DANKMAR H. ISLEIB



SIE TÖTEN DICH.


BUCH ZWEI: GENTECHNOLOGIE


666-TRILOGIE – PERFEKTION DES BÖSEN



THRILLER



Einleitung zur Trilogie 666-Perfektion des Bösen


Die Technologien, die in den atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen des 20. Jahrhunderts Anwendung finden, waren und sind weitgehend militärischen Charakters und wurden in staatlichen Forschungseinrichtungen entwickelt. In deutlichem Gegensatz dazu handelt es sich bei Gentechnik, Nanotechnologie und Robotik um kommerziell genutzte Technologien, die fast ausschließlich von privaten Unternehmen entwickelt werden. In unserer Zeit eines triumphierenden Kommerzialismus liefert die Technologie – unter Zuarbeit der Wissenschaft – eine Reihe nahezu magischer Erfindungen, die Gewinne unerhörten Ausmaßes versprechen. Aggressiv folgen wir den Versprechen dieser neuen Technologien innerhalb eines entfesselten, globalisierten Kapitalismus mit seinen vielfältigen finanziellen Anreizen und seinem Wettbewerbsdruck.

Da wir ständig neue wissenschaftliche Durchbrüche erleben, müssen wir uns erst noch klarmachen, dass die stärksten Technologien des einundzwanzigsten Jahrhunderts – Robotik, Gentechnik und Nanotechnologie – ganz andere Gefahren heraufbeschwören als die bisherigen Technologien. Vor allem Roboter, technisch erzeugte Lebewesen, und Nanoboter besitzen eine gefährliche Eigenschaft: Sie können sich selbstständig vermehren. Eine Bombe explodiert nur einmal, aus einem einzigen Roboter können viele werden, die rasch außer Kontrolle geraten.

Was war im zwanzigsten Jahrhundert anders? Natürlich bargen die Technologien, die den nuklearen, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen zugrunde lagen, gewaltige Potenziale und die Waffen stellen eine ebenso große Gefahr dar. Aber zum Bau von Atomwaffen benötigte man zumindest in der Anfangszeit seltene – tatsächlich sogar nahezu unerreichbare – Rohstoffe und ein durch Geheimhaltung geschütztes Wissen; auch der Bau biologischer und chemischer Waffen verlangte einigen Aufwand. Die Technologien des einundzwanzigsten Jahrhunderts – Genetik, Nanotechnologie und Robotik – bergen dagegen Gefahren, die sich in ganz anderen Dimensionen bewegen. Und am gefährlichsten ist wohl die Tatsache, dass selbst Einzelne und kleine Gruppen diese Technologien missbrauchen können. Dazu benötigen sie keine Großanlagen und keine seltenen Rohstoffe, sondern lediglich Wissen.

Zitat: BILL JOY – Ex Chef Scientist und Mitgründer von SUN MICROSYSTEMS, Entwickler bahnbrechender Mikroprozessorarchitekturen wie SPARC, picoJAVA, Jini und MAJC sowie Solaris für ORACLE. Die Silicon Valley-Ikone Bill Joy hat sich bereits 2003 aus dem Geschäft der Software-Entwicklung zurückgezogen ...








Robotik, Gentechnik

und Nanotechnologie

machen den Menschen

zur gefährdeten Art

Bill Joy, Computer-Genie und Ex-Chefscientist

von >Sun Microsystems<, USA

Vorwort


In fast allen (alten) östlichen Lehren der Religionen und der Wissenschaften ist die Rede von einem unterirdischen Reich, das, angeblich, unter dem Himalaya-Gebirge angesiedelt sein soll. Als der noch vor Lemuria und Atlantis untergegangene Kontinent Hyperborea die Hochkultur auf der Erde war und dessen Bewohner nach einem Ausweg für ihr untergehendes Reich suchten, seien sie in die Erde, in ein unterirdisches Reich gegangen. Ihr Repräsentant auf Erden sei der Dalai Lama.

Wenn man die Kraft des Dalai Lama betrachtet, obgleich er dem zahlenmäßig sehr kleinen Volk der Tibeter, 3,6 Millionen Einwohner, angehört, möchte man meinen, es sei etwas Wahres an dieser Behauptung. Wenn man dann noch sieht, wie das Zwei-Milliarden-Volk China durch seine Führer mit aller Macht seit Jahrzehnten verzweifelt, und letztlich ohne Erfolg, versucht, die Tibeter auszulöschen, sollte man – spätestens jetzt! – stutzig werden.

Sehr stutzig.

Agarthi Lama, der Vertreter der wahren und positiven geistigen Macht Asiens, ist ein unscheinbarer, gütig ausschauender Mann. Alterslos, so scheint es. Seine enorme Ausstrahlung, gemeinhin mit Charisma bezeichnet, was nur einen Teil der Kraft widerspiegelt, die von einem Wissenden dieser Qualität ausgeht, ist so groß, dass er leuchtet. So wissen es die Lamas, Böns (Mönche) und andere geistige Führer der positiv gepolten Welt, die ihn erleben und mit ihm arbeiten.

Von innen her strahlt.

Sichtbar.

Energie pur.

Mer-ka-bah.

Dass er in diesen Tagen mehr als je zuvor zu tun hat, um die Wirrungen der Welt in den Griff zu bekommen, wissen seine Verbündeten. Wie wichtig den Rotchinesen das kleine, aus ihrer Sicht rückständige, Volk der Tibeter ist, wie viel Angst sie vor den wenigen Menschen haben, konnte man an den 2008 niedergeschlagenen Protesten anlässlich der Olympischen Spiele in Peking und der nun noch größeren Unterdrückung der Mönche Tibets erleben.

Dem Dalai Lama und seinen Freunden stehen schwere Entscheidungen bevor. Noch sind sie uneins, wie sie das Chaos bändigen können, das sich zuerst in Gedanken, dann in pervertierten Handlungen vieler Wissenschaftler der Computer-, Gen- und Nanotechnik in den USA, Europa und Teilen Asiens breitmacht. Sie arbeiten an zwei verschiedenen Lösungen. Aber nur eine wäre für die Erde gut.

Sie setzen auf einen Jungen.

I


Verzweiflung, Tod und Liebe.


Völlig konsterniert verließ Franco die Messehalle. Unfähig, ein Wort zu sagen, unfähig, seine Gedanken zu ordnen. Es war inzwischen weit nach Mitternacht und er irrte noch immer in der trostlosen Weite der Sächsischen Schweiz, unweit Dresdens, umher; der Regen hatte längst wieder begonnen, hackte ihm in stetig wachsendem, lauter werdenden Stakkato widerlich depressive Rhythmen in den aufgeweichten Schädel. Rhythmen, die ihn vollends aus dem Gleichgewicht warfen.

Schluss machen. Ich muss Schluss machen. Sie liebt mich nicht. Sie liebt mich nicht. Ich muss Schluss machen. Was für ein Scheißleben!

Schluss, Schluss, Schluss!


Ein kakophonischer Beat hämmerte erbarmungslos seit scheinbar Jahrmillionen diese abscheuliche und auf sein Versagen anspielende Botschaft in sein Hirn, zerstörte den kläglichen Rest seiner seit Jahren mehr und mehr angefressenen, zutiefst verletzten Seele. Das Trommelfeuer der Regentropfen, so schien es, machte sich lustig über Franco, den hässlichen, kleinen, italienischen Rotschopf ohne Liebe. Ohne Kraft. Ohne die Kraft zu lieben. Besser: ohne die Kraft, seine Liebe der Geliebten zu vermitteln.

Er hatte auf ganzer Strecke versagt.

Stand vor Stella, war ihr physisch nah wie nie zuvor, konnte ihren Atem spüren, die Furcht in ihren Augen lesen und war dennoch unfähig, auch nur ein einziges Wort an sie zu richten. Hat sie mit seinen großen, schwarzen, so intensiv blicken könnenden Augen nur angeschaut. Einfach nur angeschaut. Ohne ihr etwas sagen zu können. Stumm. Dabei quoll sein Herz über. Seine Seele hungerte – und hatte er nicht tausend Mal mit ihr geredet? Stumm. Ja. Er wollte reden. Von sich. Über sie. Mit ihr.

Leere.

Nichts als Leere.

Dabei bereitete ihm Jonathan doch einen eleganten Teppich, indem er ihn, Franco, Stella im ersten Chaos des Erkennens des großen Unglücks – besser eines unglaublichen Verbrechens – als „wichtigen Helfer in der Not“ vorstellte. Aber vielleicht war es der falsche Ort, der falsche Zeitpunkt, der falsche Spruch. Nun ja, Franco machte Stella auch keinen Vorwurf. Nur sich selbst. Aber wie hätte er reagieren sollen?

„Hi, I’m Franco. Nice to meet you. Let me tell you something very seriously: I love you! More than two years right now. You don’t know it. But I know it. It’s a shame, that some girls died just few seconds before ...

Lächerlich.

In dieser Situation, in einer Anspannung, wie sie – Gott sei’s gedankt! – nur wenige Menschen im Leben erfahren müssen, sagt man stets nur das Falsche. Also war sein Verhalten schon okay, redete er sich ein, während der Regen seine Trauersymphonie fortsetzte und das Werk des Bewässerns des ohnehin schweren Ackerbodens jetzt im Beat eines ultraschnellen, harten und unpersönlichen Techno-Songs zu vollenden versuchte.

In der Fremde, allein, ohne Aussicht auf die so dringend benötigte Zuneigung, beschleunigte Franco das Tempo seiner Schritte, bis er zu rennen begann. Er nahm den ätzenden, hyperschnellen Beat des starken Herbstregens auf.

Laufen, bis ich zusammenbreche. Laufen, bis ich begreife. Laufen, bis das Chaos mich überholt, mich vernichtet und damit den Girls näherbringt, die durch meine Schuld ermordet wurden. Ja, ermordet. Ermordet. Ermordet. Meine Schuld!

Laufen, bis ich zusammenbreche.

Das war seine Devise. Ein Kampf gegen den Tod seiner Seele. Er wollte ihn aufnehmen, wusste aber nicht, wie er das anstellen sollte. Ausgedörrt seine Gedankenwelt. Fokussiert auf den für ihn unfassbaren Mord an fünf jungen Mädchen. Eine Tat, die Stella gegolten hatte und die Gott nicht verhindern konnte. Nur zu verändern vermochte, indem er anderes Leben opferte. Stella schonte?

War es so? Warum? Wo liegt der Sinn? Ist ein Leben mehr wert als fünf? Wo seid ihr gewesen, Engel? Wo seid ihr gewesen, Gnome, Elfen, oder welch‘ andere, höhere Wesen der göttlichen Hierarchie dafür verantwortlich zeichnen sollten! Bedeutet Weiterleben Schonung oder Strafe? Welche Mächte! Karma. Meine unendlich große Liebe lebt und ich renne in den Tod. Für den Tod. Gegen den Tod. Mit dem Tod.

Für meinen Tod.

Bitte.

Geliebter Tod!

Bitte lass mich sterben!


Franco Mignello verlor mit jedem Meter, den er durch den aufgeweichten Boden des Feldes lief – die Stadt lag tausend Lebensjahre hinter ihm –, zusehends mehr und mehr die Kontrolle über sich. Das grausame Ereignis brachte seine verletzte Seele zum Hyperventilieren, brachte sie zum Zerreißen, wollte sie bewusst unbewusst zerplatzen lassen. Wie die Träume, seine unwahren schönen, wahren grässlichen, sehnsuchtsvollen, nach Liebe schreienden Träume. Die bunten Seifenblasen, die immer größer werdend vor ihm dahinflogen und einfach zerplatzten, als ob nichts gewesen wäre. Den Regenbogen mitnahmen, der nicht vorhanden war. Der nur in seiner Fantasie, in der flüchtigen Schönheit einer von der Sonne bestrahlten Seifenblase für Sekundenbruchteile in ihm aufleuchtete. Träume, die er über all die Jahre geträumt hatte und mit seiner Stella eines Tages auszuleben gedachte. Sie zerbarsten vor dem Hintergrund des unfassbar widerlichen Geschehens.

Lasst mich endlich los, lasst mich einfach auf den Regenbogen aufspringen. Mit ihm ins Nirwana. Eine Fata Morgana. Gewiss. Meine Fata Morgana. Meine Lebenstäuschung. Geliebter, ekelhafter, schöner, strahlender, grausamer Regenbogen.


Wie schon wenige Stunden zuvor, wurde er erneut durch das unaufhörliche und nervige Klingeln des iPhones in seiner Gesäßtasche aus seiner katastrophalen, zutiefst negativen und sich selbst verachtenden Stimmung gerissen. Das penetrante Klingeln wollte ihn aus seiner Depression zerren. Das war die Aufgabe des ätzenden, altmodischen Klingeltons eines Telefons aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ihn aufwecken. Aber Franco dachte nicht daran, das kreischende Ding herauszuziehen und den Screen zu berühren und so zu tun, als sei er guter Dinge. Er beschleunigte das Tempo des Laufes noch und raste in einer kaum zu überbietenden Todesverachtung gegen sich selbst dem finsteren Nichts entgegen.

»Weglaufen. Das Einzige, was noch Sinn macht!«, zischte Franco unhörbar dem Ding an seinem Hintern entgegen, um es dann doch – es lagen zwischen dem ersten Klingelzeichen und dem Berühren des grünen Symbols sicher etliche Kilometer schlammiger Feldweg und Jahre des Nachdenkens – aus der Jeans zu ziehen.

Das Leben hatte gesiegt.

Die Neugier, zu wissen, was noch kommt, wenn man schon tot ist, war größer. Automatisch gab der Restverstand seines im Allgemeinen so fabelhaft arbeitenden Gehirns den Befehl an den rechten Arm, die Hand: „Telefon rausziehen, Taste drücken, hallo sagen“.

»Si!«

»Ich bin es, Franco, Jonathan. Wo bist du!? Alle Welt sucht dich! Du bist so plötzlich und schnell verschwunden, dass niemand auch nur den Hauch einer Chance hatte, dich festzuhalten. Franco! Wir machen uns Sorgen. Ich dachte, du wärst zurück in das Hotel gefahren. Aber dort warst du nicht. Es ist gleich fünf Uhr früh! Sorry, ich konnte mich nicht vorher melden, denn die Polizei stellte Fragen über Fragen. Wir hatten alle Hände voll zu tun. Ich musste mich um Stella kümmern. Sie ist nicht mehr sie selbst. Wir brauchen dich hier, denn du warst es, der die Girls engagierte. «

»Lasst mich einfach in Ruhe, bitte, lasst mich«, wollte Franco in das Telefon brüllen, aber es kam nur ein unverständliches Winseln zwischen seinen Lippen hervor. Seine Vitalität war dahin. Franco hatte seinen Körper überfordert. Überspannt. Der Bogen zerbrach; die Saite riss. Knacks! Er schlug, ohne jegliche Kontrolle über seinen Körper, seinen Geist, sein Herz, seine verwundete Seele, in den Schlamm. Gesicht nach unten. iPhone im Schlamm vergraben.

Aus.

II


Ein Bauer mit Durchblick, der hilft.


Ein Bauer, der trotz des miserablen Wetters die letzten Herbstkartoffeln dem schweren Acker entreißen wollte, fand, als er mit seinem Arbeitsgerät – einem kleinen Traktor und einer zweispurigen Kartoffelerntemaschine, die im Laufe der Jahrzehnte schon etliche Tonnen des köstlichen Gemüses aus der Erde gezogen hatte – den nur sehr mäßig getrockneten Feldweg entlang fuhr, einen großen, dreckigen Klumpen mit einem kleinen Rotschopf; zwischen Feuerball und Altgold in die Müdigkeit des frühen Tages schimmernd, der wie tot inmitten des furchigen Weges lag. Fast wäre er in dem kalten Morgennebel, der die Dunkelheit des entstehenden Tages noch unterstützte, es war Sechsuhrdreißig, über den leblosen und völlig verschmutzten Körper gerollt. Doch die Instinkte, Lebendes vor sich zu haben und es auch zu spüren, funktionierten noch und der Bauer sprang von seinem weiter träge vor sich hin tuckernden Diesel und drehte den Rothaarigen um. Was für ein Gesicht!, durchfuhr es ihn. Ihn blickten, umrahmt von halb getrocknetem Blut und Mengen von schwarzem, fettigem Lehm, zwei unglaublich intensive, leuchtende Augen an, so schwarz wie die gerade vergehen wollende Nacht.

»Na schön, Sie leben ja.«

Mehr konnte er angesichts des strahlenden Elends nicht hervorbringen. An Einsamkeit gewöhnt, verschwendete er keinen Gedanken darauf, warum ihm der verdreckte, sichtlich verwirrte, unglaublich leidvoll/eindringlich schauende junge Mann keine Antwort gab. Der Bauer nahm ihn auf. Wie einen Sack Kartoffeln: Eine Hand oberhalb des Hinterns, sich im Gürtel der Jeans festkrallend, die andere verschwielte Hand fast zärtlich den Kopf haltend – so legte er den Typen auf die blecherne Sitzbank der Erntemaschine und deckte den kleinen Feuerkopf mit der Pferdedecke zu, die ihn vor der feuchten Kälte des bedächtig beginnenden Tages schützen sollte. Setzte sich wortlos auf seinen Traktor und drehte vorsichtig um, sobald es das Terrain zuließ.


Franco erwachte aus seiner selbst gewählten Isolation, die dem Zustand eines Komas gleichkam, erst am späten Nachmittag des darauffolgenden Tages. Verwundert schaute er sich in dem Raum um, der ihn umgab: alles in Weiß, sparsam, unpersönlich. Zu seiner Rechten ein Gestell, eine Flasche, eine Flüssigkeit. Ein Schlauch, der in seinen Arm zu führen schien, Pflaster. Zu seiner Linken ein Mann in Weiß. Brille, Mundschutz, ihn aufmerksam musternd. Und Jonathan. Einen weißen Kittel übergestreift. Jonathan. Sein Bezugspunkt. Der einzige Grund, die Isolation, dass selbst gewollte Koma aufzugeben. Sich dem Freund zuwenden. Wichtig. Denn die Augen hielt er geöffnet, seit der Bauer ihn fand und hier, dem seinem Zuhause nächst liegenden Krankenhaus, mit den Worten ablieferte:

»Den hab‘ ich bei meinen Kartoffeln gefunden.«


Das war alles, was sie wussten. In der kleinen Klinik in einem Vorort der sächsischen Metropole. In der sieht es noch so aus wie 1990, bemerkte der den Rotschopf abliefernde Bauer, in dem Jahr als man die so genannte ‘DDR’ an die Bundesrepublik Deutschland verkauft hatte. Für mehr als 2.800 Milliarden DM – ging es dem Bauern weiter durch den Kopf. Er rechnete noch immer in DM, meinte aber Euro.

Gegen diesen beachtlichen Preis, der noch immer Jahr für Jahr um gut 350 Milliarden Mark steigt, um erforderliche Neuinvestitionen und die Zinsen der aufgelaufenen Staats-Start-Investitionen der ersten fünfzehn Jahre notdürftig abzudecken, um das marode System des Ostens dem industriellen Westniveau in etwa anzugleichen, waren die lächerlichen Summen, die zum Freikauf politischer Gefangener während der Ulbricht-Honecker-Ära aufgewendet wurden, wirklich ‘Peanuts’. Um mit dem ehemaligen Chef der größten deutschen Bank zu sprechen, der diesen Ausdruck benutzte, als es um den geringfügigen Verlust der Bank von circa Zweikommafünf Milliarden DM aus einem Immobiliengeschäft ging. Ist ja auch nicht viel, wenn ein Vorstand der gleichen Bank nur 70 Millionen Abfindung erhält, wenn man ihn, nach wenigen Jahren ziemlich nutzloser, kostspieliger Tätigkeit für das Unternehmen, dann irgendwie wirklich nicht mehr gebrauchen kann.

2.800 Milliarden Mark. Ausgegeben für siebzehn Millionen Menschen, die nicht verkauft werden wollten. Ein Pro-Kopf-Preis von 164.705 DM. War es das wert? Kinder und Greise, Rentner und Kranke, zwei Millionen SED-Mitglieder und dreihunderttausend STASI-Mitarbeiter einbezogen?! Und – fast frei Haus on top, aber nur fast!! – rund Einskommafünf Millionen IMs, Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Spitzel, die jeden und alles bespitzelten. Bruder, Mutter, Vater, Geliebte, Ehemann, Tochter, Opa, Freund, Arbeitskollegen, Feind, Mitgenossen. Den Hund des Nachbarn, die Ziege des LPG-Vorsitzenden. Die alles und jeden abhörten. Die hunderttausende und aberhunderttausende von Wanzen setzten, im Schlafzimmer – mit Vorliebe, denn man war ja zuallererst auch geiler Voyeur, gevögelt wurde schließlich immer und besonders im Osten, weil man ja nichts Anderes hatte!! –, in der Küche – gefressen wird immer –, auf dem Klo – geschissen wird immer –, im Auto – gefahren wird immer –, im Büro – gefaulenzt wird immer –, der Datsche – gesoffen wird immer ...

Und für ein landschaftlich zum Teil zwar schönes, aber vergammeltes, weil durch Umweltsünden zerstörtes, winzig kleines Stück Land. Verglichen mit dem großen Bruder, der ehemaligen Sowjetunion, den USA oder auch nur Bolivien, Brasilien. Von anderen Ländern wie Australien nicht zu reden. Die sowjetische Besatzungszone: Kaputtgewirtschaftetes Agrarland ohne nennenswerte Industrie. Ein wahrhafter Akt der Nächstenliebe. Und ein genialer Schachzug der Genossen der STASI und der Arbeiter-&Bauernpartei, der SED ...

Denn was sonst gab es für den Kapitalismus dort zu holen? In Ostdeutschland. Das den Russen gehörte. Oder genauer: der russischen Nomenklatura. Die wiederum ein paar Familien in N.Y. und London gehört. Die man, seit der Oktoberrevolution anno 1917, in eigener Verwaltung, in eigenem Besitz hielt. Ein Experiment. Kommunismus. Mal sehen, wie so was funktioniert. Brüder und Schwestern ...

Nach Belieben regiert. Kontrolleure eingesetzt, abgesetzt. Das Volk verbannt,

verbrannt,

vernichtet,

verachtet,

vergewaltigt,

verlacht.

Ja, auch Kollegen Genossen, Glaubensbrüder. In Mengen. Und immer wieder das Volk. Das dumme. Neununddreißig Millionen allein unter einem gewissen Stalin. Wie hießen sie noch alle? Trotzki, Chernoff, Martoff, Schuanov, Andropov, Roshal, Bogdanoff, Goryeff, Lieber, Zwezdin, Zagorsky, Kamhoff, Zinovjeff, Ganezky, Kradek.

All die Jungs und viele mehr, die im Auftrag ihrer Herren in N.Y. und London für sie Russland vom Zaren befreiten, um endlich größeren Besitztum im Osten ihr Eigen nennen zu können. Und die heute durch die neuen Generationen vertreten wurden und werden, wie Chruschtschow, Gorbatschow, Jelzin, Schirinowski, Beresowski, Grushinsky, Schewardnadse, etc., etc. ... Und all die Neureichen, die unter Jelzin und Putin im Auftrag ihrer Herren aus Washington, New York, London zu dem wurden, was sie sind – junge Milliardäre, die einem Ziel folgen. Michail Fridman, Chodorkowskij, der nicht spurte und in Sibirien eine Zeit verbringen durfte, Herr Wekselberg, Wladimir Potanin, Michail Prochnow, Leonid Newslin, Michail Brudno, Wladimir Dubow, Platon Lebedjew, Pjotr Awen, Alexeij Mordashow, Wladimir Lissin, Elena Butarina und ihr Mann Jurij Luschkow, Wagit Alekperow, Igor Setschin, Sergej Iwanow, Wladimir Lissin. Fast alle kommen sie aus dem Dunstkreis von Jelzin und Putin, die Jungen in Russland, meist um die Vierzig. Und der Putin zog sich den Hardrock-Fan Dimitri Anatoljewitsch Medwedew heran. Eine blasse Figur, die tut, was Putin ihr aufträgt, der nun wieder selbst das Ruder an sich gerissen hat, der neue Zar von eigenen Gnaden. Oder Michail Prochorow, gerade 48 Jahre, Alibi-Präsidentschaftskandidat und 13,2 Milliarden Dollar schwer.

Wie kann man da schon Milliardär sein? Sie waren Agenten in Ostdeutschland, Bonzen in Moskau, Leningrad und geben dem Fürsten Prozente, der sich nun zum Zaren gekürt hat. Der hat noch immer nicht genug, der Putin. Man sagt, er sei der Reichste im Lande mit über vierzig Milliarden Dollar Privatvermögen. Vermutlich ist es die dreifache Summe, die er sich unter den Nagel gerissen hat. Und wer in den letzten Jahrzehnten nicht spurte, kam in den Knast. Oder hat sich nach Israel, Frankreich, England, in die USA abgesetzt und sogar nach Deutschland und Zypern! Sie sitzen überall und verdienen auf Kosten des Volkes, durch unglaubliche Korruption, durch Betrug, durch ‘Freunde’, die ihnen das Geld zum Kauf der Ressourcen und Firmen liehen – woher sollte ein Roman Abramovitsch, Waisenkind, mit damals nicht mal Mitte Zwanzig, eine Milliarde Dollar gehabt haben, um den Ölkonzern Sibneftegas an sich zu reißen? Die Tochter Jelzins, Tatjana, hatte es ihm angetan und der Beischlaf mit ihr. Hieß es seinerzeit von Insidern. Immer wohlwollend von ihren Herren in New York, London und Tel Aviv bezahlt, beobachtet und gelenkt, verdienen sie selbst Milliarden, die sie sich letztlich mit ihren Bossen teilen. Müssen ...


Er hatte viel erlebt, der Bauer, seit er sein Ich verleugnen musste, aus Angst wieder in irgendeine Gefangenschaft genommen zu werden. Aber der ehemals gefeierte Superprofessor für politische Geschichte und Philosophie an der Humboldt-Universität in Ostberlin wusste, dass das, was er dachte, der Wahrheit entspricht. Jahre seines Lebens hatte er Studium und Studien gewidmet und war fündig geworden. Auch wenn ihn die meisten für verrückt erklären. Auch das ein Teil des Systems des Verfälschens.

... Oder für/gegen wen war dieser Aufkauf, diese Aufgabe eines kleinen, unbedeutenden Territoriums inszeniert worden, fragte er sich? Für oder gegen ‘die Deutschen’. Wer sind sie? Was wollen sie? Welchen Zweck erfüllen sie? Die Deutschen. Böses, überflüssiges Volk. Muss gedemütigt werden. Muss zusammenbefreit werden. Um es zu schwächen. Der Westen war schon viel zu stark und autark geworden. Trotz des Dicken aus der Pfalz, der einer der Ihren war und ihnen mit Haut und Haar nicht nur hörig war, sondern ihnen gehörte. Schachzug. Aus Angst. Kontrolle ist alles. So war es ein Einfaches und nach außen Glaubhaftes für die dummen Mitläufer. „Wir haben durch unsere Demonstrationen die Bonzen in Berlin dazu gezwungen die Grenzen aufzumachen!“ Naives Volk. Ja, so haben DIE die Deutschen wieder in den Griff bekommen. Einen Dämpfer verpasst. Geschwächt aus Angst.

Angst? Angst. Wovor?

Nein, nein – keine Angst!

»Ich habe keine Angst mehr«, rief er laut in die unfreundliche Morgenstimmung, als er die Klinik verließ, von niemandem gehört. Ein Mann wie unser Professor Dr. habil. Dr. rer. nat. A. Bauer kennt keine Angst mehr, nachdem ihm alles genommen wurde, was er liebte.

Nichts vom dem gelogen. Nichts erfunden. Wahrheiten. Tatsachen. Verschwiegen, das ja. Aber: Es ist bekannt und wird benannt ...

Damit beruhigte er sich wieder, zwang seinen immer aktiven, angespannten Geist wenigstens einmal abzuschalten.

Nur nicht verrückt werden! Das würde denen so passen. Mein Leben ist schön, verpfuscht. Schön, aber verpfuscht. Dank der STASI, den Politikern, die auch heute unser schönes Land vernichten. Ein neues Pferd haben sie vor den Karren gespannt. Angela Merkel. Ich kannte sie noch als kleine Studentin. Immer brav, immer gehorsam den Genossen folgend. Auch heute. Erhält ihre Befehle. Marionette. Aber dass sie mich vernichten, das gelingt ihnen nicht! Dachte es und spuckte voller Verachtung auf den Boden.


Die Ärzteschaft der altmodischen, kleinen, recht armselig wirkenden Klinik, vergessen vom Fortschritt, war bemüht herauszufinden, wer denn ihr Patient mit den intensiven, leidenschaftlichen und intelligenten, schwarzen Augen sei. Mit Erfolg, denn der Rothaarige war vorgestern Nacht in der Messehalle gesehen worden, in der wenige Minuten vor seinem Erscheinen, nach einem Rockkonzert der US-Sängerin Stella Henderson, fünf junge Mädchen durch einen Anschlag mit Sprengstoff ums Leben gekommen waren, der, so war durch alle Medien gegangen, der Rocksängerin gegolten haben soll.

Jonathan musterte eindringlich seinen Chef, der ihm längst zum Freund geworden war. Und stellte fest, dass Franco Mignello, der abgedrehte junge Mann aus Verona, intelligent, erfolgreich in seinen Jobs, aus megareicher Industriellenfamilie, eigenartig verändert wirkte. Noch in der fürchterlichen Nacht des vergangenen Montags sah er vor sich einen unverbrauchten, unverdorbenen, ja fast naiven Typen, der so alt aussah, wie er war, knapp einundzwanzig Jahre, der seiner großen Liebe – aufmerksam/erfolglos – hinterherhechelte. Sie behütete, beschützte. Sie umsorgte, wenn auch aus einer sehr fernen Nähe. Der das Unheil, das dem Star widerfahren könnte, förmlich roch. Ohne zu fragen half. Ständig. Beständig. Das Gras wachsen hörte, mit seinen Panik-Prognosen leider immer öfter Recht bekam und bei allem Stress stets zurückhaltend, vornehm und schlicht war. Anständig. Zutiefst anständig. Kein herkömmlicher Stalker. Ein seltenes Geschöpf in einer ziemlich heruntergekommenen Welt, in der nur der schnelle Reichtum, der Übernachterfolg, der Einsatz von Ellenbogen und eben Geld, Geld, Geld zählte. In der Waffenhändler und Zuhälter, Immobilienhaie und Börsenmakler, Drogenhändler, Banker, Versicherungskaufleute und korrupte, korrumpierbare Politiker weit mehr galten als Maler, Gärtner, Architekten, Fliesenleger und Astronomen, Krankenschwestern, Fräser und Designer, zurückgezogen lebende Philosophen, Musiker, Schriftsteller, Künstler und Visionäre, die nicht jeder Mode nachgaben.

III


Jutta malt Schwänze.


Jutta weinte. Weinte still in sich hinein. Die Augen halb offen, verklärt, voller Tränen und in eine Weite schauend, die man physisch hätte messen können. Eine kosmische Weite. Doch tatsächlich saß sie allein auf dem kargen, zu einem Bett verwandelten Teil ihres loftartigen Ein-Zimmer-Apartments im Sachsenwald, einem bevorzugten Wohnviertel der Bankenstadt Frankfurt am Main. Eine CD lief. Prince Cheb Mami. Arabischer Pop. Geheimnisvoll, melancholisch, kraftvoll, würdevoll. Nicht dieser Hitparadenmist, den die Sender vierundzwanzig Stunden landauf, landab dudeln und damit die Kids zu unsensiblen Ungeheuern machen. Richtig gut abgehende Musik. Ein Mix aus dem Underground der schwarzen Musik, vereint mit dem Groove der nordafrikanischen Wüste und der Elektronik westeuropäischer Musiker.

Der große, lang gestreckte Raum wirkte eher wie das Studio eines ziemlich ausgeklinkten Malers oder Bildhauers. Männlich, hart, doch zugleich sinnlich. Unaufgeräumt in chaotisch-genialer Weise. Überall Fotos, Bilder, Skulpturen. Staffeleien, auf denen angefangene Gemälde, Fragmente einer düsteren, erotischen Welt zu sehen waren. Riesenschwänze in Knallblau auf grellem Gelb. Leuchtfarbe. Schwänze mit Augen; mit trauriger Miene, halb schlaff, gerade explodierend. Gemalt in Öl, präzise und anatomisch perfekt. In einer im Sinne des Wortes malerischen Umgebung, die man nur als bizarr bezeichnen konnte. Mal saß so ein Superriesenschwanz auf einem Baum, schaute melancholisch, so schien es, auf eine verschneite Landschaft. Mal hatte ein Sechzig-Kilo-Fisch ihn – den Schwanz eines Mannes – quer in seinem Maul und schwamm auf einer Wiese gegen den stark anschwellenden Strom, breiter als der Amazonas, der wiederum die Fortsetzung eines Wasserfalles war, der aus einer überdimensionalen Vagina schoss. Ein anderes Bild, unfertig wie die meisten oder eben exakt so gewollt und fertig, da ein Teil der circa drei mal zwei Meter großen Leinwände immer weiß blieb, unberührt, jungfräulich, zeigte eine Geigerin. Bronzefarben, langbeinig, breitbeinig, nackt, die mit einem – überdimensionalen – dunkelgrünen Schwanz in der Rechten, der sich als Geigenbogen betätigte, das Instrument malträtierte und sich zugleich der Freude eines Orgasmus hingab und goldgelben Samen aus sich herauskatapultierte. Mitten ins staunende Publikum, das mit offenen Mäulern an der Bühnenkante des imaginären Konzertsaals der Geigerin zu lauschen schien. Oder zu warten. Auf den Orgasmus?

Keine Schränke, kein Tisch; Sessel, Sofas? Fehlanzeige in dem Loft. Nur Farben, Werkzeuge; ein paar Klamotten lagen – fast konnte man meinen, sie seien nach Beuysscher Art als Bestandteil der bizarren Kunst bewusst so hindrapiert – über Skulpturen, die ebenfalls männliche Erotik in einer Weise darstellten, wie es selbst die nicht gerade prüden Inder in ihrer langen Tradition erotischer Kunst verwundert hätte. Wie kann man hier leben, wohnen? Noch dazu als junge Frau!?, würde sich ein Besucher erstaunt, befremdet, neugierig fragen.

Aber es gab in dieser Nacht keinen Besucher.

Auch in den anderen Nächten des Jahres nicht. Nur Jutta, die weinte. Nackt saß sie auf dem schwarzen Laken des schwarzen Lackblocks, der als Bett diente. Eine Matratze konnte man nur vermuten; aber vielleicht war die weinende Schönheit ja eine Yogi.

Warum habe ich ihn verloren. Warum gab er mir nicht eine Nacht. Die eine Nacht; nur eine einzige Nacht!

Das fragte sich nun schon seit Stunden, vielen Stunden, Jutta, die langbeinige Schöne, in Gedanken versunken, ihr Bauchnabelpiercing mit einer dauerhaften Bewegung misshandelnd, als hätte sie einen der überdimensionalen, gemalten Schwänze zwischen ihren schlanken Fingern.

Die Augen. Nie werde ich diese Augen vergessen können. Ich muss Augen malen. Nur noch Augen.

Augen. Ja.

Morgen fange ich damit an.

Miami. Strand. Ocean Drive und diese Augen.

Nie mehr Schwänze.

Augen werden es sein. Seine wundervollen, intensiven, strahlenden, leuchtenden Augen. DIE sind es, die ich liebe. Und Schwänze. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin. Aber ab jetzt zählt nur noch seiner. Er fühlte sich großartig an. Er schmeckte gut. Wie Vanillepudding. Ich mag Vanillepudding. Und er war viel imposanter, als ich es bei dem kleinen, hässlichen, sommersprossigen Typen aus Italien hätte vermuten wollen.

Die Nacht fing sie und ihre wild-melancholischen Gedanken ein, umhüllte die nackte Schönheit im Loft; Prince Cheb Mami verstummte. Nur das Surren des Kühlschranks war zu hören.


Wohnen konnte man hier nicht.