Die Autorinnen

Prof. Dr. phil. habil. em. Ruth Hampe war an der Katholischen Hochschule Freiburg mit den Schwerpunkten Heilpädagogik, Rehabilitation und Kunsttherapie tätig. Sie ist ausgebildete Kunstpädagogin, approbierte Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeutin (KJP), Katathym-imaginative Psychotherapeutin (KIP) und graduierte Kunsttherapeutin (DKGT) sowie Heilpraktikerin Psychotherapie. Ruth Hampe promovierte und habilitierte an der Universität Bremen, arbeitet seit Jahren im Vorstand der Deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Kunst, Gestaltung und Therapie (IGKGT) und der Deutschen Gesellschaft für Künstlerische Therapien (DGKGT). Sie publiziert zur Kunsttherapie, Kunst- und Kulturpsychologie sowie zur Heilpädagogik und ist in eigener Praxis, in der Flüchtlingsarbeit und in Auslandsprojekten (SES) tätig.

Prof. Dr. rer. medic. Monika Wigger ist Professorin für Ästhetik und Kommunikation mit dem Schwerpunkt bildnerisches Gestalten an der Katholischen Hochschule Freiburg und im Leitungsteam der wissenschaftlichen Weiterbildung Kunsttherapie am IAF der KH Freiburg. Sie war langjährig Kunsttherapeutin im Universitätsklinikum Münster sowie Initiatorin der Malwerkstatt Münster. Sie ist diplomierte Grafik-Designerin, graduierte Kunsttherapeutin (DGKT) und Heilpraktikerin Psychotherapie. Monika Wigger arbeitet im Vorstand der Deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Kunst, Gestaltung und Therapie (IGKGT) und in der Deutschen Gesellschaft für Künstlerische Therapien (DGKT) mit. Sie publiziert zur Kunsttherapie und zur Heilpädagogik und ist kunsttherapeutisch tätig in eigener Praxis tätig.

Ruth Hampe, Monika Wigger

Heilpädagogische Kunsttherapie

Grundlagen, Methoden, Anwendungsfelder

Verlag W. Kohlhammer

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Für Lola

Coverabbildung: Monika Wigger

Die in den Text integrierten Illustrationen wurden von Gerrit Wigger gestaltet.

1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-032077-2

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Einleitung
  2. 1   Heilpädagogik und Inklusion
  3. 2   Zur Brückenfunktion des ästhetischen Gestaltens
  4. 3   Heilpädagogische Kunsttherapie – ein gesondertes Förderkonzept
  5. 4   Grundlagen einer Heilpädagogischen Kunsttherapie
  6. 4.1   Parameter des bildnerischen Gestaltens
  7. 4.2   Die Relevanz von Bindung und Beziehung
  8. Die Bedeutung der Beziehung in Therapie- und Förderkontexten
  9. Virtuelle Beziehung – Online Kunsttherapie
  10. Das Material und das Objekt in der Heilpädagogischen Kunsttherapie
  11. 4.3   Vorsprachlicher Dialog
  12. 4.4   Spielerisches Handeln
  13. 4.5   Ressourcenorientiertes Handeln
  14. 4.6   Heilpädagogische Förderung
  15. 4.7   Projektive Verfahren
  16. 4.8   Biografiearbeit
  17. 4.9   Emotionale Selbstwahrnehmung
  18. Emotion und taktile Wahrnehmung
  19. Sehen und Fühlen – Kreuzmodale Wahrnehmung
  20. Bedeutung haptischer Materialien, deren Ausdrucksqualitäten sowie ihre Verbindung zur konkreten bildnerischen Form
  21. Messinstrumente zur emotionalen Selbstwahrnehmung
  22. Vorzüge einer taktilen Ratingskala
  23. Die figürlich-taktile Antwortskala
  24. 4.10 Vom Ich zum Du zum Wir: Dialogische Einzel- und Gruppenarbeit
  25. 4.11 Lernen am Modell
  26. 4.12 Kommunikation und Teilhabe
  27. 5   Methoden einer Heilpädagogischen Kunsttherapie
  28. 5.1   Bildnerisches Gestalten
  29. 5.2   Plastisches Gestalten
  30. 5.3   Szenisches Gestalten
  31. 5.4   Rezeptive Methoden
  32. 5.5   Neue Medien im Kontext traditioneller Medien
  33. 5.6   Kreative Übungsprogramme
  34. 5.7   Multimodalität im kunsttherapeutischen Setting
  35. 5.8   Partizipation und Inklusion
  36. 6   Heilpädagogische Kunsttherapie als Förderung und Begleitung über die Lebensspanne
  37. 6.1   Die Bedeutung der Entwicklungsaufgaben in den Lebensphasen für die Förderung
  38. 6.2   Die Vielfalt der Sinne
  39. Der Hörsinn
  40. Der Tastsinn
  41. Der Gesichts- oder Sehsinn
  42. Der Geschmackssinn
  43. Der Geruchssinn
  44. Der Gleichgewichtssinn
  45. Der Eigenbewegungssinn oder Kinästhesie
  46. 6.3   Exemplarische Übungsaufgaben zur Förderung von Sinnesmodalitäten
  47. 7   Anwendungsfelder Heilpädagogischer Kunsttherapie
  48. 7.1   Heilpädagogische Kunsttherapie in pädagogischen und sozialen Feldern
  49. Heilpädagogische Kunsttherapie in der Frühförderung
  50. Heilpädagogische Kunsttherapie in der Schule
  51. Heilpädagogische Kunsttherapie mit Kindern und Jugendlichen im ambulanten Bereich
  52. Heilpädagogische Kunsttherapie und Inklusion mit beeinträchtigten Menschen
  53. Heilpädagogische Kunsttherapie im Museum
  54. 7.2   Heilpädagogische Kunsttherapie in klinischen Kontexten
  55. Heilpädagogische Kunsttherapie in der Psychiatrie
  56. Heilpädagogische Kunsttherapie in der Psychosomatik
  57. Heilpädagogische Kunsttherapie in der Onkologie
  58. Heilpädagogische Kunsttherapie in der Rehabilitation
  59. Heilpädagogische Kunsttherapie in der Geriatrie
  60. Heilpädagogische Kunsttherapie in der Palliativmedizin
  61. 7.3   Heilpädagogische Kunsttherapie als besondere Unterstützung
  62. Heilpädagogische Kunsttherapie in Krisensituationen
  63. Heilpädagogische Kunsttherapie in Wohn- und Pflegeheimen
  64. 8   Konzeptionelle methodische Zugänge unter dem Aspekt der heilpädagogischen Förderung in der Kunsttherapie
  65. 8.1   Selbstexploration
  66. Imaginäre Briefe
  67. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
  68. Der Wohlfühl-Ort
  69. Tagtraumimagination
  70. Sandspiel
  71. 8.2   Kommunikative Kompetenz
  72. Spiel mit Kugeln
  73. Dialogisches Spiel
  74. 8.3   Gestaltung kommunikativer Räume
  75. »TIE IT« (Schnürkunst)
  76. »TAPE IT« (Klebebandkunst)
  77. Graffiti
  78. 8.4   Körpererleben und Gestaltungsprozesse
  79. Plastisches Gestalten zum Körperbild
  80. Geführtes Körperstellen
  81. Das Porträt
  82. Das Körperbild
  83. Formenzeichnen
  84. 8.5   Natur- und Umwelterfahrung
  85. Gestalten mit Natur(-Material)
  86. Gestalten in der Natur
  87. Gestalten mit Upcycling-Materialien
  88. 9   Ausblick
  89. Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
  90. Abbildungen
  91. Schematische Darstellungen
  92. Tabellen
  93. Literaturverzeichnis

Einleitung

 

 

 

Mit diesem Band zur Heilpädagogischen Kunsttherapie wird auf eine Verknüpfung der Kunsttherapie mit heilpädagogischen Förderansätzen Bezug genommen. Die Verwendung bildnerischer Mittel als eine Möglichkeit des therapeutischen Zugangs und einer ganzheitlichen ästhetischen Förderung hat seit dem 20. Jahrhundert verschiedene Facetten getragen, einerseits ausgehend von der Kunst und der Kunstgeschichte und andererseits inspiriert und geprägt durch die großen Schulen der Psychotherapie. Die Praxis der Heilpädagogik/Inclusive Education ist darauf ausgerichtet, Menschen mit Exklusionsrisiken in ihrem sozialen Umfeld kompetent zu beraten, zu bilden, zu begleiten und zu fördern. Unter den aktuellen Anforderungen des 21. Jahrhunderts versteht sich die Heilpädagogik/Inclusive Education als Menschenrechtsprofession, die zur Realisierung von Selbstbestimmung, Menschenwürde und Teilhabechancen von Menschen mit Beeinträchtigungen beiträgt. Besonderes Augenmerk hat dabei, die Gefährdungen und Barrieren der Inklusion und Partizipation zu erkennen und abzubauen und die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe zu erweitern. Bildnerischem objektbezogenem Handeln mittels Materialien und Medien kommt hier eine besondere Aufgabe zu. Gerade bildnerische Prozesse eignen sich besonders, Zwischenräume und Hürden zwischen der Welt und dem Selbst als Phänomen wahrzunehmen. Auf der Basis eines vertrauensvollen, mitfühlenden Bezugsrahmens, der Verlässlichkeit des Materials und Annahme der sensomotorischen Möglichkeiten des Schaffenden können Zugänge zur Welt entdeckt und konkretisiert werden. Gestaltungsprozesse können dabei eine Spannbreite von differenziert und undifferenziert, gestaltet und ungestaltet, geformt und nicht geformt usw. umfassen. Seelische, geistige und körperliche Beeinträchtigungen gehen daher nicht selten mit einer geänderten Wahrnehmung sowie eingeschränkten sensomotorischen Fertigkeiten einher und bergen die Gefahr der eingeschränkten Weltaneignungsmöglichkeiten. Die Herausforderung für kunstbasiert begleitendende Heilpädagogen*innen ist es, an dieser Stelle unüblichen und ungewohnten Zugängen gegenüber offen zu sein, diese nachvollziehen und als neue Möglichkeitsräume nutzen zu können. Selbst mit allen Sinnen dabei sein; Hauptsache Nebensachen nicht übersehen wie Pausen, Blickrichtungen, Atmung, Schnipsel. Aus jedem dieser beispielhaften Parameter kann sich ein Zugang ergeben. Kunst impliziert per se die Frage nach dem, was zu tun ist. Es gibt dabei nie nur einen Weg, sondern viele, individuelle Antworten.

Der Aufbau des Buches gliedert sich einerseits nach theoretischen Grundlagen mit entsprechenden Praxisbelegen und andererseits nach exemplarischen methodischen Konzepten und Interventionen zur Heilpädagogischen Kunsttherapie anhand praxisorientierter Beispiele zur heilpädagogischen Förderung mittels des ästhetischen Ausdrucks. Einführend werden Verknüpfungen von Heilpädagogik und Kunsttherapie aufgezeigt, um dann den Ansatz der Heilpädagogischen Kunsttherapie anhand von wesentlichen Aspekten exemplarisch zu verdeutlichen. In dem Zusammenhang werden Methoden einer Heilpädagogischen Kunsttherapie bezogen auf die Verwendung von spezifischen Materialien und unterschiedlichen Medien vorgestellt. In der Differenzierung der Breite von methodischen Einsatzformen werden anhand schematischer Modelle Bereiche wie beispielsweise des Bildnerischen, Plastischen, Szenischen, Rezeptiven, aber auch der Verwendung neuer Medien u. a. voneinander abgegrenzt und in der Verwendung im kunsttherapeutischen Setting umrissen. Im Vordergrund steht dabei eine Multimedialität in der heilpädagogischen Förderung mittels spielerisch verwendbarer Materialien bezogen auf die besonderen Bedürfnisse der Klientel.

Die Thematisierung von Heilpädagogischer Kunsttherapie als Förderung und Begleitung über die Lebensspanne stellt einen wichtigen Gesichtspunkt der methodischen Intervention dar. In der exemplarischen Darlegung von unterschiedlichen Anwendungsfeldern Heilpädagogischer Kunsttherapie werden zudem praktische Anwendungsformen praxisorientiert vorgestellt, um das breite Einsatzfeld einer Heilpädagogischen Kunsttherapie aufzuzeigen. Seit den frühen Anfängen zur Ausbildung von Kunsttherapeut*innen in Deutschland Ende der 1970er Jahre hat sich ein breites Feld der Einbeziehung kunsttherapeutischen Arbeitens ergeben. Im Folgenden soll dies erweitert werden bezogen auf heilpädagogische Einsatzbereiche. Es betrifft sowohl pädagogische und soziale Felder als auch klinische sowie besondere Unterstützungsbereiche in übergreifenden Kontexten. Dabei handelt es sich um eine exemplarische Auswahl angesichts der Vielschichtigkeit sich eröffnender Einsatzbereiche.

Im praxisorientierten Teil, der methodische Vorgehensweisen heilpädagogischer Förderung in der Kunsttherapie behandelt, werden verschiedene Interventionsformen bezogen auf die Materialverwendung, die Vorgehensweise und Aspekte heilpädagogischer Förderung beispielhaft dargelegt. In der Hinsicht geht es auch um Angebotsformen sowohl über die Lebensspanne als auch um Möglichkeiten, ästhetische Handlungsformen für die heilpädagogische Förderung sinnvoll einzubeziehen. Mit dem Ausblick soll dieser Aspekt der Beziehung kunsttherapeutischen Handelns zu heilpädagogischen Arbeitsfeldern nochmals erörtert werden. Es beinhaltet auch eine Erweiterung des Berufsfeldes bezogen auf eine Heilpädagogische Kunsttherapie und eine Gewichtung der Sinnhaftigkeit im Kontext von Teilhabe und Inklusion.

Alle eingefügten Fallbeispiele sind eigenen Praxisfeldern entnommen und anonymisiert dargestellt. Zudem werden im praxisorientierten Teil eigene Konzepte bzw. Weiterentwicklungen exemplarisch vorgestellt.

1          Heilpädagogik und Inklusion

 

 

 

Der Begriff der Heilpädagogik ist ein tradierter Begriff und leitet sich mit der Vorsilbe »Heil« aus dem griechischen »holos« ab, was so viel wie »ganz« bedeutet. Das »Heil« im Wort Heilpädagogik ist also nicht auf Heilen im medizinischen Sinne bezogen, sondern auf eine ganzheitliche Betrachtung, Behandlung und Integration des Menschen. Dieser Aspekt eines vielschichtigen, umfassenden Verständnisses zu Problembereichen und Störungen macht deutlich, dass keine Spezialisierung in der Heilpädagogik angestrebt wird. Vielmehr handelt es sich um eine Vernetzung mit verschiedenen Disziplinen, die in das Arbeitsgebiet eingebunden sind. In dem Zusammenhang kann auf Jean-Marc Gaspard Itard (1774–1838), einen historischen Vertreter des Vorläufers der Heil- und Sonderpädagogik, verwiesen werden, mit seinen Ausführungen:

»Nur im Rahmen der Gemeinschaft kann der Mensch die große Aufgabe, die ihm von der Natur zugedacht wurde, erfüllen, und ohne die Zivilisation wäre er eines der schwächsten und unbegabtesten Lebewesen« (Itard 1967, S. 17).

Zu den Begründern der Heilpädagogik gehören auch Jan-Daniel Georgens (1823–1886) und Heinrich Marianus Deinhardt (1821–1880) mit ihrem zweibändigen Werk »Die Heilpädagogik mit besonderer Berücksichtigung der Idiotie und der Idiotenanstalten« (Georgens & Deinhardt 1861/1979). Georgens war ein deutscher Pädagoge, Arzt und Mitbegründer einer Schule für lernschwache Kinder, genauer: der Heilpflege- und Erziehungsanstalt Levana in Baden bei Wien, die er bis 1866 leitete. Ab 1868 lebte er in Berlin und veröffentlichte zahlreiche Schriften zur Heil- und Sonderpädagogik. Bis in das 20. Jahrhundert wurden Heil- und Sonderpädagogik eher als medizinische und weniger als pädagogische Disziplin betrachtet. Dies änderte sich erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts, indem die Heilpädagogik sich eindeutig als pädagogische Disziplin durchsetzte mit entsprechenden fachrichtungsbedingten pädagogischen Ausrichtungen. Heutzutage wird Heilpädagogik als eine wissenschaftliche Disziplin der Pädagogik verstanden und ist in der Theorie und Praxis auf Menschen bezogen, deren Entwicklung allgemein unter erschwerten Bedingungen verläuft wie beispielsweise bezogen auf soziale, psychische und physische Faktoren (vgl. Eitle 2012, S. 10 ff.). Das betrifft die gesamte Lebensspanne unter der Einbeziehung heilpädagogischer Handlungskonzepte für Menschen mit Beeinträchtigungen und folgt einem biopsychosozialen Ansatz nach der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF).

Im Hinblick auf die UN-Behindertenrechtskonvention geht es um die Ermöglichung von Teilhabe und Inklusion in gesellschaftlichen Lebensbezügen (vgl. Schuhmann 2017). Mit der Ratifizierung der Konvention 2009 in Deutschland ist dieses Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung verbindlich in Kraft getreten und bedarf entsprechender Umsetzungsformen in gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen wie Bildungs-, Arbeits-, Wohn- und Kulturbereichen. Es beinhaltet in der Hinsicht neue Herausforderungen in der Veränderung von bestehenden institutionellen Vorgaben. In der heilpädagogischen Arbeit gilt es sowohl den von Beeinträchtigung betroffenen Menschen einzubeziehen als auch das Bezugsfeld bezogen auf personelle Kompetenzen und räumliche Gegebenheiten mit zu gestalten. Am 13. Mai 2011 stand der UN-Jahreskongress in Larnaca unter dem Motto »Neue Wege der Inklusion«. Demzufolge wird die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens für Menschen mit geistiger und körperlicher Beeinträchtigung angestrebt. Es umfasst ein Verständnis von Einbeziehung, Eingeschlossenheit, Dazugehörigkeit, das sich dem Gesetz vom 11. Februar 2005 anschließt und eine erweiterte Teilnahme im Sinne einer nationalen Einbettung der UN-Konvention zu Rechten von Menschen mit Behinderungen fordert. Dies zeigt sich auch im Vorwort des Berichtes der World Health Organization (WHO) von Stephen W. Hawking (WHO 2011, S. 3).

»We have a moral duty to remove the barriers to participation, and to invest sufficient funding and expertise to unlock the vast potential of people with disabilities. Governments throughout the world can no longer overlook the hundreds of millions of people with disabilities who are denied access to health, rehabilitation, support, education and employment, and never get the chance to shine.«

Heilpädagogik als wissenschaftliche Disziplin steht bezogen auf Theorie- und Praxisfelder vor neuen Herausforderungen bzw. vermag angedachte Konzepte mit Nachdruck zu vertreten. Dies betrifft auch die Heilpädagogische Kunsttherapie mit der Nutzung der Brückenfunktion des Ästhetischen und Gestalterischen in der Wahrnehmung sinnlicher Wirklichkeitsaneignung.

2          Zur Brückenfunktion des ästhetischen Gestaltens

 

 

 

Im Rahmen der Documenta 5 in Kassel 1972 zum Thema »Befragung der Realität, Bildwelten heute« (vgl. Szeemann 1972) waren beispielsweise auch künstlerische Produktionen schizophrener Menschen zu sehen, während 1978 in der Ausstellung »Les singuliers de l’ART« verschiedenste Arbeiten der Außenseiterkunst im Musée d’Art Moderne (vgl. Page 1978) in Paris gezeigt wurden. Damit wurde ein Verständnis von einer kranken oder psychopathologischen Kunst bzw. ein Unterschied zwischen Kunst kranker und gesunder Menschen wiederholt in Frage gestellt. Vielmehr wurde Kunst und Krankheit in Anlehnung an Jean Dubuffet als zusammengehörend wahrgenommen bzw. es wurde nach Manfred Bleuler (1984), dem Schweizer Schizophrenieforscher, das ›Gesunde im Schizophrene‹ und das ›Schizophrene im Gesunden‹ gesehen.

In diesem Zusammenhang ist ein Blick zurück als auch nach vorn zur Brückenfunktion des Ästhetischen in der Wahrnehmung, Anerkennung und der Inklusion behinderter Menschen zu wagen. Erst seit den 1970er Jahren ist das ästhetische Lernen in der Arbeit mit geistig beeinträchtigten Menschen in der Verbindung mit therapeutischen Aspekten verstärkt thematisiert worden. In der Kombination von pädagogisch-therapeutischen Zielen wurden Projekte initiiert, die entwicklungspsychologische als auch sozialisatorische Momente berücksichtigten und derart einen ganzheitlich-integrativen Bezug in der Arbeit mit behinderten Menschen erstellten. In dem Zusammenhang kamen Ausstellungen künstlerischer Objekte von Menschen mit psychischen Störungen oder geistiger Beeinträchtigung zustande, die ein Interesse an ästhetischen Ausdrucksformen, einer Außenseiterkunst, in der Öffentlichkeit weckten. Dabei hatten Arbeiten von psychisch erkrankten Menschen im Vergleich zu ästhetischen Produktionen geistig behinderter Menschen mehr Beachtung in den Anfängen gefunden.

Über die verschiedensten europäischen Projekte wurde die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen positiv beeinflusst, wie folgende Darstellung exemplarisch aufzeigt:

•  Das Projekt »La Tinaia«, Centro di Attivitä Expression (vgl. Baumann 1991), ist 1975 als Insel der Normalität auf dem Gelände der psychiatrischen Klinik von Florenz entstanden und hat in Bezug auf die Antipsychiatrie-Bewegung ästhetische Projektvorhaben unterstützt.

•  Das »Haus der Künstler« ist auf dem Gelände des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg-Gugging 1981 entstanden unter der Leitung von Leo Narvratil (1965), der den Begriff einer zustandsgebundenen Kunst geprägt hat.

•  Das »Blaumeier-Atelier« in Bremen ist aus der Bewegung der »Blauen Karavane« von 1985 entstanden, und zwar in Verbindung mit dem »Marco Cavallo«, dem Blauen Pappmaché-Pferd von 1975 in Triest, als Symbol für die Träume von Freiheit und die Erneuerung der dortigen Psychiatrie. Es vertritt für psychisch erkrankte und geistig beeinträchtigte Menschen über Theaterspielen, Tanz, Musik und den bildnerischen Ausdruck einen inklusiven Ansatz in der Kulturarbeit (vgl. Blaumeier 1994).

•  Ein vergleichbares Projekt dieser Art mit geistig behinderten Menschen ist beispielsweise »CREAHM«, »Créativité et Handicap Mental«, in Belgien, dessen Ausrichtung die Förderung und Verbreitung von kreativen Gestaltungsformen und damit die Bestätigung des behinderten Menschen in seiner schöpferischen Tätigkeit im öffentlichen Bereich ist (vgl. ECS-EUCREA 1991).

•  Das »CCI« in Luxemburg (vgl. Centre Réadaption Capellen 1983; Cooperations asbl 1991) hat mit der Schaffung einer Gartenanlage in Kombination mit einer kreativen Werkstatt die Grundlage gelegt zu Etablierung einer institutionellen Einrichtung für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und Langzeitarbeitslose mit weiterführenden inklusiven Projekten.

•  Die »Kreative Werkstatt in der Anstalt Stetten« bietet seit 1966 geistig behinderten Menschen nach der Schulzeit noch die Möglichkeit, gleichwertig zur beruflichen Tätigkeit dem ästhetischen Ausdruckserleben nachgehen zu können. Sie hat mit Ausstellungen und Projektarbeiten im europäischen Raum eine breite Basis der Anerkennung und Unterstützung von Menschen mit geistiger und körperlicher Beeinträchtigung ermöglicht (vgl. Anstalt Stetten 1987).

•  Auch die »Schlumper« in Hamburg vertreten mit ihren Kunstprojekten das allgemein Menschliche im ästhetischen Ausdruck von geistig behinderten und nicht behinderten Menschen (vgl. Gerken & Eissing-Christophersen 2001).

•  Das »Kunsthaus Kannen« in Münster auf dem Gelände des Alexianer-Krankenhauses (vgl. 1993) hat neben der künstlerisch-therapeutischen Angeboten einen Ausstellungsort mit Archivierung der gestalteten Arbeiten geschaffen.

Mit der Gründung der europäischen Organisation »EUCREA« 1987 im Rahmen des 2. Europäischen Kolloquiums für Kreativität behinderter Menschen ist es zu einer Verankerung der Aufgabe gekommen, verschiedene Formen des kreativen Ausdrucks in den europäischen Mitgliedsstaaten zu fördern, um eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Eingliederung behinderter Menschen zu stützen. Entsprechend heißt es auch im Programm:

»Der Akt des künstlerischen Schaffens hat gleichsam eine Katalysatorfunktion für das Bewusstsein, das Denken und die Wahrnehmung der Welt und hilft die physischen und gefühlsmäßigen Schranken überwinden, die von einer individualistisch geprägten Gesellschaft ausgerichtet werden« (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1991, S. 3).

Für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und chronischer psychischer Erkrankung kann die Förderung des ästhetischen Ausdrucksvermögens eine wichtige Vehikelfunktion hinsichtlich einer Rehabilitation einnehmen. Die erzeugten Bilderwelten vermögen, einen Einblick in den Erlebnis- und Erfahrungshorizont der Menschen zu vermitteln und somit eine Kommunikationsbrücke zu schaffen, die sowohl ein ästhetisches Selbsterleben als auch eine Mitteilungsebene zum Anderen umfasst. Im übertragenen Sinne beinhaltet es eine ›Kunst zwischen Innen und Außen‹, eine Aktivierung des ästhetischen Ausdrucksvermögens, worüber sich eine Förderung der Selbstverwirklichung und der sozialen Bezogenheit initiieren lässt. Über das ästhetische Gestalten kann in Anlehnung an Martin Buber (vgl. Buber 1962.) ein »Werden in der Begegnung« wirksam werden, d. h. ein dialogisches Moment der Kontaktaufnahme und der Kommunikation. Diese Brückenfunktion vom »Ich zum Du« vermag Begegnungen auf verschiedenen Ebenen herzustellen und somit eine soziale Integration von behinderten Menschen zu stützen. In dem Beziehungsverhältnis von ästhetischem Selbsterleben und sozialer Interaktion tritt eine therapeutische Dimension hinzu, die soziale Handlungsfähigkeit fördert und somit eine Rehabilitation im sozialen Umfeld ermöglicht.

Mit der Herauslösung der ästhetischen Produkte von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung aus dem Bereich der Beschäftigungstherapie haben Ausstellungen wie »Wir haben Euch etwas zu sagen« im Bayerischen Nationalmuseum (1984) und die Wanderausstellung »Künstler aus Stetten« der Anstalt Stetten (1987) wichtige Zeichen gesetzt, um auch den geistig beeinträchtigten Menschen über seine ästhetischen Ausdrucksformen verändert wahrzunehmen und darüber zu integrieren. Dies hat viele Institutionen bestärkt, das Angebot im ästhetischen Bereich auszuweiten oder als therapeutisches Mittel neu einzubinden. So waren es Anliegen der museumspädagogischen Projektarbeit am Übersee-Museum Bremen in der inklusiven Arbeit, beispielsweise

•  Kommunikationsbrücken zwischen Menschen mit geistiger Behinderung und ohne zu schaffen,

•  den ästhetischen Erlebnishorizont zu erweitern,

•  rhythmisch-motorische Beweglichkeit zu unterstützen,

•  zum gestalterischen Ausdruck zu befähigen,

•  kulturelle Lebensformen einer anderen Kultur zu erfassen (vgl. Döhner & Hampe 1992, S. 16).

Der ästhetischen Gestaltung mittels Bild-, Plastik-, Musik- und Spielformen ist dabei eine kommunikative Funktion im Aufbau menschlicher Beziehungen zugestanden worden.

Inklusion im Sinne der Teilhabe kann über den ästhetischen Ausdruck besonders gefördert werden. Das Ästhetische schafft eine Brücke im Verstehen des Anderen und im Miteinander eines gegenseitigen Austausches. Dabei geht es um die Einbeziehung eines salutogenetischen Ansatzes bezogen auf Verstehbarkeit, Selbstwirksamkeit und Sinnhaftigkeit. Die Etablierung von Projekten aus der Anfangszeit der 1970er Jahre macht deutlich, wie das ästhetische Gestalten eine Mittlerfunktion einzunehmen vermochte, um eine Wahrnehmung und Achtung des behinderten Menschen auf besondere Weise zu unterstützen. Dies geht auch einher mit einer Förderung und Integration des behinderten Menschen als aktiven Partner im gesellschaftlichen Raum. Interaktion, Kommunikation und Partizipation nehmen dabei Schlüsselfunktionen ein. Die verstärkte Etablierung der innovativen Projektarbeiten der Anfangszeit in stabilen institutionellen Einbindungen macht deutlich, wie über das Ästhetische eine Akzeptanz und vollwertige Einbeziehung des behinderten Menschen im sozialen Umfeld, auch mit einer geistigen Beeinträchtigung, möglich geworden ist und tatsächlich mit viel idealistischem Engagement Stolpersteine aus dem Weg geräumt werden konnten.

3          Heilpädagogische Kunsttherapie – ein gesondertes Förderkonzept

 

 

 

Die Verknüpfung der Heil- und Sonderpädagogik mit der Kunsttherapie hat seit Ende der 1970er Jahre verschiedene Ansätze hervorgebracht. So ist einerseits das pädagogisch-therapeutischen Konzept bezogen auf die unterrichtliche Praxis im Schulbereich und andererseits ein heilpädagogisches Förderkonzept unter Einbeziehung ästhetisch gestalterischer Medien zu beachten. Kunsttherapie betrifft also zum einen die sonderpädagogische Arbeit an Schulen und sonderpädagogischen Institutionen, wo sie in ein erweitertes Konzept kunstpädagogischer Arbeit einfließt bzw. didaktisch orientiert ist. In dem Zusammenhang werden aus historischer Sicht sowohl Ansätze aus der Musische Erziehung der 1960er und 1970er Jahre (vgl. Kossolapow 1975; Seidelmann et al. 1965; Seidenfaden 1966) als auch aus dem Ansatz des therapeutischen Kunstunterrichts mit der Herausstellung von Prozesszielen für die Anbahnung von sensomotorischen und semiotischen Funktionen oder die Einübung von kooperativen Verhaltensformen (vgl. Richter 1977, S. 51; 1984) mit einbezogen. Mit den Konzepten der ästhetischen Erziehung und ästhetischen Kommunikation zu Beginn der 1980er Jahre (vgl. Hartwig 1980; Maierhofer & Zacharias 1982) sind zugleich öffentliche Räume und kreative Begegnungsorte thematisiert worden in der Entwicklung kommunikativer Kompetenz und ästhetischer Gestaltungsräume. Dies beinhaltet Aspekte wie Subjekt- und Prozessorientiertheit, Ausdrucksfähigkeit, ästhetische Kommunikation, Problemlösungsverhalten u. a., die zur Initiierung anderer Lernprozesse beitragen sollten. Damit wurden die Grenzen von Lehrräumen gesprengt und Lebensräume außerhalb des schulischen Alltags einbezogen (vgl. Selle 1988). Zum anderen wurde mit der Thematisierung heilpädagogischer Förderansätze eine personenenzentrierte, verschiedenste Sinnesmodalitäten umfassende Stimulierung und stabilisierende Herangehensweise vertreten, die ressourcenorientiert und prospektiv Bearbeitungs- und Bewältigungsformen anbietet. Sie ist insbesondere auf Menschen mit Beeinträchtigungen körperlicher und/oder psychischer Art bezogen, d. h. mit Gehör-, Seh-, Körper-, Lern-, Verhaltens- und Sprachbeeinträchtigungen u. Ä. ausgerichtet. Im Hinblick auf die Forderung nach Inklusion und Partizipation bzw. Teilhabe sind heute dagegen neue Konzepte zu entwickeln und in gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen zu praktizieren.

In dem Zusammenhang gilt es bezogen auf Förderkonzepte folgende exemplarisch und modellartig aufgeführte Aspekte zu unterstützen ( Schema 1).

Mit seinen Veröffentlichungen hat Karl-Heinz Menzen (vgl. 1994; 2009; 2013; 2017) weitere Akzente zur Verbindung von Heilpädagogik und Kunsttherapie gesetzt bzw. Kunsttherapie allgemein bezogen auf einen heilpädagogischen Förderansatz reflektiert. Damit wird eine Beziehung zu psychosozialen und pädagogischen

Schema 1: Modell Heilpädagogischer Kunsttherapie

Arbeitsfeldern deutlich gemacht, die als Berufsbild eine Eigenständigkeit wahren. Die Nähe der Kunsttherapie zur Heilpädagogik eröffnet Arbeitsfelder, für die spezifische Qualifikationen aus der heilpädagogischen Theorie- und Praxisbildung erforderlich sind. Diese Verbindung im Rahmen des Studiums mit zu verankern und berufspolitisch anzuerkennen, ermöglicht eine grundlegende Einbeziehung in beruflich anerkannte Arbeitsfelder der Heilpädagogik. Für diese sich stets erweiternden Arbeitsfelder sind kunsttherapeutische Förderkonzepte zu entwickeln und zu vermitteln. Gerade bezogen auf die Umsetzung der Forderung nach Inklusion und Partizipation bedarf es entsprechend der angestrebten operativen Umsetzung im Index für Inklusion (vgl. Vaugahn 2003) – d. h. inklusive Kulturen schaffen, inklusive Strukturen etablieren und inklusive Praktiken entwickeln – einer Einbeziehung von Angeboten und Tätigkeitsfeldern, die dies unterstützen und Türen öffnen. In dem Zusammenhang sind sowohl spezifische Aspekte, die eine Heilpädagogische Kunsttherapie auszeichnen können, zu erörtern als auch die Darlegung von Arbeitsfeldern.

4          Grundlagen einer Heilpädagogischen Kunsttherapie

 

 

 

Allgemein ist Heilpädagogische Kunsttherapie als ein vielschichtiges Feld der ästhetisch-gestalterischen Praxis zu verstehen und basiert auf Förderaspekten in der ästhetischen Ausdrucksfindung. Es kann unterschieden werden zwischen produktiven und rezeptiven Zugängen, die einander ergänzen oder als eigenständige Verfahren für sich stehen können. Abhängig von der Klientel und den individuellen, psychosozialen als auch physischen Kompetenzen ist eine methodische Kombination von Verfahren möglich. Die ästhetische Praxis lebt aus ihren Tätigkeitsfeldern, dem unmittelbaren Handeln in Erlebenszusammenhängen wie dem Resonanzerleben in Gestaltungsprozessen. Diese Stimulanz basiert auf Eigensinn und ist in ihrem projektiven Gehalt vielfältig, da sie uneindeutig und unabgeschlossen im gefühlsmäßigen Erleben bleibt.

4.1       Parameter des bildnerischen Gestaltens

Im Folgenden soll auf die Aspekte von Rahmen, Zeit, Ort, Container, Material und Licht als wesentliche Parameter des bildnerischen/plastischen Gestaltens exemplarisch Bezug genommen werden. So ist es der Rahmen, der der Kunsttherapie in der Heilpädagogik eine verlässliche Grundlage zur gemeinsamen Orientierung gibt. In der Wirtschaft spricht man beispielsweise von Rahmenbedingungen, um die Anliegen beider Seiten zu berücksichtigen und abzusichern. In kunsttherapeutischen sowie in heilpädagogischen Zusammenhängen gilt dies nicht nur hinsichtlich der formalen, sondern auch spezifisch medialer und psychologischer Aspekte. Bei Betrachtung der formalen Ebene wäre zunächst der Kontext des gemeinsamen Arbeitens bezogen auf Ort, Zeit, Dauer, Zielsetzung sowie besonderer personeller, medialer als auch situativer Bedingungen zu klären. Möglicherweise sind kontextbezogen auch schriftliche Schweigepflicht- oder Einverständniserklärungen zu regeln. Wenn diesbezüglich Klarheit geschaffen und der entsprechende formelle Rahmen abgesteckt ist, kann auch der Rahmen für die Begegnung kreiert werden.

Wir bewegen uns tagtäglich in unterschiedlichsten Bezugsrahmen mit den entsprechenden Bedingungen. Ob Schule, Arbeitsplatz, Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen, Gesellschaft und Kultur – alle Bereiche obliegen ihren spezifischen Rahmen, an die wir uns anpassen und die wir fließend wechseln und verinnerlicht haben. Wir reagieren auf einen feierlichen Rahmen sowohl angemessen gekleidet als auch mit passender Stimmung, um im Rahmen zu bleiben und nicht aus dem Rahmen zu fallen (vgl. Dannecker 2015, S. 166). Rahmengebende Fassungen von digitalen Endgeräten, wie Bildschirm, Tablet, Smartphone und Fernseher geben informeller Vielfalt einen Rahmen und begrenzen Informations- und Bilderfluten. Der taktile Kontakt zum Rahmen eines Smartphones ist vielen von uns selbstverständlich geworden, ist handlich und handhabbar. Das iPhone, seit es 2007 auf dem Markt kam, und dessen Rahmenmaße sind seitdem vielfältig variiert worden, um Handhabbarkeit, taktile Organisation und Tragbarkeit zu optimieren. Zollgrößen von Bildschirmen und Oberflächen, sowie genormte Din-Größen von Papieren sind nicht nur Anhaltspunkte für die industrielle Fertigung derselben, sondern bestimmend für den Rahmen sowohl für bildnerische Rezeption als auch bildnerische Produktion. 

Eine Ausstellung im Palais Lichtenstein in Wien mit dem Titel »Halt und Zierde. Das Bild und sein Rahmen« von 2009/2010 widmete sich ganz und gar dem Rahmen in der Kunst. Sie umfasste eine Retrospektive vom 15. Jahrhundert bis in die heutige Zeit. Vom vergoldeten, prachtvoll geschnitzten Rahmen bis zum völligen Verzicht auf denselben wurde in diesem Kontext die Frage nach Begrenzung und Grenzenlosigkeit beleuchtet. Rahmen bedeutet Grenze zwischen Architektur und Kunst. Selbst die Bearbeitung von der Außenkante eines Keilrahmens wirft die Frage nach Abstand, Trennung und Berührungspunkt zwischen Kunst und umgebender Architektur auf. Der Rahmen gilt als Trennung, Übergang oder gestaltete Grenze.

Die Geschichte »Palast der Erinnerungen« von Debra Dean (2007) regt dazu an, den Rahmen unter dem Aspekt von Erinnerung und Imagination zu betrachten. Rahmen und Silhouetten real nicht mehr vorhandener Gemälde können hinreichend sein, um diese und aus dem Gedächtnis abrufen zu können. So werden beispielsweise Meisterwerke, die vor dem Krieg an den Wänden der Leningrader Eremitage hingen, vor dem geistigen Auge der Protagonistin Marina, einer jungen Museumsführerin, wieder sichtbar. Im Winter 1944 ist Marina allein, um das inzwischen leere Museum zu beaufsichtigen. Alle Gemälde sind abgehängt und zum Schutz an einem sicheren Ort untergebracht. Das Leben ist geprägt von Angst, Hunger, Not und Verzweiflung. Doch die Protagonistin hat ihren eigenen Weg gefunden, das Elend zu ertragen: Sie geht von Saal zu Saal und erinnert sich, allein durch die durch staub entstandenen Silhouetten, an die Meisterwerke, die vor dem Krieg dort hingen und die sie den Besucher*innen nähergebracht hat. Die minimalistischen, visuellen Strukturen, rahmengebende Hell-Dunkel-Kontraste reichen aus, dass ihr Gedächtnis für das geistige Auge anmutige Gesten, betörende Farben, die Strahlkraft des Lichts reproduzieren kann. So werden in der Geschichte des Romans durch die ›Rahmungen‹ in Marina sowohl die Werke als auch der museale Ort wieder lebendig. 

Vergleichbar damit sind die Strukturen an den Wänden eines Ateliers nach dem Konzept von Arno Stern ( Abb. 1).

Abb. 1: Atelierwand mit Rahmensilhouetten, Gouachefarbe

»Wenn kein Blatt mehr an der Wand hängt, ist der Raum wieder bereit, eine neue Gruppe aufzunehmen. Leer scheint er nie, denn die schimmernden Farbspuren auf seinen vier Wänden sind der endlose Widerhall des Erlebten in so vielen Gemütern« (Stern 1998, S. 47).

Die Farbspuren an den Wänden repräsentieren die Verdichtung malerischer Rahmen, unzählige Wechselspiele von Hoch- und Querformaten, malerisch bearbeitet von kleinen und großen Malenden. Der Raum ist fünfeinhalb Meter lang, vier Meter breit und drei Meter hoch, vier Wände, in der Mitte des Raumes ein zwei Meter langer Palettentisch mit 18 Farben. Neben jeder Farbe liegen zwei Pinsel einsatzbereit. Es gibt keine Fenster, die den Blick nach außen lenken könnten. Ein mit Kunstlicht beleuchtetes Labor mag der Nicht-Kennende meinen. Es wird auf weißem Offsetpapier gearbeitet, 70 auf 50 Zentimeter groß. Grundsätzlich wird im Stehen gearbeitet in einer altersgemischten Gruppe von 12 bis 15 Malenden, alle tragen Malkittel. Die Malenden werden bei Bedarf mit Wasser versorgt oder beim Anheften des Blattes und beim Versetzten der Reißnägel unterstützt. Die begleitende, im Sinne von Arno Stern »dienende« Person (vgl. Stern 1998, S. 53) rät weder, noch korrigiert oder vergleicht sie. Der Ort ist immer gleich, der Kontext bzw. die Rahmenbedingungen sind schnell klar. Es wird 90 Minuten gearbeitet, einmal die Woche und im Idealfall zeitlebens. Jedes Werk wird verlässlich datiert und in Mappen archiviert und verbleibt am Malort. Die Repräsentanz der Schichtungen malerischer Rahmen auf den Wänden des Ateliers und die gleichbleibenden strukturellen Bedingungen sind gleich einem stabilen Rahmen, der verlässlich Konstanz hat. Dieser kann entweder die nötige Sicherheit bieten, sich auf einen eigenen Malprozess einlassen zu können, oder aber das Bedürfnis nach Weite, Offenheit, Unberührtheit, Unbegrenztheit wach werden zu lassen. Das weiße Blatt auf der mit Malspuren gefüllten Wand kann explizit diese Konfrontation mit diesen Bedürfnissen bedeuten. Vergleichbare rahmenbasierte Konzepte mit den plastischen Materialien Ton und Sand im Kontext der Heilpädagogik sind die Arbeit am Tonfeld von Heinz Deuser (vgl. Deuser 2004; 2016) und die Sandspieltherapie der Schweizer Psychotherapeutin Dora Kalff (1904–1990) (vgl. Kalff 2000). Bei diesen beider Methoden definiert der Rahmen einen mit Material gefüllten (Spiel-)Raum. Er fungiert dabei nicht nur als Kiste, um das Material aufzunehmen, sondern definiert ein visuell und haptisch wahrnehmbares Innen und Außen. Bei Kalff obliegt dabei die Größe von 72 auf 57 auf 7 oder 9 Zentimeter den Ausmaßen des menschlichen Blickfeldes (vgl. Kalff 2000), während sich bei Deuser das quadratische Maß eher zufällig ergab, da die erste Tonkiste aus einem ausgedienten kleinen Fensterrahmen entstand (Gespräch zwischen Heinz Deuser und Monika Wigger). Die Proportion passt sich hier der ungefähren Körperbreite eines Erwachsenen an, so dass der*die Klient*in am Rahmen Halt finden kann.

In der Kunst stellt sich aktuell die Frage, ob überhaupt ein Rahmen erforderlich ist. Bei einem modernen abstrakten Gemälde oder einer großformatigen Fotografie wird häufig sogar auf einen Rahmen verzichtet. Das mag damit zu tun haben, dass die Werke als autonome Objekte gesehen werden, der Übergang zur Umgebung/Realität direkt gewünscht ist, oder ein skizzenhafter Charakter einer Werkgruppe (Work in Progress) betont werden soll. Ein Rahmen wäre an dieser Stelle kontra-produktiv. Für die Kunsttherapie gilt aber nach wie vor zunächst einen Rahmen zu schaffen, um Autonomie zu ermöglichen und Ressourcen zu stärken. Somit ist der Rahmen als relevanter Parameter in diesem Kontext bedeutungsvoll.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Phänomen Zeit. Für jedes bildnerische Produkt ist das Phänomen der Zeit, in der es entstanden ist, an Mittel gebundene, also konservierte Zeit. Um ein Bild zu malen oder zu zeichnen, ein plastisches Objekt zu gestalten, ist es notwendig, sich Zeit zu nehmen. Das Zeitmaß, z. B. für ein Bild, im Vorhinein zu bestimmen, kann schwierig sein. Manche Gesten, Kleckse, spontane Spuren lassen sich in minutenschnelle auf das Blatt bannen, sind sozusagen synchron mit der Zeit, während komplexe bildnerische Techniken viele Arbeitsschritte und ein hohes Zeitkontingent erfordern, ehe sie zum Abschluss gebracht werden können. Die Zeit sollte in jedem Fall dem Bild angemessen sein. Der zeitliche Rahmen kann gleichzeitig Teil der kunsttherapeutischen Methode sein, z. B. bei der Methode Fünf-Minuten-Bilder oder Messpainting