Impressum

2. Auflage Juni 2020

Copyright © 2019 Lilly-Grace Turner, lillygraceturner.com

Tempus Logus Verlag Luzern, tempuslogus.ch

Lektorat: büropia, Wolma Krefting, bueropia.de

Korrektorat: Sabine Dreyer, tat-worte.de

Korrektorat: Corinna Rindlisbacher, ebokks.de

Cover: Juliane Schneeweiss, juliane-schneeweiss.com

Bildmaterial: Landschaft © shutterstock.com/Yevhenii Chulovskyi

Paar © shutterstock.com/coka

Layout Print & E-Book: Corinna Rindlisbacher, ebokks.de

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783749405022

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel
  2. Kapitel
  3. Kapitel
  4. Kapitel
  5. Kapitel
  6. Kapitel
  7. Kapitel
  8. Kapitel
  9. Kapitel
  10. Kapitel
  11. Kapitel
  12. Kapitel
  13. Kapitel
  14. Kapitel
  15. Kapitel
  16. Kapitel
  17. Kapitel
  18. Kapitel
  19. Kapitel
  20. Kapitel
  21. Kapitel
  22. Kapitel
  23. Kapitel
  24. Kapitel
  25. Kapitel
  26. Kapitel
  27. Kapitel

Vorwort

»Brüderchen und Schwesterchen – Der Fluch« basiert, wie sich aus dem Titel erahnen lässt, auf dem Märchen »Brüderchen und Schwesterchen« von den Brüdern Grimm. Wer meine Novelle »Rapunzels Kuss« gelesen hat, weiß, dass ich mir zwar ein Märchen als Grundlage aussuche, aber dieses neu in Szene setze. Bei dieser Novelle verhält es sich ebenso.

Getreu dem Motto, dass das Kind auch beim Namen genannt werden darf, sind die erotischen Stellen unzensiert in die Handlung eingebettet.

Gute Unterhaltung wünscht euch eure

Lilly-Grace Turner

1. Kapitel

Sie drückte Sophie fest an ihren Körper und duckte sich noch etwas tiefer, während sie ihre Ohren spitzte. Das Herz klopfte schnell und hart in ihrer Brust. Ihr Versteck hinter den Holzscheiten war nicht das beste, aber Julchen war auf die Schnelle nichts anderes eingefallen. Sie hätte in den Wald rennen können, aber davor fürchtete sie sich zu sehr. Allein zu wissen, dass der Wald in unmittelbarer Nähe ihres Hauses begann, jagte ihr einen Schauer den Rücken hinab. Manchmal lag sie nachts in ihrem Bett wach und dachte an die Hexen, Kobolde und hungrigen Wölfe, die dort lebten. Wenn sie ganz große Angst hatte, schlich sie sich zu ihrem Bruder ins Gemach, schlüpfte zu ihm unter die Bettdecke und schlief bei ihm ein. Früher, als Vater noch lebte, hatte sie sich in dessen starke Arme geflüchtet.

»Es gibt keine Hexen oder Kobolde im Wald«, waren stets seine beruhigenden Worte gewesen, aber so ganz hatte Julchen ihm nie geglaubt.

Schritte erklangen und wütendes Schnauben. Julchens Herz sackte in ihren Bauch. Sie kannte diesen zornigen Laut. Violetta näherte sich!

Julchen drückte die Stoffpuppe noch fester an ihre Brust und kämpfte tapfer gegen die aufsteigenden Tränen an. Es war so gemein. Eigentlich sollte sie sich nicht verstecken müssen. Sophie war ihre Puppe! Ihr Vater hatte sie ihr geschenkt, ehe er sich auf die lange Reise gemacht hatte, um in der Ferne Handel zu treiben. Er war, wie sein Vater zuvor schon, ein sehr erfolgreicher Kaufmann gewesen. Manchmal kaufte er Gewürze in den fernen Ländern, die ganz seltsam rochen und schmeckten. Und er brachte auch lustige und spannende Geschichten von seinen Reisen mit. Julchen hatte es stets geliebt, seinen Erzählungen zu lauschen. Die letzte Geschichte, die von den Räubern, konnte er aber nicht mehr selbst erzählen, denn diese Halunken hatten ihn getötet, als er seine Waren beschützen wollte.

Die Erinnerung erfüllte Julchen mit großer Traurigkeit. Mit dem Tod ihres Vaters hatte sich ihr ganzes Leben verändert. Rosa, ihre Stiefmutter, begann ihr wahres Gesicht zu zeigen. Sie behandelte Julchen und ihren älteren Bruder schlechter als die Dienerschaft im Haus. Und Violetta, die Stiefschwester, die genauso alt war wie Julchen, durfte ihr eifersüchtiges und bösartiges Wesen vollends entfalten. Und neidisch war Violetta oft. Sie beanspruchte alles und jeden für sich. Ohne Johannchen würde Julchen diese Pein nicht ertragen. Er war ihr Beschützer Ihr Fels in der Brandung.

Plötzlich wurde Julchen an ihren blonden Haaren gerissen und damit aus ihren Gedanken.

»Du Diebin!«, zeterte Violetta. »Du blöde Kuh!«

Violetta war ein schlaksiges, für ihr Alter großes Mädchen, das ziemlich viel Kraft mobilisieren konnte, wenn sie wütend wurde. Und eben diese Kraft bekam Julchen nun in vollen Zügen zu spüren. Ihre Kopfhaut schmerzte, sodass ihr die Tränen in die Augen schossen.

»Gib mir die Puppe!«, keifte Violetta mit hochrotem Kopf. Wenn sie außer sich war, hatte sie starke Ähnlichkeit mit einer Tomate.

»Sie gehört mir!«, rief Julchen. »Papa hat sie mir geschenkt!«

»Er war auch mein Papa!« Abrupt ließ Violetta Julchens Haare los, stürmte um sie herum und packte Sophies linkes Bein.

»Nein, war er nicht!«, brüllte Julchen. Es war die Wahrheit. Violettas Vater war ein reicher Trunkenbold gewesen, der sich das Genick gebrochen hatte, als er bezecht eine Treppe hinunterstürzte. Julchen hatte die Dienerschaft darüber reden hören.

Zornig zerrte Violetta am Bein der Puppe. »Und jetzt gehört sie mir!«

Mit einem Ratsch riss das Bein vom Körper ab. Violetta verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Als sie sich aufrichtete, warf sie das Bein der Puppe achtlos weg.

Weinend und auf den Knien kauernd hob Julchen die verletzte Sophie in die Arme.

»Hör auf zu flennen!«, herrschte Violetta sie an, und obwohl sie erst acht Jahre alt war, klang sie schon sehr nach ihrer Mutter. »Gib mir die Puppe! Sofort!«

»Niemals!«, flüsterte Julchen heiser.

Mit einem Wutschrei stürzte sich Violetta auf ihre Stiefschwester. Die Mädchen rollten kämpfend über den Rasen, bis es Violetta gelang, Julchen die Puppe zu entreißen.

»Haha!« Triumphierend hielt sie Sophie in die Höhe.

»Du bist so gemein!«, stieß Julchen verbittert aus.

Violettas schmaler Mund verzog sich zu einem Grinsen. »Ich kann noch viel gemeiner sein.«

»Nein!«, entfuhr es Julchen verzweifelt, aber da hatte Violetta der Puppe auch schon den Kopf abgerissen.

»Hier, kannst deine dumme Sophie wiederhaben.« Violetta warf ihr die Puppe zu.

Fassungslos starrte Julchen auf Sophie hinunter oder auf das, was noch von ihr übrig war. Tränen rollten über ihre Wangen. Ihre Lippen bebten.

»Du bösartige Made!«, war plötzlich zu hören.

Violettas Kopf schnellte in die Richtung, aus der der Ruf kam, und auch Julchen sah sich um.

Johannchen stand breitbeinig da. In der rechten Hand einen Ast, den er wie ein Schwert hielt.

»Entschuldige dich bei meiner Schwester«, forderte er.

»Niemals!«, spuckte Violetta förmlich aus. »Eher falle ich tot um.«

Rückblickend konnte Julchen nicht mehr genau sagen, was dazu geführt hatte, dass ihr Bruder die Beherrschung verlor.

Hitzig warfen sich Violetta und er Beleidigungen an den Kopf, bis Johannchen abrupt vorsprang. Er fuchtelte drohend mit dem spitzen Ast in der Luft herum.

Violetta warnte ihn: »Komm mir nicht zu nahe, oder ich sag es Mutter!«

»Dann renn doch zu deiner Mami«, spottete Johannchen, holte mit dem Ast aus und traf Violetta am Oberarm.

»Aua!«, rief sie mehr im Zorn als im Schmerz. »Du gemeiner Kerl!« Violetta machte einen Satz nach vorne. Johannchen wich aus, hob aber gleichzeitig den Ast in die Höhe.

Julchen hörte einen schrillen Schrei, dann sah sie das Blut. Es floss über Violettas Wange wie Tränen.

Julchen blickte zu ihrem Bruder, der bleichgesichtig mit hängenden Armen und entsetztem Gesichtsausdruck dastand.

»Es tut mir leid«, kam es über seine bebenden Lippen.

Violetta kreischte wie am Spieß. Das Geheul lockte die Stiefmutter und die Dienerschaft an. Als Rosa ihre Tochter weinend und blutend sah, schrie sie: »Ludwig, bring sie sofort auf mein Zimmer!«

Der Angesprochene, ein kleiner, aber kräftiger Mann in den Vierzigern, nickte. Julchen war er fast so vertraut, wie es ihr Vater für sie gewesen war. Seit sie denken konnte, diente Ludwig ihrer Familie. Er war ein geduldiger und freundlicher Mann, der für alle und jeden ein gutes Wort bereit hatte. Sie mochte ihn sehr, und seit dem tragischen Tod ihres Vaters umso mehr. Selbst die verzogene Violetta konnte den bärtigen Ludwig gut leiden.

Als er sie aufhob, schmiegte sie weinend ihren Kopf an seine breite Brust.

»Sollte nicht der Arzt gerufen werden?«, fragte Frieda, die Haushälterin und Köchin, mit ihrer piepsigen Stimme.

»Ich werde mich darum kümmern«, knurrte Rosa, die Stiefmutter, und fügte an: »Geh zurück in die Küche.«

Frieda zögerte, öffnete ihren Mund, als wollte sie etwas sagen, besann sich dann aber eines Besseren und trollte sich zurück ins Haus.

»Und jetzt zu dir, du nichtsnutziger Bastard!« Rosa sah ihren Stiefsohn mit ihren durchdringenden stahlblauen Augen wütend an. »Nichts als Ärger hat man mit euch.« Sie warf einen kurzen, vernichtenden Blick in Julchens Richtung, deren Herzschlag für einen Moment ins Stocken geriet. Rosa machte zwei große Schritte auf Johannchen zu. Sie riss ihm den Ast aus der Hand und schwang ihn drohend über seinem Kopf.

»Violetta hat Julchens Puppe kaputtgemacht«, stieß der Junge zu seiner Verteidigung aus.

»Und deswegen stichst du meiner Tochter ein Auge aus?«, schrie Rosa außer sich.

»Ich wollte das nicht, wirklich.« Abwehrend hob Johannchen die Arme in die Höhe.

»Er wollte das wirklich nicht!« Julchen sprang beschützend vor ihren Bruder und damit zwischen ihn und die Stiefmutter.

»Ihr seid zwei Maden im Speck«, warf Rosa den beiden Kindern vor. »Ihr nehmt und nehmt.« Schnell ließ sie den Ast auf Julchen niedersausen. Diese riss reflexartig ihre Arme in die Höhe, um ihr Gesicht zu schützen. Rosa schlug mehrmals hintereinander auf das Mädchen ein. Der Ast fraß blutige Striemen in Julchens Unterarme. Ein brennender Schmerz drückte ihr die Tränen in die Augen.

Johannchen stieß seine Schwester zur Seite, um sich mutig der Stiefmutter entgegenzustellen.

»Schlagt nicht sie, sondern mich! Ich bin verantwortlich.«

Ein fratzenartiges Grinsen verzerrte Rosas Gesicht. »Ihr seid beide schuld! Ich wünschte, ihr wärt gestorben und nicht euer Vater«, zischte sie zornig, ehe sie mit dem Ast auf Johannchen eindrosch, bis das Holz schließlich nachgab und zerbrach. Johannchen ertrug die Schläge mit zusammengebissenen Zähnen. Kein Schrei des Schmerzes entfloh seinen Lippen. Diese Genugtuung wollte er seiner Stiefmutter nicht geben.

Rosa packte ihn am Arm.

»Lasst ihn in Ruhe!«, schrie Julchen.

»Einen Dreck werde ich«, keifte Rosa und verpasste dem Mädchen eine schallende Ohrfeige. Gerade als sie Julchen an den Haaren packen wollte, tauchte Ludwig auf. »Gnädige Frau, Violetta braucht Euch.«

Seine Worte brachten Rosa wieder zur Besinnung. Sie drehte sich auf dem Absatz um und eilte ins Haus.

Ludwig sah die beiden Geschwister mitleidig an. »Versucht, euch unauffälliger zu verhalten«, riet er.

Johannchen lachte bitter auf. »Als ob das einen Unterschied machen würde! Sie hasst uns!«

Julchen besah besorgt seine blutenden Arme und den Striemen auf seiner Wange. »O Johannchen«, schluchzte sie.

Ihr Bruder stieß sanft ihre abtastenden Hände zur Seite. »Tut es sehr weh?«, fragte er und zeichnete den roten Abdruck auf ihrer Wange nach.

Seine Schwester lachte auf. »Dich hat es ärger erwischt. Ich sorge mich um dich!«

»Das brauchst du nicht«, meinte Johannchen. »Du bist meine kleine Schwester, ich passe auf dich auf.«

»Ach, Junge«, meldete sich Ludwig mit einem Seufzer zu Wort. »Du bist so stolz wie einst dein Vater. Rück etwas zur Seite, Mädchen, damit ich mir deinen Bruder ansehen kann.«

Julchen tat, wie ihr geheißen.

Ludwig untersuchte Johannchens Wunden. »Wäre dein Vater weniger stolz gewesen, würde er vielleicht heute noch leben«, meinte Ludwig.

Johannchen sah den älteren Mann erstaunt aus seinen großen, braunen Augen an.

»Die Männer, die euren Vater auf der Reise begleitet haben, sagten, er hätte den Dieben die Ware nicht überlassen wollen«, erzählte Ludwig mit traurigem Gesicht.

»Vater hat schon oft gegen Räuber gekämpft, die ihn bestehlen wollten«, warf Johannchen ein. »Er und seine Männer haben am Ende die Schufte immer besiegt.«

»Das ist wahr«, bestätigte Ludwig. »Aber diese Gauner, die eurem Vater am Ende gegenüberstanden, waren von der schlimmsten Sorte. Es waren der raffgierige Erik und seine Gefolgschaft.«

Johannchen sog scharf die Luft ein.

»Wer … wer ist das?«, wollte Julchen wissen.

»Boshafte, habsüchtige Männer ohne Gewissen«, erklärte Ludwig. »Sie rauben und morden.«

Julchen schauderte.

»In all den Jahren als Kaufmann hat euer Vater seine Ware nie an Diebesgesindel verloren, und er gedachte, dies nicht zu ändern. Euer Vater war ein großartiger, ehrlicher, direkter Mann, aber auch ein Sturkopf, der an seinen Prinzipien festhielt. Am Ende hat es ihn das Leben gekostet.«

»Ich vermisse ihn sehr«, sagte Julchen leise.

»Ich auch«, gestand Ludwig. »Komm, Johannchen, wir geben etwas Salbe auf die Wunden, damit sie besser heilen.« Der Diener führte die beiden Kinder in das Gesindehaus, das gerade mal aus einem Zimmer bestand.

Julchen und Johannchen hielten sich gerne bei Ludwig auf. Hier war es im Gegensatz zum Haupthaus eng, aber umso gemütlicher, vor allem, weil weder Rosa noch Violetta herkamen.

»Setz dich in den Sessel«, wies Ludwig den Jungen an.

Johannchen ließ sich in das lederne Polstermöbel sinken, während Julchen auf dem dazugehörigen Fußhocker Platz nahm. Ludwig kramte in einer Kommode, aus der er einen Tiegel hervorzog, schnappte sich eine Schüssel mit Wasser und legte einen Stofflappen hinein. Damit säuberte er vorsichtig die Wunden.

»Ich wollte Violetta nicht verletzen, nicht auf diese Weise«, sagte Johannchen.

Ludwig legte den Lappen beiseite und öffnete den Tiegel. »Das weiß ich. Du bist ein guter Junge und wirst einmal ein guter Mann werden.«

»Danke.« Johannchen lächelte.

Julchen verspürte Stolz, als sie ihren Bruder so lächeln sah. Johannchen war ein mutiger und schöner Junge, besonders wenn er lächelte. Dann zeigten sich kleine Grübchen in seinen Wangen, und jenes am Kinn trat deutlicher hervor.

Ludwig betupfte die Wunden mit der Salbe. Anschließend kniete er sich vor Julchen hin und besah sich auch ihre Striemen. »Ich glaube, die vertragen auch etwas Balsam.«

»Danke«, sagte Julchen und blinzelte die aufsteigenden Tränen weg.

Ludwig entging es nicht. »Tut es weh?«, fragte er besorgt.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Rosa ist stets so gemein zu uns. Immer sind wir an allem schuld.«

»Versucht am besten, ihr und Violetta aus dem Weg zu gehen, verhaltet euch unauffällig«, riet Ludwig erneut.

»Wenn ich groß genug bin«, rief Johannchen und ließ seine rechte Faust auf die Armlehne sausen, »lass ich mir diese Behandlung nicht mehr gefallen!«

»Und was willst du tun?«, wollte Ludwig wissen. Er richtete sich auf. Seine Gelenke knackten, und er stemmte sich ächzend die Hände in die Hüfte.

»Ich weiß es noch nicht«, erwiderte Johannchen

»Wollt ihr meinen Rat hören?«, fragte Ludwig.

Die Kinder nickten gleichzeitig.

»Haltet durch, bis ihr mündig seid, dann wird euch ein Teil des Vermögens eures Vaters überreicht, und ihr könnt damit tun, was euch beliebt. Bis dahin schluckt euren Stolz runter und hütet euch vor der Stiefmutter. Sie ist eine gefährliche Frau.«

»Ich habe Frieda und dich einmal tuscheln hören«, sagte Johannchen. »Ihr glaubt, sie sei eine Hexe.«

Ludwig und Julchen wurden beide gleichzeitig blass um die Nasenspitze, wenn auch aus verschiedenen Gründen.

»Du hast uns gehört?«

Johannchen nickte.

»Sie ist eine Hexe?«, hauchte Julchen und fragte vorwurfsvoll an ihren Bruder gewandt: »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

»Du hättest nur Angst gehabt«, erwiderte er.

Ludwig sah sich in dem Zimmer um, als befürchtete er, Rosa könnte irgendwo lauern, dann flüsterte er: »Wir sind uns nicht sicher, aber sie hantiert auffällig oft mit Kräutern. Außerdem glauben wir, sie hat euren Vater verhext, denn anders können wir uns nicht erklären, welchen Gefallen er an ihr fand«, vertraute Ludwig den Kindern an. »Sie ist das Gegenteil von eurer gütigen und sanften Mutter.«

»Und viel hübscher war Mama auch«, wandte Julchen ein.

Ludwig nickte. »Es waren vor allem ihre herzensgute Art und ihr bezauberndes Lächeln, in das sich euer Vater verliebte. Ich weiß noch, wie er mir von ihr erzählte und seine Augen dabei gefunkelt haben.« Ludwigs Blick war in die Ferne gerichtet, als er sich an Helen, die Mutter der beiden Kinder, erinnerte. Mit einem wehmütigen Seufzer fügte er hinzu: »Als sie starb, da war ich mir sicher, euer Vater wird nie wieder heiraten. Aber wisst ihr, die Gesellschaft kann einen sehr großen Druck ausüben.« Mit seiner ruhigen, tiefen Stimme erklärte er: »Ein Mann, der alleine seine Kinder großzieht, das ziemt sich nicht. Ein Mann, der sich nicht wieder eine Frau ins Haus holt und mit ihr weitere Kinder zeugt, ist ein merkwürdiger Mann. So war er gezwungen, Ausschau nach einer Braut zu halten.«

»Und dann traf er Rosa«, sagte Johannchen. Beide Hände hatte er auf den Armlehnen des Sessels abgestützt, als wollte er jeden Moment aufspringen.

»Ich habe euren Vater einmal gefragt, warum er sich in sie verliebt hat.«

»Und wie lautete seine Antwort?«, wollte Julchen wissen. Sie saß immer noch auf dem Hocker, während Ludwig danebenstand und den Salbentiegel in den Händen drehte.

»Er sagte mir: Ludwig, sie ist eine anständige Frau. Ich liebe sie nicht wie Helen, aber von Zeit zu Zeit begehre ich Rosa auf eine ungezähmte Art, wie ich es noch nie gekannt habe. Doch dieses Sehnen hält nur eine gewisse Zeit an, dann verpufft es. Als hätte es nie existiert. Ist das nicht seltsam?«

Julchen sah zunächst Ludwig fragend an, dann ihren Bruder. »Was … was bedeutet das?«

»Dass Rosa unseren Vater verhext hat«, platzte es aus Johannchen heraus.

Julchen wurde erneut blass. »Wir dürfen sie nicht mehr verärgern«, bestimmte sie.

Johannchen schüttelte entschieden den Kopf. »Als ob wir einen Einfluss darauf hätten. Sie wird immer einen Grund finden, uns für irgendetwas zu bestrafen, aber ich werde das nicht mehr zulassen.« Theatralisch stand er auf und ballte seine Hand zur Faust. »Ich werde immer für Gerechtigkeit kämpfen und nichts einfach hinnehmen.«

Ludwig fuhr sich seufzend durch den Bart. »Junge, nicht immer ist Kämpfen eine kluge Entscheidung. Diese Lektion solltest du heute eigentlich gelernt haben.«

Johannchen zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Unterlippe. Eine kindliche Geste, die seinem Alter eher entsprach als seine großen Worte. Schließlich ließ er seine Lippe wieder los und sagte: »Das nächste Mal passe ich besser auf.«

Ludwig legte seine Hände auf Johannchens Schultern. »Kein nächstes Mal. Sei nicht so stur! Oder wollt ihr, dass am Ende einer von euch tot ist oder sogar alle beide?« Ludwig sah die Kinder herausfordernd an.

»Das wagt sie nicht!«, meinte Johannchen.

Julchen ballte ihre Hände im Schoß.

Ludwig zuckte mit den Schultern. »Sie könnte es wie einen Unfall aussehen lassen …«

»Du machst mir Angst«, flüsterte Julchen.

Ludwig drehte sich ihr zu, um ihr beruhigend über den Schopf zu streicheln. »Es tut mir leid, aber ich befürchte, es bleibt mir nichts anderes übrig.«

»Ludwig, lass uns gemeinsam von hier fliehen«, schlug Johannchen vor.

»Und du willst deiner Stiefmutter alles überlassen, was eigentlich euch gehört?«, fragte der Diener. »Haltet durch, bis ihr alt genug seid. Dann bekommt ihr euren Anteil und könnt gehen, wohin ihr wollt.«

Johannchen pustete frustriert eine Haarsträhne aus der Stirn. »Das ist nicht gerecht.«

Ludwig lächelte mitfühlend. »Das Leben ist nicht immer gerecht. Es ist eine harte Schule, und sich in Geduld zu üben, ist die schwerste Disziplin – glaub einem alten Mann.«

»So alt bist du nicht«, warf Julchen ein. »Oder?«

Ludwigs Lächeln wurde breiter. Neckend tippte er auf ihre Nasenspitze. »Viel älter als du auf jeden Fall, so viel steht fest.«

Etwas später verabschiedeten sich die Kinder von ihm.

»Denkt daran, was ich euch gesagt habe«, mahnte er eindringlich.

Julchen und Johannchen nickten, ehe sie die Hecke entlangliefen, welche das große Grundstück ihres Vaters umfriedete. An einer Stelle war die Hecke licht, und durch diese quetschte sich erst Julchen hindurch, dann ihr Bruder. Der Durchgang führte auf das offene Feld hinaus. Das Gras war noch nicht gemäht und entsprechend hoch. Gut versteckt im halbmeterhohen Grünwuchs rundherum ließen sie sich auf den Boden nieder.

Julchen ergriff Johannchens Hand. »Was, denkst du, geschieht, wenn wir ins Haus zurückkehren?«

»Vielleicht schlägt sie uns«, antwortete ihr Bruder mit dunkler Stimme. »Oder wir bekommen nichts zu essen.«

»Oder«, warf Julchen ein, »sie nimmt uns etwas weg oder wir müssen die Böden schrubben …« Sie brach in Tränen aus.

Johannchen richtete sich auf und stützte sich auf seinem Unterarm ab. Liebevoll wischte er mit den Fingerspitzen die Tränen von den Wangen seiner Schwester. »Weine nicht. Eines Tages wird es uns wieder gut gehen. Versprochen.«

2. Kapitel

Als Johannchen und Julchen abends ins Haus zurückkehrten, wurden sie bereits von ihrer Stiefmutter erwartet. Erschrocken zuckten die Kinder zusammen, als Rosa sich hinter dem Holztisch in der Küche erhob.

»Habt ihr wirklich geglaubt, ich wüsste nicht, dass ihr immer durch die Hintertür rein- und rausschleicht?«

Ängstlich tastete Julchen nach der Hand ihres Bruders, fand sie und klammerte sich daran fest. Was auch kommen sollte … sie entschied, ihren Bruder nicht alleine zu lassen. Sie würde die Schläge mit ihm teilen, die Putzstrafen, sie würde für ihn einstehen und mit ihm hungern und wenn es sein müsste, sogar sterben. Er war ihr Ein und Alles.

Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte Rosa schmallippig mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die Kinder herab. Für Julchen und Johannchen war es, als würde ihre Stiefmutter sie eine gefühlte Ewigkeit lang anstarren.

Es war Johannchen der das unangenehme Schweigen brach: »Wie geht es Violetta?«

»Wie es ihr geht?«, höhnte Rosa. »Sie hat große Schmerzen!«

»Und … und das Auge? Ist es …« Johannchen geriet ins Stocken. Julchen konnte sich nicht erinnern, ihren Bruder jemals derart stottern gehört zu haben.

»Das kann ich erst in ein paar Tagen beurteilen«, erwiderte die Stiefmutter eisig.

Johannchen rang die Hände. »Es tut mir leid.«

»Das sollte es auch. Ich habe mir in den letzten Stunden Gedanken darüber gemacht, welche Strafe euch widerfahren sollte.« Rosa drehte sich dem Tisch zu und nahm ein Messer in die Hand.

Julchens Kehle entfuhr ein spitzer Schrei.

»Gerechterweise müsste ich dir ein Auge ausstechen.« Die Messerspitze richtete sich auf Johannchen. »Aber du würdest das stoisch über dich ergehen lassen, dessen bin ich mir sicher. Was aber, wenn ich deiner hübschen kleinen Schwester ein Auge ausstechen würde?« Sofort zeigte die Messerspitze auf Julchen.

Johannchen stellte sich schützend vor seine zitternde Schwester. »Nein, das dürft Ihr nicht!«, rief er entsetzt. »Ich alleine bin schuld.«

»Wie tapfer«, spottete Rosa und rammte das Messer in die Holztischplatte. »Aber nicht notwendig. Ich werde eure schönen rehbraunen Augen verschonen.«

Erleichtert brach Julchen in Tränen aus und erntete dafür einen bitterbösen Blick von Rosa. »Ihr schlaft ab sofort oben auf dem Dachboden.«

Julchen und Johannchen wechselten fragende Blicke.

»Jeder von euch hat ein Bett. Eine Kommode mit Waschschüssel steht euch ebenfalls zur Verfügung. Eure Kleider habe ich verschenkt. Was jedem von euch bleibt, ist ein Sonntagskleid – ich will mich nicht in der Kirche schämen für euch – und ein Werktagsgewand. Ach ja, und euer Spielzeug und die Gemächer gehören ab jetzt Violetta als Entschuldigung für das verletzte Auge. Ich bin sicher, es ist in eurem Sinne.« Rosa zeigte ein wölfisches Lächeln, das noch breiter wurde, als Julchen begann, laut zu wimmern.

»Das ist gemein!«, rief Johannchen. »Eines Tages werde …« Er brach ab, Ludwigs Worte noch im Ohr.

»Was wirst du, du kleiner, nichtsnutziger Wurm?«

Schweigend, die Lippen zu einer schmalen Linie gepresst, das Kinn angehoben, erwiderte Johannchen den eisigen Blick seiner Stiefmutter.

»Dachte ich’s mir doch, gar nichts wirst du. Und jetzt rauf unters Dach. Ich will euch bis morgen nicht mehr sehen und hören.«

Julchen nickte weinend. Johannchen nahm seine Schwester an der Hand und ging mit ihr die Treppe hinauf.

»Sie nimmt uns alles weg«, schluchzte Julchen auf, als sie den ersten Stock erreichten, wo sich ihre geräumigen, gemütlich eingerichteten Gemächer befanden, die jetzt Violetta gehörten.

»Und eines Tages holen wir uns alles zurück«, versprach Johannchen. Zweifelnd sah seine Schwester zu ihm hoch. »Ganz sicher«, bekräftigte er seine vorangegangenen Worte.

Die Treppe, die auf den Dachboden führte, befand sich am Ende des Ganges, nahe den kaum genutzten Gästezimmern. Schmale, hölzerne Stufen mussten erklommen werden. Für zwei Kinder keine Schwierigkeit, trotzdem fühlten sich Julchens Beine schwer an, als sie einen Tritt nach dem anderen nahm. Sie wollte nicht auf den Dachspeicher. Bestimmt gab es dort oben Fledermäuse.

»Die haben mehr Angst vor uns«, meinte Johannchen beruhigend und fügte an: »Außerdem bin ich bei dir. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«

Inmitten alter Möbelstücke, Koffer und anderem Krempel standen die beiden Betten in einem großzügigen Abstand voneinander. Wie Rosa angekündigt hatte, gab es eine Kommode mit Wasserkrug und eine Wasserschüssel. Die Kleider, welche die Stiefmutter ihnen gelassen hatte, lagen auf einer Truhe.

Ein schwerer Schluchzer ließ Julchens Brust erbeben.

»Wir werden es uns hier gemütlich einrichten«, meinte Johannchen. Liebevoll strich er seiner Schwester übers Haupt, ehe er einen Arm um ihre schmalen Schultern legte und sie sanft an sich drückte. »Ich glaube, hier befindet sich noch Vaters abgewetzter Lehnstuhl, und da drüben steht Mamas Spiegel und dort … Ach, ich weiß es nicht, aber wir werden uns alles genau ansehen.«

»Vaters Sessel und Mamas Spiegel …« Ein trauriges Lächeln kräuselte Julchens Lippen.

»Und da hinten, siehst du, da gibt es sogar ein Fenster.« Johannchen durchschritt den Dachboden, und seine Schwester folgte ihm.

»Mit Blick auf den Wald«, stellte Julchen nüchtern fest.

»Ach, hab dich nicht so«, meinte ihr Bruder. »Im Wald ist es sogar ganz schön.«

Seine Schwester schnaubte ungläubig. Jedes Mal, wenn Johannchen mit Ludwig in den Wald ging, um Holz zu schlagen, machte sie sich große Sorgen.

»Darf ich bei dir im Bett schlafen?«, fragte sie.

»Sicher«, antwortete Johannchen mit einem Lächeln.

Julchen war ihm sehr dankbar. Als es dunkel wurde, schlüpften die beiden unter die Bettdecke. Eine Öllampe spendete ihnen spärliches Licht. Die mit Laken bedeckten Möbel warfen unheimliche Schatten. Julchen schmiegte sich an ihren Bruder und flüsterte in sein Ohr: »Die Möbel sehen wie Gespenster aus.«

»Willst du mir Angst einjagen«, neckte Johannchen seine Schwester und kitzelte sie, bis Julchen vor Lachen kaum noch Luft bekam.

»So gefällst du mir viel besser«, sagte er. Johannchen saß aufrecht im Bett, die Beine gekreuzt.

Julchen, auf dem Rücken liegend, zupfte ihr Nachthemd zurecht. »Wie meinst du das?«, fragte sie.

»Lachend«, erwiderte ihr Bruder. »Wenn es nach mir ginge«, sagte er in einem sehr ernsten und erwachsenen Tonfall, »dann sollte jeder Tag für dich ein Glückstag sein. Das hast du verdient.«

Julchens Lächeln wurde etwas schmaler. »Das wünschte ich mir für dich auch.«

»Eines Tages wird alles anders. Ganz sicher.« Er beugte sich über sie und hauchte ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn, ehe er die Öllampe herunterdrehte und sich neben Julchen ausstreckte.

3. Kapitel

Wie durch ein Wunder konnte Violettas rechtes Auge gerettet werden. Doch es verlor seine schöne kristallblaue Farbe und nahm ein milchiges Silber an. Zudem fehlte jeglicher Ausdruck. Es starrte nur noch.

Eines Morgens – die Familie saß beim Frühstück – starrte Julchen zurück, weil der Anblick für sie zu ungewohnt war und irgendwie auch erschreckend. Prompt verfärbte sich Violettas Gesicht gefährlich rot, ehe sie loszeterte: »Was gaffst du?«

Erschrocken zuckte Julchen zurück. »Ich … ich?«, war alles, was sie angesichts des Zornes ihrer Stiefschwester herausbrachte. Mit dem merkwürdigen Auge, dem roten Kopf und ihrem wütenden Gesichtsausdruck sah sie aus wie eine Hexe.

»Glotz nicht so!«, schrie Violetta und bewarf Julchen mit dem Frühstücksbrei. Das klebrige Getreidegemisch landete auf ihrer Stirn und in ihrem Haar. Violetta lachte gackernd. Als Julchen sich den Brei mit der Serviette wegwischen wollte, herrschte ihre Stiefmutter sie an: »Lass das und iss weiter. Und wehe, du wagst es noch mal, Violetta krumm anzustarren.«

»Aber ich …«, setzte Julchen an, erntete jedoch einen derart vernichtenden Blick von ihrer Stiefmutter, dass sie sofort verstummte.

»Iss!«, fauchte die erneut, und Julchen begann, mechanisch den Brei in sich hineinzuschaufeln.

»Das ist nicht gerecht!« Johannchen knallte den Löffel auf den Holztisch. Er saß neben Julchen, die sofort erschrocken ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte und etwas Druck darauf gab. Sie wollte ihm damit zu verstehen geben, dass er ruhig sein sollte, aber Johannchen war zu sehr er selbst, als dass er hätte schweigen können.

»Was ist nicht gerecht?« Rosa, die den Platz am Kopf des Tisches eingenommen hatte, sah ihren Stiefsohn herausfordernd an.

Johannchen ließ sich davon nicht beeindrucken. »Violetta hat Julchen mit Brei beworfen, und Ihr habt sie nicht gerügt, und dann darf Julchen sich nicht einmal sauber machen.«

»Deine verzogene Schwester hat meine Tochter angegafft. Belustigt darüber, weil ihr wunderschönes Auge nun nicht mehr das Himmelblau von einst besitzt. Und wem verdankt Violetta das?«

»Mir!«, rief Johannchen. »Mir alleine. Wenn jemand bestraft werden sollte, dann ich, aber nicht meine Schwester.«

Rosa erhob sich, die Hände auf der Tischplatte abgestützt. »Schweig! Überlass es gefälligst mir zu entscheiden, wer es verdient hat, bestraft zu werden, und wer nicht.«

Johannchen öffnete seinen Mund, aber Julchen schlug ihm unter dem Tisch mit der Hand auf den Oberschenkel. Dieses Mal verstand er und klappte den Mund wieder zu.

»So ist es brav«, kommentierte Rosa mit Genugtuung. Eine Genugtuung, die für Johannchen wie bittere Medizin schmeckte.

»Und jetzt esst euer Frühstück.«

Schweigend wurde die Mahlzeit beendet.

Später am Tag musste Julchen in der Küche helfen, und Johannchen fuhr zusammen mit Ludwig, Rosa und Violetta in die Stadt.

Julchen beneidete ihren Bruder darum. Nicht um die Gesellschaft, aber um die Möglichkeit, dieses Haus und das Anwesen verlassen zu können und einen Hauch von Freiheit zu schnuppern. Sie war seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr in Meri gewesen. Dabei dauerte eine Kutschfahrt bis dorthin nur eine Stunde.

Während Julchen den Teig für den Kuchen ausrollte, malte sie sich aus, wie es sein würde, auf den Markt zu gehen oder für ein neues Kleid dem Schneider einen Besuch abzustatten. Ein Kleid, mit dem sie auf einen Ball gehen könnte und …

»Träum nicht!«, riss die Köchin Frieda sie aus den Gedanken.

Verdattert blickte Julchen auf und murmelte eine Entschuldigung.

Frieda schmunzelte. »Woran hast du gedacht?«

»Ach, nichts«, erwiderte Julchen ausweichend, klemmte ihre Zungenspitze zwischen die Lippen und rollte weiter konzentriert den Teig aus.

Wochen und Jahre gingen ins Land. Jahre der Trostlosigkeit, in denen Rosa immer wieder genügend Anlass fand, Julchen oder Johannes – er wollte nicht mehr Johannchen genannt werden – mit dem Stock zu bestrafen oder ihnen niedere Arbeiten aufzubürden. Ihre Zimmer bekamen die Geschwister in all der Zeit nicht zurück. Violetta breitete sich in den drei Räumen aus, füllte sie erst mit Spielzeug und dann, als sie zu einer jungen Dame heranwuchs, mit Kleidern, Schmuck, Näh- und Strickutensilien. Julchen und Johannes hausten weiterhin in der Dachkammer. Oft saßen sie abends vor dem einzigen Fenster und blickten sehnsüchtig hinaus. Johannes erzählte Julchen Geschichten von seiner ruhmreichen Zukunft, in der er Ritter des Königs sein würde und gegen Drachen und Räuberbanden kämpfte.

»Drachen gibt es doch nicht«, neckte Julchen ihren Bruder.

Dieser meinte augenzwinkernd: »Zerstör mir nicht meine Tagträume.«

Julchen lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Wenn du ein Ritter bist, wirst du mich vergessen?«, fragte sie besorgt.

»Aber nein«, versicherte Johannes. »Du wirst mit mir auf dem Schloss wohnen. Nie werde ich dich vergessen oder alleine lassen.« Er küsste ihren Scheitel und legte ihr einen Arm um die Schulter.

Eines Tages entschied Julchen, dass sie alt genug war, alleine zu schlafen, und dass ihr Bruder ihr nicht mehr das Händchen zu halten hatte. So wurde aus Julchen Julia, die sich unter dem Dach einen Privatbereich schaffte, indem sie eine Schnur von einer Wand zur anderen spannte und alte Laken darüber hängte. Johannes stand da mit verschränkten Armen und betrachtete die Stoffwand. Erst konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht deuten und befürchtete, ihn mit der Abtrennung gar zu verletzen, aber dann schnellten seine Mundwinkel in die Höhe.

»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, lobte er ihr Werk. »Wir sind keine kleinen Kinder mehr, die dicht aufeinander wohnen möchten, nicht wahr?«

Julia nickte. In der Tat hatte sie angefangen, sich etwas unbehaglich zu fühlen. Ihr Körper veränderte sich, wurde weiblicher. Das war etwas, was ihren Bruder nichts anging. Sie wollte sich umziehen fern seines Blickes, obwohl er vermutlich gar nie geschaut hätte, aber für Julia war es so passender. Viel Zeit, um über das Erwachsenwerden nachzudenken, blieb den Geschwistern jedoch nicht. Rosa sorgte stets für genügend Arbeit und lachte sich ins Fäustchen, weil sie so Personal einsparen konnte.

An diesem Nachmittag musste Julia den Boden des Wohnzimmers wischen und die Teppiche ausklopfen. Als sie gerade dabei war, tänzelte Violetta mit einem Stück Kuchen herein. Aus ihr war eine hochgewachsene, schlanke Frau geworden. Das lange, braune Haar trug sie stets offen, damit sie die Strähnen über ihr silbernes Auge fallen lassen konnte.

»Sieh dich an«, spottete Violetta. »Dein Kleid starrt vor Dreck. Dein Haar ist fettig, und deine Nägel haben schwarze Ränder. Du bist weniger wert als eine Dienstmagd.«

Julia hielt in der Arbeit inne und blickte auf. »Wenn Johannes und ich mündig sind«, sagte sie und streckte ihren Rücken durch, »bekommen wir das Erbe, das uns zusteht.«

Violetta lachte auf. »Und dann was?«

»Dann ziehen wir von hier weg, fangen ein neues Leben an.«

Violetta näherte sich Julia. »Johannes wird vor dir großjährig. Glaubst du wirklich, er harrt hier mit dir aus?«

»Er hat es versprochen«, erwiderte Julia.

Erneutes Lachen. »Du bist so naiv! Er wird gehen, eine Frau finden, sie heiraten und dich alleine lassen. Vielleicht aber auch …« Ihr Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. »Vielleicht kann ich ihn überzeugen, hierzubleiben – für mich. Dann wird er mich heiraten! Und dich werde ich hochkant aus dem Haus werfen. Das hätte ich, ehrlich gesagt, gern schon vor langer Zeit gemacht. Aber Mutter hat ein weiches Herz.«

Jedes einzelne Wort von ihr war wie ein Dolchstich in Julias Herz. Sie presste mühsam die Lippen zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie hasste sich selbst dafür, so nahe am Wasser gebaut zu sein.