ein Plakat von Devil’s Tooth und ein paar Fotos von meinem Vater, meiner Mutter und Rafael. Verglichen mit Rebeccas Zimmer wirkte meines karg, aber das störte mich nicht.
Ich schaltete den Laptop auf meinem Schreibtisch ein. Raf2s Gesicht lächelte mir entgegen. »Hallo, Michael. Hast du Lust, etwas zu spielen?«
Ich schüttelte den Kopf. Mir stand der Sinn nach etwas anderem. »Zeige mir bitte das ›Mybook‹-Profil von Sophie Bonham«, sagte ich.
Bildete ich es mir nur ein, oder zog Raf2 eine Augenbraue hoch? Bevor ich mir sicher sein konnte, verschwand sein Gesicht und Sophies Mybook-Profilseite erschien. Ich selbst hatte dort kein Profil angelegt, was mich in den Augen der anderen Schüler umso mehr zum Sonderling machte. Aber was hätte ich auch eingeben sollen? Freunde: 2 – meine »Cousine« Rebecca und eine künstliche Intelligenz namens Rafael 2.0. Hobbys: so tun, als wäre ich »normal«. Nein, je weniger ich über mich offenbarte, umso weniger konnte ich mich in Widersprüche verstricken. Sollten die anderen mich ruhig für merkwürdig halten.
Eigentlich hätte ich Sophies Profilseite gar nicht sehen dürfen – die Informationen waren nur angemeldeten Mitgliedern des Netzwerks zugänglich. Aber die simplen Sicherungsmechanismen von Mybook zu überwinden und auf seine Daten zuzugreifen, war eine der leichtesten Übungen für Raf2.
Sophies Profilfoto war hübsch, wirkte jedoch ein bisschen bieder, fast wie ein Passbild. Aber es gab eine Menge Fotos von Partys, auf denen sie Arm in Arm mit Leuten, die ich nicht kannte, in die Kamera lächelte. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn ich selbst auf einem dieser Fotos zu sehen wäre. Aber ich hatte noch nie eine Party besucht und war auch noch nie zu einer eingeladen worden …
Als Hobbys hatte Sophie Musik hören, Ausgehen und Shoppen angegeben. Typisch Mädchen eben.
Sie hatte 272 Freunde, viele davon Schüler und Schülerinnen der Parson Hills High School. Darunter war fast das gesamte Football-Team der Schule – kein Wunder, schließlich war sie Cheerleaderin. Dann entdeckte ich Ron Foster unter ihren Freunden – und eine tiefe Enttäuschung machte sich in mir breit. Wie konnte es sein, dass sie mit so einem Blödmann befreundet war?
Ich klickte auf Rons Namen. Auf seinem Profilbild versteckte er seine Visage hinter einer protzigen Sonnenbrille. Wahrscheinlich bildete er sich ein, cool auszusehen. Auch er hatte jede Menge Partybilder hochgeladen. Eines zeigte ihn Arm in Arm mit Sophie.
Angewidert klickte ich zurück zu Sophies Profil und durchsuchte ihre Bilder. Tatsächlich, dasselbe Foto! Mit Datum! Es war erst acht Wochen alt. Bedeutete das etwa …
In diesem Moment ging die Tür auf. Rebecca! Hastig klappte ich den Laptop zu. Wenn sie mich dabei ertappt hätte, wie ich Sophie nachspionierte …
»Kannst du nicht anklopfen?«, blaffte ich sie an.
Erschrocken blieb sie in der Tür stehen. »Entschuldige, ich … äh, es gibt Abendessen!«
Mit glühenden Ohren folgte ich ihr in die Küche. Während des Essens schwieg ich beharrlich. Rebecca warf mir hin und wieder fragende Blicke zu, sagte jedoch nichts.
»Was ist denn los?«, fragte die Hexe irgendwann. »Ihr seid so schweigsam.«
»Nichts«, antwortete ich knapp.
Sie zog eine Augenbraue hoch, bohrte aber nicht nach.
Das Leben in einer ganz normalen Familie war wirklich nicht so einfach, wie ich gedacht hatte.
Elliot Squirrel überreichte seiner Tochter das Paket. Es hatte eine unregelmäßige, längliche Form und war in schlichtes Packpapier eingewickelt, mit einer roten Schleife darum. »Happy Birthday, Liebes!«
Leandra strich eine Strähne ihres schwarz glänzenden Haars beiseite, das so ganz anders war als die zerfranste rötlich blonde Mähne, die auf Squirrels Kopf in alle Richtungen abstand wie die Perücke eines Clowns. Sie sah ihn misstrauisch an. »Was ist das, Dad?«
Er grinste. »Mach’s doch auf, dann weißt du’s!«
Sorgfältig löste sie die Schleife und legte das Geschenkband ordentlich zur Seite. Sie lässt nichts verkommen, genau wie ihre Mutter, dachte Squirrel und ein Stich durchfuhr ihn. Schnell verdrängte er den Schmerz. Heute war Leandras 14. Geburtstag, da war kein Platz für Trübsal.
Sie wickelte das Geschenk aus und starrte verblüfft und ein bisschen erschrocken, wie ihm schien, auf das metallisch glänzende Spielzeug. »Was … was ist das, Dad?«
»Na ja, das sieht man doch. Es ist ein Roboter. Gefällt er dir nicht?«
»Äh, doch, aber …« Sie sah ihn scharf an, mit diesem strengen Blick, den sie ebenfalls von ihrer Mutter geerbt hatte. »Dad, du bist auf Bewährung draußen. Du weißt genau, dass du dir nicht die kleinste Sache zuschulden kommen lassen darfst. Und schon gar nicht, nur um mir was zum Geburtstag zu schenken!«
Er hob abwehrend die Hände. »Nein, nein, du liegst ganz falsch! Ich hab ihn nicht gestohlen, ich hab ihn gefunden. Ehrlich!« Er merkte selbst, wie dämlich das klang.
Leandra zog eine Augenbraue hoch und wartete.
»Es ist wahr, das schwöre ich! Ich war in dieser reichen Gegend unterwegs, du weißt schon, unten am Fluss, um … ein bisschen spazieren zu gehen.«
»Dad, du hast da nichts zu suchen! Bei deinem Vorstrafenregister reicht es schon, wenn die Bullen dich nur in der Nähe eines Hauses sehen, in dem reiche Leute wohnen!«