IMPRESSUM

JULIA EXTRA erscheint vierwöchentlich im CORA Verlag GmbH & Co. KG,

20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

 

Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Cheflektorat:

Ilse Bröhl

Lektorat/Textredaktion:

Sarah Hielscher

Produktion:

Christel Borges, Bettina Schult

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,

Marina Grothues (Foto)

Vertrieb:

asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77, 20097 Hamburg

Telefon 040/347-29277

Anzeigen:

Christian Durbahn

 

Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.

© 2009 by Kate Hewitt

Originaltitel: „Count Toussaints Pregnant Mistress“

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

in der Reihe: MODERN ROMANCE

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Übersetzung: SAS

© 2009 by Natalie Rivers

Originaltitel: „The Blackmail Baby“

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

in der Reihe: MODERN ROMANCE

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Übersetzung: Katharina Kramp-Löcherbach

© 2008 by Lucy Monroe

Originaltitel: „The Greek Tycoon’s Inherited Bride“

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

in der Reihe: PRESENTS

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Übersetzung: Juliane Zaubitzer

© 2009 by Carol Marinelli

Originaltitel: „Secret Sheikh, Secret Baby“

erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London

in der Reihe: MEDICAL ROMANCE

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Übersetzung: Anke Brockmeyer

Fotos: RJB Photo Library_gettyimages

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe: JULIA EXTRA

Band 319 (10) 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Veröffentlicht im ePub Format im 09/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

ISBN-13: 978-3-86295-018-8

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

JULIA EXTRA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

Aus Liebe zur Umwelt: Für CORA-Romanhefte wird ausschließlich 100% umweltfreundliches Papier mit einem hohen Anteil Altpapier verwendet.

Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:

BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, HISTORICAL MYLADY, MYSTERY,

TIFFANY HOT & SEXY, TIFFANY SEXY

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Kate Hewitt

Wo der Lavendel blüht

1. KAPITEL

Nach dem Applaus legte sich erwartungsvolle Stille über den Konzertsaal und füllte den großen Raum mit einer elektrisierenden Atmosphäre.

Auf der Bühne des Salle Pleyel in Paris atmete Abigail Summers noch einmal tief durch, hielt die Finger über die Klaviatur des Konzertflügels, schloss die Augen und begann zu spielen.

Die Klänge von Beethovens Klaviersonate Nr. 23 flossen aus ihrer Seele in ihre Finger, ergriffen Besitz von ihrem Körper und ihrem Geist. Der ausverkaufte Saal existierte nicht mehr für sie, die Masse des Publikums verblasste. Sieben Jahre als Konzertpianistin und lebenslanger Unterricht hatten sie gelehrt, sich ausschließlich auf die Musik zu konzentrieren.

Und doch, mitten in der Appassionata, wurde sie … sich bewusst. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Jemand beobachtete sie. Natürlich, da saßen Hunderte von Menschen im Saal, die sie beobachteten, doch dieses Gefühl hier war anders. Er – instinktiv wusste sie, dass diese Ausstrahlung von einem Mann ausging – war anders. Einzigartig. Sie spürte seinen Blick, auch wenn sie nicht wusste, warum.

Und wer er überhaupt war.

Obwohl ihre Haut prickelte und ihre Wangen erröteten, hob sie nicht den Kopf, sondern spielte weiter, während ihr Körper eine sinnliche Freude empfand, die sie so noch nie vorher erfahren hatte. Sie konnte sich ja nicht einmal sicher sein, ob ihre Wahrnehmung auf einer realen Ursache basierte. Daher wünschte sie plötzlich, das Stück endlich zu Ende zu bringen, damit sie aufschauen und herausfinden konnte, wer sie ansah.

Die Musik floss weiterhin aus ihren Fingern, doch mit dem losgelösten Teil ihres Geistes fragte sie sich, wie so etwas möglich war. Noch nie hatte sie sich gewünscht, ein Musikstück möge zu Ende sein, und noch nie war ihr die Aufmerksamkeit eines Einzelnen aus dem Publikum vorgekommen wie ein Scheinwerfer, der direkt auf ihrer Seele lag.

Wer war er?

Oder bildete sie sich nur ein, dass dort jemand saß? Jemand Außergewöhnliches, auf den sie ihr ganzes Leben gewartet hatte?

Die letzten Noten verklangen, und Abby schaute auf.

Sie erblickte ihn sofort, trotz der gleißenden Bühnenscheinwerfer und des weiten Ozeans verschwommener Gesichter. Es war, als würden ihre Augen magisch von ihm angezogen. Ihm schien etwas Magnetisches anzuhaften, selbst ihr Körper spürte den unwiderstehlichen Sog.

Er sah sie unverwandt an, und einige wenige Sekunden hatte ihr Bewusstsein Zeit, Details zu registrieren: ein dunkler Schopf, das Haar etwas zu lang, ein markantes Gesicht wie gemeißelt, und einfach unglaublich blaue Augen. Leuchtend. Intensiv. Brennend.

Das Rascheln von Konzertprogrammen drang an ihre Ohren. Leichte Unruhe lief durchs Publikum. Abby hätte längst mit dem nächsten Stück beginnen sollen, eine Fuge von Bach. Stattdessen saß sie hier reglos, wie benommen, versunken in die eigenen Gedanken.

Den Luxus, sich weitere Fragen zu stellen, konnte sie sich nicht leisten, auch blieb ihr keine Zeit, nach Antworten zu suchen. Mit einem tiefen Atemzug nahm sie sich zusammen und zwang sich, an nichts anderes als die Musik zu denken, an deren einzigartige Schönheit.

Sie schlug die Tasten an, das Publikum lehnte sich mit einem unhörbaren Seufzer in die Sitze zurück, und noch immer war ihr Bewusstsein auf ihn ausgerichtet.

Und sie fragte sich, ob sie ihm je wieder begegnen würde.

Jean-Luc Toussaint saß auf seinem Platz, jeden Muskel angespannt. Er war erfüllt von einer ahnungsvollen Erwartung, von Hoffnung – ein Gefühl, das er seit Monaten nicht mehr empfunden hatte. Wohl eher seit Jahren. Er hatte überhaupt nicht mehr gefühlt. Doch als Abigail Summers, Wunderkind und weltberühmte Pianistin, die Bühne betrat, da keimte Hoffnung aus der Asche seines früheren Selbst in ihm auf. Ein Gefühl, von dem er gedacht hatte, es nie wieder empfinden zu können.

Natürlich hatte er Fotos von ihr gesehen. Vor dem Saal hingen auch ihre Konzertplakate, künstlerisch bearbeitet, eine graziöse Silhouette von ihr am Flügel. Und doch hatte nichts ihn auf den Moment vorbereitet, als sie auf die Bühne gekommen war, in dem langen schwarzen Abendkleid, den Kopf hoch erhoben, das schimmernde dunkle Haar zu einem eleganten Chignon eingeschlagen. Und nichts hätte ihn vorbereiten können auf die unerwartete Reaktion seiner Seele, seiner Gefühle, auf die Hoffnung und Freude, die ihn durchströmten.

Er versuchte, diese Gefühle als die verzweifelten Auswüchse seiner Einbildung abzutun, denn mehr konnten sie nicht sein. Sechs Monate war Suzanne jetzt tot, und vor knapp sechs Stunden hatte er ihre Notizen und Briefe gefunden und die Wahrheit über ihren Tod herausgefunden. Die Schuld fraß an ihm mit zerstörerischer Kraft.

Kurz darauf hatte er das Schloss mit all seinen Erinnerungen verlassen und war nach Paris gefahren. Aus einem Impuls heraus war er in diesem Konzert gelandet. Er hatte die Plakate in der Stadt gesehen und sich spontan für einen Besuch entschieden, er wollte sich ablenken, wollte sich in etwas anderem verlieren, ohne nachdenken oder fühlen zu müssen.

Fühlen konnte er schon lange nicht mehr. Er war leer, ausgehöhlt, abgestorben … bis Abigail Summers auf der Bühne erschien.

Und dann hatte sie zu spielen begonnen. Sicher, die Appassionata war eines seiner Lieblingswerke, er verstand den Gefühlszustand, den der Komponist durchlaufen hatte, die Verzweiflung über das Unvermögen, den eigenen Verfall aufzuhalten. Abigail Summers hatte dem Stück eine neue Energie verliehen, so intensiv, dass er auf seinem Sitz die Fäuste ballte. Es war ihm unmöglich gewesen, die Augen von ihr zu wenden, und mit seinem Blick hatte er sie dazu zwingen wollen, zu ihm zu sehen.

Dann hob sie den Kopf und tat es tatsächlich. Ihre Blicke hielten einander fest. Eigentlich eine Unmöglichkeit, schließlich waren sie sich nie begegnet, und dennoch hatte das Erkennen Luc wie ein Speer durchfahren. Etwas lang verloren Geglaubtes war wieder an seinen Platz gerückt.

Hoffnung.

Ein wunderbares, ein berauschendes Gefühl. Und ebenso Furcht einflößend. Dennoch wollte er mehr. Er wollte endlich vergessen, was geschehen war, all die Fehler, die er in den letzten sechs Jahren begangen hatte. Mit dieser Frau wollte er sich verlieren, auch wenn es nicht von Dauer sein konnte.

Als sie wieder zu spielen begann, ließ Luc sich von der Musik davontragen. Dieser eine Blick hatte eine verzweifelte Sehnsucht in ihm erweckt, aber mit dieser Sehnsucht kehrte auch gleichzeitig die vertraute Hoffnungslosigkeit zurück.

Wie konnte er jemanden begehren und dessen Nähe suchen, wenn er absolut nichts mehr zu geben hatte?

In ihrer Garderobe ließ Abby sich vor dem Schminktisch auf den Stuhl sinken und stieß einen Seufzer aus. Der Auftritt war ihr heute endlos lang erschienen. In der Pause war sie unruhig hinter der Bühne auf und ab gelaufen, was ihrem Spiel in der zweiten Hälfte nicht gut getan hatte. Wäre ihr Vater und Manager hier, würde er ihr raten, ein Glas Wasser zu trinken und sich zu beruhigen. Doch ihr Vater war im Hotel zurückgeblieben, von einer schlimmen Erkältung ans Bett gefesselt. Denk an die Musik, Abby, allein an die Musik. Nie war ihr erlaubt gewesen, an etwas anderes zu denken. Bis heute Abend hatte sie auch nie an etwas anderes denken wollen.

Jetzt jedoch … Wer mochte dieser Mann sein? Sie wollte ihn treffen, mit ihm reden, ja ihn sogar berühren.

Sehnsucht und Furcht ließen sie erschauern. Nach dem Konzert gab es immer einige glühende Bewunderer, die ihre Glückwünsche persönlich hinter der Bühne überbringen wollten. Manche schickten Blumen und Einladungen. Die Geschenke nahm Abby dankend an, die Einladungen schlug sie aus. Das war die strikte Politik ihres Vaters – die Imagepflege der Abigail Summers als weltentrückte Ausnahmepianistin.

Im Spiegel streckte sie sich selbst die Zunge heraus. Wie sie diese Bezeichnungen hasste – Ausnahmepianistin, Wunderkind! Das klang nach einem trainierten Pudel. Ihr Vater jedoch nannte sie „einzigartig“ und „unerreichbar“.

Heute Abend wollte sie nicht unerreichbar sein. Sie wollte gefunden werden. Von ihm. Weil sie sich noch nie so lebendig gefühlt hatte. Der Blickkontakt mit diesem Mann hatte alles in ihr zum Vibrieren gebracht.

Würde er kommen?

Eine Theaterangestellte steckte den Kopf nach einem kurzen Klopfen zur Tür herein. „Mademoiselle Summers, recevez-vous des visiteurs?“

„Ich …“ Ihre Gedanken wirbelten. Empfing sie Besucher? Die Antwort lautete natürlich immer Nein. Signiere das Programm für sie, Abby, mehr nicht. Du kannst nicht nur eine weitere Pianistin sein. Du musst anders sein. „Sind es viele?“, fragte sie schließlich in fließendem Französisch.

Die junge Frau zuckte mit einer Schulter. „Vielleicht ein Dutzend. Sie bitten um ein Autogramm.“

Enttäuschung machte sich in Abby breit. Der Mann würde nicht um ihr Autogramm bitten, er war keiner ihrer Fans. Er war … Ja, wer war er? Niemand von Bedeutung, versuchte ihr Verstand sie zu überzeugen, während ihr Herz sich verzweifelt wünschte, es wäre anders. Sie schluckte. „Na schön, schicken Sie die Leute herein.“

Monsieur Dupres, der Direktor, tauchte auf, einen missbilligenden Ausdruck auf dem strengen Gesicht. „Wie ich verstanden habe, empfängt Mademoiselle Summers keine Besucher.“

Ein Gleichgesinnter ihres Vaters. Ihr Vater besaß in jeder Konzerthalle seine Verbündeten. „Ich denke, ich kann selbst entscheiden, ob ich Besuch empfange oder nicht“, entgegnete sie kühl, auch wenn ihr Herz wild raste. Sie widersprach grundsätzlich nicht, machte keine Szenen, für das Theaterpersonal war ihr Vater zuständig. Geradewegs sah sie dem Direktor in die Augen. „Schicken Sie sie herein.“

Pikiert presste er die Lippen zusammen. „Wie Sie wünschen.“

Abby strich mit den Händen über ihr Haar und zupfte ihr Kleid zurecht. Im Spiegel ließ das Schwarz des Kleides ihre Wangen blass und ihre grauen Augen riesig aussehen.

Als es klopfte, drehte sie sich zur Tür und musste sich zusammennehmen, um ihr Lächeln aufrechtzuhalten.

Er war nicht unter den Konzertbesuchern, die vor ihrer Garderobe standen. Korpulente ältere Damen, mit ihren ergeben dreinschauenden Männern im Schlepptau, hielten ihr mit schwärmerisch vorgebrachten Komplimenten das Programmheft hin, damit sie es signierte.

Was hatte sie denn erwartet, fragte sie sich still, während sie lächelnd plauderte und unterschriebene Programme zurückreichte. Dass er mit einem gläsernen Schuh hinter der Bühne auftauchte? Glaubte sie etwa an Märchen?

Plötzlich erschien ihr das Ganze völlig absurd, dieser angebliche Moment, in dem sich ihre Blicke verhakt hatten, lächerlich. Sie musste sich das alles eingebildet haben. Sobald die Bühnenscheinwerfer auf sie herunterstrahlten, war es unmöglich, Gesichter im Zuschauerraum auszumachen.

Die Bewunderer zogen sich zufrieden zurück, hinweggescheucht von einem mürrischen Monsieur Dupres, und Abby war mit der Verlegenheit über die eigene Einfalt allein.

Einsam.

Das Wort blitzte in ihrem Kopf auf, sie verdrängte es. Schließlich führte sie ein volles und beschäftigtes Leben als begehrte Konzertpianistin. In jeder großen Metropole dieser Welt wurden ihre Auftritte gefeiert, sie sprach drei Sprachen fließend, und Legionen von Verehrern lagen ihr zu Füßen. Wie könnte sie da einsam sein?

„Aber ich bin es“, sagte sie laut in den Raum hinein. Beim Klang ihrer Stimme zuckte sie zusammen. Sie redete mit sich selbst, weil sie niemanden zum Reden hatte.

Fast unwillig nahm sie ihren alten Dufflecoat vom Bügel, der so ganz und gar nicht zu dem eleganten Abendkleid passte, und zog ihn über. Draußen auf dem Korridor konnte sie die Reinigungstruppe hören, die mit ihrer Schicht begann. Die meisten der Theaterangestellten waren schon nach Hause gegangen, zurück zu dem Leben, das sie führten.

Und was sollte sie jetzt machen? Ein Taxi zurück zum Hotel nehmen, über einem Glas warme Milch ihrem Vater vom Abend berichten und dann zu Bett gehen wie ein braves kleines Mädchen?

Mit fahrigen Fingern schloss sie den obersten Mantelknopf. Sie hatte keine Lust mehr auf die Rolle, die ihr Vater ihr schon vor Jahren zugeschrieben hatte. Diesen Mann zu sehen, wer immer er auch war, hatte den Drang in ihr erweckt, mehr zu erleben. Mehr zu sein.

Selbst wenn es nur für eine Nacht war.

Abby war vierundzwanzig Jahre alt, allein in Paris, und der Abend lag noch vor ihr … Allerdings hatte sie nicht die geringste Ahnung, was sie unternehmen sollte, um ihren Hunger nach Leben zu stillen.

Monsieur Dupres erschien in ihrer Garderobe. „Soll ich Ihnen ein Taxi rufen lassen, mademoiselle?“

Abby öffnete den Mund, um zuzustimmen, stattdessen schüttelte sie den Kopf. „Nein danke, Monsieur Dupres. Es ist ein wunderbarer Abend. Ich gehe zu Fuß.“

Der Direktor zog die buschigen Brauen zusammen. „Es regnet.“

„Trotzdem.“ Ein Akt von Trotz, unbedeutend und winzig nur, aber es fühlte sich so gut an. Sie lächelte. „Ich laufe.“

Die Hand am Mantelkragen, trat Abby auf die verlassene Rue du Faubourg St. Honoré in die feuchte Nacht hinaus. Die Bürgersteige glänzten schwarz im Regen, die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Taxis tauchten die umliegende Gegend in gelbes Licht.

Abby sah sich um. Ihr Hotel lag nicht mehr als eine halbe Meile die Straße hinunter. Sie könnte hinlaufen, so wie sie es Monsieur Dupres gesagt hatte. Enttäuschung nagte an ihr. Da wollte sie das Leben spüren, und sie lief im Regen zurück zum Hotel. Erbärmlich!

Ihre Absätze klapperten auf dem Trottoir. Ein Mann hastete an Abby vorbei, den Mantelkragen seines Trenchcoats gegen das ungemütlich nasskalte Wetter hochgeschlagen. In einem Hauseingang schmuste ein Liebespärchen, Regentropfen glitzerten auf dem Gesicht der Frau. Abby ging weiter, sich mehr denn je bewusst, wie allein sie war. Eine Frau in einem Pelzmantel und mit Juwelen behangen trat aus einem Nobelhotel und schaute hochmütig auf die Welt um sich herab.

Abby blieb stehen. Licht fiel golden auf die Straße, durch die Glasfront konnte man in die mit Marmor verkleidete Lobby sehen. Ein Kristalllüster hing von der Decke herunter. Bevor die Tür zufiel, vernahm Abby das Klingen von Kristall und das leise, perlende Lachen einer Frau.

Ohne nachzudenken, was sie tat, drückte Abby die Tür wieder auf. Der Portier sprang zwar eilfertig hinzu, aber er kam eine Sekunde zu spät. Sie winkte ihn mit einer Geste fort.

Abby kannte solche Hotels nur zu gut, überall auf der Welt. Sie konnte Empfangschefs, Portiers und Pagen in mehreren Sprachen Anweisungen geben, und doch, als sie jetzt hier allein im Foyer stand, war alles neu. Niemand wusste, wer sie war, und sie konnte tun und lassen, was sie wollte.

Die Frage war nur … was?

Ein Page kam auf sie zu. „Mademoiselle?“

Abby hob ihr Kinn. „Wo ist die Bar?“

Mit einer leichten Verbeugung zeigte der Mann auf einen dunkel getäfelten Raum zu seiner Rechten. Dankend nickte Abby und ging in die Richtung, ohne zu wissen, weshalb und warum.

Der Barkeeper hinter der Theke polierte Gläser und schaute zu ihr hin, als sie sich auf einen der Barhocker schob. Er registrierte den alten Mantel und die strassbesetzten Träger ihres Abendkleides. „Wünschen Sie einen Drink?“

„Ja.“ Abby schluckte. Der Genuss von Wein und Champagner war ihr vertraut, und bei diversen Gelegenheiten hatte sie manchmal einen ihr unbekannten Cocktail probiert. Heute wollte sie etwas anderes. „Ich nehme …“ Ihr Mund war staubtrocken. „Einen Martini.“

„Pur oder auf Eis?“

Großartig! Wollte sie Eis? Was war überhaupt alles in einem Martini? Und wieso hatte sie einen bestellt, obwohl ihr Gefühl Abby sagte, dass er ihr nicht schmecken würde? „Pur“, erwiderte sie fest. „Mit einer Olive.“ Sie meinte sich zu erinnern, dass immer eine Olive hinzugegeben wurde. Wenn ihr der Drink nicht schmeckte, hatte sie wenigstens etwas zu knabbern.

Der Barkeeper wandte sich um, und Abby ließ den Blick durch die Bar wandern. Nur ein Gast saß noch hier, am anderen Ende des Tresens. Es lief ihr eiskalt über den Rücken.

Er.

2. KAPITEL

Sie wusste, dass er es war, noch bevor er aufschaute. Wusste es, weil ihr Puls zu rasen begann und sich alles in ihr in höchster Wachsamkeit befand. Er saß auf dem allerletzten Hocker und hielt den Kopf gebeugt, ein Glas Whiskey vor sich.

Dann hob er den Kopf und schaute zu ihr, genau wie vorhin hielt er ihren Blick gefangen. Das Atmen fiel ihr schwer, ihr schwindelte. Keiner von ihnen sprach ein Wort, sie sahen einander nur an. Viel länger, als es sich für zwei Fremde in einer Bar gehörte. Doch Abby konnte ihren Blick nicht abwenden. Es überfiel sie das Gefühl, reglos in einem Vakuum zu verharren. Und zu warten.

„In natura sind Sie noch bezaubernder.“ Er sprach Englisch mit einem leichten Akzent, seine tiefe Stimme hing in dem leeren Raum.

Also hatte er sie erkannt, wusste, wer sie war. Natürlich, viele Leute erkannten sie. Sie war schließlich das Wunderkind, die Ausnahmepianistin. Doch die schwelende Hitze in seinem Blick sagte ihr, dass er in ihr nicht das Wunderkind sah, auch nicht die Pianistin. Er sah sie an, wie ein Mann eine Frau ansah. Es war ein wunderbares Gefühl.

„Sie erinnern sich an mich“, stellte sie mit bebender Stimme fest und errötete, als ihr klar wurde, was diese Bemerkung preisgab. Aber sie konnte sich nicht verstellen, wusste nicht, wie so etwas ging. Sie wollte es auch gar nicht.

Er zog eine Augenbraue in die Höhe, ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Natürlich erinnere ich mich.“ In seinen blauen Augen lag jene Intensität, die Abby schon im Konzertsaal aufgefallen war. „Und jetzt weiß ich auch, dass Sie sich an mich erinnern.“

Das Rot auf ihren Wangen wurde dunkler. Der Barmann stellte den Martini, mit Olive und Cocktailstab, vor sie hin, und Abby drehte den Kopf, dankbar für die Unterbrechung. Um sich abzulenken, nahm sie einen Schluck, viel zu hastig und viel zu groß. Prompt begann sie zu husten, der Alkohol brannte in ihrer Kehle. Klirrend stellte sie das Glas auf die Theke zurück.

Mehr spürte sie es, als dass sie es sah, wie er aufstand und zu ihr kam, spürte die Hitze, die sein schlanker Körper ausstrahlte, nahm den Duft seines herben Aftershaves wahr. Und hustete noch ein bisschen stärker.

„Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte er fürsorglich, aber Abby glaubte, ein amüsiertes Lachen in seinen Worten mitschwingen zu hören. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und atmete tief durch.

„Ja. Ich habe mich nur verschluckt.“

„Das kann passieren“, murmelte er, und Abby wusste, er ließ sich nicht täuschen. Dann konnte sie genauso gut offen sein.

„Um ehrlich zu sein, ich habe noch nie einen Martini getrunken.“ Sie drehte sich um und sah ihn an. „Ich wusste nicht, dass er so … so stark ist.“ Jetzt, da er nur wenige Schritte von ihr entfernt stand, nutzte sie die Gelegenheit, um ihn genau zu studieren. Er war groß, über ein Meter neunzig, und sie fühlte sich neben ihm mit ihren ein Meter fünfundsiebzig klein. An den Schläfen zogen sich silberne Strähnen durch das dunkle Haar, das lang genug war, um über den Hemdkragen zu streichen. Seinem Gesicht mit den wie gemeißelten Wangenknochen und dem markanten Kinn haftete eine strenge Schönheit an. Zusammen mit den durchdringenden blauen Augen strahlte es zwar Stärke aus, wirkte aber seltsamerweise gleichzeitig gequält. Ein Mann, der vom Leben geprägt worden war, vielleicht sogar von einer Tragödie.

„Warum haben Sie dann einen Martini bestellt?“

„Ich wollte einen weltgewandten Eindruck machen. Lächerlich, nicht wahr?“

Er neigte leicht den Kopf zur Seite, sein Lächeln wurde breiter und schuf zauberhafte Grübchen in seinen Wangen. „Wenn man bedenkt, wie weltgewandt Sie sind, ist es das, stimmt.“

Abby lachte verlegen. „Sie kennen sich mit Komplimenten aus, nicht wahr, Monsieur …“

„Luc.“

„Monsieur Luc?“

„Einfach nur Luc.“ Die Endgültigkeit in seinen Worten machte Abby klar, wie anonym diese Unterhaltung in Wirklichkeit war. Er würde sie nicht wissen lassen, wer sich hinter dem Vornamen verbarg. „Und Sie sind Abigail.“

„Abby.“

Sein Lächeln jedoch erweckte eine seltsam intime Wärme in ihr. Ihr gefiel diese Wärme, die langsam durch ihren Körper floss, auch wenn sie so ein Gefühl noch nie erfahren hatte. Wie goldener Honig, der ihre Glieder weich machte und sie mit einer angenehmen Mattigkeit erfüllte, obwohl ihr Herz noch immer wild schlug. Sie könnte wirklich glauben, in einem Märchen zu sein. Sie hatte ihn gefunden, und er sie.

„Abby, natürlich“, murmelte er.

Natürlich. Als würden sie sich bereits seit einer Ewigkeit kennen. Als hätten sie beide auf diesen Moment gewartet. Abby kam es tatsächlich so vor.

„Also.“ Er deutete fragend auf das Glas mit dem Martini. „Was glauben Sie?“

Abby verzog die Lippen. „Ich glaube, Champagner ist mir lieber.“

„Dann sollen Sie Champagner bekommen.“ Ein kurzer Wink zum Barmann und ein Schwall in schnellem Französisch, und wenig später standen eine Flasche horrend teuren Champagners und zwei blitzende Kristallflöten auf der Theke. „Trinken Sie ein Glas mit mir?“

Abby musste ein euphorisches Lachen unterdrücken. In all den Jahren, in denen sie Konzerte gab, war ihr so eine Begegnung nie gestattet worden. Immer arrangierte ihr Vater sorgfältig sämtliche Treffen und Autogrammstunden. Oft war sie sich dabei vorgekommen wie ein exotisches Tier im Zoo, begafft, bewundert und dann allein gelassen. Wie in einem Käfig, dachte sie plötzlich. Mein ganzes Leben lang schon bin ich eingesperrt.

Jetzt und hier fühlte sie sich frei.

„Ja, gern.“ Sie war erstaunt, wie leicht es ihr fiel, die Einladung anzunehmen.

Luc führte sie zu einer gemütlichen Nische in der leeren Bar. Der Kellner folgte, entkorkte die Flasche und goss die perlende Flüssigkeit in die Flöten. Luc hob sein Glas.

„Stoßen wir an auf unerwartete Überraschungen.“

Abby konnte nicht widerstehen. „Kommen nicht alle Überraschungen unerwartet?“

Das Lächeln strahlte aus seinen Augen. „Sicher“, stimmte er zu und trank einen Schluck.

Auch Abby nippte an ihrem Glas. Der Champagner prickelte auf ihrer Zunge und in ihrer Kehle. Sie starrte auf die aufsteigenden Bläschen in ihrem Glas und überlegte verzweifelt, was sie sagen könnte. Obwohl sie es gewohnt war, in allen großen Konzerthallen Europas aufzutreten, und sie sich auf Flughäfen ebenso wie in Luxushotels souverän und sicher bewegte, fühlte sie sich in der Gegenwart dieses Mannes unsicher, ja sogar linkisch.

Unter ihren langen Wimpern hervor warf sie einen neugierigen Blick auf ihn. Eine harte Entschlossenheit lag in seinen Zügen, sie stand in seltsamem Kontrast zu der leichten Konversation und seinem charmanten Lächeln. Wie eine düstere Schwermut, die Abby nicht verstand. Allerdings war sie auch nicht sicher, ob sie die verstehen wollte.

Er trank sein Glas leer und lächelte sie an, der Kummer zog sich zurück. „Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie noch einmal zu sehen. Es muss eine Art Vorsehung sein, dass Sie ausgerechnet in diese Bar gekommen sind.“

Vorsehung. Schicksal. So wirkte es tatsächlich. „Normalerweise fahre ich nach meinen Konzerten mit einem Taxi zurück ins Hotel.“

„Aber heute Abend nicht. Warum?“ Sein blauer Blick traf auf ihre Augen.

„Weil …“ Wie sollte sie erklären, dass in diesem einen Moment, während dem sie ihn im Konzertsaal hatte sitzen sehen, eine Veränderung in ihr vorgegangen war, Wünsche und Sehnsüchte in ihr erweckt worden waren, die sie nie vorher empfunden hatte? „Weil ich mich rastlos fühlte.“

Er nickte, so als würde er all das verstehen, was sie nicht gesagt hatte. „Als ich Sie sah“, er drehte den schlanken Stiel des Glases zwischen den Fingern, „da verspürte ich etwas, das ich schon lange nicht mehr gefühlt habe.“

Abby hielt unmerklich die Luft an. „Was?“

Luc hob den Blick und überrumpelte Abby mit seiner Offenheit. „Hoffnung.“ Zärtlich strich er ihr eine feuchte Strähne aus dem Nacken, seine Finger berührten sie nur flüchtig, und doch lösten sie einen Strudel von Emotionen in Abby aus. „Haben Sie es nicht auch gespürt, Abby? Als Sie da oben auf der Bühne am Flügel saßen und mich ansahen? Ich habe nie …“ Er hielt inne, setzte erneut an. „Es war wie ein Stoß. Elektrisierend. Magisch.“

„Ja.“ Sie brachte die Worte kaum heraus. „Ich habe es auch gespürt.“

„Da bin ich froh.“ Ein melancholisches Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Es wäre traurig, wenn es einseitig wäre.“ Er griff nach der Flasche und schenkte nach, auch wenn Abby kaum getrunken hatte. „Waren Sie zufrieden mit Ihrem Spiel heute Abend?“

„Ich weiß es nicht.“ Sie nippte an dem Champagner. „Ich kann mich nicht an viel erinnern.“

Luc lachte leise. „Ich auch nicht, um ehrlich zu sein. Sobald Sie die Bühne betraten, verblasste alles andere. Ich wartete nur auf den Moment, Sie endlich ansprechen zu können.“

„Wieso sind Sie dann nicht …“ Abby unterbrach sich. Eine solche Frage würde zu weit gehen.

Doch er beendete die Frage für sie. „Wieso ich nach der Vorstellung nicht zu Ihnen in die Garderobe kam?“ Einen Moment lang starrte er in sein Glas, bevor er den Blick hob und ihr direkt in die Seele sah. „Ich hielt es für besser, es nicht zu tun.“

„Aber …“ Wie sollte sie ihm erklären, dass sie sich verzweifelt gewünscht hatte, er würde kommen? Es klang lächerlich. Sie hatten einen kurzen Blick getauscht, mehr nicht. Abby setzte das Glas ab. „Irgendwie scheint das Ganze nicht …“

„Real? Nein, vielleicht nicht.“ Er wandte das Gesicht ab, mit zusammengepressten Lippen, und Abby hatte das Gefühl, genau das Falsche gesagt zu haben. Sie wünschte, sie könnte ihre Worte zurücknehmen. Dann sah er sie wieder an und lächelte schwach. „Möglicherweise ist der Zeitpunkt gekommnen, um prosaisch zu werden. Haben Sie schon gegessen? Lassen Sie uns etwas bestellen. Und dann erzählen Sie mir von sich.“

Abby zuckte verzagt mit einer Schulter. „Wenn Sie meine Biografie lesen, die im Programm abgedruckt ist …“

„Darin stehen die Fakten, doch sicherlich nicht, was Sie wirklich ausmacht.“

„Ich weiß nicht einmal genau, was mich ausmacht.“ Ratlos zog sie die Augenbrauen zusammen, als er leise lachte. „Das hört sich schrecklich mysteriös an, nicht wahr?“

„Dabei wollte ich eine heiterere Atmosphäre schaffen.“ Er winkte den Kellner heran, bestellte für sie beide, dann stützte er die Ellbogen auf den Tisch. „Also … Was ist Ihre Lieblingsfarbe? Haben Sie Angst vor Spinnen? Vor Schlangen? Hatten Sie als Kind einen Hund oder eine Katze?“ Er nippte an seinem Glas und lächelte sie dann über den Rand hinweg an. „Oder vielleicht einen Goldfisch?“

„Weder noch.“ Abby trank einen Schluck. „Und zweimal Ja.“

„Entschuldigung?“

„Keine Haustiere, und ich habe Angst sowohl vor Spinnen als auch vor Schlangen. Wie ist es bei Ihnen?“

„Was? Ob ich mich vor Spinnen und Schlangen fürchte?“

„Nein, ich werde andere Fragen stellen.“ Aber welche? Was wollte sie über ihn wissen? Alles. Sie wollte ihn kennenlernen, neben ihm einschlafen und an seiner Seite aufwachen … „Schnarchen Sie?“, sprudelte es aus ihr heraus. Prompt lief sie rot an.

„Ob ich schnarche?“, wiederholte er gespielt schockiert und lächelte. „Wie sollte ich das wissen? Zumindest hat sich bisher noch niemand beschwert.“

„Äh … gut.“ Sie fingerte verlegen mit der Serviette, und plötzlich spürte sie Lucs Hand, warm und beruhigend, auf ihren Fingern liegen.

„Abby, Sie sind nervös.“

„Stimmt“, gab sie zu. „Ich …“ Sie zwang sich, ihn anzusehen. „Normalerweise lasse ich mich nicht von fremden Männern einladen.“

„Und das ist auch gut so“, erwiderte er. „Aber ich verspreche Ihnen, bei mir sind Sie sicher.“

Er sagte es so ernst, und sie glaubte ihm. „Ich weiß.“

Der Kellner näherte sich lautlos mit einem Tablett und stellte die Teller gekonnt vor sie hin. Als sie wieder allein waren, deutete Luc auf das Carpaccio mit den Spargelspitzen. „Habe ich richtig gewählt?“

„Es sieht köstlich aus.“ Sie nahm die Gabel und spießte ein Spargelstückchen auf. „Waren Sie überrascht, mich zu sehen? In der Bar, meine ich?“

„Mir kamen Sie vor wie eine Erscheinung“, antwortete Luc. Er hielt inne, dachte nach. „Und doch wusste ich, dass Sie kommen würden.“ Seine Stimme wurde leiser. „Manche Dinge scheinen vorbestimmt zu sein.“

„Mir erging es ähnlich“, wisperte Abby, dann lachte sie unsicher. „Aber wie schon gesagt, es scheint alles seltsam irreal.“

„Alles Gute und Schöne besitzt einen irrealen Charakter.“ Es war ein zynischer Kommentar, und Abby fragte sich, was er durchgemacht haben musste, um so etwas zu sagen. „Aber der heutige Abend ist so real wie jeder andere auch.“

Abby nickte. Sie hatte das Bedürfnis, die Stimmung aufzuheitern. „Also, ich weiß nun, dass Sie nicht schnarchen“, sie steckte sich das Stückchen Spargel in den Mund, „aber mehr weiß ich noch nicht.“ Sie dachte nach. „Sie sind Franzose.“

„Richtig.“

„Und sprechen perfekt Englisch.“

„So wie Sie Französisch.“

Sie nahm das Kompliment mit einem leichten Nicken an. „Sie haben mich vorher nie spielen hören.“

„Sie sind ein richtiger Detektiv.“

„Leben Sie in Paris?“

„Nein.“

Da sie sich entspannt fühlte, wurde sie mutiger. „Sie sind reich.“

Er bestätigte ihre Vermutung mit einem lässigen Achselzucken, wie es nur die Reichen konnten. „Ich habe mein Auskommen. So wie Sie auch, wie ich annehme.“

Abby nickte. Sicher, Geld hatte sie genug. Ihr Vater kümmerte sich darum, seit sie mit siebzehn ihr erstes eigenes Konzert geben durfte. Sie selbst hatte keine Ahnung, wie groß ihr Vermögen war und wie es angelegt war. Ihr Vater stellte ihr Bargeld zur Verfügung, sie brauchte ja nicht viel. Den Eintritt für Museen und eine Tasse Cappuccino, das eine oder andere Buch. Ihre Kleider wurden von einer Stilistin ausgewählt, die auch für Make-up und ihre Frisur zuständig war. Sie aß in Restaurants und Hotels und hatte einfach alles, was sie brauchte. Wenn sie jetzt daran dachte, machte es sie traurig.

„Sie wirken plötzlich bedrückt“, bemerkte Luc. „Ich wollte Sie nicht verstimmen.“

„Das haben Sie nicht“, beeilte Abby sich zu sagen. „Ich habe nur gerade nachgedacht.“ Sie lächelte, um von sich abzulenken. War sie bisher etwa nicht glücklich mit ihrem Leben gewesen? In Lucs Gegenwart fühlte sie sich einfach lebendiger und zufriedener als je zuvor, und das machte ihr die Unvollkommenheiten ihres Lebens bewusst. „Wenn Sie nicht aus Paris kommen, woher dann?“

Luc ließ sich Zeit, sodass Abby glaubte, er wolle diese Frage nicht beantworten. „Aus dem Süden“, sagte er schließlich. „Dem Languedoc.“

„Da war ich noch nie.“

Er lächelte wissend. „Dort gibt es keine großen Konzertsäle.“

Es stimmte, ihr Leben definierte sich über Konzertsäle – Paris, London, Berlin, Prag, Mailand, Madrid. Sie hatte große Konzertsäle in großen Städten gesehen und anonyme Hotels. Aber das Languedoc … Sie fragte sich, ob er eine Villa dort besaß, oder vielleicht sogar ein Château. Aus irgendeinem Grund stellte sie sich ein altes Bauernhaus aus grauem Schiefer inmitten eines im Sonnenschein leuchtenden Lavendelfeldes vor. Ein Zuhause. Lachend schüttelte sie den Kopf. Jetzt ging ihre Fantasie wirklich mit ihr durch.

„Gefällt es Ihnen dort?“

Luc dachte nach. „Mir hat es dort gefallen.“ Dann schüttelte er die grüblerische Stimmung ab. „Aber genug von mir.“ Er lehnte sich vor, sodass Abby seine Augen schimmern sehen und den Duft seines Aftershaves wahrnehmen konnte. „Ich will doch mehr über Sie erfahren. In der kurzen Biografie las ich, dass die Appassionata Ihr Lieblingsstück ist. Warum?“

Die Frage überraschte sie. „Weil die Musik wunderschön und gleichzeitig traurig ist“, antwortete sie schließlich.

„Und das sagt Ihnen zu?“

„So … so fühle ich manchmal.“ Ein Eingeständnis, das sie eigentlich nicht hatte machen wollen. Eine Einsicht, die ihr bisher nicht einmal selbst klar gewesen war. Abby liebte die Musik, liebte es, Klavier zu spielen, und trotz ihres enormen Erfolges schien es ihr, als sei ihr Leben nicht so verlaufen, wie sie es sich gewünscht hätte. Sie fühlte sich, als würde ihr ein essenzieller Teil des Lebens fehlen, das andere Menschen führten. Hoffte sie, es endlich zu finden, mit diesem Mann? „Wieso fragen Sie?“

„Weil es auch mein Lieblingsstück ist, aus den gleichen Gründen, die Sie soeben genannt haben.“

Abby lachte leise. „Wir beide hören uns schrecklich melancholisch an.“

Der Ober erschien und räumte die Teller ab, verschwand dann lautlos wie eine Katze. Es musste fast Mitternacht sein, ihr Vater würde sie längst zurückerwarten. Oder schlief er? Sorgen würde er sich nicht um sie machen, denn sieben Jahre Konzertroutine waren noch nie unterbrochen worden – erst der Auftritt, dann die Fahrt mit der Limousine oder dem Taxi zurück zum Hotel.

Wann würde sie heute ins Hotel zurückkommen? Und wie? Dieser Abend sollte nicht zu Ende gehen, noch nicht. Ein gestohlener Moment, unerwartet einem Leben abgerungen, das aus Musik und Pflichterfüllung bestand. Sie wünschte, er könnte ewig dauern.

„Woran denken Sie?“ Doch Luc beantwortete die Frage gleich selbst. „Daran, dass uns die Zeit wegrennt? Dass uns nur ein paar Stunden bleiben?“

„Woher wussten Sie …?“

„Weil ich das Gleiche dachte.“ Er lächelte traurig. „Aber vielleicht ist das alles, was uns gewährt wird.“

„Nein!“ Das Wort platzte regelrecht aus ihr heraus. Dann, ruhiger, leiser: „Ich will nicht, dass der Abend zu Ende geht.“

Luc neigte den Kopf ein wenig zur Seite, betrachtete sie mit dunklen Augen. „Ich auch nicht“, und dann fügte er nüchterner hinzu: „Er wird auch nicht so schnell enden. Wir haben noch vier Gänge. Schließlich sind wir in Frankreich, nicht wahr?“

Bien sûr“, stimmte Abby zu. Dabei hatte sie nicht das Essen gemeint, und sie war sicher, er auch nicht. Doch worauf genau hatte sie sich also bezogen? Ihr Magen zog sich zusammen.

Wie auf Stichwort trat der Ober mit dem nächsten Gang an den Tisch. Der Abend verging, der gute Wein, das hervorragende Essen und die angeregte Konversation verliehen der Atmosphäre etwas Außergewöhnliches. Abby fiel es erstaunlich leicht, entspannt zu plaudern. Sie fühlte sich sogar so wohl, dass sie unter dem Tisch die hohen Pumps von den Füßen streifte und den Saum ihres Abendkleides über ihre Zehen schlug.

„Wenn Sie tun könnten, was Sie wollen, was würden Sie sich dann aussuchen?“, fragte Luc sie nach dem dritten Gang.

Abby stützte das Kinn in die Hand und sah ihn mit strahlenden Augen an. „Drachen steigen lassen.“ Für ihre spontane Antwort erntete sie ein erstauntes Schmunzeln. „Oder kochen lernen.“

„Einen Drachen steigen lassen?“, hakte er nach.

Abby zuckte die Schultern. „Früher auf Hampstead Heath habe ich sie immer mit ihren Drachen gesehen.“

„Sie?“

„Die anderen Kinder. Ich hatte nie Zeit dafür. Meine Klavierstunden …“ So viel hatte sie nicht von sich preisgeben wollen, sie war froh für die Ablenkung, als der Ober mit dem Dessert an den Tisch kam. „Und kochen möchte ich, weil Essen so köstlich ist und ich nie gelernt habe, wie man es zubereitet.“ Genießerisch steckte sie sich einen Löffel Mousse au Chocolat in den Mund. „Und Sie? Was würden Sie tun?“

„Die Zeit zurückdrehen.“ Er klang so düster, erstaunt schaute Abby auf. Dann lächelte er. „Damit ich diesen Abend mit Ihnen immer wieder erleben kann.“

Doch Abby wusste, dass er das nicht gemeint hatte.

Viel zu bald kehrte der Ober mit Kaffee und Petits Fours an den Tisch zurück. Der Abend näherte sich seinem Ende. In einer Viertel-, höchstens einer halben Stunde würde Abby sich verabschieden, ein Taxi ins Hotel nehmen und durch das verlassene Foyer zum Aufzug gehen müssen. Sie konnte nur hoffen, dass der Nachtportier ihrem Vater nichts verriet. Mademoiselle est revenue très tard

Und dann würde sie sich davon überzeugen, dass dieser Abend nie geschehen war, dass Luc nie existiert hatte …

Aber dieser Abend musste ja gar nicht in der Bar enden! Sie konnten doch noch irgendwo anders hingehen, irgendwohin, wo es privater war …

Ein Zimmer. Schließlich war das hier ein Hotel. Hatte Luc ein Zimmer hier? Die Fragen, ebenso wie die möglichen Antworten, schwirrten durch Abbys Kopf. Dachte sie wirklich daran, die Nacht mit diesem Mann zu verbringen, sie, eine Frau, die in ihrem Leben bisher nicht einmal richtig geküsst worden war? Ein One-Night-Stand?

Und doch stieß der Gedanke sie nicht ab. Sie waren seelenverwandt. Bei dem trivialen Ausdruck legte sich ein Schatten auf ihre Stirn. Luc berührte ihre Hand.

„Abby, woran denken Sie?“

„Dass ich nicht nach Hause gehen will.“ Sie spürte das Blut heiß in ihre Wangen schießen, und plötzlich war es ihr gleich. „Ich will bei Ihnen bleiben.“

Luc runzelte die Stirn, Bedauern stand in seinem Blick. „Es ist schon spät. Sie sollten gehen.“

Übermütig fasste sie nach seinem Handgelenk, ihr Daumen fand instinktiv die Stelle, an der sein Puls schlug. „Nein.“ Bettelte sie etwa?

„Es ist besser“, erwiderte Luc leise. „Ich …“ Er seufzte und richtete den Blick auf ihre Finger an seinem Handgelenk. Gedankenverloren streichelte er über die weiche Haut ihrer Hand. Ein flüchtiger Kontakt nur, und doch erschauerte Abby überwältigt.

„Gibt es einen Grund, weshalb wir nicht … zusammen sein können?“, fragte sie leise und sah ihn offen an. „Sind Sie verheiratet?“

Der Druck seiner Finger wurde stärker. „Nein.“

Sie bemühte sich um einen leichteren Ton. „Gibt es da jemand Besonderen für Sie?“

„Nein, niemand.“

„Nun, dann …“ Abby holte tief Luft, klaubte ihren ganzen Mut zusammen und schenkte ihm ein Lächeln. Damit schenkte sie sich selbst. „Es gibt mich.“