Leuchtturmeltern

Inhaltsverzeichnis

Über Melanie Hubermann

Melanie Hubermann ist systemische Therapeutin für Familien-, Paar- und Einzeltherapie, New-Authority-Trainerin und Geschäftsführerin des ›balagan-Therapiezentrums‹. Die Mutter dreier Töchter lebt mit ihrer Familie in Berlin. In ihrer Praxis erlebt sie immer wieder kompetente und liebende Eltern, die verunsichert sind und sich hilfl os und allein fühlen. Melanie Hubermann gibt ihnen das Vertrauen in ihr Bauchgefühl zurück und praktische Tipps an die Hand.

Über das Buch

Türenknallen, Beschimpfungen, eisiges Schweigen: Eltern von pubertierenden Kindern kennen solche Situationen. Die Schule, »falsche« Freunde oder der Umgang mit dem Computer und den sozialen Medien sind typische Konfliktthemen. Wenn Eltern mit Unsicherheit oder Machtdemonstrationen reagieren, eskaliert die Lage nicht selten. Denn auch wenn Kinder und Jugendliche sich immer mehr abnabeln, brauchen sie Zuwendung und Sicherheit. Sonst können sie hippelig, aggressiv oder depressiv werden.

 

Die Familientherapeutin Melanie Hubermann hilft Müttern und Vätern dabei, die Leuchttürme im Leben ihrer Kinder zu sein: Fixpunkte, die verlässlich Orientierung geben. Sie folgt dabei dem Konzept der New Authority, das auf Stärke statt Macht setzt und Eltern vermittelt, wie sie schwierige Situationen meistern, ohne die Beziehung zu ihrem Kind zu gefährden. Dafür brauchen sie eine gute Bindung zu ihrem inneren Ich, denn nur wer weiß, wo er steht, wie es ihm geht und was ihm wichtig ist, kann Halt geben, klar kommunizieren und konsequent handeln. Melanie Hubermann erklärt, wie Eltern zu dieser Stärke finden, als Team zusammenarbeiten, ein Unterstützernetzwerk aufbauen und ihrem Nachwuchs auch bei hohem Wellengang liebevoll den Weg weisen.

Impressum

© 2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© Melanie Hubermann

Redaktion: Antje Steinhäuser

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung eines Motivs von plainpicture/HANDKE + NEU

 

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eBook-Herstellung Fotosatz Amann, Memmingen (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43841-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-28260-4

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website http://www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423438414

Für Celine, Camille und Chiara

Kapitel 1

Der Leuchtturm – Die Welt braucht starke Eltern!

Beates Tochter Maya ist wütend. Sie ist mit Freundinnen zum Schwimmen verabredet. Doch Beate hat ein Familiengrillfest geplant und Maya hat keine Lust darauf. Mit dreizehn gehören Familienevents nicht mehr zu ihren bevorzugten Freizeitaktivitäten. Also stampft Maya mit den Füßen auf, starrt ihre Mutter mit großen Augen an und sagt erst mal gar nichts. Beate redet auf sie ein, versucht, etwas auszuhandeln, aber Maya reagiert nicht. Dann schimpft sie vor sich hin, fühlt sich unverstanden, findet die ganze Familie doof und rennt in ihr Zimmer. Das Türenknallen ist der Schlussakt ihres Wutauftrittes.

Beate ist unsicher. Sie möchte ihre Tochter beim Familiengrillen dabeihaben. Aber sie versteht auch, dass Maya in einem Alter ist, in dem man sich immer mehr abnabelt, und dass dieser Prozess wichtig für ihre Entwicklung ist. Und natürlich möchte sie sie auch nicht von ihren Freundinnen isolieren. Je länger Beate über die Situation nachdenkt, desto wütender wird sie jedoch. Sie fühlt sich machtlos, missverstanden und allein. Ihre Gefühle schnüren Beate fast die Luft ab. Am liebsten würde sie mit aller Macht zeigen: Ich bestimme, was richtig ist. Und das geht nur laut. Sie geht zu Mayas Zimmer, reißt die Tür auf und brüllt, dass sie auf gar keinen Fall heute das Haus verlassen wird! Und nun eskaliert die Situation erst recht …

Szenen wie diese kennen viele Eltern, die Kinder im pubertären und vorpubertären Alter haben. Typische Konfliktthemen sind Schule, »falsche« Freunde oder die Nutzung von sozialen Medien. Und nicht selten reagieren Eltern mit Unsicherheit, Wut und Hilflosigkeit. Das Problem daran: Machtdemonstrationen bringen Eltern und Kinder auseinander. Sie verstehen sich nicht mehr und verlieren den Kontakt zueinander. Nicht selten münden solche Streitsituationen in aggressive Machtkämpfe, die einen Dialog unmöglich machen.

Im Umgang mit Konflikten gibt es verschiedene Strategien. Die Reaktionen, die ich oben geschildert habe, erinnern an den sogenannten autoritären Erziehungsstil: Das Kind wird durch Distanz, Furcht und Gehorsam von der Bezugsperson kontrolliert. Die Eltern stehen ganz oben auf der Hierarchieleiter und sind immun gegen Kritik, die Kinder stehen ganz unten. Und um sich durchzusetzen, verhängen die Eltern Strafen. Doch der Versuch, durch Machtausübung die Kontrolle wiederzugewinnen, erzeugt noch mehr Widerstand beim Kind. Wir Erwachsenen können nur unser eigenes Handeln, Denken und unsere Gefühle kontrollieren, nicht aber unsere Kinder!

Die antiautoritäre Erziehung wurde in den Siebzigerjahren als revolutionäres Gegenkonzept gefeiert. Sie setzte auf Begegnung, Offenheit, Freiheit, Ermutigung und Vertrauen. Man müsse das Kind nur tun lassen, was es wolle, dann werde es sein Potenzial schon entfalten. Elterliches Regulieren wurde verpönt. Die Ergebnisse zu diesem Erziehungskonzept sind ernüchternd. Seit den Achtzigerjahren ist wissenschaftlich gut belegt, dass die Kinder, die sich nach diesem Erziehungsmodell nie anpassen mussten, im Schnitt eine geringe Frustrationstoleranz und, je nach Temperament des Kindes, eine Tendenz zur Grenzüberschreitung oder zu ängstlich-depressivem Rückzug zeigen.

Das Dilemma unserer Generation besteht darin, dass wir Autorität, wie wir sie kennen und wie viele von uns sie gelernt haben, nicht mehr zur Anwendung bringen können und wollen. Andererseits hat sich auch die antiautoritäre Erziehung als schwierig erwiesen. Die althergebrachten Strategien taugen also nichts. Gleichzeitig sehe ich in meiner Arbeit als Familientherapeutin und auch als Mutter, dass das Aufgabenfeld von Eltern größer und herausfordernder geworden ist und dass die Ansprüche der Gesellschaft gestiegen sind – und die der Eltern an sich selbst.

In meiner Praxis in Berlin erlebe ich seit Jahren tagtäglich kompetente und liebende Eltern, die sich als völlige Versager sehen. Sie sind verunsichert, fühlen sich hilflos und allein. Es fehlt ihnen etwas ganz Grundsätzliches: Vertrauen in ihr Bauchgefühl, in ihren Instinkt und Unterstützung. Kein Wunder, wer heute Kinder großzieht, hat einen komplexen Job. Eltern sind Manager, Psychologen, Sozialarbeiter und Pädagogen, am besten auch noch Experten für Gesundheit, Sport und Ernährung. Kinder sollen sozial kompetent sein, neugierig auf die Welt, offen für Neues, eine eigene Meinung haben, reflektiert und selbstbewusst sein. Schon die Schulzeit verlangt neben dem normalen Lernstoff mehr Engagement, Praktika und klare Pläne für die Zukunft, Auslandsaufenthalte sind beinahe ein Muss geworden. Das Überangebot an Möglichkeiten überfordert sowohl Eltern als auch Jugendliche. Welche Eltern können beurteilen, welche Chancen ihr Kind mit einer bestimmten Ausbildung hat? Oder welches Studium richtig und sinnvoll ist? Gleichzeitig hat das Internet vieles verändert. Vorbilder sind heute Influencer und Blogger aus einer virtuellen Welt, in der sich viele Eltern nicht gut auskennen, und kommuniziert wird fast ausschließlich über Social Media.

Besonders knifflig wird es, wenn Kinder sich der Pubertät nähern und sich verstärkt abnabeln wollen. Natürlich entwickeln Kinder sich vom ersten Lebenstag an zu einem Individuum, das sich abgrenzt und eine eigene Persönlichkeit ausprägt. Aber während der Babyphase ist der Urinstinkt der Mutter stark ausgeprägt und die Anforderungen an das elterliche Handeln liegen klar auf der Hand. Zudem kann ein Baby nur in beschränktem Maße Entscheidungen fällen und Interessen, die über das archaische Versorgtwerden hinausgehen, äußern. Auch in der Kleinkindphase ist es für Eltern noch relativ leicht zu erkennen, wann die Kinder Unterstützung, Hilfe und Erklärungen brauchen und wann man die Kleinen ihre eigenen Erfahrungen machen lässt.

Ab dem Beginn der Vorpubertät, die sich zwischen acht und zehn Jahren anbahnt, wird es für Eltern schwieriger. Die Kinder beginnen, sich immer deutlicher abzugrenzen, die Familie erlebt mehr Diskussionen, Rückzug, Wut und Streit. Für die Eltern startet zum Teil ein sehr schmerzhafter Prozess. Oft erlebe ich die Eltern verzweifelt und ratlos in diesen Situationen. Dabei ist die Entwicklung ihres Kindes gesund. Durch die Suche nach einem neuen Erziehungsstil, der sich von Althergebrachtem unterscheidet, und der Unsicherheit, sich auf eigene natürliche Instinkte zu verlassen, haben viele noch nicht den passenden Weg für sich entdeckt, wie sie starke Eltern für eine herausfordernde Zeit sein können.

Auf der Suche nach einer Lösung kam mir folgendes Bild in den Sinn: Stellen sie sich einen Hafen ohne Leuchtturm vor, in dem also ein klarer, fester Orientierungspunkt fehlt. Das mag bei schönem Wetter einigermaßen funktionieren, aber wenn ein Sturm aufzieht, das Meer unruhig und der Himmel düster wird und die Wellen höher gehen, gibt es Probleme. Heimkehrende Boote können den Weg in den Hafen und zu ihrem Anlegeplatz nicht finden, auslaufende Schiffe stampfen ohne Sichthilfe aufs offene Meer hinaus und drohen in der rauen See verloren zu gehen.

Kinder sind wie Boote, sie brauchen Orientierung, einen Rahmen und klare Strukturen. Es ist völlig natürlich und in Ordnung, dass sie hinausziehen und die Welt entdecken wollen, aber dazu brauchen sie unsere Anleitung. Eine sichere Bindung zu ihren Eltern gibt ihnen Halt, starke Eltern zeigen ihnen den Weg durch ruhige wie unruhige Zeiten, sie sind der Leuchtturm im Leben ihrer Kinder. Wenn es diese Rahmenbedingungen nicht gibt, entsteht Chaos. Denn Orientierungslosigkeit und unklare Entscheidungen verunsichern das ganze Familiensystem. Kinder verlieren sich, können übertrieben laut, hippelig, aggressiv oder sogar depressiv werden, wenn sie sich bei ihren Eltern nicht sicher, nicht klar angeleitet fühlen.

Stellen Sie sich umgekehrt jetzt einen Hafen vor, in dem der Leuchtturm regelmäßig besetzt ist und jeder sich darauf verlassen kann, dass er zu festen Zeiten sein Licht über den Hafen und das offene Meer schweifen lässt. Jedes Boot, jedes Segelschiff hat seinen festen Anlegeplatz, findet jederzeit sicher in den Hafen und wieder hinaus, selbst wenn die See wieder rauer wird.

Wie kann es Eltern heute – mit all der Verunsicherung, die das Elternsein, aber auch die moderne Welt, die neuen Medien etc. mit sich bringen – gelingen, unverwüstliche Leuchttürme zu sein, mit einem festen Stand, einem guten Überblick, der Fähigkeit, Ordnung und Struktur zu geben und Grenzen zu setzen?

Auf meiner Suche nach neuen Methoden habe ich in Israel Idan Amiel kennengelernt. Er ist klinischer Psychologe und Direktor der psychologischen Elternberatungsstelle im Schneider-Kinderkrankenhaus, dem größten Kinderkrankenhaus des Nahen Ostens. Das spezialisierte Psychologenteam beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Phänomen »orientierungsloser Eltern«.

Denn auch in Israel ist die Modernisierung nicht spurlos an den Familien vorbeigegangen. Traditionell stellt die israelische Gesellschaft Kinder über alle Bedürfnisse. Kinder sind das Symbol für Leben und Überleben. Jedes Kind ist ein Geschenk und wird geliebt und gefördert, so, wie es ist. Die Gesellschaft formt sich um das Kind und nicht das Kind um die Gesellschaft. Aber das viele Arbeiten, die rasende Entwicklung der digitalen Welt und die ständige Angst um die Sicherheit der Kinder, ausgelöst durch die politische Situation, hat israelische Eltern ängstlich und unsicher gemacht. Sie scheuen sich davor, Grenzen zu setzen, und es fehlt an klaren Ansagen. Psychologen beobachten seit Jahren ansteigende Aggressivität von Kindern gegen ihre Eltern, Schuldistanzierung sowie Depressionen und Ängstlichkeit bei Kindern und Jugendlichen. Es brauchte eine Methode, die mit den Eltern arbeitet und diese stärkt.

Aus dieser Beobachtung heraus entwickelten die Psychologen einen nachhaltigen Lösungsansatz, der handlungsorientiert arbeitet und eine Haltung vermittelt. Das Konzept »New Authority« steht in der Tradition des gewaltfreien Widerstands und setzt auf Stärke statt Macht. Es basiert unter anderem auf der gewaltfreien Kommunikation und Forschungen zur Bindungstheorie und stellt die Beziehungsarbeit ins Zentrum. Die Idee: Beziehung entsteht durch Bindung und nicht durch Unterdrückung. Wir begegnen Kindern nicht mit Macht, sondern mit Stärke. Und wir können nur dann gute Eltern und eine funktionierende Familie sein, wenn wir uns unser Grundbedürfnis erfüllen: the need to belong. Jeder Mensch sucht seine Gruppe, zu der er gehört und die ihn unterstützt, nur so gelang es der Menschheit, zu überleben und sich rasant zu entwickeln.

Die Schlüsselwörter der »New Authority« lauten Präsenz, Orientierung und Beharrlichkeit. Gerade in Krisensituationen vermittelt das handlungsorientierte Konzept Eltern, Lehrern und Pädagogen, wie sie sich ihrer eigenen Regeln und Werte bewusst werden, wie sie eine wachsame Präsenz aufbauen, deeskalieren, Grenzen setzen und dem Kind eine respektvolle Orientierung bieten.

Um Eltern zu stärken, hat die New Authority ganz konkrete Techniken entwickelt. Es wird viel mit dem »Inneren Dialog« und der »Ankündigung« gearbeitet. Aber auch Transparenz, Beharrlichkeit und liebevolle Gesten spielen durchgehend eine wichtige Rolle.

Eine Besonderheit dieses Ansatzes: Die Psychologen sprechen nur mit den Eltern. Im Laufe der mehrwöchigen Beratung lernen sie die Kinder nie kennen. Für mich als Familientherapeutin, die auch gern einmal die komplette Familie in die Praxis einlädt, war das zu Anfang ein ungewohntes Setting. Und schließlich doch einleuchtend. Kinder sind häufig der Spiegel ihrer Eltern. Sie zeigen ihren Eltern über ihr Verhalten, dass gerade etwas schiefläuft oder zu viel ist. Die Eltern sind in der Verantwortung, das zu ändern. Dafür sollten sie an ihrer Haltung arbeiten, eine starke Präsenz ausstrahlen und gut im Kontakt mit sich und ihren Kindern sein. Wenn das gelingt, gelingt eine sichere Bindung für das Kind.

Inzwischen arbeite ich seit mehreren Jahren mit diesem Ansatz und habe damit tolle Erfolge mit Familien erzielt: die Mutter, die regelmäßig Auszeiten nimmt, der Vater von drei Kindern und Inhaber einer jungen Start-up-Firma, der sein Handy für eine Stunde zur Seite legt und seinen Kindern von seinem Tag erzählt, oder die Eltern, die es schaffen, ihre Tochter nach wochenlanger Schulabstinenz wieder in die Schule zu bekommen.

Meine Arbeit zeigt: Eltern brauchen an erster Stelle eine starke Bindung zu ihrem eigenen inneren Ich. Damit Eltern ihre Kinder gut begleiten können, müssen sie selber selbstbewusst und reflektiert sein. Freigeister brauchen klare Anleitungen und sichere Beziehungen! Sicherheit kann nur der vermitteln, der selbst sicher ist. Wenn wir wissen, wo wir gerade stehen, wie es uns geht und was uns wichtig ist, sind wir immer öfter in der Lage, sowohl uns als auch andere liebevoll und gelassen durchs Leben zu navigieren – wie ein Leuchtturm, der zuverlässig sein Licht über das Wasser wirft.

Wie dies gelingen kann, möchte ich in meinem Buch vermitteln. Dieses Buch hilft Eltern, ihr Bauchgefühl zu finden. Es vermittelt, wie Eltern in schwierigen Situationen gelassen handeln, ohne die Beziehung zu ihrem Kind zu gefährden. Und es zeigt Wege für die Beziehungsarbeit, wie wichtig Beharrlichkeit und wachsame Sorge für das Kind sind und dass Selbstfürsorge der Eltern entscheidend für eine Leichtigkeit im Familienalltag ist. Denn nur wenn der Leuchtturm auf festem Fundament steht, kann er dazu beitragen, dass die Schiffe sicher im Hafen beherbergt werden.

Kapitel 2

Elterliche Präsenz – Wo stehe ich?

Damit der elterliche Leuchtturm seine vielfältigen Aufgaben erfüllen kann, muss er zunächst einmal sichtbar sein und wahrgenommen werden. Denn wenn er blass und durchscheinend wie eine Fata Morgana am Hafenbecken steht, werden die Kinder ihn weder bemerken noch auf ihn achten.

Das Zauberwort lautet deshalb: Präsenz. Sie ist die elterliche Kernkompetenz und der Schlüssel für eine stabile Entwicklung in der Kindheit. Sie steht für Bindung, Interesse, Sicherheit und Erwartungen. Diese Erwartungen können dem Kind Grenzen setzen oder aber es in positiver Weise fordern, wie es das Kind aus eigenem Antrieb nicht tun würde und auch nur in seltenen Fällen tun könnte. Elterliche Präsenz, fest verankert im Alltag, entspannt viele Situationen. Wenn Präsenz zu einer stabilen Haltung entwickelt wird, kann sie die Bindung zum Kind vertiefen und formen, und wenn es dann einmal richtig darauf ankommt, bei einem großen Streit zum Beispiel, existiert ein Fundament, auf das Eltern und Kinder zurückgreifen können.

In der Psychologie und Kommunikationswissenschaft hat Präsenz eine Schlüsselposition. Sie ist extrem wichtig für die Weiterentwicklung unserer Persönlichkeit und wir brauchen sie in allen Lebensbereichen. Laut Duden bedeutet der Begriff »Anwesenheit« – und zwar auf zwei Ebenen, auf der körperlichen und auf der geistigen.

Geistige Anwesenheit heißt: Wir sind mit unseren Gedanken im Hier und Jetzt. Wenn ich mich zum Beispiel mit meinen Kindern über das Eichhörnchen im Garten unterhalte, schreibe ich währenddessen keine Nachrichten an meinen Geschäftspartner oder lese die Tageszeitung.

Körperliche Präsenz wiederum zeigt sich in einer selbstbewussten, sicheren oder auch charismatischen Ausstrahlung. Der Körper strahlt aus, was die Person fühlt und mitteilen möchte. Eine Haltung, die den Unterschied macht. Ob im Alltag, im Beruf, mit den Kindern – oder in der Schule: Kaum ein Lehrer möchte diese achte Klasse unterrichten, denn es herrscht Hormonalarm. Die Kinder quatschen, lärmen und schieben Stühle und Tische hin und her. Doch da ist dieser Kollege, der keine Angst vor der Klasse hat und sicher in sich ruht. Er betritt ohne zu zögern den Klassenraum. Sein aufrechter Gang, ein selbstsicherer Blick direkt auf die Schüler und ein »Guten Morgen« mit fester Stimme lassen die Jugendlichen sofort verstummen.

Warum ist Präsenz so wichtig?

Welche Auswirkungen es hat, wenn elterliche Präsenz fehlt, zeigt die Geschichte von Zoe und Leo. Die beiden sind Eltern von zwei Jungen. Zoe ist Anfang vierzig und arbeitet halbtags als Projektmanagerin in einer PR-Agentur. Sie ist eine attraktive, gepflegte Frau. Als wir uns zum ersten Mal in meiner Praxis treffen, wirkt sie müde und unsicher auf mich. Sie sitzt eingesunken im Sessel und spricht mit leiser Stimme. Leo, auch um die vierzig, ist Manager in einer Start-up-Firma. Er sitzt selbstbewusst da und wirkt, als wäre er auf dem Sprung. Er schaut während unseres Gespräches immer wieder auf die Uhr. Sein Handy liegt auf dem Beistelltisch – er sagt, er erwarte einen wichtigen Anruf. Leo ist deshalb hier, weil ich im Vorfeld auf dem Erscheinen beider Elternteile bestanden habe.

Als ich das Gespräch eröffne und frage, was die beiden brauchen, erzählen sie von ihren aufmüpfigen Söhnen, ihr Familienleben sei anstrengend und chaotisch. Ich bitte sie, sich für die schwierigste Situation am Tag zu entscheiden. Von dieser sollen sie mir genau erzählen und die werden wir heute gemeinsam verändern. Indem wir den Fokus auf nur eine Situation legen, konzentrieren wir uns nämlich auf die Schlüsselprobleme. Das Großartige ist: Wenn es Eltern gelingt, ihre Probleme in dieser einen konkreten Situation zu lösen, dann löst sich – wie beim Dominoeffekt – das Problemverhalten meist auch bei anderen Gelegenheiten.

Als besonders problematisch empfinden Zoe und Leo das Abendessen. Zoe beschreibt, wie sie nach einem anstrengenden Tag mit Arbeit, Haushalt und Hausaufgaben versucht, ihre zwölf- und dreizehnjährigen Söhne an den Tisch zu bekommen. Mit wenig Erfolg: Keiner von beiden bleibt sitzen, und wenn, dann nur, weil er mit seinem Handy beschäftigt ist. Die beiden kloppen sich ständig um Butter oder Brot und stehen auf, wann es ihnen gefällt. Da greift Leo in die Erzählung ein. Er komme von einem anstrengenden Arbeitstag spät nach Hause und freue sich auf einen ruhigen Abend mit der Familie. Doch zu Hause erwarte ihn ein einziges Chaos – wilde Jungs und eine aufgelöste Ehefrau. Er verstehe nicht, warum Zoe so überfordert sei, denn die Jungs würden immer auf ihn hören. Zoe versinkt noch tiefer im Sessel und beginnt zu schluchzen. Sie bemühe sich doch so sehr, das Familienessen gut vorzubereiten, aber die Jungs bräuchten schließlich auch ihre Aufmerksamkeit. »Du lässt ihnen zu viel durchgehen«, beschwert sich Leo und schaut dabei mal wieder auf sein Handy. Zoe weint nun und Leo muss mal schnell eine Nachricht beantworten.

So langsam verstehe ich, warum das Abendessen so chaotisch ist. Ich greife ein und bitte Leo, sein Handy auf lautlos zu stellen und wegzulegen. Denn ich glaube kaum, dass er mit dem Blick auf Telefon und Uhr präsent ist und wirklich für ein Gespräch zur Verfügung steht. Leo ist irritiert und Zoe hört auf zu weinen. Gut!

Mein erster Eindruck: Ich erlebe zwei Erwachsene, die überhaupt nicht anwesend sind. Zoe ist auf der körperlichen Ebene nicht präsent. Mit ihrer eingesunkenen Körperhaltung, dem auf den Boden gerichteten Blick und der leisen Stimme vermittelt sie Verunsicherung und Überforderung. Sie hat offenbar Angst, Fehler zu machen, empfindet ihren Mann als Konkurrenten, der es besser macht, und fühlt sich schuldig, weil sie viel arbeitet. An Leo zeigt sich wiederum, wie jemand zwar körperlicher präsent, aber auf der geistigen Ebene nicht anwesend sein kann. Die Art, wie Leo seine Frau rügt und seinem Handy den Vorzug gibt, lässt mich annehmen, dass er seine Frau nicht ernst nimmt. Durch seine abwehrende Körperhaltung und die dauernde Ablenkung durch das Telefon signalisiert Leo, dass er mit seinen Gedanken bei der Arbeit ist – und nicht im privaten Hier und Jetzt.

Um elterliche Präsenz zu erklären und fühlbar zu machen, brauche ich Eltern, die ein gemeinsames Ziel haben und interessiert und konzentriert daran arbeiten. Präsenz ohne Interesse geht nicht und die fordere ich in den nächsten Minuten der Beratung ein.

Punkt für Punkt beschreiben mir Zoe und Leo die Abendessensituation. Ich schreibe jeden Punkt mit genauer Uhrzeit auf ein Flipchart. Das soll uns später helfen, eine Struktur zu schaffen. Dabei stellt sich heraus, dass die Uhrzeit für das Abendessen sehr abhängig davon ist, wann Leo zu Hause ist. Meistens kommt er so knapp, dass er sich direkt an den Tisch setzt – mit dem Handy neben dem Teller, schließlich erwartet er noch ein paar wichtige Nachrichten. Auch Zoes Handy meldet sich immer mal wieder und muss schnell beantwortet werden. Der zwölfjährige Sohn daddelt noch auf seinem Tablet und der Dreizehnjährige muss noch schnell seine Storys auf Snapchat checken.

An dieser Stelle der Erzählung erkenne ich ein wiederkehrendes Muster. Ähnlich wie in der Beratungssituation sind Zoe und Leo auch beim Abendessen müde, abgelenkt und überfordert. Das Handy nimmt viel Raum ein. Die Eltern sind in Gedanken noch mit ihrer Arbeit beschäftigt. So entstehen kein Raum für Harmonie, Interesse am anderen oder Gespräche.

Die weitere Beschreibung des Abends bestätigt meinen Eindruck. Leo und Zoe haben ihre Sprösslinge den ganzen Tag nicht oder nicht in Ruhe gesehen, also geht das Eltern-Verhör los: »Wie war es in der Schule?«, »Hast du schon die Note in Mathe bekommen?«, »Was hast du heute gegessen?« Und die einsilbigen Antworten lauten: »Gut.«, »Hmmm.«, »Vergessen.« Die Jungs werden immer unruhiger und Leo und Zoe immer frustrierter. Sie beginnen, an ihren Jungs rumzunörgeln. »Sitz endlich ruhig!«, »Was ist denn jetzt mit Mathe, wir haben doch so viel gelernt.«, »Kannst du nicht einmal vernünftig essen?« Dann beginnen die Eltern, sich zu streiten: »Schimpf doch nicht immer gleich!« Die Jungs stehen irgendwann auf und verschwinden in ihren Zimmern. Der Abend ist für alle gelaufen.

Immerhin, auf die Frage, wie sie sich die Abendsituation wünschen würden, sind sich Zoe und Leo sofort einig. Das Abendessen ist der einzige Moment am Tag, an dem die Familie komplett ist. Es soll eine harmonische Gelegenheit sein, bei der alle zur Ruhe kommen und von ihrem Tag erzählen können.

Es beeindruckt mich, dass Leo und Zoe sich hier bei mir so sehr für eine positive Familienzeit einsetzen, und es tut mir leid, dass diese nur im Streit endet. Der Hauptgrund dafür ist, dass, obwohl alle körperlich anwesend sind, keiner präsent ist. Es ist, als ob der Leuchtturm nur eine Fata Morgana und nicht wirklich erkennbar ist. Die Jungs fühlen sich nicht zum Gespräch eingeladen und verstehen das Familienessen nicht als Fokussierung auf ihre Bedürfnisse, nämlich mit Mama und Papa Quality Time zu verbringen. Indem sie auf ihren Handys spielen oder miteinander streiten, spiegeln sie das Verhalten ihrer Eltern.

Das ist etwas, was ich sehr häufig beobachte: Wenn Eltern nicht präsent sind, fühlen sich die Kinder alleingelassen. Das kann dazu führen, dass alle Familienmitglieder nur noch nebeneinanderher leben und sich voneinander entfremden, bis hin zu gesteigerten Aggressionen und Situationen, in denen ein Dialog gar nicht mehr möglich ist. Kinder, die sich nicht gesehen fühlen, werden oftmals lauter und wütender.

Deshalb ist elterliche Präsenz so wichtig. Sie ermöglicht dem Kind einen sicheren Rahmen für seine Entwicklung. Im Idealfall entsteht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen individueller Selbstentfaltung und der Verankerung bei den Eltern. Wenn diese Verankerung nicht oder nur unzureichend vorhanden ist, besteht die Gefahr, dass das Kind sich nicht seinen altersgerechten Entwicklungsaufgaben zuwenden kann, sondern womöglich Funktionen erfüllen muss, die eigentlich Sache der Eltern sind.

Nicht präsente Eltern sind zum Beispiel oftmals überfordert, ängstlich oder überlastet und dadurch nicht in der Lage, den Alltag ruhig und souverän zu bewältigen. Nicht selten übernimmt dann das Kind die Verantwortung, wird zum »Kümmerer« und verliert seine kindliche Unbeschwertheit durch diesen Rollentausch. Das kann schlimmstenfalls zu Angststörungen führen. Bei ungeduldigen und lauten Eltern hingegen werden Kinder häufig selbst immer lauter und halten sich an keine Regeln. Oft sind das sehr wütende Kinder, denen es schwerfällt, sich selbst zu regulieren. Und dann erlebe ich Kinder, die sich komplett zurückziehen, sehr ruhig sind und womöglich »gut funktionieren«, um nicht zu einer weiteren Last zu werden. Diese Kinder können oft nur schwer ihre eigenen Emotionen benennen, spüren und wichtig nehmen.

Was hält uns davon ab, präsent zu sein?

Wenn ich Krisen in Familien vorgestellt bekomme, möchte ich als Erstes die Situation der Eltern verstehen. Ich frage mich, wie geht es diesen Eltern? Wie sehr stehen sie unter Druck? Was belastet sie womöglich?

Es gibt verschiedene Gründe, warum Eltern nicht präsent sind. Unser Alltag ist vollgepackt und schnelllebig, wir erledigen möglichst alles auf einmal und haben zugleich noch weitere hundert Dinge im Kopf. Auch die Tatsache, dass viele meinen, immer erreichbar sein zu müssen, lässt kurze Momente des sich Sortierens nicht mehr zu. Unsere vielen To-dos verstellen uns einen klaren Blick auf die Situation – ein Killer für unsere Präsenz.

Und auch der Anspruch, als Eltern oder im Job zu den Besten zu gehören, fordert seinen Preis. Wir denken, wir dürfen uns keine Schwäche erlauben – Scheitern ist etwas für andere. Wir glauben, ständige Erreichbarkeit müsse sein, um mithalten zu können. Und wir erlauben uns zu wenig Pausen – Pausen, die nicht mit Social Media gefüllt werden (das steigert nämlich unseren Stresslevel!), sondern Pausen, in denen wir faulenzen, »nichts tun« oder uns gar langweilen.

Ein weiterer entscheidender Grund, warum Eltern nicht präsent sind, kann auch die eigene Erziehung sein. Wenn unsere eigenen Eltern Stärke gefordert, Gefühle als Nebensache abgetan und Schwäche abgestraft haben, dann haben wir womöglich keinen guten Zugang zu unserer Gefühlswelt. Die Entwicklung unserer Identität, das Wissen darum, was das eigene Ich braucht, hat keinen Raum bekommen.

Die sechs Schlüssel zu mehr Präsenz

Das Tolle ist: Wenn wir uns als Eltern entscheiden, präsenter zu sein, dann ist das ein Geschenk an das eigene Ich und die eigene Zufriedenheit. Es bringt nicht nur Ruhe in die Familie, sondern auch in den beruflichen Alltag.

Die sechs wichtigsten Schlüssel für eine starke elterliche Präsenz möchte ich Ihnen im Folgenden kurz vorstellen – und im Anschluss Stück für Stück ausführlicher beleuchten:

 

  1. Klare Strukturen Damit meine ich Regeln, Rituale und festgelegte Abläufe, in die alle Familienmitglieder eingebunden werden. Strukturen helfen, Grenzen zu setzen. Sie sind vorhersehbar für Eltern und Kinder und geben Sicherheit während eines unruhigen Tages.

 

  1. Transparenz und Kommunikation Erzähl von dir und du bist authentisch. Authentizität ermöglicht tiefe Bindungen. Durchs Erzählen werden Eltern greifbar für ihre Kinder. Diese können sich in jenen wiedererkennen, Ähnlichkeiten finden und manches Handeln der Erwachsenen besser verstehen. Wenn wir unseren Kindern von unserem Alltag erzählen, unseren Erfahrungen und Gefühlen, lehren wir sie, wie man Gefühle benennen und mit ihnen umgehen kann. Und wir zeigen ihnen, dass man für Probleme Lösungen finden kann. Kommunikation ist also ein Werkzeug, dessen Gebrauch erlernt werden muss!

 

  1. Sich selbst spüren Der Stress, der tägliche Druck, alles gut schaffen zu müssen – es verschlägt einem den Atem. Man spürt sich nicht mehr, atmet nicht tief durch, spürt den eigenen Körper nicht mehr. Druck auf der Brust und Taubheit im Bauch sind meistens die Nebenwirkungen. Sich selbst spüren ist der Schlüssel für eine starke körperliche Präsenz.

 

  1. Klare Haltung und Werte Früher haben Religionen für Orientierung gesorgt, aber auch eine säkulare Gemeinschaft braucht Haltung und Werte. Besonders in einer Welt, die sich rasend schnell verändert. Haltung und Werte sind das Fundament, auf dem ich als Vater oder Mutter entscheide, was ich für mein Kind richtig oder falsch finde. Was ich neu verstehen und womöglich neu verhandeln muss. Eine klare Haltung und eigene Werte sind wie ein Gerüst, das meine körperliche und geistige Präsenz stützt – denn ich weiß, wer ich bin, wo ich stehe und was ich vermitteln möchte.

 

  1. Die Gefühle aus der Vergangenheit kennen Unsere Gefühle sind unsere schwierigsten Weggefährten und auch unsere ältesten Freunde. Sie wissen, wann wir sie brauchen. Oft dienen sie uns als Warnsignale. Im Umgang mit unseren Kindern, im familiären Kontext können sie uns im Weg stehen. Wenn alte Gefühle nicht erkannt und verstanden sind, verhindern sie im Heute eine klare Haltung und starke Präsenz.

 

  1. Informationen In einem Zeitalter des scheinbar nie endenden Informationsflusses und der ständigen Erneuerung von Regeln stehen wir oft hilflos davor und wissen nicht, was richtig oder falsch ist. Ist es richtig, dass meine Tochter ständig auf Instagram ihr Leben mit fünfhundert anderen teilt? Wie gehen andere Eltern damit um? Was muss ich wissen, um eine gute Entscheidung zu treffen? Sich zu trauen, auch mal andere zu fragen, wie sie mit Neuem umgehen, kann neue Sicherheit schaffen und die Präsenz stärken.

 

Wenden wir uns zunächst den organisatorischen respektive den nach außen gerichteten Schlüsselbegriffen eins, zwei und drei zu. Da die ersten drei Schlüssel nötig sind, um die anderen drei Schlüssel gut umsetzen zu können, widmen wir uns erst im nächsten Abschnitt den Schlüsselbegriffen vier, fünf und sechs.

Klare Strukturen für Leo und Zoe

Schauen wir uns den ersten Schlüsselbegriff auf unserer Liste an: Strukturen. Um zu verstehen, wie wichtig Strukturen für unsere Präsenz sind und wie man sie im Alltag etablieren kann, kehren wir zu Zoe und Leo zurück. Denn um ihre Probleme zu lösen, brauchen die beiden vor allem klare Regeln und Abläufe – auch für ein scheinbar schlichtes Abendessen.

Also notieren wir die zeitlichen Abläufe auf einem Flipchart:

 

17:00 Uhr

Ankunft Zoe und die Jungs

17:00 bis 18:30 Uhr

Hausaufgabenzeit mit Zoe

18:30 bis 19:00 Uhr

Zoe erledigt Wäsche etc., Jungs spielen

19:00 bis 19:30 Uhr

Zoe bereitet Abendessen vor

19:30 bis 20:00 Uhr

Ankunft Leo

19:30 bis 20:00 Uhr

Beginn des Abendessens

 

Das Flipchart zeigt: Der Beginn des Essens hängt jeden Abend in der Luft, weil nicht klar ist, wann Leo kommt. Für Zoe stellt sich immer die Frage: Warten wir oder starten wir? Dadurch verzögern sich die Abläufe und es kommen Unruhe und Unsicherheit ins Abendritual. Außerdem haben die Eltern in diesem Programm keine »Atempausen« für sich. Das ist der Grund, warum beide in Gedanken noch abgelenkt sind. Es gibt keine klare Grenze zwischen dem Familienleben und dem Arbeitsleben.

Zuerst handeln wir gemeinsam einen Zeitpunkt aus: zwei feste Abende in der Woche, an denen alle pünktlich am Esstisch sitzen müssen. An den anderen Abenden entscheidet Zoe über den Ablauf und muss keine Rücksicht auf Leo nehmen. Die verabredeten Abende werden fest in den Kalender geschrieben. Denn als fester Termin gewinnt das Familienessen an Wichtigkeit. An diesen beiden Abenden kommt Leo mindestens eine halbe Stunde früher nach Hause. Noch akut notwendige Telefongespräche oder E-Mails erledigt er, bevor er das Haus betritt.

Außerdem suchen wir Zeit für Pausen: eine halbe Stunde vor dem Abendessen, die Zoe und Leo für sich als Paar nutzen können, und eine halbe Stunde, in der die Jungs ohne Zoe Hausaufgaben machen, sodass Zoe ein paar Minuten auf dem Balkon, für die Zeitung oder einen Kaffee hat. Auch diese beiden Dates schreiben wir fest in den Ablauf. Als Nächstes muss klar sein, Essenszeit ist handyfreie Zeit! Leo und Zoe einigen sich auf einen bestimmten Platz, an dem alle Geräte während des Essens abgelegt werden. So entstehen zwei Ablaufpläne. Der eine legt die Abläufe für die gemeinsamen Abende mit Leo am Montag und Freitag fest und der andere Plan steht für die »Leo-freien« Abende.

Ich empfehle den beiden, diese beiden Abläufe zu fotografieren und für alle gut sichtbar in der Küche aufzuhängen:

 

Leo-freie Abende, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag:

17:00 Uhr

Ankunft Zoe und die Jungs

17:00 bis 18:30 Uhr

Hausaufgabenzeit, zum Teil mit Zoe

17:30 bis 18:00 Uhr

Zoes Moment

18:30 bis 19:00 Uhr

Zoe erledigt Wäsche etc., Jungs spielen

Ab 19:00 Uhr

Abendessen für die Jungs

Familienessen-Abende mit Leo, Montag und Freitag:

Zoe behält am Nachmittag den gleichen Ablauf bei, verzichtet aber auf Hausarbeiten wie z. B. die Wäsche

18:30 bis 19:00 Uhr

Zoe bereitet Abendessen vor

19:00 Uhr

Ankunft Leo

19:10 bis 19:30 Uhr

Date Zoe und Leo

19:30 bis 20:00 Uhr

Abendessen – Handy auf den Beistelltisch im Wohnzimmer

 

Bleibt festzuhalten: Es hilft Eltern sehr dabei, präsent zu sein, wenn sie sich Strukturen für die wichtigsten Bereiche im Alltag schaffen – sei es morgens beim Aufstehen und Frühstückmachen oder abends beim Zubettgehen. Doch sie müssen sich für Strukturen entscheiden, die sie auch tatsächlich für machbar halten. Und genauso wichtig sind feste Tage, an denen Eltern sich ihre Auszeiten für Sport, Freunde oder gemeinsame Dates nehmen. Tragen Sie diese Termine fest in Ihren Kalender ein! Diese Termine sind genauso wichtig wie die der Kinder.

Transparenz und Kommunikation bei Leo und Zoe

Schlüssel Nummer zwei für eine starke elterliche Präsenz lautet Kommunikation. Am Beispiel von Leo und Zoe: Wie schaffen die beiden es, in den abendlichen Gesprächen mit ihren Kindern präsent zu sein?

Zur Präsenz gehört eine fokussierte Aufmerksamkeit: Man muss sich richtig konzentrieren! Grundsätzlich gilt: Ich nehme mir bei einer Unterhaltung Zeit. Ich höre aktiv zu, ich nehme die Signale meines Gegenüber wahr und reagiere darauf angemessen. Wenn ich etwas nicht verstanden habe, frage ich so nach, dass mein Interesse an der Sache deutlich wird. Bei allem Interesse an meinem Kommunikationspartner drücke ich aber auch meine eigene Haltung und meine Position aus. Ich zeige mit meinem Körper und mit meiner Sprache, was verhandelbar ist und was nicht. Ich rede nicht wie ein Wasserfall, denn dann verliert sich mein Inhalt. Aber ich bin auch nicht wortkarg und halte mit meiner Meinung nicht hinter dem Berg. Ich drücke mich klar aus und kenne meine Meinung. Ich bin da, im Hier und im Jetzt.

Wenn ich jedoch abgelenkt bin, weil mein Kopfkino oder mein Handy mich zum Beispiel an all das erinnern, was ich noch erledigen muss, kann ich nur bedingt präsent sein. Für Leo und Zoe heißt das: Wenn Leo das Haus betritt, sind Telefonate für die nächsten anderthalb Stunden erledigt. Das ist eine bewusste Entscheidung – für anderthalb Stunden Familienzeit, in der er körperlich wie geistig anwesend ist. Er entscheidet: Ich will hören, was meine Jungs mir heute erzählen, und ich möchte spüren, wie es allen geht.

Viele Eltern erzählen mir, wie sehr sie sich um intensive Gespräche mit ihren Kindern bemühen, aus denen aber nichts rauszukriegen ist. Wenn ich mir dann erklären lasse, wie die Gesprächsversuche im Einzelnen umgesetzt werden, höre ich oft die gleichen Abläufe. Ich nenne diese Art der Gesprächsführung »das Elternverhör« – sie kennen es schon aus der Geschichte von Zoe und Leo.

Glauben Sie mir, ich habe noch keine Familie getroffen, in der das »Elternverhör« zu einem guten Gespräch geführt hat. Es handelt sich dabei um einen allen bekannten Fragenkatalog, der ohne viel Nachdenken runtergerattert wird: Wie war dein Tag? Wie war’s in der Schule? Welche Fächer hattet ihr heute? Was gab’s zum Mittagessen? Die Kinder sind oft müde und mit ziemlicher Sicherheit beschäftigen sie gerade ganz andere Themen als Hausaufgaben oder das Mittagessen. Nach einem langen Schultag wollen die Kinder eher Ruhe als noch mal »abliefern«. Und so werden die Fragen oft wortkarg bis gar nicht beantwortet.

sich

Sie merken: Erzählen schafft Verbindung! Kinder erkennen in den Geschichten ihrer Eltern eigene Schwierigkeiten wieder. Und steuern begeistert ihre Erlebnisse und Lösungsvorschläge bei. Auch die eigene Haltung und ihre Werte, auf die ich im nächsten Abschnitt detaillierter eingehen möchte, können durch solche Gespräche in der Familie geteilt werden. Die Meinung von jedem zählt.