Karl Sewart
99 Ehen und eine Scheidung
ISBN 978-3-86394-091-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1978 bei
Mitteldeutscher Verlag, Halle - Leipzig
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
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Er hatte sich schon immer gewünscht, nach vorn heraus zu wohnen, um das Treiben auf der Straße betrachten zu können. Da sah er sie aus ihrem Fenster heraus das Treiben auf der Straße betrachten. Er bat sie, es mit ihr tun zu dürfen, und sie bat ihn zu sich hinein.
Er aber ist bis heute nicht in ihrem Fenster erschienen!
Ja, nicht einmal sie selber scheint sich mehr für das Treiben auf der Straße zu interessieren!
Sie lernten sich in der Milchbar kennen, wo sie ihm seinen ersten selbständig erworbenen Mantel mit ihrer ersten selbständig erstandenen Portion Eis befleckte.
Sie war untröstlich.
Er beeilte sich, für sie eine neue Portion zu erstehen.
Das machte sie noch untröstlicher, und er kaufte ihr ein weiteres Eis. Und so ging das weiter, ihr ganzes Leben hindurch. Und sie lebten lang. Denn nichts bekam ihr so gut wie Eis. Und er war von früher Jugend an ein außerordentlich abgehärteter Bursche, da sein Mantel wegen der Eisflecken von damals nicht mehr tragbar war.
Er war stets sogleich zur Stelle, wenn eine seiner Nachbarinnen von einer seiner Bienen gestochen worden war - nein, das ließ er sich nicht nachreden, dass er jemals eine mit einem Stich im Stich gelassen hätte, er hatte noch immer ein Fläschchen Salmiakgeist samt einer Bulle Bärenfanglikör in seinem Bungalow hinterm Bienenhaus parat, und noch keine seiner Patientinnen hatte sich jemals über seine Behandlung zu beklagen gehabt, im Gegenteil, es kam nicht selten vor, dass sich diese oder jene seiner Nachbarinnen hinter sein Bienenhaus begab, ohne den geringsten Stich zu haben.
Diesem " Nachbar, Euer Fläschchen !" -Idyll allerdings ward eines schwärmerischen Tages durch die Königin unter seinen Nachbarinnen ein realistisches Ende bereitet: Das erste, was sie tat, nachdem sie für immer hinter sein Bienenhaus gezogen war, war, es mit einem Gazezaun zu umgeben, durch den nicht eine einzige Biene mehr hinaus- und keine einzige mehr herein zu fliegen vermochte...
Ja, früher, da las er gar nicht gern... Da las er kaum das, was der Lehrer verlangte, und das war alles schrecklich langweilig...
Doch da saß er eines Tages neben ihr im Zug... Und vor lauter Langeweile fing er an, mit in dem Buch zu lesen, das sie auf ihrem Schoß liegen hatte. Und je länger er las, um so dichter rückte er an sie heran, um sich ja keine Silbe entgehen zu lassen, und um so mehr wunderte er sich darüber, wie er das Lesen hatte für so etwas Langweiliges halten können, und er verwünschte noch nachträglich seine ganze bisherige Jugend, weil man ihm da niemals ein so interessantes Buch zu lesen aufgegeben hatte... Doch da klappte sie mit einem Mal das Buch zu und stieg aus! Und er, er wusste nicht, wie es weiterging, das Buch, er war ja nicht einmal bis zur Mitte gekommen, und auch der Anfang vorn, der fehlte ihm ja noch!
Was sollte er machen, was blieb ihm anderes übrig, er stieg mit aus und ging mit nach Haus und las ihr Buch beim Schein ihres Nachttischlämpchens zu Ende...
Als er aber schließlich auf der letzten Seite angelangt war, da gestand sie ihm, dass sie noch viel, viel mehr Bücher zum Lesen habe als nur das eine...
Und wenn er jetzt mal verreisen muss, da gibt sie ihm immer genug zu lesen mit...
Wenn man den ganzen Tag über Möbel transportiert, da hat man es abends merkwürdigerweise satt, Möbel zu transportieren, da verspürt man wirklich das eigenartige Bedürfnis, auch mal auf den entsprechenden Möbeln langzuliegen... Aber meine Frau hat das eben nicht gewusst, was kann sie dafür.
Jede Frau hat ihr Steckenpferd, warum nicht, und meine möchte eben jeden Tag eine andere Wohnung haben. Und da lauert sie schon auf mich, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, und breitet ganz begeistert ihre neuen Skizzen zum Umräumen vor mir aus, und dabei macht sie solche großen Kinderaugen, dass ich da einfach in die Hände spucken und loslegen muss! Sie kennt es ja auch von klein auf nicht anders, sie hat schon ihre Puppenstube dauernd neu eingerichtet, und sie hat einen ganzen Bücherschrank voll von wissenschaftlichen Werken und illustrierten Zeitschriften über moderne Wohnraumgestaltung, und sie hat wirklich geniale Ideen! Das sollte man gar nicht denken, was man mit so ein paar Möbeln alles anstellen kann! Und ich bin ja auch nicht so dogmatisch und behaupte: ein Sessel ist eben zum Draufsitzen da und ein Sofa zum Draufliegen und damit basta! Nein, so ein Spießer bin ich nicht: Möbel, sage ich, Möbel sind eben vor allem zum Verrücktwerden da!
Sie war Serviererin in seinem Stammlokal, und sie wurde auf ihn aufmerksam, als er begann, ihr jeden Tag ein bisschen mehr Trinkgeld zuzustecken. Sie beschloss abzuwarten, und im Laufe der Jahre legte sie sich ein ansehnliches Vermögen zurück.
Als aber das Trinkgeld immer mehr abzunehmen begann, gab sie, in dem Glauben, ihre Chancen seien am Sinken, endlich seinem Werben nach. Wie sie aber ihr Vermögen mit dem seinen zusammenlegen wollte, musste sie erkennen, dass nicht ihre Chancen, sondern seine Gelder zur Neige gegangen waren...
Nun bleibt ihr nichts anderes übrig, als das, was sie öffentlich von ihm empfing, im trauten Heim wieder für ihn auszugeben...
Sie hatte es schon fast aufgegeben, in ihren Kochkünsten jemals auch nur annähernd an die seiner Mama heranzureichen. Wie sie sich auch anstrengte, nie vermochte sie ihre Speisen mit jenem erlesenen Wohlgeruch und Wohlgeschmack zu versehen, den er von zu Hause kannte.
Da ging ihr eines Tages alles verquer, indem ihr der Braten auch noch anbrannte! Und bevor sie ihn außer Riechweite gebracht hatte, trat er auch schon schnuppernd in die Küche!
Und nahm ihr die Pfanne aus der Hand - und aß sie auf einen Sitz leer!
Sie hatte endlich das Rezept seiner Mutter gefunden...