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© 2021 Luise Eggers
Alle Rechte vorbehalten.
URL: www.dasgrauekaninchen.de
Lektorat: Maria Rumler
Korrektorat: BoD
Covergestaltung: Nora Falkenberg
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, mechanische, elektrische oder fotografische Vervielfältigung, eine kommerzielle Verwertung des Inhalts, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Alle in diesem Buch verwendeten Namen, Charaktere und Handlungen sind frei erfunden, und jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Die Stadt Löwstedt ist ebenfalls frei erfunden.
ISBN: 978-3-7557-8684-9
In jedem Buch von mir ist ein graues
Kaninchen im Text versteckt.
Suche das graue Kaninchen.
Nur wer die Sehnsucht kennt,
weiß, was ich leide!
-
Johann Wolfgang von Goethe
Meine Mutter wühlte in den Schubladen, öffnete Schranktüren und knallte sie wieder zu. »Schiete!«, fluchte sie laut. Ihr Streit mit der Küche riss mich aus den Gedanken. Ich saß auf der Fensterbank in meinem Zimmer und beobachtete die Regentropfen auf dem Glas. Draußen tobte der Wind und brachte die Blätter zum Tanzen. Die Sonne machte sich rar hinter den Wolken und stand schon leicht westlich.
Einen Tag zuvor war mein Onkel Jonas, der ältere Bruder meiner Mutter, beerdigt worden. Erst heute hatten wir davon erfahren und die Beerdigung verpasst. Die Familie meiner Mutter kam aus einem Dorf nähe Hamburg. Der Weg dorthin wäre nicht allzu weit gewesen, aber das war nicht das Problem. Einige meiner Verwandten waren verstorben und der Rest, mein Großvater und meine Mutter, zerstritten.
Wir trugen nun Schwarz. In der ganzen Wohnung brannten weiße Kerzen. Ich schob die Porzellanfigurenauf dem Fensterbrett beiseite und öffnete das Fenster, um mein nach Ruß riechendes Zimmer zu lüften. Der kalte Novemberwind blies das Wachs über den Rand der am Fenster stehenden Kerzen. In der Küche war es nun still. Im Flur hörte ich ein Schluchzen, dem ich folgte. Meine Mutter lag zusammengekrümmt auf ihrem Bett und hielt das Foto meines Onkels in den Händen. Ich legte mich zu ihr und umarmte sie so lange, bis sie einschlief.
Nach einem Monat tauschte ich mein ausgeblichenes schwarzes Kleid gegen meine farbigen Tellerröcke und Oberteile aus. Trotzdem ging mir der Verlust meines Onkels ungewöhnlich nah, dabei hatte ich ihn nur zweimal gesehen, einmal zur Beerdigung meines Vaters. Damals war ich vier Jahre alt gewesen. Ich erinnerte mich kaum an ihn. Die Puzzleteile, die meine Mutter mir hinwarf, um das Bild meines Vaters zu vervollständigen, ließen mich darauf schließen, dass er sie irgendwann in eine Rolle gedrängt haben muss, in die sie nicht passte. Wenn ich mich von ihren knappen Antworten nicht abwimmeln ließ, zeigte sie Fotos von ihm. Er fehlte mir, wenn ich sah, wie er mich auf den Schultern trug und wir beide lachten. Wie passte das zusammen? Wie konnte ich ihn vermissen, ohne mich an ihn zu erinnern? Er starb nicht im Zweiten Weltkrieg, so wie es vielen ergangen war. Nein, er starb 1954 bei einem Autounfall.
Als Onkel Jonas starb, war ich zwölf Jahre alt. Da meine Mutter ein auffallend fröhliches Gemüt hatte, das nun getrübt war, fiel den Menschen in unserer Umgebung auf, dass sie trauerte. Daher sprachen nicht nur Freunde und Bekannte ihr Beileid aus, sondern selbst die Bäckerin von nebenan. Als sie nach der Todesursache meines Onkels fragte, brach meine Mutter in ein Schluchzen aus.
Ich wuchs in Löwstedt auf, einer westdeutschen Kleinstadt zwischen Berlin und Hamburg, in der sich Anonymität und Klatsch die Hände reichten. Daher hörten meine Mitschüler von unserem Verlust. Um ihre Sensationsgier zu stillen, dachte ich mir eine Geschichte aus. Denn auch ich wollte nicht über die Todesursache meines Onkels sprechen. Nicht in dieser Zeit. Nicht 1962.
Ich stand vor der kleinen Wiese und bewunderte die zarten Krokusse, die zum ersten Mal in diesem Jahr ihre Blüten öffneten. Das schrille Läuten der sanierungsbedürftigen Schulklingel erschreckte mich. Ich eilte zu dem großen Backsteingebäude, dessen Fassade leicht bröckelte. Während ich mich unter die Schüler mischte, die zum Eingang drängten, beobachtete ich die Bauarbeiter, die die losen rotbraunen Steine in Schubkarren wegfuhren.
Die Klassen waren überfüllt und es gab zu wenig Räume, sodass der Sportunterricht im Winter in den Fluren der Schule stattfand. Wieder klingelte es schrill. Ich rieb mit der Hand ein paar Radiergummireste von meinem Block und schloss mein Mathebuch. In der kurzen Pause wurde es schnell laut, alle redeten durcheinander. Herr Mechthold, ein Lehrer mit einer schmächtigen Statur und einer zaghaften Stimme, kam gegen das Klassengemurmel nicht an. Meine Augen folgten einem Papierflieger über mir, der in dem roten Lockenkopf von Finn landete. Er und Robert kamen direkt auf mich zu. Finn nahm das Papier aus seinem Haar und stützte sich mit den Händen auf meinen zerkratzten Schultisch. Auch wenn sie zur selben Klasse gehörten, maß Robert einen ganzen Kopf mehr als der sommersprossige Finn. Oft hänselten sie ihn deswegen, aber mit seinem ganz eigenen Witz verschaffte er sich früher oder später die Anerkennung der anderen.
»Hallo Emmi, Robert und ich wollen nachher wieder die Pferde füttern. Kommst du mit?« Finn stand selbstsicher vor mir, während Robert sich aufgrund der prüfenden Blicke der anderen Mädchen nervös umsah.
»Ja, ich weiß aber nicht, ob wir noch Äpfel und Möhren zu Hause haben, die ich mitnehmen kann.«
»Das ist nicht schlimm. Wir können uns welche von meinem Onkel nehmen«, wandte Robert ein. »Dann nach Schulschluss?«
Ich nickte, und die beiden gingen wieder an ihre Tische. Kurz darauf stolzierte Kathi zu mir und stellte sich mit gerecktem Kinn vor meinen Tisch. Sie hatte sich vor einiger Zeit vorgenommen, meine Freundin zu werden. Während der kurzen Unterhaltung mit Finn und Robert hatte sie sich zu mir umgedreht und uns beobachtet. Anders als die anderen Mädchen, die sich wieder wegdrehten und über das bevorstehende Beatles-Konzert schnatterten.
»Findest du, das ist eine gute Idee? Du kannst nicht in deinem guten Kleid auf einen Bauernhof, da ist es total dreckig!« Sie stemmte einen Arm in die Seite. Ihre Beine waren leicht nach außen gedreht.
»Ach Quatsch, ich kenne Robert und Finn schon lange. Wir machen öfter was zusammen, das kriegt ihr bloß nie mit. Außerdem kann man Kleider waschen. Aber wenn du so ‘ne Angst um mich hast, kannst du ja mitkommen.«
Kathi sah mich mit geweiteten Augen an, willigte dann aber aus vorgegebener Sorge ein, mitzukommen.
Sie gehörte zu der Sorte Mädchen, die nicht mit Jungs sprachen oder kicherten, sobald ein Junge sie ansprach. Diese Mädchen zogen sich schick an und benahmen sich vorbildlich nach Knigge. Eines Morgens musste sie wohl aufgewacht sein und dachte sich, dass sie mich zur Freundin haben wollte. Warum, wusste ich damals nicht, und anfangs war es mir unangenehm.
Wir waren grundverschieden, so verschieden wie unsere Mütter, deren Abbilder wir noch waren. Kathis Mutter war die perfekte Frau der 50er Jahre: Hausfrau und außerordentlich schick, stets darauf bedacht, ihren Mann zu sättigen und die Wäsche faltenfrei zu bügeln. Meine Mutter stand Kathis zwar an Schönheit nicht nach, aber scherte sich wenig um Konvention, christliche Moral und Befriedigung eines Mannes. Sie sah ihre Erfüllung nicht im Muttersein, so überließ sie mich oft mir selbst und ich lernte, schnell selbstständig zu werden. Keiner dieser Erziehungsstile schien mir optimal.
Ungeduldig warteten Finn, Robert und ich vor dem zitronenfarbenen Haus, in das Kathi vor vielen Minuten verschwunden war, um sich umzuziehen. Das Ziegeldach glänzte in einem frischen Rotbraun. Als sie rauskam, schaute sie verlegen. In ihrem Blick las ich nicht nur Unsicherheit, sondern auch den Wunsch nach Bestätigung. Ich tat ihr den Gefallen und sagte: »Sieht doch gut aus!«
Finn und Robert grinsten sie wohlwollend an und Kathi schwang sich auf den weißen Sattel ihres hellblauen Holländer-Fahrrads, auf das ich unsagbar neidisch war. Leider musste ich mit Roberts Gepäckträger vorliebnehmen. Die finanziellen Verhältnisse von meiner und von Kathis Familie lagen so weit auseinander wie die Viertel, in denen wir wohnten. Nur dem Charme meiner Mutter war es zu verdanken, dass wir eine annehmbare Wohnung und auch einige andere teurere Geräte besaßen, die wir uns sonst nicht hätten leisten können.
Wir fuhren über einen holprigen Feldweg, an dem entlang sich eine Wiese mit Gänseblümchen erstreckte. Bald darauf stieg mir der Duft von Heu und Pferdeäpfeln in die Nase. Finn und Robert ließen ihre Räder in das hohe Gras fallen, nur Kathi lehnte ihres sorgfältig an eine große Eiche. Wir warteten vor dem Weidezaun, während die Jungs einen staubigen Weg zum Hof entlangliefen und auf Roberts Onkel Martin trafen, der in einem verschmutzen Overall und etwas gekrümmt über den Hof trottete. Er trug eine Schaufel, die er an die Wand des Stalls lehnte, um den beiden aufmerksam zuzuhören. Dann sah er zu uns rüber und winkte, was ich erwiderte, denn wir waren uns öfter begegnet. Kathi stand schüchtern an ihrem Fahrrad und hob kurz die Hand. Als das Gespräch endete, liefen Robert und Finn um die Scheune. Sie waren außer Sicht, aber ich wusste, dass sie in den Keller gingen, dort wurde das Gemüse gelagert. Während wir warteten, schienen die Pferde, die anfangs weit entfernt standen, auf uns aufmerksam zu werden, und näherten sich langsam.
Wir bewunderten vor allem den Friesen mit seiner welligen, vollen Mähne. Die Sonne ließ das Fell durch die Muskelbewegung immer an einem anderen Punkt glänzen. Ich wunderte mich über dieses Ehrfurcht erweckende Lebewesen, dass man Fluchttier nannte. Ich suchte diese Faszination, die mich gepackt hatte, auch in Kathis Augen. Aber ihr Blick war leer und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass tausend Gefühle in ihr zu wüten schienen, die sie selbst wohl nur in ihren einsamsten Stunden kannte. Mit einem melancholischen Blick sah sie mich an und sagte: »Das schwarze Pferd hat eine schöne Mähne, so wellig und glänzend wie deine Haare.« Ein kleines Lächeln schlich auf ihren Mund. Ich spürte, dass meine Wangen rot wurden, und fragte sie, ob es nicht schön wäre, auf dem Friesen zu reiten. Eine Denkfalte zeichnete sich auf ihrer Stirn ab, während sie das Pferd musterte.
»Ich denke nicht … ich denke nicht, dass es den Pferden gefällt, wenn wir auf ihrem Rücken sitzen. Das würde nur uns gefallen.«
In diesem Moment wusste ich nicht, mit wem ich da eigentlich sprach. War das wirklich Kathi? Das kleine adrett gekleidete Püppchen aus der Schule, dessen Fahrrad noch nie durch eine Pfütze gefahren war? Die Kathi, die alles, was ihre Eltern von sich gaben, wie ein bissiger Hund verteidigte? Das war nicht Kathi, die da zu mir sprach, dachte ich. Doch dann fiel mir auf, dass sie es zum ersten Mal war. Ihre Worte waren so echt, so bedacht. Ich konnte nicht anders, als ihr zuzustimmen und sie von nun an meine Freundin zu nennen.
Die Begegnung mit den Pferden und die Scham darüber, dass wir Menschen auf ihnen ritten, ohne das Einverständnis der Pferde zu haben, machte Kathis sensiblem Charakter zu schaffen.
In den nächsten zwei Jahren wurde sie trauriger, nachdenklicher und etwas ungehaltener. Sie hinterfragte alles und stieß ihre Eltern von dem Sockel, auf dem sie jahrelang so gut platziert gewesen waren. Das Ganze nannte sich Pubertät. Wir wussten damals nicht viel darüber, aber wir waren mittendrin.
Nachdem wir Reiten als gemeinsame Beschäftigung ausschlossen, fanden wir etwas anderes. Wir aßen leidenschaftlich gerne Kuchen. In der Stadtmitte gab es ein kleines, altmodisches Café namens Dichter, dessen Ladentheke bestückt war mit Frankfurter-Kranz-Torte, Kekstorte, dekadenten Buttercremetorten, Königskuchen mit Rosinen, Biskuitrollen mit Marmelade in Zucker gewälzt und meinen geliebten Käsekuchen. Kathi wollte mich oft dahin einladen, aber meine Mutter hatte mir beigebracht, mich nie einladen zu lassen. Sie lehrte mich eher ein schlechtes Gewissen. Und so kauften wir uns nur ein Stück Kuchen, wenn ich es mir leisten konnte, die Hälfte zu bezahlen.
Ab und an begleitete ich Kathi zum Ballettunterricht. Ich saß auf der Holzbank am Rand des lichtdurchfluteten Raums und beobachtete ihren Grand Plié. Sie bewegte sich fließend und sanft, ihre Schritte und Drehungen waren voller Anmut. Wenn sie das Bein für die Arabesque hob, blieb mir jedes Mal die Luft weg. Obwohl jeder Muskel ihres gestreckten Beins angespannt war, sah es federleicht aus. Ihre Hände waren klein und fragil wie aus Glas. Stunden wollte ich ihr zuschauen. Sie versuchte, mir die ersten Ballett-Positionen beizubringen. Ich war zwar sportlich, aber weniger grazil als sie und beobachtete daher lieber, als es selbst zu probieren.
Nach den Ballettstunden überhäufte ich sie mit Komplimenten. Ich wusste nie, ob ihr meine Worte unangenehm waren oder ob sie diese charmante zurückhaltende Art an den Tag legte, weil ihre Eltern sie ihr antrainiert hatten.
»Du weißt nicht, wie es richtig aussehen muss, deswegen denkst du, es wäre perfekt«, sagte sie und senkte den Blick.
»Aber bei deinen Auftritten schauen ja nicht nur Profis zu, die meisten davon sind so wie ich, und die finden das schön und deswegen klatschen sie dann auch.«
Wieder bildete sich diese Denkfalte zwischen ihren Augenbrauen. Dann hatte ich einen Einfall, um diesem Gedanken beim Auswerfen eines Ankers zu helfen. Ich forderte sie auf, sich zu beeilen, denn es blieb uns nur noch ein wenig Zeit, bevor sie nach Hause musste. Wir gingen in einen Buchladen im Stadtzentrum. Schnellen und ungeduldigen Schrittes ging ich voraus und blieb in der Kunstbücher-Abteilung stehen. Ich schlug ein Buch über Kunstgeschichte auf, in dem ich schon oft geblättert hatte.
»Schau mal, Menschen hängen sich auch Bilder an die Wand und finden sie schön. Das ist Kunst. Ich finde, Kunst muss die Menschen erfreuen, sie glücklich machen. Ich komme oft her, nur um mir die Bilder in den Büchern anzuschauen. Und dich habe ich mir heute so gerne angeschaut, wie diese Bilder. Du machst Kunst, du machst Menschen glücklich, wenn du tanzt.«
Kathi antwortete nicht, schaute sich aber interessiert die impressionistischen Bilder von Monet an. Ich bekam das Gefühl, dass sie verstand, was ich ihr sagen wollte.
*
»Und dann haben sie gesagt, dass ja nicht alles schlecht war und man vieles ja auch nicht mitbekommen hat. Voll die Ausreden, ich war so wütend!« Kathi riss eine Kornblume aus der Wiese und zerpflückte ihre Blüte. Die Hummeln summten um uns herum und der Wind kämmte durch das hohe Gras.
Alles Ungerechte erregte Kathis Aufmerksamkeit. Im Dezember des vorherigen Jahres hatte der Frankfurter Auschwitz-Prozess begonnen. Seitdem senkte sie ihren Arm im Geschichtsunterricht kaum noch. Sie konfrontierte ihre Eltern mit dem Prozess, worauf diese ausweichend antworteten oder schwiegen. Ihr Desinteresse ließ Kathi unbefriedigt zurück. Ich verstand sie, hatte aber keine Ambitionen, meine Mutter danach auszufragen. Zum Kriegsende hin war sie erst zwölf Jahre alt, und da sie ebenfalls eine auflehnende Stellung gegenüber ihren Eltern besaß, würde sie Kathi, egal um was es ginge, wohl zustimmen oder zu dem Thema von Kennedys Tod wechseln. Das Attentat überschattete für sie jede andere Nachricht in diesem Jahr. Sie schwärmte für ihn und lästerte über Jackie. Ich behielt es für mich, dass sie die gleiche Frisur wie Jackie Kennedy trug.
Als Kathi sich beruhigt hatte, flochten wir Blumenkränze aus Margeriten, Löwenzahn und Gänseblümchen. Wir sprachen über die Mathestunde und lachten über Herrn Kleimer, der sein Gesicht unbedacht mit Kreide beschmiert hatte und die Stunde wie ein Indianer vor der Klasse stand. Wir führten die eine Hand zum Mund und die andere mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger über den Kopf. Wir johlten und erklärten Herrn Kleimer zu unserem Häuptling. Nachdem wir fünf Kränze geflochten hatten, breitete sich ein dumpfer Schmerz in meinem Unterleib aus, weshalb wir auf Kathis blauem Fahrrad zu mir fuhren.
Kaum war die Tür aufgeschlossen, schaute meine Mutter erstaunt aus der Küche. Ich erzählte ihr von meinen Schmerzen und ging in unser Wohnzimmer, als Kathi einen kurzen schrillen Schrei von sich gab.
»Dein, dein Kleid, Emmi!«
Ich schaute an mir herunter.
»Nein, nein, hinten, hinten auf deinem Kleid!«
Ich sah über meine Schulter, konnte aber nichts erkennen. Meine Mutter klatschte erleichtert in die Hände und sagte: »Kind! Es ist nur deine Periode! Du bist jetzt eine richtige Frau, Tüti! Das müssen wir feiern!«
So ganz nach Feiern war mir nicht zu Mute, schließlich lief ich mit einem Blutfleck auf meinem Kleid herum. Ich wollte schnell ins Bad, als meine Mutter nachfragte, ob ich ihre Hilfe bräuchte.
»Nein, nein… das kriege ich schon alleine hin«, sagte ich etwas peinlich berührt. »Aber, wo hast du denn, die äh… die Binden?«
Sie lächelte und öffnete den Schrank unter der Spüle, sagte nichts weiter und zeigte nur auf die Packung. In meinem Schlüpfer war ein großer rotbrauner Fleck. Es sah anders aus als das Blut, das ich von Schürf- oder Schnittwunden kannte. Es klopfte an der Tür. Ich zuckte zusammen.
»Tüti, mach kurz auf, ich schau auch nicht.«
»Warum? Jetzt nicht!«
»Du brauchst doch neue Unterwäsche«, sagte sie etwas leiser. Ich machte die Tür auf und nahm ihr den sauberen Schlüpfer so schnell ab, dass ich ihr fast die Finger einklemmte. Als ich aus dem Bad kam, fühlte sich die Binde an wie eine riesige Windel. Ich dachte, so wie ich mich fühlte, müsste ich auch aussehen, aber im Spiegel sah man nichts. Kathi half meiner Mutter beim Backen, während ich mir etwas anderes anzog. Ich legte mich auf das Sofa und hielt mir meinen unteren Bauch. Kathi kam aus der Küche, ein bisschen Mehl haftete an ihrer Wange.
»Wie geht’s dir? Deine Mutter backt sogar einen Kuchen für dich und spricht … darüber.«
Ich musste schmunzeln.
»Na ja, meine Mutter ist halt anders«, gab ich schulterzuckend zurück.
Wieder lugte meine Mutter aus der Küche und fragte: »Sag mal, Kathi Schatz, du hast deine Periode bestimmt auch schon?«
Ich verdrehte die Augen, da Kathi dieses Thema offensichtlich mehr als unangenehm war. Stotternd bejahte sie die Frage.
»Toll! Dann machen wir uns heute einen Mädelsabend, ich rufe deine Mutter an und du kannst hier übernachten.«
Bevor Kathi antworten konnte, ging meine Mutter zum Telefon.
»Es ist ja auch schon dunkel, und ich habe kein Auto. … Sie wollen sicher nicht, dass Kathi im Dunkeln nach Hause fährt, und Hausaufgaben haben sie schon gemacht.«
Natürlich folgte noch das ermahnende Wort, dass dies nicht die Regel werden dürfe, meine Mutter lenkte auch hier sanft ein. Nun, da Kathis Mutter beruhigt war, konnte unser Abend beginnen.
Ich beschlagnahmte sofort unser kleines rotes Stoffsofa, das sich auf vier dünnen Holzsockeln über dem Teppichboden hielt. Kathi setzte sich auf einen der beiden Cocktailsessel. Meine Mutter legte uns Decken raus, in die wir uns einmummelten. Anschließend rührte sie einen einfachen Kuchenteig für einen Marmorkuchen zusammen. Kochen war noch nie ihre Leidenschaft gewesen, aber mit dem Backen konnte sie sich dann und wann anfreunden. Sie liebte alles, was die Küchenarbeit erleichterte, daher hatten wir auch schnell einen E-Herd, den sie über Jahre hinweg abbezahlen musste.
Mit einer Wärmflasche auf dem Bauch und einer heißen Schokolade in der Hand ging es mir gleich besser. Meine Mutter erklärte uns, dass Schokolade hilfreich wäre, denn sie würde die Verkrampfung lösen. Anschließend erzählte sie uns alles über Binden und Tampons, wodurch Kathis Gesicht so rot wurde wie das Sofa, auf dem ich saß. Als ihre Gesichtsfarbe sich wieder angepasst hatte, kam ihr Wissensdurst hervor. Sie fragte meine Mutter aus, denn diese Chance erhielt sie bei ihrer nicht. Ganz unerwartet erzählte meine Mutter von meiner Oma. Sie lächelte versunken, während sie beschrieb, dass meine Oma ihr selbst immer ein Stück Schokolade gegeben hatte. Für sie war es unglaublich besonders gewesen, denn Schokolade gab es nach Kriegsende kaum. Oma konnte wohl gut mit den amerikanischen Soldaten feilschen, erzählte meine Mutter mit einem Schmunzeln.
»Dann kommst du wohl nach ihr?«, schloss ich frech daraus.
»Nein, Tüti. Ich meinte nicht meine Mama, ich meinte die Schwiegermama.«
Ich stellte meine halb ausgetrunkene Schokolade auf den Nierentisch.
»Wie jetzt?«
»Leo und ich, ich meine dein Papa und ich, haben uns schon früh kennengelernt. Wir waren miteinander befreundet und ich war oft bei ihm zu Hause. Sein Papa lebte da schon nicht mehr und ich fühlte mich richtig wohl bei seiner Mama. Wohler als bei meinen Eltern, weil sie halt zu streng waren und alles immer so ernst genommen haben. Jonas war der Einzige in meiner Familie, mit dem ich was anfangen konnte, aber er musste viel mithelfen auf unserem Hof und durfte sich nicht mit mir beschäftigen.« Sie schluckte, bevor sie weitersprach. »Irma, also deine Oma, war viel lockerer. Wenn Leo nicht da war, dann hat sie mir solche Sachen erzählt, die ich jetzt euch erzähle. Frauensachen eben.«
Sie gab mir ein weiteres Puzzleteil, und diesmal erzählte sie sogar ausführlich. Während sie sprach, wurde ich traurig, dass ich meine Oma nicht bewusst kennengelernt hatte. Sie starb, als ich zwei Jahre alt war, aber bis dahin war sie überaus vernarrt in mich gewesen. Damit schloss meine Mutter ihre Erzählung und holte den Kuchen aus dem Ofen.
Anschließend belehrte sie uns, mit unseren eigenen Töchtern später diesen Tag zu feiern und ihnen ein gutes Gefühl zu geben. Ich sah, dass Kathi alles, was meine Mutter erzählte, aufsog. Die Gespräche über Sex ließen sie immer wieder erröten, denn in ihrem Elternhaus sowie in der Schule war Sex ein Tabuthema.
Nach diesem eher lehrreichen Gespräch veränderte sich die Mimik meiner Mutter und ihre Augen wurden größer und sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie fragte, wie unsere Traummänner aussahen. Ihr war natürlich klar, wer das für mich sein würde, da die Wände in meinem Zimmer mit James-Dean- und Elvis-Postern aus der Bravo beklebt waren. Sie selbst brachte Kennedy ins Spiel.
»So ein schneidiger Mann! Was der uns noch alles Gute gebracht hätte. Und du Kathi-Schatz? Für wen schwärmst du?«
»Ich, äh … weiß nicht genau, darüber habe ich noch nicht so nachgedacht.«
»Ach, das ist auch nicht so wild mein Schatz. Männer machen euch das Leben noch schwer genug«, sie schaute verschmitzt und stupste Kathi an. »Aber manchmal versüßen sie einem auch das Leben.«
Sie fing an zu lachen und wir stiegen mit ein, auch wenn wir die Bedeutung noch nicht ganz verstehen konnten.
Wir aßen ein Kuchenstück nach dem anderen, bis unsere Bäuche ganz rund waren. Und lachten über die Bärte, die wir von der heißen Schokolade bekamen.
Am nächsten Morgen ließ meine Mutter mich für den Schultag entschuldigen. Eingewickelt in eine Decke stand ich vor der Wohnungstür, um Kathi zu verabschieden.
»Ich ruf dich dann an wegen der Hausaufgaben, ja?«, fragte Kathi und wirkte etwas traurig.
»Ja danke, das ist nett. Ich hoffe, das war nicht alles zu viel für dich?«
»Nein, überhaupt nicht. Es war der beste Tag, den ich je hatte!«, sie drückte mich fest an sich und ging dann die Treppen hinunter.
So einfach, wie es klang, war der Schritt vom Mädchen zur Frau nicht. Ich war nun in der Lage, Kinder zu bekommen. Jedenfalls bestand die Möglichkeit, schwanger zu werden, und somit folgte die Erkenntnis, dass ich in der Lage war, Sex haben zu können. Und trotz der Aufklärung meiner Mutter wusste ich nicht, was es zu bedeuten hatte. Jede romantische Vorstellung davon half mir nicht, diese Wissenslücke zu füllen. Wollte ich überhaupt wissen, wie das alles funktioniert?
Vor dem Sportunterricht flüsterten die Mädchen unserer Klasse in den Umkleidekabinen der neuen sanierten Sporthalle mit hochgezogenen Augenbrauen über Jungsgeschichten. Aber ich betrachtete sie nicht als Frauen. Sie waren für mich noch kichernde Kinder, mich eingeschlossen. Es war nicht einfach, sein neutrales Geschlecht zu verlassen. Als Kind macht man keinen großen Unterschied zwischen Junge- oder Mädchensein, außer man wird dazu gebracht. Und nun begaben wir uns alle in eine Rolle, die wir uns nicht aussuchen konnten. Wir veränderten ganz unbewusst unser Verhalten den Eltern gegenüber.
Für mich bestand darin weniger ein Problem, da ich vaterlos aufgewachsen war. Viele meiner Mitschülerinnen, scheuten sich nun jedoch vor den Schmuseeinheiten mit ihrem Vater, die vorher so unschuldig und natürlich waren. Unsere Mütter wurden von Mal zu Mal anstrengender und bescheuerter. Auch ich merkte, dass die gute Laune meiner Mutter mich schneller reizte als sonst. Ich zickte sie an, doch sie war dann nicht weniger schroff als ich. Von da an legte ich ein Temperament an den Tag, das ihrem sehr ähnlich war.
*
Ich ging zusammen mit Roberts Schwester, die eine Jahrgangsstufe über mir war, zum Volleyballtraining.
»Mein Vater war heute wieder so anstrengend«, fing Roberts Schwester an. »Ständig muss ich mir anhören, wie sich junge Mädchen zu benehmen haben, bla bla!«
»Oh Mann! Was für ein schweres Los du hast, einen Vater zu haben, der sich um dich sorgt!«
Ich verdrehte die Augen und wurde theatralisch. Ihre Augen wurden größer, dann blieb sie stehen.
»Emmi, komm mal wieder runter«, sie legte die Hand auf meine Schulter.
»Ja … ja, tut mir leid.«
Ich war froh, dass sie so reagierte.
All diese neuen Gedanken und Gefühle, derer ich nicht ganz Herr wurde, waren zum Glück beim Spiel vergessen. Es gab allerdings Momente, in denen keine Ablenkung und auch kein Mensch greifbar war. In diesen Momenten klopften die Gedanken nicht an, nein, sie traten die Tür ein und nahmen meine Vernunft als Geisel. Es war diese alles verzehrende Sehnsucht nach etwas, von dem ich bis dahin nicht wusste, was es war. Ab und zu war ich einfach nur traurig und wusste nicht, weswegen. Ich wünschte mir einen Freund, aber ich dachte nicht an Sex. Zum ersten Mal betrachtete ich mich ganz bewusst im Spiegel.
Ich strich mit der Hand über mein schwarzes, strohiges Haar. Ich dachte an Kathis Haar, das so glatt war wie Seide. Meine großen dunkelbraunen Augen waren akzeptabel. Sie sahen nicht müde aus, sondern wach. Mein rundes Gesicht wirkte kindlich, was mir oft den Namen Milchzahn eingebracht hatte. Was ich von meinen breiten Schneidezähnen halten sollte, wusste ich noch nicht. Meine Nase war definitiv von meinem Vater, sie hatte einen etwas breiteren Nasenrücken, ging aber noch als Stupsnase durch. Meine Hüfte fand ich viel zu breit, genauso wie meine Füße.
Nie zuvor hatte ich mir Gedanken über mein Aussehen gemacht. Aber nun schlichen sich Selbstzweifel ein, die mich jeden Tag länger am Spiegel hielten. Das Zurechtmachen nahm so viel Zeit in Anspruch, dass ich es irgendwann hasste. Aber Abstellen war genauso schwer, wie mit sich zufrieden zu sein. Ich war schon jetzt keine Freundin der Pubertät.
*
Die Dinge, die unser Leben verändern, passieren immer an den normalsten aller Tagen, nie an den aufregenden, an denen wir mit ihnen rechnen würden.
Ein kalter Nebel lag über der Stadt, den engen Straßen und den Parks. Nach dem Volleyballtraining machte ich mich auf den Weg nach Hause und wünschte mir mehr als jemals zuvor ein Fahrrad. Meine Handschuhe und meine Strumpfhose waren so dünn, dass die Kälte in meine Knochen stach.
Unsere Schule befand sich im Nordwesten der Stadt in der Nähe einer Kapelle, die wie andere Gebäude in Löwstedt durch die norddeutsche Backsteingotik auffiel. Mir die Hände reibend, ging ich eine steinerne Treppe hinunter, die in den Hirschfeld-Park mündete. Ein fester Sandweg führte von der Treppe zu einer dunklen Holzbrücke, unter der ein Bach gluckerte. Überquerte man die Brücke, so führte der Weg wieder hinauf zu einer anderen Treppe und somit zur Hauptstraße. Eine große Trauerweide stand nah des Baches. Sie trug keine Blätter mehr und sah aus wie ein Kopf mit dünnen nassen Haaren. Unter ihr lugte eine Holzbank hervor, die von der Nässe ebenso gepeitscht war wie ich. Das schummrige Grau der Dämmerung legte sich über den Park. Ein hustender Mann mit hängenden Schultern stieg von der gegenüberliegenden Treppe herunter. Als ich sein Gesicht sah, erstarrte ich. Er sah mich an und kramte in seiner Tasche. Sein unrasiertes Gesicht war aufgedunsen. Ich riss mich zusammen und tat einen weiteren Schritt auf die Treppe zu, als er mich ansprach: »Na, Mäuschen!« Seine nasale, kratzige Stimme durchstach die Stille. Er musterte mich von oben bis unten. Der Gestank von Alkohol und kaltem Rauch drang in meine Nase.
»Hast du mal Feuer?«
»Äh, na… nein«, stotterte ich. Mein Herz schlug so schnell, dass ich befürchtete, er würde es hören und wie ein Hund, der die Angst riecht, auf mich losgehen. Ohne dass er etwas Schlimmes sagte, wusste ich, dass er etwas Schlimmes vorhatte. Meine Hände, die schon kalt waren, wurden von einer ganzen anderen Kälte durchdrungen. Er holte eine Zigarette aus seiner Jackentasche, schmierte seine laufende Nase am Ärmel ab und betrachtete den angekokelten Stummel.
»Na vielleicht hast du ja was anderes Schönes für mich«, er schaute mich direkt an.
Ich fragte mich, ob es sehr wehtun wird und ob er mich danach gehen lässt? Werde ich sterben? Warum bewegen sich meine Beine nicht? Warum laufe ich nicht? Er legte seine Hand auf meine Schulter. Ich erstarrte.
»Was soll sie denn Schönes für dich haben? Ihre Unschuld – oder was?«
Ein anderer Mann war unbemerkt die Treppe heruntergekommen. Der Perverse nahm die Hand von meiner Schulter und drehte sich um. Der andere zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe Feuer«, sagte er ruhig und hielt sein brennendes Feuerzeug in die Höhe. Die angebrochene Zigarette glimmte, und er nahm einen tiefen Zug, als hätte er ewig keine geraucht. Die beiden zogen an ihren Zigaretten, starrten sich an und hüllten sich in den Rauch. »Willst du jetzt echt warten, bis ich gehe, und sie dann nehmen?«
Der widerliche Mann nuschelte irgendetwas von: »Was?! Nein …«, in seinen struppigen Bart.
»Ich bleib hier so lange stehen, bis du die Biege machst«, erklärte mein Retter und stand gerade wie ein Soldat, aber mit weniger Steife in den Gelenken. Der Perverse stolperte die Treppe, die ich gekommen war, hoch und verschwand. Die Steine purzelten von meinem Herz und ich bekam wieder richtig Luft. Ich sah den rauchenden Mann an und versuchte zu lächeln.
»Alles klar bei dir?«,
Ich konnte nur nicken.
»Gut, dann pass auf dich auf!«
Der Mann ging an mir vorbei und stieg die Treppe gemächlich hinauf. So viele Fragen schossen mir durch den Kopf. Mit geöffnetem Mund schaute ich ihm nach. Ich versuchte, mir sein Aussehen und seine Stimme einzuprägen. Auf dem Weg nach Hause zählte ich die Details auf, die hängen geblieben waren. Er hatte einen schwarzen, eng geschnittenen Mantel an, den er offen trug, darunter hatte ich ein dunkles Sakko erkannt. Um seinen Nacken war locker ein Schal gelegt. Sein Haar schien schwarz. Er war groß, seine Haut hell und er roch nach viel Parfum. Sein Gesicht gefiel mir.
Der Vorfall im Park ging mir nicht aus dem Kopf. Den einen Mann versuchte, ich zu vergessen, den anderen wollte ich nicht vergessen. Ich holte mir immer wieder die Gesichtszüge des unbekannten Anzugträgers ins Gedächtnis, aber nach einer Woche verblassten die Erinnerungen. Ich wurde schreckhaft, und sobald es dämmerte, ging ich nach Hause.
Den Park mied ich und nahm den großen Umweg an der Hauptstraße entlang. Kathi fragte mich immer wieder, ob alles in Ordnung sei. Ich konnte ihr nicht die Wahrheit erzählen. Ich wollte etwas sagen, aber eine innere Starre ließ mich nicht. Wenn ich an die dreckige und nach Rauch stinkende Hand auf meiner Schulter dachte, schüttelte es mich. Daher sagte ich meistens, dass mich Albträume plagten und ich deswegen schlecht schlief. Vielleicht merkte Kathi, dass mehr dahintersteckte, aber sie akzeptierte meine Antwort und versuchte, mich aufzumuntern. Ab und zu gelang es ihr, mich in Gesprächen über Mitschüler, Schule und Eltern zu verwickeln.
Ich ging immer öfter alleine in den Buchladen. Es beruhigte mich, in den Kunstbüchern zu blättern. In einem Sammelband von deutschen Impressionisten entdeckte ich ein Bild. Auf ihm brachen Sonnenstrahlen durch die Baumkronen und sprenkelten als helle Flecken den Gehweg. Menschen spazierten darauf und sahen auf Papageien, die zwischen den Bäumen und Bänken auf Schaukeln saßen. Unter dem Bild stand Papageienallee. Ich verlor mich darin, schlenderte über den breiten Weg, stellte mich vor den weißen Papagei und berührte seinen Schnabel.
Als ich ein bisschen Zuversicht getankt hatte, klappte ich das Buch zu. Seufzend sah ich auf das Preisschild und stellte es zurück ins Regal. Mit hängenden Schultern trabte ich zum Ausgang. Als ich der Kassiererin zuwinken wollte, blieb ich abrupt stehen. Der Mann, der gerade ein Buch kaufte, kam mir bekannt vor. Ich stellte mich hinter den Postkartenständer, um ihn ungestört zu beobachten. Als er den Laden verließ, ging ich schnell hinterher. Während ich ihn verfolgte, überlegte ich, wie ich ihn ansprechen könnte. Doch bevor mir etwas Schlaues einfiel, drehte er sich zu mir um.
»Verfolgst du mich?«
»Äh …«
»Kennen wir uns?«
»Äh, ja, ja, vom Hirschfeld-Park vor einer Woche.«
»Im Park?« Er kratze sich an seinem Kinn. »Ach ja, du bist das kleine Mädchen, das von diesem Penner angemacht wurde, richtig?«
»Benau … äh, ich meine genau.«
Ich spürte, dass meine Wangen rot anliefen. Er starrte mich fragend an. Meine Hände fingen an zu schwitzen. Oh, Gott! Ich will mich sofort in Luft auflösen, dachte ich. Da ich diese Chance aber nicht völlig vertun wollte, nahm ich all meinen Mut zusammen.
»Ich, ich heiße Emilia und bin dir nachgelaufen, weil ich gar nicht weiß, wie du heißt.«
Jeder meiner Muskeln war angespannt. Ich vergaß jede Höflichkeitsform, denn einen Erwachsenen, vor allem einen Fremden, hatte man zu siezen.
»Warum willst du das wissen?«
Er zog eine Augenbraue hoch.
»Na, weil du mir geholfen hast. Da will man doch den Namen von demjenigen wissen.«
»Hm, na gut. Ich weiß zwar nicht, was das bringen soll, aber ich heiße Henri.«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Endlich konnte ich meinen Retter bei vollem Tageslicht begutachten. Seine schwarzen Haare waren an den Seiten kurz geschnitten. Oben waren sie mit Pomade fixiert. Ich fand es ein wenig altmodisch, aber es stand ihm. Seine Augen hatten eine helle Farbe, grün und blau. Sein durchdringender Blick wirkte kalt. Die markanten Kieferknochen zeigten auf den breiten männlichen Hals. Seine Wangenknochen stachen etwas hervor, was ihm einen leicht eingebildeten Gesichtsausdruck verlieh, wenn er den Mund nicht bewegte. Er war schlank, aber nicht schmächtig. Seine Haltung war sehr gerade, aber nicht steif und passte gut zum Anzug, den er trug.
»So, war’s das jetzt?«
»Was für ein Buch hast du dir gekauft?«
»Na, das geht dich doch mal gar nichts an!«, sagte er. Ich senkte den Blick.
Er seufzte und zog das Buch aus seiner schwarzen Aktentasche.
»Hier«, er gab mir das Buch. »Das sind gesammelte Gedichte von Goethe, kennst du bestimmt nicht.«
Ich schüttelte den Kopf, aber lächelte, weil er mir das Buch zeigte.
»So, Emma, ich muss jetzt aber wirklich gehen.«
»Emilia!«
»Ja, wie dem auch sei.« Er nahm das Buch wieder in seine Hände, die durch die Kälte fast weiß wirkten.
»Da … danke für deine Hilfe im Park.«
»Ja, ist schon gut. Pass lieber auf, wo du dich abends herumtreibst.« Er drehte sich um und zog eine Wolke von Zigarettenrauch und Parfüm hinter sich her. Vielleicht wollte ich seine Unfreundlichkeit mir gegenüber nicht wahrhaben und merkte mir nur: Er hatte mich gerettet, er sah gut aus, er hatte mir sein Buch gezeigt, er war im gleichen Buchladen wie ich, er roch gut.
*
In den nächsten zwei Wochen lungerte ich fast jeden Tag vor oder in dem Buchladen herum. Mit einem Kunstbuch auf dem Schoß stierte ich zur Kasse. Es war vergeblich. In der dritten Woche schlich ich nur noch um den Buchladen herum, ohne hineinzugehen, und schaute mir auch die anderen Läden an, die mir vorher nie aufgefallen waren. In einer Seitenstraße neben dem Buchladen las ich auf einem Aufsteller das Wort Bibliothek. Ich folgte dem Pfeil und fand die Bibliothek unauffällig zwischen einer Schneiderei und einem Lederwarengeschäft gelegen. Alle Geschäfte befanden sich in Fachwerkhäusern, die sich nur durch ihre Farbe voneinander unterschieden. Im unteren Teil der Gebäude befanden sich die Läden, darüber wohnten entweder die Besitzer oder Leute, die sich diesen Luxus leisten konnten. Ich schaute in eine der oberen Wohnungen und sah eine rote Katze am Fenster sitzen, die das Geschehen mit einer königlichen Grazie beobachtete. Dann betrat ich das blaue Haus, in dem sich die Bibliothek befand. Es roch nach altem Papier. Unbeobachtet fuhr ich mit der Hand über einige Bücher und behielt Staub an den Fingern.
Ich suchte die Kunstbücher und nahm mir das größte der Bücher heraus. Ich setzte mich auf den Boden und legte das schwere Buch auf meinen Schoß. Verträumt blätterte ich Seite für Seite um. Als ich es zurückstellte, nahm ich mir ein kleineres über Farbenlehre heraus. Ich las dabei den Namen Goethe und erinnerte mich an Henris Buch. Nach einer kurzen Nachfrage bei der Bibliothekarin stand ich wenig später vor den Regalen voll mit Werken von Goethe, Schiller und anderen Dichtern der Weimarer Klassik. Ich zog ein in roten Leinen gebundenes Buch mit vergilbten Seiten heraus und las den in großen Buchstaben geschriebenen Titel: Faust - der Tragödie erster Teil. Die Bibliothek war für mich die Entdeckung des Tages. Die Möglichkeit, all die Bücher zu lesen, überwältigte mich. Ich zog eines der Bücher heraus, blätterte darin und ging Richtung Ausleihtheke, bis ich gegen jemanden lief. Das Buch fiel zu Boden. Ich bückte mich und wollte es schnell wieder aufheben, als hätte ich eine Menge Kleingeld verloren. Der Mann, den ich angerempelt hatte und der hart wie Stein zu sein schien, da er nicht einmal schwankte, kam mir zuvor und reichte mir das Buch.
»Ah«, grinste er. »Faust … so was liest du also?«
Mir wurde warm und mein Gesicht glühte.
»Na, das ist aber nicht das Richtige für jemanden wie dich«, sagte Henri.
»Wieso?«
»Komm, ich zeig dir ein Besseres.«
Er führte mich zurück zu dem Regal und drückte mir Die Leiden des jungen Werther in die Hand.
»Warum ist das besser?«
»Faust habt ihr bestimmt irgendwann in der Schule, aber fürs Lesen in der Freizeit, ist es doch etwas schwerer.« Er zeigte auf das Buch, das er mir gegeben hatte. »Das ist für Mädchen in deinem Alter sicher interessanter, es hat mit Liebe zu tun und ist etwas schnulzig. Obwohl die Sprache für dich wahrscheinlich etwas gewöhnungsbedürftig sein wird.«
Ich fragte mich ernsthaft, für wie alt er mich hielt.
»Gefällt dir das Buch nicht?«, wollte ich von ihm wissen.
»Doch, mir gefällt alles von Goethe. Wieso willst du überhaupt was von ihm lesen?«
Ich spürte, dass ich wieder rot wurde, und schaute verlegen auf seine schwarz glänzenden Lederschuhe.
»Weil du es liest«, murmelte ich und hob meinen Blick.
Er schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Du kennst mich doch gar nicht!«
»Deswegen will ich es ja lesen, dann lerne ich dich ein bisschen besser kennen, weil ich weiß, was du gerne liest.«
»Findest du das nicht ein bisschen unheimlich?« Seine direkte Art war schwierig für mich, da ich ihm imponieren wollte.