Mark Zak, Schauspieler und Autor, wurde 1959 in Lwiw geboren, wuchs in Odessa auf und kam 1974 mit seiner Familie aus der UdSSR nach Westdeutschland. Er lebt heute in Köln. 2013 erschien sein Krimi Glaube Liebe Mafia, der im selben Jahr als Hörspiel beim WDR gesendet wurde. 2017 schrieb er für den Deutschlandfunk das Feature Erinnert euch an mich. Machno und seine anarchistische Armee, aus dem dieses Buch entstand.

Bini Adamczak lebt in Berlin und arbeitet als Autorin und Künstlerin zu politischer Theorie, queerfeministischer Politik und der vergangenen Zukunft von Revolutionen. Zuletzt erschien von ihr Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende (Berlin 2017) und Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom womöglichen Gelingen der Russischen Revolution (Münster 2017).

Mark Zak

Erinnert euch an mich

Über Nestor Machno
Porträt des ukrainischen
Anarchisten

Mit einem Nachwort
von Bini Adamczak

Da dieses Buch hauptsächlich aus Zitaten besteht,

die dazu häufig mehrfach gekürzt sind,

wurde um der besseren Lesbarkeit willen

auf die Auslassungspunkte verzichtet.

Herzlichsten Dank an die Betreiber der Seite

http://www.makhno.ru für die Bereitstellung

der Bilder, an den Historiker Jurij Mischtschenko

und das Heimatmuseum in Gulajpole.

Abb. S. 105 und Titelbild: © alamy stock photos

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49a · D - 22761 Hamburg

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Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2018

Originalveröffentlichung · Erstausgabe September 2018

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

ePub ISBN 978-3-96054-086-1

Im Andenken an meine Mutter, Dr. Irina Rogosa

(*10.11.1919, Kachowka, Ukraine – †12.09.2007, Köln)

Inhaltsverzeichnis

Karte der Ukraine um 1920

Vorwort

1888–1904

1904–1910

1910–1917

1917

1918–1919

1920–1921

1921–1934

Nachwort von Bini Adamczak

Zitierte Quellen

Personenverzeichnis

Vorwort

Zwei Wochen meiner Sommerferien 1976 verbrachte ich in einem Kibbuz in Israel. Dort lernte ich bald beim gemeinschaftlichen Abendessen in der Kantine eine ältere Frau kennen. Sie war vor Jahrzehnten aus der Ukraine nach Israel ausgewandert und freute sich nun, mir gegenübersitzend, wieder russisch reden zu können. Sie erzählte von der Gründung des Kibbuz, von ihrer Flucht nach Palästina, von der Russischen Revolution.

»Und im Winter 1918, als ich mit meinen Eltern auf dem Weg von Jekaterinoslaw nach Odessa war, ist unser Zug von Machnowzy überfallen worden …«

»Wie haben Sie das überlebt? Sind Sie sicher, dass es Machno war?«

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass man als Jude einen Machno-Überfall überleben konnte. Fast acht Jahre war ich in einer sowjetischen Schule unterrichtet worden und wusste über die Revolution bestens Bescheid; Machno war ein schizophrener, sadistischer Bandit, der nur am Saufen, Plündern und an Judenpogromen Spaß hatte.

»Und ob ich sicher bin! Ich war bereits 16.«

»Haben die euch nicht als Juden erkannt?«

»Doch. Aber das hat sie nicht interessiert. Offiziere und feine Herrschaften haben sie ausgeraubt und erschossen. Aber wir waren arm, sie ließen uns gehen und gaben uns sogar warme Kleider und Essen mit.«

An den nächsten Abenden bin ich dieser Frau erfolgreich ausgewichen; es gab im Kibbuz um die hundert junge Leute aus aller Welt, von denen die Hälfte hübsche Mädchen waren, und sie haben mich – einen 17-jährigen Jugendlichen – wesentlich mehr interessiert, als die Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit. Doch diese Begegnung – meine einzige mit einem Zeitzeugen – habe ich nie vergessen.

Ein Jahr später begann ich zum ersten Mal, mich mit Machno auseinanderzusetzen. Es waren die politisierten endsiebziger Jahre, und ich war bereits Schauspielschüler in Köln (Kunst ist ja bekanntlich die Avantgarde der Revolution, und diese stand nach meiner damaligen Einschätzung kurz bevor), beschäftigte mich mit Marx, Bakunin, Kropotkin, las die wenigen Broschüren über Nestor Machno.

Schließlich landete ich bei Film und Fernsehen, einem Industriezweig, der bei Freunden und Feinden über jeden Verdacht erhaben ist, als fortschrittlich, solidarisch oder gar revolutionär zu gelten. Doch mein Interesse für Machno blieb.

Es sollten allerdings genau vierzig Jahre vergehen, bis ich ernsthaft und systematisch begann, mich mit ihm und seiner Bewegung zu befassen. Der Auslöser war, wie so oft, ein Zufall. Ich las Majakowski-Gedichte für ein Feature beim Deutschlandfunk ein und kam nach der Sprachaufnahme mit der damaligen DLF-Redakteurin Karin Beindorff ins Gespräch. Wir redeten über die Russische Revolution und in diesem Zusammenhang auch über Machno und seine Bewegung. Am Ende der Unterhaltung schlug mir Karin Beindorff vor, ein Feature über ihn zu schreiben. Dankend nahm ich das Angebot an.

Im Frühjahr 2017, kurz nach der Ausstrahlung des Features, kontaktierte mich Hanna Mittelstädt, Verlegerin der Edition Nautilus, und fragte, ob ich mir vorstellen könnte, ein Buch über Machno zu schreiben. Ich bat um eine Woche Bedenkzeit, vertiefte mich erneut in die Recherche und entdeckte per Zufall, dass das kleine Städtchen Kachowka im Süden der Ukraine – der Geburtsort meiner Mutter im November 1919 – in ihrem Geburtsmonat von Machno befreit (oder, je nach Sichtweise, besetzt) wurde. Ich hielt das für ein gutes Omen und sagte Hanna Mittelstädt zu.

In den letzten Jahren sind einige beachtenswerte Bücher über die Machnowschtschina, vor allem in der Ukraine und Russland, erschienen. Diese Bücher beschäftigen sich allerdings vorwiegend mit der Machno-Bewegung und ihrer Rolle im militärischen Verlauf des Bürgerkriegs. Mein größeres Interesse aber galt schon immer eher dem Menschen Nestor Machno, seinem Leben, seinem Schicksal, seiner äußerst widersprüchlichen und komplexen Persönlichkeit. Ein Urteil über Machno zu fällen, steht mir nicht zu. Deswegen verwende ich fast ausschließlich die Aussagen und Aufzeichnungen von seinen zwei Frauen, Familienmitgliedern, Mitstreitern, Zeitzeugen, von Menschen, die ihn gesehen und gekannt haben, und von Machno selbst. Manche Ereignisse habe ich, wenn die Möglichkeit bestand, aus mehreren, manchmal auch sich widersprechenden Quellen geschildert. Ergänzend hierzu erschien es mir punktuell sinnvoll, die russischen und ukrainischen politischen, historischen und sozialen Hintergründe jener Zeit zu erläutern, um die Beweggründe von Machno und seiner Bewegung besser verstehen zu können.

Manche Zeugnisse sind unter Druck im Gefängnis entstanden, andere aus der Erinnerung geschrieben oder erzählt – und mit unterschiedlich großem Abstand, einige Jahre später oder einige Jahrzehnte. Der Großneffe von Machno etwa, Viktor Jalanskij, schrieb 1993 in seinem Buch Nestor und Galina über Gespräche, die er zwanzig Jahre zuvor, 1973, mit der damals 75-jährigen ersten Frau Machnos, Anastassia Wassezkaja, geführt hatte, die von Ereignissen erzählt, die wiederum über fünfzig Jahre zurücklagen. Die Aufzeichnungen von Machnos Adjutanten Tschubenko und dem Generalstabschef Belasch entstanden im bolschewistischen Gefängnis; und auch Machnos Schriften können nicht unangefochten als eine einwandfreie historische Quelle gelten.

Doch unabhängig von dem prozentualen Anteil der historischen Wahrheit, die wahre Stimmung, die Atmosphäre, die Luft jener Zeit sind in den Berichten zu spüren, und diese können – hoffe ich – auch einem nicht russischen/ukrainischen Leser zu einem Einblick in diese wirre Zeit verhelfen und ein Schlaglicht auf Machnos Persönlichkeit werfen.

Syndikalist Nr. 43/1922, Beilage

Nestor Machno ist eine sagenhafte Gestalt in der Russischen Revolution. Seine entschlossene und energische Handlungsweise, seine Beweglichkeit, Unstetigkeit, sein Verschwinden und schnelles Wiederauftauchen, seine unglaubliche Kühnheit, vereinigt mit einem klarsehenden Geiste, und seine militärische Genialität machten aus ihm eine Gestalt des Schreckens und des Hasses für die Bourgeoisie, der stolzen Befriedigung und Legenden für das Volk.

Rudolf Rocker, deutscher Publizist und Anarchist

Es war, wenn ich mich recht entsinne, Anfang 1923 (tatsächlich Anfang 1925, A.d.Hg.), dass der bekannte Freischarenführer Nestor Machno nach Berlin kam und eine kurze Zeit bei uns verweilte. Ich hatte bereits manches gehört von dem Rebellen, der drei Jahre lang die Seele der großen insurrektionellen Volksbewegung in der Ukraine war und durch seine Tatkraft und Entschlossenheit geradezu Unglaubliches geleistet hat. Als er mich das erste Mal in der Begleitung Volins besuchte, fühlte ich mich ein wenig enttäuscht, einen kleinen Mann vor mir zu sehen, dessen äußere Erscheinung mit allem, was ich von ihm gehört hatte, in gar keinem Verhältnis stand. Nur das energische, kühn geschnittene Gesicht mit den düster blickenden Augen verriet, welche unbändigen und fabelhaften Kräfte in diesem Mann lebten. In der Tat gab es wohl wenig Menschen, die auf ein so wildbewegtes und abenteuerliches Leben zurückblicken konnten.

Antonow-Owsejenko, Bolschewik, 1919 Oberbefehlshaber der Ukrainischen Sowjetischen Armee

Die Stimme ist nicht kräftig und etwas heiser, im Großen und Ganzen kein großer Redner. Aber wie hört man ihm zu!

Alexander Berkman, russisch-amerikanischer Anarchist

Einmal, als ich gerade mit einem alten Typen, einem wahrhaftigen Patriarchen mit einem langen weißen Bart sprach, überraschte es mich, dass er, als der Name Machno erwähnt wurde, seine Bauernmütze mit einer ehrerbietigen Geste abnahm.

Nestor Machno 1919

»Ein großer und guter Mann«, sagte er, »möge Gott ihn schützen. Es ist jetzt zwei Jahre her, dass er hier war, aber ich kann ihn immer noch vor mir sehen, wie er auf einer Bank auf dem Platz stand und zu uns sprach. Wir waren ungebildete Leute und verstanden nie diese Bolschewiki. Aber er sprach zu uns in unserer Sprache und seine Rede war einfach.

›Brüder‹, sagte er, ›ich bin gekommen, um euch zu helfen. Wir haben den Landbesitzer und seine Soldaten verjagt, und ihr seid jetzt frei. Teilt das Land unter euch auf, gerecht und wie Brüder, und arbeitet für den Nutzen aller.‹ Ein guter, ein heiliger Mann«, schloss er ernsthaft. Er ging zu der Ikone, die in einer Ecke der Hütte hing, verbeugte und bekreuzigte sich …

1888–1904

Aus Machnos Aufzeichnungen

Ich bin bäuerlicher Abstammung. Geboren bin ich am 27. Oktober 1888 als fünftes Kind im kleinen Städtchen Gulajpole in der Ukraine. Meine Eltern waren zuerst Leibeigene, später freie Bauern. An meinen Vater kann ich mich nicht erinnern. Er starb, als ich elf Monate alt war. Da er keine Existenzmittel hatte, war er gezwungen, beim selben Großgrundbesitzer als Gärtner anzuheuern, dem er früher als Leibeigener gehörte. Später, als ich geboren wurde, begann er als Kutscher bei dem reichen jüdischen Fabrikanten Kerner zu arbeiten. Kurze Zeit danach ist er gestorben. Meine arme Mutter blieb alleine mit fünf kleinen Kindern.

Gulajpole, in der weiten Steppe der Südostukraine gelegen, war Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts eine für russische Verhältnisse recht wohlhabende kleine Stadt mit 15.000 Einwohnern. Es gab an die siebzig Fabriken und Handwerksbetriebe, Kino und Theatergebäude, ein Gymnasium, jüdische und deutsche Schulen. In der Gegend lagen über fünfzig große prosperierende Gutshöfe, zum größten Teil deutscher Kolonisten.

Die Zeitung Narodnaja Shisnj (1915)

»Unser Dorf hat die besten Lebensbedingungen im Vergleich zu anderen Dörfern, weil in der Umgebung eine Riesenanzahl von reichen Landwirten, hauptsächlich Deutschen lebt. Deswegen ist unser Dorf ein bedeutendes Kulturzentrum geworden. Selbst wenn man unser Dorf mit den besten anderen Dörfern vergleicht, geht Gulajpole als Sieger hervor. Die Bewohner unseres Dorfes ähneln nicht mehr den Bauern, sie sind richtige Städter geworden.

Aus Machnos Aufzeichnungen

An meine frühere Kindheit habe ich sehr wenig Erinnerungen. Mit acht Jahren hat mich meine Mutter in der Dorfgrundschule angemeldet. Ich war ein guter Schüler. Der Lehrer war mit mir sehr zufrieden und meine Mutter war sehr stolz auf mich. Leider war diese herrliche Zeit bald zu Ende. Der Winter kam und unter dem Einfluss einiger Freunde begann ich die Schule zu schwänzen, um auf dem gefrorenen Fluss Schlittschuh zu laufen. Diese neue Beschäftigung hat mich dermaßen vereinnahmt, dass ich wochenlang nicht zur Schule ging. Meine Mutter wusste das natürlich nicht. Sie dachte nach wie vor, dass ich, nachdem ich morgens die Bücher eingepackt hatte, zur Schule gehe und abends von der Schule zurückkomme. Nachdem ich den ganzen Tag zur Genüge gespielt hatte und Schlittschuh gelaufen war, kehrte ich mit ausgezeichnetem Appetit nach Hause zurück.

Doch eines Tages hörte der Spaß plötzlich auf. Alle Einzelheiten dieses Tages sind für immer in meinem Gedächtnis geblieben. Wie üblich lief ich mit einem Freund Schlittschuh, als plötzlich das Eis brach und wir ins Wasser fielen. Bis zum Hals im eisigen Wasser zappelnd, versuchten wir uns an dem abbrechenden Eis festzuklammern und schrien lauthals um Hilfe. Zu guter Letzt kamen einige Bauern angelaufen und haben uns aus dieser gefährlichen Situation gerettet. Ich hatte Angst, in diesem Zustand nach Hause zu kommen – meine ganze Vergangenheit, die ganzen Winter-Heldentaten wären aufgeflogen – und beschloss, mich bei meinem Onkel zu verstecken. Auf dem Weg dorthin gefror meine Kleidung. Zum Onkel kam ich in so einem Zustand, dass er Angst um meine Gesundheit bekam. Ich wurde ausgezogen, mit Wodka eingerieben und auf die Ofenbank gelegt. Danach verständigte die Tante meine Mutter. Beunruhigt kam sie sofort. Nachdem sie alle Einzelheiten des Zwischenfalls gehört hatte, legte sie mich auf die Seite und »kurierte« mich auf ihre Art und Weise – mit einem zusammengebundenen Stück Seil. Noch lange Zeit nach dieser »Kur« konnte ich kaum sitzen. Doch das wichtigste Ergebnis war, dass ich angefangen habe, fleißig zu lernen.

Leider hatte das ernsthafte Lernen keine Auswirkung auf die Zukunft.

Zwei Wochen vor Ostern prügelten ich und einige Mitschüler uns mit den Schülern der kirchlichen Grundschule. Im Eifer des Gefechts hauten wir ein paar junge Bäume vor dem Amtshaus um. Der Dorfschulze beschwerte sich am nächsten Tag beim Schuldirektor, und dieser begann die Untersuchung. Zuerst gab niemand etwas zu, aber nachdem der Direktor erklärte, er kenne die Namen dieser Feiglinge, habe ich alles erzählt und dabei die Freunde verraten, die sich dann auch schuldig bekannten. Als Belohnung für mein treuherziges Geständnis bekam ich drei Linealschläge auf die Finger und musste eine Stunde in der Ecke auf den Knien sitzen. Nach diesem Vorfall fühlte ich so eine Scham und so eine tiefe Erniedrigung, dass ich nicht mehr in der Schule bleiben wollte.

Varvara Machno, die Frau des Bruders Emeljan Machno

Ich zog in das Haus der Machnos, als Nestor noch klein war und konnte zusehen, wie er heranwuchs. Er nahm sich alles sehr zu Herzen, jede Ungerechtigkeit. Er hatte schlechte Nerven, wurde schnell wütend, war stachelig wie Disteln und fast schon krankhaft empfindlich.

Das Lernen fiel ihm leicht, er war ein begabter Junge, aber ungehorsam und aufsässig. Natürlich schwänzte er die Schule und lief zum Fluss, in die Steppe, zum Teich. Der Vater war tot und die älteren Brüder, die für den Lebensunterhalt sorgen mussten, hatten keinen Kopf für Nestors Streiche.

Aus Machnos Aufzeichnungen

Im Sommer begann ich als Viehhirte im Gutshof eines Herrn Namens Janzen zu arbeiten und verdiente 25 Kopeken am Tag. Die schulischen Missgeschicke und die schwierige finanzielle Lage meiner Familie ließen mich darüber nachdenken, was mir wichtiger war – die Schule oder die Arbeit, bei der ich 20 Rubel im Halbjahr verdiente.

Zu dieser Zeit begann ich, immer dreckig, in zerfetzten Lumpen, barfüßig, nach Mist stinkend, meinem reichen Herrn und vor allem seinen wohlgenährten, fein gekleideten und parfümierten Kindern gegenüber Zorn, Groll und sogar Hass zu empfinden.

Diese Ungerechtigkeit habe ich natürlich wahrgenommen. Das Einzige, was mich damals beruhigte, war die kindliche Überlegung, dass es sich so gehört, sie waren »die Herren« und ich ein Knecht, den man für das Ertragen des Mistgestanks bezahlte.

Nach zwei Jahren habe ich »Karriere« gemacht; bin vom Viehhirten zum Stalljungen aufgestiegen. Dort habe ich oft gesehen, wie die Söhne des Gutsbesitzers die Stallburschen zusammenschlugen, besonders dafür, dass »die Pferde schlecht geputzt wurden«. In den dunklen Tiefen meines Verstandes habe ich die Gegebenheiten furchtsam hingenommen, ich gewöhnte mich an diese Niedertracht: Ich sah, wie die jungen »edlen« Herren solche Menschen wie mich zusammenschlugen. Ich schwieg nicht nur, sondern versuchte, wie alle um mich herum, den Blick abzuwenden, so zu tun, als würde ich nichts wissen oder merken.

Noch ein Jahr verging. 1902 – ich wurde dreizehn.

Eines Tages, als wir alle außer dem Stallmeister zusammen zu Mittag aßen, erschienen zwei Söhne des Hausherren und der Verwalter. Sie fingen mit einem Stallburschen Streit an. Der Streit eskalierte, und sie begannen ihn brutal zusammenzuschlagen. Schnell rannte ich zum Stallmeister, der im Stall die Pferdeschweife gerade schnitt: »Onkel Iwan, Filip wird von den Kindern des Herrn Janzen zusammengeschlagen!« Iwan, noch mit der Schere in der Hand, eilte in den Stall und verprügelte die beiden Herren Söhnchen. Von ihm hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben rebellische Worte: »Niemand soll sich hier schlagen lassen. Und wenn einer der Herren es bei dir versucht, mein kleiner Nestor, greif nach der nächsten Mistgabel und spieß ihn auf!« Für mein Alter, für meine Kinderseele klangen diese Worte schrecklich. Doch instinktiv, im tiefen Inneren fühlte ich ihren wirklichen Sinn und Gerechtigkeit. Wenn ich später einen der Söhne sah, stellte ich mir oft vor, dass er mich schlagen will und ich ihn mit der Mistgabel durchsteche.

Nestor Machno 1919

Varvara Machno, die Frau des Bruders Emeljan Machno

Mit zwölf begann er zu arbeiten, mal beim Großgrundbesitzer, mal als ungelernter Arbeiter in der Fabrik, mal als Malergehilfe. Später, als 16-Jähriger, wurde er in der Eisengießerei Krieger angenommen. Doch egal wo er gearbeitet hat, er eckte immer an, vertrug keine Ungerechtigkeit, duldete keine Ermahnungen oder Belehrungen. Dafür liebte er es über alle Maßen zu kommandieren. Unter den Gleichaltrigen war er der Anführer, und wenn es irgendwo eine Schlägerei gab, war er mit Sicherheit dabei.

Aus Machnos Aufzeichnungen

Noch ein Jahr verging und mein Dasein als Knecht ging zu Ende. In den letzten drei bis vier Jahren hatte sich die Situation unserer Familie bedeutend verändert, meine älteren Brüder hatten geheiratet, jeder hatte seine eigene Wirtschaft und sein eigenes Stück Land. Karp, einer der Brüder, baute sich sogar ein eigenes kleines Haus. Ihrem Rat folgend, begann ich als Lehrling in der Eisengießerei Krieger, wo einer der besten Meister mir die Kunst beibrachte, Sämaschinen-Räder zu gießen. Doch nach kurzer Zeit schmiss ich die Arbeit in der Fabrik hin und blieb eine Zeit lang im Haus der Mutter. Danach verdingte ich mich als Verkäufer bei einem Weinhändler. Nach drei Monaten hatte ich diese Arbeit dermaßen satt, dass ich, als wir nach Gulajpole zum Jahrmarkt kamen, einfach abhaute, ohne dem Weinhändler etwas zu sagen. Zwei Wochen lang erschien ich weder bei ihm noch bei der Familie. Erst als er Gulajpole verließ, kehrte ich nach Hause zurück.

1904–1910

Nasar Sujtschenko, Bauer und Anarchist aus Gulajpole

Das war Anfang 1904. Ich arbeitete beim Kerner-Werk und war dort Mitglied in der Laientheatergruppe. Eines Tages kommt Nestor Machno zu mir und bittet darum, ihn als Schauspieler aufzunehmen. Na, was soll man da noch überlegen? Wenn schon das Publikum belustigen, dann richtig! Der ist wie ein Däumling, reicht mir gerade bis zum Gürtel. Wir haben ihn aufgenommen. Die ganze Laienspielgruppe wurde Teil der (anarchokommunistischen, A.d.Hg.) Organisation, mit ihr zusammen kam auch Nestor Machno zu uns.

Rudolf Rocker, deutscher Publizist und Anarchist

Machno war ein geborener Rebell, der sich früh gegen die »Tyrannei der Umstände« aufbäumte, unter denen er zu leben gezwungen war. Doch erst nach dem Ausbruch der Revolution von 1905 bekam er erste Fühlung mit der äußeren Welt und schloss sich als Siebzehnjähriger den kommunistischen Anarchisten an. Von Natur aus wagemutig bis zur Verwegenheit, beteiligte er sich an einer ganzen Reihe revolutionärer und gefahrvoller Unternehmungen, bis er 1908 der zaristischen Polizei in die Hände fiel.

Trotz der Bemühungen, die Industrialisierung voranzutreiben, war Russland bis zur Revolution 1917 ein im Verhältnis zu seiner Größe und Einwohnerzahl rückständiges Agrarland geblieben.

Noch im Jahr 1913 machte der Bauernstand 85 % der gesamten russischen Bevölkerung aus. Selbst im verhältnismäßig industrialisierten Südosten der heutigen Ukraine lag der Anteil der Bauern bei 80 %. (Zum Vergleich: in Deutschland waren ca. 25 % der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt.)

Auch die Organisation des sozialen und ökonomischen Zusammenlebens der russischen Bauern unterschied sich grundsätzlich und wesentlich von der in Mittel- und Westeuropa.

Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 wurde das Land nicht an die einzelnen Bauern verteilt, sondern der Dorfgemeinschaft, der »Obschtschina« zur Selbstverwaltung übergeben. Die Bauern besaßen kein Eigentum, sondern nur Nutzungsrechte. Dieser Obschtschina, auch »Mir« genannt, gehörten alle Bauern eines Dorfes an.

Die Anbauflächen und die Produktionsmittel gehörten dem »Mir«, wurden entsprechend der Bodenqualität in Nutzflächen aufgeteilt und unter den Haushalten gemäß der Personenanzahl egalitär verteilt. Rein ökonomisch gesehen war diese Produktionsweise per se äußerst ineffektiv. Die Parzellierung der Nutzflächen – manche Bauern mussten bis zu dreißig voneinander entfernte Nutzflächen bearbeiten – schmälerte die Produktivität erheblich.

Auch minderte die ständige Landumverteilung das Interesse und die Eigeninitiative der Bauern, Maßnahmen zu ergreifen, um die Bodenbeschaffenheit langfristig zu verbessern.

So verwundert es nicht, dass auch fünfzig Jahre nach Ende der Leibeigenschaft der Getreideertrag pro Hektar Land, laut statistischer Erhebungen 1913, in Deutschland, Holland oder Großbritannien drei Mal höher war als in Russland.

Dazu kommt, dass die 1861 geplanten Reformen, wie fast immer in Russland, nur halbherzig und dilettantisch durchgeführt worden waren. Das inzwischen geflügelte Wort des russischen Präsidenten Tschernomyrdin über die Geldreform von 1993, »gewollt war das Beste, aber es kam wie immer«, ist heute wie damals aktuell.

Die Dorfgemeinschaften bekamen nicht genügend Anbauflächen zugewiesen, zudem litten die Bauern unter enorm hohen Steuern, Ablösezahlungen und Schuldzinsen. Für die gleiche Landfläche mussten die Bauern in manchen Gegenden insgesamt bis zu fünf Mal so viele Abgaben wie die Großgrundbesitzer zahlen. All das führte zu großen Problemen in der Landwirtschaft und war mitverantwortlich für die vielen Hungersnöte – 1873, 1880, 1883, 1889–1892, 1898, 1901, 1905–1906, 1907, 1911. Bei den großen Hungersnöten 1891–1892 litten bis zu 30 Millionen Menschen an Hunger, 1897–1898 etwa 27 Millionen. Die Not der Bauern hinderte das Zarenreich übrigens nicht daran, weiterhin Getreide zu exportieren.

Leo Tolstoi, russischer Schriftsteller

Wir, die Erwachsenen, wenn wir nicht verrückt sind, könnten eigentlich verstehen, warum das Volk hungert. Der Hunger kommt – und das weiß jeder Bauer:

1) vom Landmangel, daher dass die Hälfte des Grund und Bodens den Großgrundbesitzern und den Kaufleuten gehört, die mit Land und mit Brot handeln

2) von den Fabriken mit jenen Gesetzen, bei denen der Kapitalist geschützt wird, aber der Arbeiter nicht

3) vom Wodka, der dem Staat die größten Einnahmen beschert und dem Volk seit Jahrhunderten angewöhnt worden ist

4) von der Wehrpflicht, die die besten Leute im besten Alter wegnimmt

5) von den Beamten, die das Volk unterdrücken

6) von den Abgaben

7) von der Unwissenheit, die von den staatlichen und kirchlichen Schulen bewusst aufrechterhalten wird.

Nach statistischen Angaben von 1913 waren 732 von 1000 Menschen im europäischen Teil Russlands Analphabeten. Zum Vergleich: in Deutschland waren es 20, in Belgien 2.

Michail Menschikow,

Publizist, Ideologe der russischen nationalistischen Bewegung

Mit jedem Jahr wird die russische Armee, was die körperliche Verfassung betrifft, immer unfähiger und kränker. Es ist schwer, von drei Burschen einen auszusuchen, der diensttauglich wäre. Die schlechte Ernährung im Dorf, das Wanderleben als Lohnarbeiter, frühzeitige Eheschließungen, die eine harte Arbeit fast noch im Jünglingsalter abverlangen – das sind die Gründe für die physische Erschöpfung. Rund 40 % der Rekruten haben beim Militärdienst zum ersten Mal in ihrem Leben Fleisch gegessen.

An Unterernährung und Krankheiten starben Millionen von Menschen. Laut Statistik von 1913 litten in Russland mehr als 21 Millionen Bürger (fast 20 %) an epidemischen und ansteckenden chronischen Krankheiten (Cholera, Diphtherie, Malaria, Krätze, Milzbrand u.a.). Durchschnittlich gab es auf dem Land einen Arzt für 26.000 Menschen, elf Mal weniger als in Deutschland und 16 Mal weniger als in den USA. 262 von 1000 Neugeborenen starben bis zum ersten Lebensjahr in Russland, durchschnittlich etwa drei Mal so viele wie in Westeuropa und den USA.

So verwundert es nicht, dass die spontanen lokalen Aufstände und Meutereien der verzweifelten Bauern an der Tagesordnung waren. Allein in den Jahren 1900–1904 zählten die zaristischen Behörden bis zu 670 Bauernrevolten, die in der proletarisch-bäuerischen Revolution 1905 kulminierten. Vom März bis September desselben Jahres hielten die Behörden über 1000 Bauernerhebungen fest, etwa 16.000 Gutshäuser wurden in Brand gesetzt oder ausgeraubt. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, aber die russische Regierung merkte allmählich, dass sie die Kontrolle über die Bauern verlor, und suchte nach einer Lösung.

1906 begann die nach dem russischen Premierminister Stolypin benannte Stolypinsche Agrarreform. Sie gewährte den Bauern das Recht, ihre Dorfgemeinschaft freiwillig zu verlassen und ein eigenes Grundstück zu erhalten.

Pjotr Stolypin, russischer Premierminister 1906–1911

Das Ziel der Regierung ist klar definiert: die Regierung möchte den bäuerlichen Landbesitz aufbauen. Sie möchte einen reichen, wohlhabenden Bauern, denn da, wo Wohlstand ist, ist auch Bildung und wahre Freiheit.

Um unser Zarenreich basierend auf seinen festen monarchistischen Grundsätzen umzugestalten, brauchen wir dringend einen starken Privateigentümer, der die Entwicklung der revolutionären Bewegung verhindern wird.

Doch viele, vor allem arme Bauern wehrten sich gegen die Reform. Denn unabhängig von der wirtschaftlichen Ineffizienz förderte die Dorfgemeinschaft ein sehr ausgeprägtes kollektives Bewusstsein, eine tiefgreifende Solidarität und ein starkes Gemeinschaftsgefühl in der Landbevölkerung.

Aus Machnos Aufzeichnungen

Das Jahr 1905 brach an, mit Massenaufständen im ganzen Land. Zum ersten Mal in meinem Leben begann ich, verbotene politische Untergrund-Literatur zu lesen. Während der ersten Monate des Jahres, als die aufständische Bewegung auf dem Höhepunkt war, geriet ich unter den Einfluss der Sozialdemokraten. Ihre sozialistische Phraseologie, ihre vorgetäuschte revolutionäre Leidenschaft verführten und täuschten mich. Ohne jegliche Furcht verteilte ich große Mengen sozialdemokratischer Flugblätter, die zum Kampf gegen den Zaren und zur Errichtung einer Republik aufriefen.

Anfang 1906 lernte ich zufällig eine kleine anarchokommunistische Bauerngruppe aus Gulajpole kennen und schloss mich ihnen sofort an. Der Gründer dieser Gruppe war der Genosse Wladimir Antoni.

Die Eltern Antonis waren aus Österreich emigrierte Arbeiter. Auch er arbeitete als Schlosser. Antoni war ein im höchsten Maße ehrlicher und aufrichtiger Revolutionär. Er war es, der mich entscheidend beeinflusst hat und meine Seele von den letzten Resten der Sklavenmentalität und jeglicher Unterordnung, unter welche Macht auch immer, befreite.

Von diesem Moment an betrat ich endgültig den Weg des Kampfes für die soziale Revolution.

Woldemar Antoni, Anarchokommunist aus Gulajpole