Lorena hat es geschafft, ihre Schwester Lucy aus den Händen des Councillors zu befreien und nach Gryphon Manor zu bringen. Doch Lorena erwartet ein Kind von ihrem Geliebten Jason. Hat sich die Prophezeiung erfüllt? Wird Lorenas Baby die Nachtmahre stärken und in ein neues Zeitalter führen?
Der Councillor und seine Wanderer denken, die Nachtmahre seien bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, bei dem auch Lorenas Geliebter Jason starb, und so sind sie vorerst in Sicherheit. Die Lady beschließt, Lorena das Verlassen von Gryphon Manor bis zur Geburt ihres Kindes zu verbieten. Trotzdem werden die Nachtmahre von William, dem Sohn des Councillors, entdeckt. Doch Lorena weiß noch nicht, von welcher Seite wirklich Gefahr droht ...
In Liebe für Peter
Die mittelalterliche Stadt Roxburgh gab es schon lange nicht mehr, dabei war die königliche Stadt einst neben Edinburgh eine der wichtigsten schottischen Städte gewesen, die nicht nur über ein Kloster und mehrere Kirchen geherrscht hatte. Es hatte eine königliche Residenz gegeben, eine Burg, Schulen, Märkte und fünf befestigte Häuser, in denen Münzen geprägt wurden. Händler aus ganz Europa lieferten ihre Waren und verhalfen der Stadt zu Wohlstand. Die Burg war nahe der Grenze ein Bollwerk gegen die Engländer gewesen.
Doch davon war nichts geblieben. Stadt und Residenz waren verschwunden, und von der Burg, die sich einst auf dem Höhenrücken zwischen den Flüssen Tweed und Teviot erhoben hatte, waren nur ein paar Mauerreste geblieben. Den stolzen Namen Roxburgh trugen nur noch ein unbedeutendes Dorf, das zweieinhalb Kilometer südwestlich der Ruinen lag, und Winston Campbell, der Duke of Roxburgh, der auf seinem tiefschwarzen Hengst saß und den Blick über die verwitterten Mauerreste der Burg schweifen ließ. Er hatte sich in der langen Zeit, die verstrichen war, nicht verändert. Nun ja, sein Haar war ergraut, doch sein Gesicht war noch immer seltsam faltenlos, sodass es nicht einmal annähernd auf sein Alter schließen ließ, und das war auch gut so. Die Menschen aus der Nachbarschaft hielten ihn für einen normalen Edelmann, vielleicht ein wenig schrullig, wie so viele Briten, doch im Grunde völlig harmlos.
War nicht stets die Tarnung die beste Waffe des Jägers?
Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit zurück, als Stadt und Burg mal von den Engländern erobert und dann von den Schotten wieder zurückgewonnen worden waren, nur um wieder in die Hände der Engländer zu fallen. Schotten hatten die Burg im fünfzehnten Jahrhundert bei jenem Feldzug zerstört, bei dem König Jakob II. starb, als neben ihm eine Kanone explodierte. Die Engländer schnitten der Stadt den Zugang zum Meer ab und beendeten damit den Handel mit Europa und den Wohlstand der Bürger. Die Stadt wurde aufgegeben und zerfiel. Die wenigen, die blieben, zogen nach Kelso, wo der Duke ein neues Schloss bauen ließ, das heute zu den größten und prächtigsten in ganz Großbritannien zählte. Ein Lächeln huschte über die sonst so ernste Miene des Duke. Ja, Floors Castle konnte man zu Recht als gelungen bezeichnen. Von all den Schlössern und Herrenhäusern, die er besaß, war ihm dieses das liebste; dorthin kehrte er stets zurück, wenn er sich eine Pause gönnte. Eine Pause von seinem ewig währenden Kampf gegen die Geißel der Menschheit, das Natterngezücht, das Männer vergiftete und sie ihrer Seele und ihres Willens beraubte.
»Nachtmahre!«
Er spie das Wort voller Abscheu aus. Nachdenklich hob er seinen Blick zum Himmel, wo sich über den Hügeln Gewitterwolken zusammenballten. Er konnte die Macht der Spannung spüren, die sich in den Wolkenschichten aufstaute und nur darauf wartete, sich im ersten Blitz zu entladen, der wie die Strafe Gottes auf die Erde herabfahren würde.
So zumindest hatten die Menschen in seiner Jugend geglaubt. Heute würde wohl keiner mehr einen Blitz mit dem Jüngsten Gericht in Verbindung bringen. Und heute würden die Menschen auch nicht mehr so einfach glauben, dass es so etwas wie Nachtmahre wirklich gab. In seiner Jugend hatte man solche Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt! Damals hatte man die Seuche bekämpft, doch heute waren die Wanderer durch die Zeit die Einzigen, die nicht nur von den Nachtmahren und deren Schädlichkeit wussten. Sie waren auch die Einzigen, die etwas gegen sie unternahmen.
Mit jedem toten Nachtmahr wurde die Gefahr ein wenig kleiner. Jede Linie, die unterbrochen wurde, konnte keine Nachkommen mehr zeugen. Doch der größte Schlag war ihnen kürzlich gelungen und hatte die Nachtmahre all ihrer Hoffnungen beraubt.
Er selbst hatte mit seinen Wanderern dafür gesorgt, dass sich die Prophezeiung nicht mehr würde erfüllen können: Die Eclipse und ihr Auserwählter, deren Kind die Nachtmahre in eine neue Zeit hätte führen sollen, waren vernichtet; ihre toten Körper längst im Wasser der Bay aufgelöst, in die sie zusammen mit den Trümmern des Flugzeugs gestürzt waren. Ja, es war ihm ein entscheidender Schlag gelungen, und er hatte sich eine Ruhepause verdient. Den Rest der Plage samt ihrer Lady in Gryphon Manor würden sie sich beizeiten vornehmen. Eile war nun nicht mehr vonnöten.
Ein Donnergrollen begann in der Ferne und setzte sich dann durch die Wolkentürme fort, bis der Boden unter den Hufen seines Pferds erzitterte. Ein Bild blitzte in seiner Erinnerung auf. Ein Gesicht, gerahmt von unscheinbar dunkelblondem Haar. Es war nicht wirklich schön, nicht außergewöhnlich. Nur wenn es sich bei Nacht in seine magische Erscheinung wandelte, dann wurde aus der Durchschnittsfrau die perfekte Verführerin, der kein Mann widerstehen konnte.
In seiner Erinnerung aber sah er nicht das makellose Gesicht mit den blaugrünen Augen und den goldenen Locken. Er sah ihre normale Gestalt mit dem entschlossenen Gesichtsausdruck, das ihm kein Lächeln schenkte. Sie hatte sich als schlau erwiesen, als mutig und furchtlos. Fast wäre es ihr gelungen, seine Pläne zu durchkreuzen und ihm zu entwischen. Und doch hatte er am Ende gesiegt. Der Absturz der Maschine hatte auch zwei seiner Männer das Leben gekostet, doch das war nicht wichtig. Was er dagegen gern gewusst hätte, war, ob Lucy, die Schwester der Eclipse, sich tatsächlich auf seine Seite geschlagen oder ihn am Ende doch verraten hatte.
Es war müßig, sich darüber jetzt noch Gedanken zu machen. Sie waren alle tot und das Kapitel damit beendet.
Seltsam. Wieder sah er Lorenas Gesicht vor sich, und es fühlte sich fast so an, als würde er es bedauern, sie nicht wiederzusehen.
Unwirsch schüttelte er den Kopf und nahm die Zügel etwas schärfer auf als sonst. Der Hengst machte einen Satz nach vorn und galoppierte dann über den Höhenrücken davon. Ein Blitz erhellte die düsteren Wolken über ihnen. Der darauffolgende Donner öffnete die Schleusen und ließ eisigen Regen herabprasseln.
Der Duke war völlig durchnässt, als er Floors Castle erreichte.
Er ließ sein Pferd bei einem der Stallknechte, der den Hengst abrieb und in seine Box führte. Winston Campbell trat durch die Seitentür des Nordostflügels in den kurzen Verbindungsgang zum Hauptgebäude, von dem aus die große Treppe zu seinen Gemächern hinaufführte. Das Schloss war eine zweiflügelige Anlage in Form eines gestreckten Us, sodass, von der Auffahrt her gesehen, der Hauptbau mit seinen vier zinnenbestückten Türmen zurücksprang und so einen von den Seitenflügeln und der Hauptfassade begrenzten Hof mit einer quadratischen Rasenfläche zeigte. Die beiden Seitenflügel waren ein Stockwerk niedriger als der Hauptbau, doch im selben Stil gehalten und von Türmen an jeder Ecke begrenzt. Auf der Südseite fiel der grasbewachsene Schlosspark sanft bis zum Ufer des Tweed ab, dessen Wasser träge den Schlosspark passierte.
Ein junger Mann eilte in der Halle auf den Hausherrn zu, noch ehe dieser Zeit fand, sich der nassen Sachen zu entledigen.
»Vater!«
Der Duke of Roxburgh reichte seinem Butler seine Reitjacke und die Handschuhe, ehe er sich zu dem Mann umwandte, dessen Züge den seinen verblüffend ähnelten, nur dass sein Haar schwarz war. Die Augen waren vom gleichen Stahlgrau, wenn auch sein Blick nicht über die Kraft verfügte, die der Duke sich im Lauf seines langen Lebens erworben hatte.
»William, was gibt es?«, erkundigte sich der Duke und hob die Augenbrauen. »Ich dachte, du wärst in Oxford.«
William zog seinen schwarzen Ledermantel aus und reichte ihn ebenfalls dem Butler.
»Von dort komme ich gerade«, gab der junge Mann Auskunft.
»So?«, sagte der Councillor, und es lag eine gewisse Schärfe in seinem Ton. »Ich dachte, meine Anweisungen seien klar und unmissverständlich.«
William nickte und schob sich mit der Hand eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Er sah seinen Vater an. Die Blicke aus den grauen Augenpaaren trafen aufeinander und schienen einen stummen Kampf auszufechten. Es lag keine Wärme in ihnen, doch schließlich gab der jüngere der beiden auf, wich einen Schritt zurück und senkte den Kopf.
»Ich wollte nicht gegen deine Anweisungen verstoßen, doch ich habe dir etwas mitzuteilen, das dich ganz sicher interessieren wird.«
»Wir sind auf Floors Castle durchaus schon im Jahrhundert des Telefons angekommen«, erwiderte der Vater kalt.
»Ich denke, über dieses Thema möchtest du nicht am Telefon sprechen. Ich war in Oxford an der Universität, aber ich habe mit deinen Wanderern auch die Nachtmahre der Lady beobachtet. Sie kamen mir verschlossener vor als zuvor. Ja, fast ängstlich.«
»Ist das verwunderlich?«, entgegnete der Duke. »Wir haben sie ihrer Hoffnung auf eine große Zukunft beraubt. Die Eclipse und der Auserwählte sind tot!«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke nicht, dass die Angst vor der Zukunft sie niederdrückt. Sie schienen mir eher ängstlich darauf bedacht, ein Geheimnis zu hüten.«
Winston Campbell hob die Brauen, den Blick fest auf seinen Sohn gerichtet. »Und, hast du das Geheimnis gelüftet?«, erkundigte er sich ohne echtes Interesse.
»Ich denke ja«, antwortete William. »Wir sind ins Hintertreffen geraten, seit die Nachtmahre unsere Anlage entdeckt haben, mit der wir ihre Gespräche im Park belauschen konnten. Wir brauchen wieder einen Zugang! Ich habe Gryphon Manor viele Nächte lang beobachtet, um eine Schwachstelle zu finden, die wir für unseren Kriegszug nützen könnten.«
»Es ist nicht dein Krieg. Du bist keiner von uns. Du gehörst nicht zu den Wanderern«, blaffte sein Vater.
Es war nur ein kurzes Flackern in Williams Augen, das verriet, wie sehr ihn die Worte trafen. Seine Stimme blieb so kühl wie die des Duke.
»Nein, ich bin nur ein normaler Mensch. Du hättest bei der Auswahl meiner Mutter sorgsamer sein müssen, wenn du vorhattest, deine unsterbliche Magie weiterzugeben.«
»Ja, das hätte ich wohl«, stimmte ihm der Vater zu. »Also, was haben deine Beobachtungen ergeben, das so wichtig sein könnte, dass du mit deinem Wagen gleich bis nach Schottland rast?«
»Die Ländereien von Gryphon Manor sind von einer hohen Mauer mit einem magischen Schutzwall umgeben, der keinen Unbefugten einlässt, und es gibt nur ein Tor, das bewacht und ebenfalls magisch verschlossen ist«, berichtete William.
»Das ist mir bekannt«, gab der Duke unwillig zurück.
»Bisher glaubte ich, der Schutz sei lückenlos, doch vergangene Nacht habe ich etwas Interessantes beobachtet.«
Winston Campbell seufzte nur und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war diese Unterhaltung leid, die seiner Meinung nach zu nichts führte.
»Gestern Nacht haben zwei Nachtmahre das Refugium der Lady verlassen, doch nicht durch das Tor. Sie wählten dazu eine Mauerecke im Park zwischen zwei alten Eichen, die vielleicht den Schutzwall anfällig machen. Eichen sind voller Magie.«
Der Duke nickte. »Das ist richtig, dennoch kann ich deiner Annahme nicht folgen. Die Nachtmahre können den Schutzwall passieren.«
William nickte. »Ja, durchaus, doch sicher nicht unbemerkt. Und ich hatte den Eindruck, dass diesen beiden daran gelegen war, unauffällig zu verschwinden. Ich glaube, dass die Lady ihnen untersagt hat, Gryphon Manor zu verlassen.«
Nun runzelte Winston Campbell die Stirn. »Warum sollte sie so etwas tun? Sind nicht nur die Männer, die sie versklavt hat, dort eingesperrt?«
»Ich denke, sie will mit allen Mitteln verhindern, dass wir von ihren Gästen erfahren.«
Der Duke seufzte, verschaffte seinem Sohn die Befriedigung zu hoffen, er habe sein Interesse geweckt. »Was für Gäste?«
William holte tief Luft, ehe er fortfuhr. »Ich sah zwei Nachtmahre. Eine dunkel, die andere blond und noch sehr jung. Es erübrigt sich vermutlich zu sagen, dass sie überirdisch schön und äußerst verführerisch waren.«
Der Duke schnaubte abfällig.
»Die Blonde kannte ich nicht, doch die Dunkle habe ich früher schon einmal gesehen. Der Butler nannte sie Raika!«
Winston Campbell gönnte seinem Sohn den Triumph, zusammenzuzucken.
»Das ist nicht möglich!«
»Und die andere war ...«, fuhr William mit einem grimmigen Lächeln fort, »... wenn ich der Beschreibung deines neuen Attendants Glauben schenken soll, keine andere als Lucy, die Schwester der Eclipse.«
»Sie sind beide tot. Du musst dich irren. Sie sind mit dem Flugzeug abgestürzt. Ich habe es selbst gesehen.«
William trat einen Schritt näher. »Was hast du gesehen? Wie das Flugzeug in die Bay stürzte? Das bezweifle ich nicht, doch waren die Nachtmahre wirklich noch an Bord, als es explodierte?«
Winston Campbell starrte seinen Sohn wortlos an. Es kam nicht häufig vor, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
»War die Sonne bereits untergegangen?«, drängte William weiter.
Der Duke stöhnte, dann nickte er.
William zog eine Grimasse. »Dann hast du deine Antwort. Ich denke, die Nachtmahre waren nicht mehr in der Maschine und haben den Absturz überlebt.«
»Wenn du wirklich Lucy und Raika gesehen hast, dann ist sicher auch Lorena noch am Leben.«
William nickte. »Genau das nehme ich an, und genau aus diesem Grund hält die Lady sie in Gryphon Manor vor uns verborgen. Oder hat es, besser gesagt, zumindest versucht, wenn auch mit mäßigem Erfolg. Sie hat wohl den Freiheitsdrang ihrer sexbesessenen Gefangenen unterschätzt.«
»Was haben sie gemacht? Du hast sie doch sicher weiter beobachtet?«
William grinste. »Natürlich. Das Übliche halt. Sie haben sich ein paar Kerle angelacht und es wild mit ihnen getrieben.«
Die Lippen des Duke bewegten sich in einem stummen Fluch. »Also gut. Gehen wir davon aus, dass du wirklich Raika und Lucy gesehen hast und die Eclipse noch am Leben ist. Die Frage, die sich nun stellt: Hat auch ihr Auserwählter den Absturz überlebt?«
»Er ist nur ein einfacher Mann, aber vielleicht ist es den Nachtmahren gelungen, ihn zu retten.«
»Das ist die entscheidende Frage«, pflichtete ihm der Duke bei. »Wir müssen uns Gewissheit verschaffen, ob du mit deiner Vermutung recht hast.«
»Ich breche sofort wieder auf, wenn du willst«, bot William an, doch der Duke schüttelte den Kopf.
»Ich werde selbst fahren. Falls wir in Amerika versagt haben, dann muss ich das wissen, und wir müssen uns überlegen, wie wir die Katastrophe noch verhindern.«
»Soll ich dich in meinem Wagen mitnehmen?«, schlug William ein wenig zaghaft vor. Zu seiner Überraschung nickte der Vater.
»Ja, warum nicht? Wenn du etwas beherrschst, dann sind es deine Sportwagen.«
Er rief nach dem Butler und wies ihn an, eine Tasche zu packen, während er hinaufeilte, um sich trockene Kleider anzuziehen. Kaum eine halbe Stunde später nahm er auf der Beifahrerseite des orangefarbenen McLaren Platz und schloss die Flügeltür des breiten Sportwagens. William ließ den Motor aufheulen. Der Kies spritzte nach allen Seiten, als er die Auffahrt hinunterschoss.
Die Motoren begannen zu dröhnen. Die Propeller drehten sich immer schneller, sodass das Auge sie nicht mehr erfassen konnte und sie sich in graue Schlieren auflösten. Lorena spürte wieder die Angst, die Jasons bemühtes Lächeln eher noch vertiefte. Sie fühlte seine Qual und teilte seine Schmerzen, doch sie konnte ihm nicht helfen. Sie war nicht einmal in der Lage, sich selbst zu helfen, denn noch stand die Sonne am Himmel und ihre Magie ruhte. Erst wenn das letzte Strahlen verlosch, konnte sie den Nachtmahr in sich rufen und sich in das atemberaubend schöne und mächtige Wesen verwandeln, das so viel mehr Kraft besaß als die Menschenfrau, die mit Handschellen gefesselt auf dem Flugzeugsitz saß.
Der Flieger hob ab und ließ die Wüste des Death Valley unter sich zurück. Lorena sah die schneebedeckten Berge der Sierra Nevada unter der Maschine vorbeihuschen, die Ebene im Westen und dann die Bay, deren Wasser im Schein der tief stehenden Sonne rotgolden glänzte. Sie spürte den Schlüssel, den Lucy ihr zugesteckt hatte, in ihren Fingern. Die Handschellen fielen zu Boden. Sie sah die Pistole in Lucys Hand. Dann krachte ein Schuss, und noch einer. Blut spritzte, als Grant getroffen wurde und der Pilot leblos gegen die Armaturen sank. Das Flugzeug neigte sich nach links. Es war Harrison, dem es gelang, die Maschine wieder aufzurichten, und den Nachtmahren ermöglichte, zusammen mit Jason abzuspringen, ehe das kleine Flugzeug auf einer Kiesbank inmitten der Bay vor San Francisco zerschellte.
Das eiskalte Wasser umschloss sie. Lorena spürte den Schmerz ihres zerschnittenen Flügels, doch noch quälender war die Pein ihres Herzens, als sie mit ansehen musste, wie Jason in ihren Armen starb. Noch immer klammerte sie sich an die Hoffnung, sie würde irgendwann aus diesem Albtraum erwachen und in sein lachendes Gesicht sehen, das sich über sie beugte, um sie zu wecken und ihr zu sagen, dass er bereits Kaffee für sie gekocht habe. Vielleicht würde er noch einmal zu ihr unter die Decke schlüpfen, und sie würden sich voller Zärtlichkeit lieben, ehe sie einen weiteren Tag ihres gemeinsamen Lebens beginnen würden.
Selbst in ihrem Traum wusste sie tief in ihrem Innern, dass sie ihn verloren hatte. Für immer, unwiderruflich. Jason war im Wasser der Bay seinen Verletzungen und der Kälte erlegen und würde sie niemals wieder anlächeln, sie niemals wieder in seine Arme nehmen können. Die Liebe ihres Lebens war in den Tiefen der Bay versunken.
Lorena spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Nein, es würde kein fröhliches Erwachen geben. Der anbrechende Tag würde so traurig und dunkel werden wie die Tage zuvor.
Sie schlug die Augen auf. Lorena lag in einem riesigen, alten Himmelbett, dessen schwere, samtene Vorhänge verschlissen und staubig waren. Das kräftige Rot war im Lauf der Zeit verblasst. Die Laken waren rau und immer ein wenig klamm, obgleich in dem offenen Kamin am anderen Ende des Zimmers ein Feuer brannte. Ein Luxus, den sie allein genoss, dennoch empfand sie das mit dunklen Möbeln verschiedener Epochen vollgestellte Gemach eher als bedrückend denn als gemütlich. Der Morgen graute bereits, doch Lorena fühlte sich nicht ausgeruht. Wie so oft in den vergangenen Monaten hatte sie schlecht geschlafen und war immer wieder aus ihren Albträumen aufgeschreckt. Und wie immer, wenn die grausame Wirklichkeit des hellen Morgens sie erfasste, fühlte sie die verzweifelte Leere in sich, die Jasons Tod hinterlassen hatte. Ihre Hände wanderten über die Bettdecke und schlossen sich über ihrem Bauch. Noch war es zu früh, Bewegungen des Kindes zu spüren, doch sie fühlte, wie das kleine Wesen – Jasons Kind – in ihr heranwuchs. Wieder schossen ihr Tränen in die Augen. Ein Kind, das seinen Vater niemals kennenlernen würde. Ein Kind, das hier in Gryphon Manor von allen sehnsüchtig erwartet wurde.
Lorena war die Eclipse, geboren in der längsten Nacht des Jahres, über welche die Prophezeiung sagte, sie würde mit dem Sohn der Sonne ein Kind zeugen, das die Nachtmahre in eine neue, große Zeit führen würde. Jason war am 21. Juni, am Tag der Sommersonnwende, geboren. Er war der Mann, der für sie bestimmt gewesen war. Und nun war er tot, was aber hier im Herrenhaus – außer ihr – keiner als tragisch zu empfinden schien.
Lorena richtete sich in ihrem Bett auf, als sie an der Tür ein Geräusch vernahm.
»Ja?«
Die Tür öffnete sich, und ihre Schwester Lucy kam hereinmarschiert. Für diese Tageszeit und diesen Ort war sie äußerst unpassend gekleidet. Lorena blinzelte beim Anblick des hautengen Lackkleids und der hohen Stiefel, deren bleistiftdünne Absätze mindestens zwölf Zentimeter maßen. Die blonden Locken umspielten ihr schönes Gesicht. Ihr Mund war knallrot geschminkt. Lorena wollte nicht wissen, was für ein Bild sie selbst in ihrem unförmigen Nachtgewand mit den zerzausten farblosen Haaren bot.
Lucy war immer die Schönere der Schwestern gewesen und hatte in ihrer Kindheit Lorenas Eifersucht angestachelt. Auch heute war ihr Verhältnis eher von Spannung denn von inniger Zuneigung geprägt, auch wenn Lorena viel eingesetzt hatte, um Lucy aus den Händen des Councillors zu befreien.
Wenn sie nicht nach Amerika gegangen wäre, um sie zu suchen, würde Jason noch leben.
Lorena verbot sich solche Gedanken und konzentrierte sich wieder auf Lucys Aufmachung, die so gar nicht in das altehrwürdige Herrenhaus passte, wohl aber zu dem Nachtmahr, zu dem sie sich bei Dunkelheit wandeln konnte, um Jagd auf Männer zu machen, die ihren Durst auf sexuelle Abenteuer stillen sollten.
Hier in Gryphon Manor gab es nur wenige Männer, falls man die seelenlosen Geschöpfe überhaupt noch so nennen konnte. Jedenfalls stellten die willenlosen Sklaven der Lady sicher keine geeigneten Opfer für sexhungrige Nachtmahre dar.
Lorena hob die Augenbrauen und starrte ihre Schwester an. »Was hast du vor? Es ist noch nicht einmal richtig hell«, fragte sie.
Lucy schenkte ihr ein betörendes Lächeln. »Eigentlich habe ich jetzt nichts mehr vor«, erwiderte sie, und es klang ein wenig wie das zufriedene Schnurren einer Katze, die den Sahnetopf ausgeleckt hat. Dann gähnte sie herzhaft. »Ich glaube, ich werde jetzt zu Bett gehen. Es war eine aufregende Nacht.«
Mit einem Ruck saß Lorena senkrecht im Bett. »Was soll das bedeuten?«
Lucy zwinkerte ihr zu. »Was schon? Ich hatte heute Nacht viel Spaß, und jetzt bin ich müde.«
»Du warst draußen?«, stieß Lorena ungläubig hervor. »Sie haben dich rausgelassen?«
Doch Lucy winkte ihr nur ohne ein weiteres Wort zu, wandte sich ab und ließ die Tür wieder zufallen. Offensichtlich wollte sie ihr Geheimnis noch ein wenig bewahren oder weidete sich am Staunen ihrer Schwester.
Lorena stieß einen ärgerlichen Laut aus. Wie war das möglich? Seit ihrer Rückkehr aus Amerika hatte die Lady die drei Nachtmahre nicht über die Mauern von Gryphon Manor hinausgelassen. Konnte es Lucy tatsächlich gelungen sein, das Refugium der mächtigen Lady unentdeckt verlassen zu haben? Lorena wusste, dass die Lady sich nicht gerne zum Narren halten ließ und dass die Missachtung ihrer Anweisungen Folgen haben würde. Aber das war Lucys Sache, dachte Lorena verärgert. Wenn sie etwas ausgefressen hatte, musste sie selbst dafür geradestehen. Sie hatte Lucy mit Raikas Hilfe aus Alcatraz befreit. Nun war ihre Schwester erwachsen und für sich selbst verantwortlich. Oder sollte sie bei der Lady ein gutes Wort für Lucy einlegen? Immerhin waren sie nun schon vier Monate in dem alten Herrenhaus eingesperrt und durften sich lediglich draußen im Park bis zu der Mauer, die das Anwesen umgab, die Beine vertreten. Kein Wunder, dass es Lucy hinauszog. Hatte sie nicht mehr als genug Zeit in Gefangenschaft verbracht?
Lorena warf das Betttuch zur Seite und schwang die Beine über die Kante. Sie angelte nach ihren Pantoffeln und tappte dann in das altmodische Bad, das zwar über fließendes Wasser verfügte, dessen Ausstattung aber bereits mindestens ein Jahrhundert hinter sich hatte. Lorena wusch sich und bedachte ihr Spiegelbild mit einer Grimasse. Ihre Haut war blass. Die Wangen zierten rote Flecken, und wie so oft fiel ihr Haar dünn und farblos über ihre Schultern. Sie hätte längst zum Friseur müssen und hätte sich gern wieder ein paar Strähnchen färben lassen, die das trostlose Etwas, das man kaum mehr Frisur nennen konnte, zumindest mit ein paar Farbreflexen bereichern würden. Ihre Hände wanderten zu ihrem nackten Bauch, der sich ein wenig zu wölben begann. Vor einigen Tagen hatte sie für sich Jasons Geburtstag gefeiert, den er selbst nicht mehr hatte erleben dürfen.
Nur jetzt nicht daran denken, sonst würde sie wieder in Tränen zerfließen. Sie musste nach vorn sehen und stark sein für ihr Kind, um ihm das beste Leben zu bieten, das es ohne einen Vater geben konnte.
Aber wie sollte das gehen, wenn die Lady sie weiterhin hier in Gryphon Manor einsperrte? Wollte sie Lorena nur schützen, bis das Vermächtnis der Nachtmahre geboren war, oder hatte sie ganz eigene Pläne mit dem Kind, das die Nachtmahre in eine große Zukunft führen sollte?
»Es ist ganz allein mein Kind«, knurrte Lorena. »Jason und mein Kind, und ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass ihr es für eure Zwecke missbraucht und es mir entfremdet.«
Hatte die Lady gar vor, es ihr wegzunehmen und Lorena von ihm fernzuhalten? Seit Wochen verweigerte die Lady jedes Gespräch. Lorena musste wissen, was sie vorhatte. Doch würde sie mit offenen Karten spielen?
»Das wäre das erste Mal«, schnaubte Lorena, doch was konnte sie tun, wenn ihr die Pläne der Lady nicht gefielen? Sie kam ihr allmächtig vor und verfügte über Magie, von der die anderen Nachtmahre nur träumen konnten.
Lorena unterdrückte einen Seufzer und schlüpfte in eine Hose und ein kurzes Shirt. Sie bürstete ihr Haar und band es sich zu einem Pferdeschwanz zusammen. Kurz erwog sie, ein wenig Make-up aufzulegen, ließ es dann aber sein. Wozu? Für wen? Sie schlüpfte in Strümpfe und Turnschuhe und verließ das düstere Gemach.
In der Halle traf Lorena auf den Butler. Carter quittierte ihren Morgengruß mit leerem Gesichtsausdruck und einer Verbeugung. Wieder einmal fragte sich Lorena, was die Lady mit ihm und den anderen Bediensteten gemacht hatte, um ihnen jede Menschlichkeit zu rauben und sie zu willenlosen Dienern zu machen. War es das Gift, das mit dem Biss eines Nachtmahrs in die Blutbahn gelangte und das Opfer Stück für Stück seines eigenen Charakters und seiner Persönlichkeit beraubte? Doch wurden Männer dadurch nicht eher aggressiv und böse? Sie wollte nicht an die Nacht zurückdenken, als Noah mit einem Messer auf seinen Freund losgegangen war und Tyler ihn dann erstochen hatte, weil Raika die beiden verrückt gemacht hatte. Weil sie um die Gunst des Nachtmahrs gekämpft hatten. Keine Freundschaft konnte gegen die Macht ankommen, die ein Nachtmahr über einen Mann legte. Für Raika war es nur ein Spiel gewesen, wie sie Männer ganz allgemein nur zu ihrem Vergnügen schätzte. Für sie war der Tod eines ihrer Liebhaber keine Träne wert. Sie kannte nicht einmal so etwas wie ein schlechtes Gewissen!
In Erinnerung an diese Nacht, die auch Jason zum ersten Mal fast das Leben gekostet hatte, ballte Lorena die Hände zu Fäusten.
»Oh, ich sehe, mit dir ist heute nicht gut Kirschen essen!«, erklang die Stimme der Person hinter ihr, die sie im Stillen gerade verflucht hatte.
Lorena fuhr herum. »Guten Morgen, Raika«, sagte sie noch immer grimmig.
Die so Begrüßte grinste entwaffnend. »Ich werde es mir merken: Leg dich nicht mit einer Schwangeren an! Ihre Stimmungen sind gefährlich.«
»Das hat damit nichts zu tun«, widersprach Lorena, stutzte dann aber, als sie ihren Blick über Raika gleiten ließ. Wie ihre Schwester war sie ganz in Schwarz gekleidet. Ihr Top und die enge Hose waren allerdings aus Leder, und die Stiefel hatten nicht ganz so hohe Absätze. Jedenfalls war Raikas Aufmachung nicht minder atemberaubend als Lucys zuvor und passte genauso wenig zu der altehrwürdigen Halle von Gryphon Manor. Dennoch war der Anblick dieser Kleidung Lorena vertraut, und gerade dieser Umstand ließ sie ungläubig zwinkern. »Was hast du vor?«, erkundigte sie sich.
»Nach was sieht es denn aus?«, konterte Raika, noch immer mit einem breiten Grinsen.
»Du siehst aus wie eine der Guardians. Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich sagen, du bist auf dem Weg hinunter in den Trainingsraum.«
»Was weißt du besser?«, erkundigte sich Raika.
»Dass du körperliches Training verabscheust und dich nach einer anstrengenden Nacht – statt zu schwitzen – lieber deinem Schönheitsschlaf hingibst.«
In Raikas Miene trat ein verträumter Ausdruck. »Ja, das war einmal – ehe ich dich kennenlernte und in finstere Gefängnisse verschleppt wurde, in denen mir noch finsterere Typen den Kopf abschlagen wollten.«
»Wir waren diejenigen, die den Wanderern die Köpfe abgeschlagen haben«, erinnerte Lorena mit einem Schaudern.
Raika zuckte mit den Schultern. »Na egal. Jedenfalls habe ich beschlossen, dass es nicht schaden kann, wenn man mit all den schönen Waffen, die sie dort unten bunkern, auch umgehen kann. Irgendwann werden sie uns ja wieder auf das richtige Leben loslassen, und dann will ich vorbereitet sein. Die Lady kann uns ja nicht ewig hier einsperren.«
Das erinnerte Lorena wieder an Lucy. Rasch sah sie sich um, doch Carter hatte die Halle verlassen, und auch von den anderen Dienern war keiner zu sehen. Lorena machte einen Schritt auf Raika zu und senkte die Stimme: »Lucy war heute Nacht draußen – das behauptet sie zumindest, und ich denke, so, wie sie vorhin drauf war, bin ich fast geneigt, ihr zu glauben, denn ich bin überzeugt, dass Myladys Diener nicht als feurige Liebhaber taugen.«
Raika zuckte nur mit den Schultern. »Und? Gönnst du ihr das nicht?«
Lorena griff nach Raikas Arm. »Das ist nicht der springende Punkt. Du weißt, dass Mylady uns allen verboten hat, Gryphon Manor zu verlassen. Der Councillor muss im Moment nicht erfahren, dass wir noch am Leben sind.«
Raika schnaubte verächtlich. »Ach ja? Und deshalb sollen wir hier brav herumsitzen und Däumchen drehen? Wie lange? Neun Monate, bis das Kind geboren ist? Oder vielleicht vierzehn Jahre, bis deine Tochter sich zum ersten Mal wandelt? Oder noch länger?«
Lorena spürte wieder den Zorn der ersten Nacht hier, als Morla, die Vertraute der Lady, ihnen eröffnet hatte, dass sie die Mauern von Gryphon Manor nicht verlassen durften.
»Sagtest du nicht, du würdest dir das nicht gefallen lassen?«, hieb Raika weiter in die Kerbe. »Und nun sitzen wir hier schon vier Monate fest! Ist es da ein Wunder, dass Lucy sich ein wenig amüsieren will? Sie war schließlich schon lange genug in ihrem Leben eingesperrt.«
Lorena sah Raika durchdringend an. »Aha, und du konntest dich auch nicht länger zurückhalten, nicht wahr? Du warst mit ihr zusammen draußen!«
Raika stritt es nicht ab. Ihr Lächeln sagte alles.
Nein, nicht alles! Die große Frage war: »Wie seid ihr unbemerkt hinausgekommen? Das Tor ist verschlossen und die Mauer mit einer magischen Barriere belegt, die wir nicht passieren können – zumindest nicht, ohne Alarm auszulösen. Oder habe ich etwas übersehen?«
»Nicht nur du!«, raunte Raika ihr zu. »Das ist offensichtlich selbst unserer allmächtigen Lady entgangen.«
»Was?«
Raika zierte sich. »Sei mir nicht böse, Lorena, doch könntest du es wirklich mit deinem Gewissen vereinbaren, etwas vor Mylady zu verheimlichen?«
»Ja, durchaus. Ich will wissen, was vor sich geht, also sag es mir!«
Doch so leicht war Raika nicht umzustimmen. »Ach, ich weiß nicht. Es wäre zu schade, wenn uns dieses Schlupfloch genommen würde und wir jede Nacht hier wieder Trübsal blasen müssten.«
Lorena verstärkte den Griff um Raikas Arm. »Bitte! Ich will nicht, dass sich Lucy wieder in Gefahr begibt.«
»Siehst du, also willst auch du sie hier einsperren«, konterte Raika und befreite sich aus ihrem Griff. Sie wich zurück. »Ich muss unsere spannende Unterhaltung leider beenden. Ich werde erwartet«, sagte sie mit singender Stimme und verschwand die Treppe hinunter, wo die Waffenkammer und der Trainingssaal zu finden waren.
Lorena folgte ihr. Sie hatte ohnehin nichts zu tun und langweilte sich den Tag über. Da konnte sie auch Raika zusehen, wie diese von einer der Guardians zum Schwitzen gebracht wurde. Das Gespräch jedenfalls war für sie noch nicht zu Ende. Entweder Raika oder Lucy mussten ihr verraten, wo die Schwachstelle des Anwesens zu finden war, durch die man unbemerkt entwischen konnte.
Eine Sehnsucht ergriff sie, während sie Raika langsam die Treppe hinunter folgte. Eine Nacht draußen in der Stadt. Nur sie drei, als Nachtmahre, wunderschön und unwiderstehlich. Eine Nacht mit einem Mann, mit Tanz und Musik und mit zügellosem Sex.
Verzeih mir, Jason. Es ist das Wesen in mir. Ich liebe dich noch immer, doch ich kann spüren, dass der Drang in mir stärker wird.
Zum Glück besaß sie noch immer die kleinen roten Pillen, die ihr die Freiheit verschafften, sich nur zu wandeln, wenn sie selbst es wollte. Das funktionierte in jeder Nacht, außer bei Neumond. In der finstersten Nacht des Monats war der Nachtmahr in ihr stärker als die zu Pillen gepresste Magie.
Lorena betrat den Trainingsraum in dem Moment, als Sienna Raika eines der Übungsschwerter reichte. Sienna gehörte zu den jüngeren der Guardians, welche die Lady zu tödlichen Kämpferinnen mit dem Schwert und anderen Waffen hatte ausbilden lassen. Sie war eine große Frau von fast einem Meter neunzig, die ihr dunkles Haar kurz geschnitten trug. Nach dem jahrelangen Training, das sie absolviert hatte, war sie nicht mehr ganz so hager wie früher. An ihren Armen zeichneten sich die Muskelstränge ab, mit denen sie ihr Schwert blitzschnell und präzise zu führen wusste. In dem großen Trainingsraum mit der langen Spiegelwand übten vier junge Nachtmahre, welche die Lady nach Vollendung ihrer Ausbildung als Guardian in ihre Dienste nehmen würde. Sie waren noch nicht lange in Gryphon Manor, und Lorena juckte es, einmal das Schwert mit ihnen zu kreuzen. Sie war sich sicher, mit Leichtigkeit gegen sie bestehen zu können. Die große, etwas kräftige Frau mit den braunen Haaren, die sie sich zu einem Knoten aufgesteckt hatte, hieß Harriet. Florence dagegen war klein, zierlich und blond. Die Hübscheste und auch Geschickteste mit dem Schwert war eine Rothaarige aus Irland, die Eliza hieß. Die Vierte im Bund war Sophia, die seltsam farblos und zerbrechlich aussah, ihr Schwert aber mit elegantem Schwung führte.
Sienna beendete die Übungsstunde der vier und entließ sie für heute. Dafür trat sie auf Raika zu und präsentierte ihre Klinge, die mit tödlicher Schärfe blitzte.
»Ich zeige dir erst die verschiedenen Grundhuten mit dem Schwert, dann üben wir die Fußarbeit. Sie ist enorm wichtig, denn du wirst keinen Schlag ausführen können, wenn dich dein Gegner aus dem Gleichgewicht bringt. Also merke dir: Präzise, schnelle Schritte sind genauso wichtig wie die exakte Führung der Klinge. Nur wenn du einen sicheren Stand hast, kannst du dein Schwert effektiv einsetzen.«
Raika maulte leise vor sich hin. »Das hört sich nicht so spannend an.«
»Ist aber notwendig. Üben, üben, üben, das sind die Grundlagen, um jede Kampfkunst zu erlernen.«
Lorena fühlte sich in ihre erste Unterrichtsstunde bei Sienna zurückversetzt. Mit verschränkten Armen lehnte sie sich an die Wand und betrachtete ihr Bild in dem großen Spiegel an der Wand gegenüber. Wie gern war sie in ihr Lederdress geschlüpft und hatte mit Sienna oder einer der anderen Guardians an ihren Kampfkünsten gearbeitet. Es hatte ihr ein Gefühl von Freiheit und Macht gegeben, auch wenn sie damals noch nicht geahnt hatte, wie schnell sie ein scharfes Schwert würde einsetzen müssen.
Lorena sah zu, wie Sienna Raika die Grundhuten demonstrierte: »Tag, Ochs, Pflug und Alber. Komm, mach mit. Sie müssen flüssig ineinander übergehen, aber halte dazwischen kurz die exakte Stellung, um sie dir einzuprägen.«
Raika zog eine Schnute, ließ ihr Schwert aber nach Siennas Kommandos von einer Stellung in die andere gleiten.
»Das machst du nicht schlecht«, lobte Sienna. »Komm, das können wir noch schneller!«
Lorena dachte an ihre ersten Versuche zurück. Hatte sie sich auch so gut angestellt wie Raika? Diese schien ein Naturtalent zu sein, soweit man das anhand dieser einfachen Übung sagen konnte. Wie gut die beiden in ihrem Lederoutfit aussahen. Sie waren inzwischen bei den Kunsthuten angelangt.
»Zorn, hängender Ort, Schrank, Schlüssel«, kommandierte Sienna. Raika ließ gehorsam ihr Schwert in die verschiedenen Positionen wandern. Sienna korrigierte die Stellung der Arme und der Klinge.
»Ellbogen mehr durchdrücken. Die Klinge ein wenig höher! Du musst mit der Spitze auf meine Kehle zielen.«
»Aber gerne!« Raika korrigierte die Position.
Plötzlich überfiel Lorena der unbändige Wunsch, sich den beiden anzuschließen. Ihre Trainingskleidung war sicher noch hier, und noch war ihr Babybauch nicht so deutlich, dass sie nicht mehr hineingepasst hätte. Kurz entschlossen ging sie nach nebenan, wo sie tatsächlich das knappe Lederoberteil, den kurzen Rock und die Stiefel fand, die sie bei ihren zahllosen Trainingseinheiten getragen hatte. Rasch zog sich Lorena um und kehrte mit einem Trainingsschwert in der Hand in den Saal zurück. Sienna und Raika übten gerade verschiedene Schrittfolgen.
»Ah, Lorena, willst du dich uns anschließen?«, meinte Sienna freundlich.
»Wenn ich darf?«
Sienna nickte. »Aber gerne. Wir gehen paarweise die Grundhuten durch, und dann beginnen wir mit den Abwehr- und Ausweichbewegungen, um den Angriff des Gegners ins Leere laufen zu lassen und ihn anschließend zu entwaffnen.«
»Entwaffnen?«, wiederholte Raika entgeistert.
»Oder ihn so zu treffen, dass er den Kampf nicht fortsetzen kann.«
Raika grinste. »Das hört sich schon viel besser an!«
Während Sienna zurücktrat und mit ihren Kommandos begann, schwangen Raika und Lorena die Schwerter, sodass sie in den verschiedenen Stellungen aufeinandertrafen. Dann gab Sienna vor, mit welchem Angriff eine von ihnen beginnen sollte, und zeigte, wie die andere diesen erfolgreich abwehren konnte.
»Es kommt darauf an, dass ihr die Energie des Angreifers ablenkt, wenn ihr nicht euer Schwert riskieren wollt. Natürlich seid ihr in eurer Nachtmahrgestalt viel stärker als jetzt, aber denkt daran, auch die Wanderer sind keine schwächlichen Menschen. Versucht nicht, die Schläge mit Kraft aufzuhalten. Wenn eure Klinge bricht, habt ihr verloren.«
Nachdem sie die Angriffs- und Verteidigungsschläge erst langsam geübt hatten, erhöhte Sienna nun die Geschwindigkeit. Raika geriet ins Schwitzen, und auch Lorena spürte, wie ihre Arme schwer wurden und ihre Schritte langsamer.
»Das ist nicht die richtige Tageszeit, so etwas zu üben«, sagte Raika keuchend. »Wenn wir uns nur wandeln könnten, dann hättest du keine Chance!«
»Ach nein?«, konterte Lorena. »Vergiss nicht, ich könnte mich dann auch verwandeln.«
»Pah!«, stieß Raika aus.
»Von mir aus können wir gerne eine weitere Übungsstunde nach Einbruch der Dunkelheit abhalten, falls du nichts Wichtigeres vorhast.«
Raika schnaubte nur abfällig, während sie Lorenas herabsausender Klinge auswich und sie mit ihrem eigenen Schwert zur Seite drückte, sodass nun ihre Spitze auf Lorenas Herz zielte.
»Halt! Sofort aufhören!«
Die Stimme peitschte scharf durch den Raum. Raika und Lorena ließen die Schwerter sinken und wandten sich wie Sienna zu der Frau um, die in der Tür stand.
Morla war im Vergleich zu den anderen Nachtmahren und vor allem zu den kampferprobten Guardians sehr klein und im Gegensatz zu diesen von üppiger Körperfülle. Wie gewohnt trug sie ein weites Gewand, das in zahllosen Falten bis zu ihren Füßen wallte. Doch man tat falsch daran, sie zu unterschätzen. Morla war kein Nachtmahr, der sich in der Nacht wandelte oder mit dem Schwert gegen Wanderer kämpfte. Sie verfügte über andere Magie. Sie war die Vertraute und rechte Hand von Mylady, mit der sie wortlos kommunizierte und auch über größere Entfernungen hinweg ihre Gedanken teilte. Sie handelte stets mit Wissen und im Auftrag der Lady.
»Was gibt es?«, erkundigte sich Sienna. »Es ist Raikas erste Trainingsstunde. Das habe ich mit Mylady abgesprochen.«
»Raika interessiert mich nicht«, entgegnete Morla kalt. »Lorena, leg sofort das Schwert zur Seite!«
»Warum?«, begehrte diese auf. Seit Wochen hatte sie sich nicht mehr so wohlgefühlt wie in diesem Moment. Es tat gut, ihren Körper zu strecken und zu bewegen, zu spüren, dass sie noch lebendig war.
»Weil du schwanger bist!«, zischte Morla.
»Das ist mir bekannt«, hielt Lorena entgegen. »Ich bin schwanger, aber nicht krank. Ich bin durchaus in der Lage, ein wenig mit Raika zu trainieren.«
»Nein, das bist du nicht!«, fuhr Mon a scharf fort. »Du trägst all unsere Hoffnung in dir. Du und das Kind, ihr seid der Schlüssel der Prophezeiung, und wir werden nicht zulassen, dass du die Zukunft der Nachtmahre in irgendeiner Weise gefährdest.«
»Sagt Mylady?«
»Ich spreche immer für Mylady«, bekräftigte Morla.
»Wie schön«, entgegnete Lorena kaum freundlicher. »Wenn sie mit mir sprechen will, komme ich sogleich mit hinauf. Ich habe bereits des Öfteren um ein Gespräch gebeten.«
»Das ist nicht nötig. Es gibt sonst nichts zu besprechen«, wehrte Morla ab.
»Ach nein?«, brauste Lorena auf. »Da bin ich anderer Meinung. Sie kann uns hier nicht einfach monatelang einsperren. Wie soll es mit uns weitergehen? Warm dürfen wir unser eigenes Leben weiterführen?«
»Im Moment ist es wichtig, dass der Councillor nichts von eurem Überleben erfährt, und vor allem nichts von deiner Schwangerschaft. Das Kind darf keiner Gefahr ausgesetzt werden. Nur hier in Gryphon Manor ist es sicher.«
»Ach, das heißt, auch wenn es geboren ist, müssen wir hierbleiben?«
»Das Kind ist unsere Zukunft«, sagte Morla. »Und nun geh in dein Gemach zurück und ruh dich aus!« Sie wandte sich um und schwebte davon.
»Ich will mich aber nicht ausruhen«, schrie ihr Lorena erbost nach. »Ich ruhe mich hier noch zu Tode! Ich habe ein Recht auf mein Leben, das könnt ihr mir nicht nehmen. Ich lasse mich nicht einsperren. Von niemandem! Auch nicht von Mylady, das kannst du ihr gerne ausrichten.«
Schwer atmend stand Lorena da, dann schleuderte sie das Übungsschwert in die Truhe und stürmte hinaus.
»Na endlich wacht sie wieder auf«, hörte sie Raika fröhlich sagen, ehe die Tür hinter ihr zuschlug.
Lorena stürmte die Treppe hinauf und durch die Halle, wo der Butler sich wieder vor ihr verneigte. Sie war versucht, in das Allerheiligste der Lady einzudringen und ihr das Gespräch, das sie ihr verweigerte, aufzudrängen, doch Lorena wusste, wenn die Lady keinen Besuch wünschte, hatte sie nicht die Kraft, gegen ihren Willen den Salon zu betreten. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als in ihr eigenes Zimmer zurückzukehren.
Lorena hatte gerade die Halle passiert, als sie plötzlich abrupt stehen blieb. Es fühlte sich an, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Ihre Beine schienen nicht mehr ihrem Willen unterworfen zu sein.
In ihrem Kopf erklang eine Stimme: Du wünschst, mit mir zu sprechen? Dann komm zu mir.
Von fremder Hand gesteuert, wandte sich Lorena um und ging durch die Halle. Carter hielt ihr die Tür zu Myladys Salon auf. Lorena trat ein und näherte sich dem thronartigen Sessel, in dem die Lady immer saß; dann hielt sie plötzlich inne. Es war die Lady, die den Abstand bestimmte. Lorena blieb stehen und senkte den Kopf. Wieder einmal wurde ihr nicht gestattet, den Blick zu erheben und die Lady anzusehen.
Du wolltest mich sprechen?, ertönte von irgendwoher die alterslose Stimme.
Lorena ließ ein wenig den Blick nach rechts und nach links wandern, um zu sehen, ob Morla wie üblich anwesend war, doch sie konnte sie nicht entdecken. Es würde also ein Gespräch nur zwischen ihr und der Lady werden.
»Ja, ich versuche es seit mehr als drei Monaten!«, platzte sie unwirsch heraus.
Es gab nichts zu besprechen, entgegnete die Stimme.
»Ach ja? Jason ist tot. Raika, Lucy und ich werden hier wie Gefangene gehalten, und in mir wächst unser Kind heran, von dem die Prophezeiung spricht, doch ich habe keine Ahnung, wie dieses Kind den Nachtmahren helfen könnte.«
Ja, Jason ist tot. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Seine Aufgabe hat er erfüllt. Er hat mit dir dieses Kind gezeugt, das uns Nachtmahre stärker machen wird. Mehr kann ich dir dazu auch nicht sagen. Wir verfügen leider nicht über alle Schriften, in denen von der Prophezeiung die Rede ist. Damals im Krieg sind Bücher verloren gegangen und nicht wieder aufgetaucht. Ich habe Audry nach Oxford und in andere Bibliotheken geschickt, um sie zu suchen. Dass der Councillor euch für tot hält und nichts von deiner Schwangerschaft weiß, ist unser aller Vorteil. Natürlich werdet ihr hier nicht gefangen gehalten, doch es kann entscheidend sein, dass die Wanderer nichts von dem Kind erfahren, bis es geboren ist.
»Und dann? Was sollte sich dann ändern?«, fragte Lorena.
Dann ist deine Aufgabe vollbracht. Du kannst mit deiner Schwester und Raika gehen, wohin du willst.
»Und mein Kind wäre durch die Wanderer nicht gefährdet? Egal, wohin wir gehen?«, wunderte sich Lorena.
Die Tür öffnete sich, und Morla glitt herein. Sie positionierte sich neben der Lady und übernahm die Unterhaltung. Offensichtlich war sie auf dem Laufenden.
»Das Kind bleibt natürlich hier!«, sagte sie schroff, so als könnte sie kaum glauben, dass Lorena etwas anderes denken würde. »Es ist unsere Zukunft, und wir werden es hier beschützen.«
»Es ist mein Kind!«, rief Lorena. »Es ist alles, was mir von Jason geblieben ist, und ich werde mich ganz sicher nicht von ihm trennen.«
Es bleibt dir frei, in Gryphon Manor zu bleiben, sprach die Stimme der Lady in ihrem Kopf.
»Ach, und wie lange gedenkt ihr, mein Kind hier einzusperren?«
»Wir ziehen es auf«, korrigierte Morla. »Wir werden das Beste für deine Tochter tun. Wenn wir wissen, was die Prophezeiung bedeutet und auf welche Weise das Kind uns stärken wird, dann sehen wir weiter.«
»Und wann soll das sein?«
Morla zögerte. »Vielleicht wird sich schon mit ihrer Geburt etwas für uns ändern, vermutlich aber erst, wenn sie beginnt, sich zu wandeln.«
»Also etwa in vierzehn Jahren«, ergänzte Lorena. »Und so lange soll sie Gryphon Manor nicht verlassen?«
»Es ist nur zu ihrem Schutz«, beharrte Morla. »Willst du das Leben deiner Tochter riskieren? Willst du, dass sie den Wanderern in die Hände fällt? Du weißt, die Männer des Councillors kennen keine Gnade. Sie würden ihr den Kopf abschlagen. Sie werden ihren Vernichtungsfeldzug gegen uns Nachtmahre fortsetzen, bis die Letzte von uns getötet ist.«
Lorena schwankte zwischen Zorn und Resignation. Dann hob sie noch einmal den Kopf, konnte aber nur Morla ansehen. »Ihr scheint euch absolut sicher zu sein, dass ich eine Tochter bekomme. Was, wenn es ein Junge wird?«
Morla zog eine Grimasse. »Das wird nicht geschehen. Wir sind Nachtmahre! Was sollte ein Junge für uns tun können? Wie sollte er uns stärken und die Prophezeiung erfüllen?«
Ich spüre den Widerstand in deinem Herzen und deinem Geist, erklang nun noch einmal Myladys Stimme. Gib dir Zeit, zur Ruhe zu kommen und zu der Einsicht, dass es so das Beste für uns alle ist: für dich, für deine Tochter und für uns Nachtmahre.
Damit war sie entlassen. Ihre Beine lenkten sie zur Tür, obgleich sie mit dem Ausgang der Unterredung gar nicht zufrieden war, doch ihre Gedanken schwirrten so in ihrem Kopf durcheinander, dass sie zu ihrem Zimmer tappte und sich auf ihr Bett fallen ließ. Stundenlang brütete sie vor sich hin. Eines war sie sich sicher: Das, was sich die Lady für sie und ihr Kind ausgedacht hatte, würde Lorena so nicht hinnehmen. Sie wollten ihr ihre Tochter wegnehmen, sie in ihrem Sinn erziehen und von ihren Kräften profitieren – wie immer die auch aussehen mochten. Lorena kam in ihrem Plan nicht mehr vor. Sie würde keinen Einfluss auf ihr Kind haben und es vermutlich nur selten zu Gesicht bekommen. Ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest und bereitete ihr Schwierigkeiten zu atmen. Nein, so sollte es nicht laufen. Sie wollte ihr Kind bei sich haben und es selbst aufziehen. Nicht in diesem düsteren, alten Gemäuer mit seinen seltsamen Bewohnern, sosehr sie einige der Guardians inzwischen mochte. Ihre Tochter würde Männer nur als seelenlose Diener kennenlernen. War das der richtige Umgang für ihr Kind? Lorena spürte, wie ihre Abneigung gegen das Haus und gegen die Lady und ihre Anweisungen wuchs. Sie wollte eine normale Mutter mit einem normalen Kind sein, das ganz natürlich wie alle anderen Kinder aufwuchs. In ihrer kleinen Wohnung in London! Sie würden samstags zusammen über den Flohmarkt schlendern und schöne, unnütze Dinge kaufen. Sie würden ein ganz normales Leben führen.
Wovon?
Ihre Ersparnisse würden nicht lange reichen. Sie würde sich einen neuen Job suchen müssen. Bei einer anderen Bank, um ihr Leben zu finanzieren. Derweil würde das Kind in eine Betreuungseinrichtung müssen, um wieder von Fremden erzogen zu werden.
Lorena seufzte.
Wie lange würde das gut gehen? Wie lange wären sie eine glückliche, kleine Familie?
Bis es den Wanderern gelingen würde, sie aufzuspüren. Würden sie das Kind wirklich töten? Der Kloß schmerzte nun noch stärker. Lorena glaubte zu wissen, dass die Wanderer keine Gnade kannten. Sie hatten auch keine Skrupel gehabt, Lucy zu entführen, weil sie sie für die Eclipse gehalten hatten.
Wäre es da nicht doch besser, mit dem Kind hierzubleiben und nicht für ihr tägliches Brot arbeiten zu müssen?