Sophienlust Extra
– 44 –

Kai und Katja

Ihr trauriges Schicksal nimmt eine glückliche Wendung...

Gert Rothberg

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74098-384-0

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»Wollt ihr wohl aufhören!«, rief Denise. Doch sie bemühte sich vergebens, ernst zu bleiben. Als ein Schneeball ihren Arm traf, musste sie lachen und war im Nu von den Kindern eingekreist.

»Noch eine Schneeballschlacht, Tante Isi«, bettelte Heidi.

Die anderen Kinder pflichteten ihr bei. »Du spielst so selten mit uns«, erinnert Pünktchen die geliebte Tante Isi.

Das war nur allzu wahr. Spontan entschloss sich Denise, den Nachmittag einfach zu verspielen. Gemeinsam mit den Kindern. Schon formte sie einen besonders großen und festen Schneeball, da rief Frau Rennert aus dem Küchenfenster: »Frau von Schoenecker, wir haben Besuch!«

»Auch das noch«, maulte Nick.

Auch alle anderen Kinder verwünschten den Besuch in diesem Moment. Endlich einmal hätten sie ihre Tante Isi ein paar Stunden für sich allein gehabt. Und nun musste schon wieder jemand kommen und sie ihnen wegnehmen.

Denise konnte die Gedanken der Kinder an ihren Gesichtern ablesen. »Wir holen die Schneeballschlacht ein andermal nach«, versprach sie.

»Vielleicht geht der Besuch bald wieder«, meinte Henrik verschmitzt. »Kommst du dann wieder, Mutti?«

»Gut, dann komme ich wieder«, versprach Denise. Dann klopfte sie sich den Schnee von der Jacke und eilte ins Haus.

»Eine ältere Dame ist da«, berichtete Frau Rennert. »Ich schätze sie auf ungefähr sechzig. Sie war noch nie bei uns.«

Denise zog ihre Jacke aus und klopfte sich den Schnee von der Hose. »Dann wollen wir mal sehen, was sie zu uns führt.«

Mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen betrat Denise den Biedermeiersalon. Sie wirkte in diesem Moment wesentlich jünger, als sie tatsächlich war. Überrascht schaute ihr Friederike Göldner entgegen. »Frau von Schoenecker?« Ihre Stimme klang ungläubig.

»Das bin ich«, bestätigte Denise.

»Friederike Göldner«, stellte sich die weißhaarige Dame vor.

Denise schüttelte ihr herzlich die Hand. Dann bot sie ihr an, eine Erfrischung kommen zu lassen.

Doch Friederike Göldner lehnte dankend ab. Noch immer ruhten ihre Augen verwundert auf Denises jugendlicher Erscheinung.

»Ich komme gerade von einer Schneeballschlacht mit den Kindern«, erläuterte Denise ihrer Besucherin.

Sie hatte deren überraschten Blick sehr wohl registriert.

»Wie schön, dass Sie sich die Zeit nehmen können, mit den Kindern zu spielen.«

»Leider finde ich nur sehr selten Gelegenheit dazu«, bedauerte Denise.

»Dann tut es mir leid, dass ich Ihre ohnehin knappe Zeit auch noch beanspruche.«

»Aber ich bitte Sie, Frau Göldner. Ich freue mich stets, wenn ich helfen kann!« Sie schaute die Besucherin abwartend an.

»Mit der Bitte bin ich allerdings zu Ihnen gekommen. Ich habe soviel Gutes über Sophienlust gehört …«

Ein wenig hilflos brach Friederike Göldner ab. Sie war nun doch nicht mehr so ganz sicher, ob ihre Bitte gerechtfertigt war. »Es geht um meine beiden Enkelkinder Katja und Kai. Darf ich Ihnen das Schicksal der Kinder in kurzen Worten schildern?«

»Ich bitte darum.«

»Kai ist vier Jahre alt und seine Schwester Katja sieben. Der Vater der Kinder ist mein Sohn Wolfgang. Seine Frau Herta verursachte einen Autounfall, durch den mein Sohn sehr schwer verletzt wurde. Herta selbst kam mit ein paar Abschürfungen davon. Sie fuhr sehr leichtsinnig. Die Polizei stellte fest, dass sie an dem Unfall einwandfrei die Schuld trug.«

Friederike Göldner hielt kurz inne und tupfte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Es liegt mir fern, meine Schwiegertochter zu beschuldigen«, fuhr sie fort. »Aber Wolfgangs Gesicht wurde durch diesen Unfall auf entstellende Weise verletzt. Er wagt sich seitdem nicht mehr unter Menschen. Außer mir darf ihn niemand sehen.«

»Und was ist mit seiner Frau?«, erkundigte sich Denise erschüttert. Sie begriff, welch' schweres Schicksal den Sohn der alten Dame getroffen hatte.

»Herta hat ihren Mann und ihre Kinder nach dem Unfall verlassen«, sagte Friederike Göldner hart.

»O nein!«, entfuhr es Denise unwillkürlich. Dabei dachte sie in erster Linie an die Kinder. Wie schwer musste sie der Verlust der Mutter getroffen haben. Sie verstand diese Frau nicht.

»Ich habe es vorher nicht auszusprechen gewagt«, fuhr Friedrike Göldner schwer atmend fort. »Aber meine Schwiegertochter Herta ist leider eine sehr oberflächliche und leichtfertige Person.«

Nach allem, was Denise gehört hatte, musste sie der alten Dame rechtgeben. Doch sie sprach ihre Gedanken nicht aus. Ein Urteil stand ihr nicht zu.

»Wo sind die beiden Kinder jetzt?«, wollte sie wissen.

»In unserem Haus am Starnberger See. Von dort aus leitet mein Sohn auch seinen Betrieb in München.«

Denise versuchte sich das vorzustellen. Ein Unternehmer, der es nicht mehr wagte, vor seinen Angestellten zu erscheinen. »Das ist sicher eine schwierige Aufgabe, die Ihr Sohn zu bewältigen hat.«

»O ja«, seufzte Friederike Göldner. Dabei dachte sie an ihren Sohn, der jetzt in seinem abgedunkelten Zimmer saß und keinen Menschen zu sich ließ. »Aber genauso schwer ist es für seine Umwelt, mit ihm auszukommen. Seit Herta ihn verlassen hat, will er auch von seinen Kindern nichts mehr wissen.«

Denise blickte die weißhaarige alte Dame ungläubig an. »Aber die Kinder können doch nichts dafür …«

»Nein. Sie sind unschuldig, aber sie müssen am meisten leiden. So ist es doch immer.«

»Darf ich Sie etwas fragen, Frau Göldner? Warum, glauben Sie, hat Ihre Schwiegertochter Mann und Kinder verlassen?«

»Sie glaubte das Leben an seiner Seite nicht mehr ertragen zu können. Das hat sie mir selbst gesagt. Herta hat niemals eine Schuld bei sich selbst gesucht. Immer nur beim Schicksal.«

»Sie macht es sich sehr einfach«, warf Denise ein.

»Das kann man wohl sagen«, meinte Friederike Göldner bitter. »Sogar den Unfall bezeichnete sie als Schicksalsschlag. Dabei steht fest, dass sie ihn nur durch ihre leichtsinnige Fahrweise verursacht hat.«

»Wo sind die Kinder jetzt?«, wollte Denise wissen.

»Zu Hause. Ich habe sie in der Obhut unserer Köchin Hanna gelassen. Früher waren die beiden immer so lustig. Es war direkt eine Freude, ihnen beim Spiel im Garten zuzusehen.«

»Und jetzt?«

»Das Lachen haben sie völlig verlernt. Wie Schatten schleichen sie im Haus umher. Sie dürfen ihren Vater nicht sehen, sie dürfen nicht laut sein, sie dürfen überhaupt nichts mehr. Jetzt frage ich Sie, Frau von Schoenecker, wie sollen Kinder in einer solchen Atmosphäre gedeihen?«

»Das geht nicht«, antwortete Denise spontan. »Kinder brauchen einen hellen, fröhlichen Lebensraum. Und vor allem das Gefühl, geliebt zu werden und geborgen zu sein.«

»Ja, wie bei Ihnen hier. Eigentlich sieht Sophienlust gar nicht wie ein Kinderheim aus.«

»Es ist auch kein Kinderheim im üblichen Sinn. Gerade das wollen wir nicht sein«, meinte Denise. »Heranwachsende brauchen mehr als nur Nahrung und Unterkunft.«

»Wie wahr«, pflichtete Friederike Göldner ihr bei. »Wissen Sie, Freunde haben mich auf Sophienlust aufmerksam gemacht. Und wenn ich ehrlich sein soll, dann muss ich zugeben, dass ich ihrer Schilderung eigentlich keinen Glauben geschenkt hatte. Aber sie haben recht. Sophienlust ist etwas Besonderes. Stimmt es, dass dieser wundervolle Besitz eigentlich Ihrem Sohn gehört?«

»Ja, Sophienlust gehört meinem Sohn Dominik. Ich verwalte es nur für ihn. Er hat das Gut von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin geerbt. Die Dame, die wir alle sehr verehren, stellte die Bedingung, aus dem Anwesen ein Kinderheim zu machen.« Denise schilderte nun kurz die Verhältnisse in Sophienlust und Schoeneich. Sie sprach über ihre zweite Ehe mit Alexander von Schoenecker, über Dominiks kleinen Bruder Henrik und über seine erwachsenen Stiefgeschwister Andrea und Sascha, die Alexander mit in die Ehe gebracht hatte. Doch schließlich fragte sie: »Warum bringen Sie Ihre Enkelkinder nicht zu uns, Frau Göldner?«

Ein erleichtertes Lächeln huschte über das Gesicht der alten Dame. »Sie würden Kai und Katja wirklich aufnehmen? Obwohl die beiden noch Eltern haben?«

»So starre Regeln befolgen wir hier nicht. Wir sind für Kinder da, die uns brauchen. Und das scheint mir doch bei Kai und Katja der Fall zu sein. Ein Vater, der seine Kinder nicht sehen will, und eine Mutter, die sie verlassen hat … Verzeihen Sie, Frau Göldner, aber diese Kinder haben für mich keine Eltern.«

Friederike Göldner nickte. Wie klug diese Frau von Schoenecker doch war. »Ich bin Ihnen ja so dankbar. Bei Ihnen wären meine Enkelkinder gut aufgehoben, und mir wäre eine Last von der Seele genommen.«

»Dann ist diese Frage geklärt«, entschied Denise. »Bringen Sie Katja und Kai so bald wie möglich.«

»Das will ich tun.«

Nachdem Denise mit Frau Göldner noch einen Rundgang durch das Haus unternommen hatte, verabschiedete sich die Großmutter von Frau von Schoenecker.

Die Kinder hatten ihre Schneeballschlacht im Garten inzwischen ohne Denise beendet. »Ohne Tante Isi war es nur halb so schön«, maulte die vierjährige Heidi. Das fanden die anderen Kinder auch. Deshalb umringten sie Denise sofort, als sie aus dem Haus trag.

»Ist dein Besuch wieder weg, Tante Isi?«, erkundigte sich Heidi.

»Ja, und für euch habe ich eine Neuigkeit.« Denise schmunzelte.

Einige der Kinder horchten auf. Sie ahnten sofort, worum es ging. »Wir bekommen Zuwachs, Mutti. Stimmt es?«, vermutete Nick.

»Erraten.«

»Einen Jungen oder ein Mädchen?«, wollte Irmela wissen.

»Einen Buben und ein Mädchen. Katja und Kai.« Denise dachte kurz nach. »Katja ist sieben. Ihr Bruder Kai ist erst vier Jahre alt.«

Damit hatten die Kinder Gesprächsstoff für den Rest des Nachmittags. Sie diskutierten sogar noch beim Abendessen über die beiden Neuen.

»Wann kommen die beiden denn nun eigentlich?«, fragte Vicky.

»Morgen, das hast du doch gehört«, antwortete Pünktchen.

»Habe ich nicht gehört.«

»Aber Tante Isi hat es gesagt. Stimmt's?« Pünktchen blickte fragend in die Runde.

»Stimmt genau! Tante Ma hat sogar schon die Zimmer herrichten lassen«, wußte Irmela zu berichten. »Der kleine Kai wird im Zimmer von Peter schlafen. Zu wem seine Schwester kommen soll, weiß ich nicht.«

*

Als die Kinder am nächsten Tag aus der Schule kamen, waren Katja und Kai schon da. Kai war ein schmaler, blonder Junge, der sich immer wieder hinter seiner größeren Schwester versteckte. Die ältere Katja war jedoch schon ein wenig vernünftiger.

Henrik betrachtete das siebenjährige Mädchen prüfend. »Deine ganze Nase ist voll Sommersprossen«, platzte er heraus.

»Aber Henrik!«, rief Frau Rennert, die in der Nähe stand, tadelnd.

Doch der Junge hatte seine Feststellung so drollig hervorgebracht, dass ihm niemand böse sein konnte. Vor allem auch Katja nicht. »Ich weiß«, sagte sie nur und strich sich das dichte rostrote Haar aus dem Gesicht.

»Du bist mir doch nicht böse?«, fragte Henrik erschrocken.

Katja zog das Näschen mit den Sommersprossen kraus. »Nö, ich hab' mich daran gewöhnt. Ich werde ja von allen gehänselt, weil ich rote Haare und Sommersprossen habe.«

»Aber ich wollte dich wirklich nicht hänseln«, versicherte Henrik treuherzig. »Ich finde deine Sommersprossen nämlich lustig.«

»Ich auch!«, rief Pünktchen spontan aus. »Und dein dunkelrotes Haar sieht sehr schön aus. Das hat wenigstens nicht jeder. Bestimmt werden dich später einmal alle Frauen darum beneiden.«

Überrascht betrachtete Katja das blonde Mädchen, das selbst ein paar Sommersprossen auf der Nase hatte. Es geschah das erste Mal, dass ihr jemand ein Kompliment über ihr Haar machte. Bisher hatten die Kinder sie deshalb nur ausgelacht. Also fasste sie spontan Zuneigung zu dieser kleinen Clique in Sophienlust.

Nach diesen ersten Minuten des gegenseitigen Abtastens übernahm Nick die Vorstellung.

Zuletzt sagte er zu Katja und Kai: »Bestimmt werdet ihr euch so viele Namen auf einmal nicht merken können. Aber mit der Zeit behaltet ihr sie schon.«

Barri, der Bernhardiner, tapste daher und beschnüffelte Kai neugierig. Ein Leuchten glomm in den Augen des kleinen Jungen auf. Er streichelte Barris weißbraunes Fell und begann mit ihm zu sprechen.

»Du magst wohl Hunde gern?«, fragte die vierjährige Heidi.

»Ja, sehr. Gehört er auch hierher?«

»Freilich! Er heißt Barri.«

»Barri.« Kai sprach den Namen vorsichtig aus. »Wird er vielleicht noch größer?«

»Um Gottes willen!« Pünktchen hob abwehrend die Hände. »Der ist doch sowieso schon so groß. Du solltest mal sehen, was Barri alles frisst.«

Es gefiel dem Bernhardiner, dass er in den Mittelpunkt des Interesses gerückt war. Neugierig kam er nun auch zu Katja. Zögernd kraulte sie ihn im Nacken. »Der ist aber wirklich lieb.«

»Ja, und man kann richtig schön mit ihm spielen.« Henrik lief ein Stück davon und lockte den Hund. »Komm, Barri, komm! Fang' mich!«

Sofort sprang Barri ihm nach. Das sah ein wenig tolpatschig, aber sehr lustig aus. Kai musste lachen. Dass es das erste Lachen seit geraumer Zeit war, wurde ihm nicht bewusst. Doch in dem düsteren Haus am Starnberger See hatte er das Lachen gründlich verlernt.

*

Das wundervolle Grundstück reichte direkt bis zum Ufer des Sees. Eine gleichmäßige weiße Schneedecke lag über der Rasenfläche. Sie wurde durch hohe Bäume unterbrochen, unter denen ein schmuckes Landhaus stand. Es war im Stil der Alpenhäuser erbaut und machte von außen einen friedlichen und harmonischen Eindruck. Doch ganz anders sah es in seinem Innern aus. Im Haupttrakt des großen Hauses befand sich eine Wohnhalle, die sehr gemütlich wirkte. Den linken Flügel bewohnte Friederike Göldner zusammen mit dem Hausmeister und der Köchin Hanna Winter. Der rechte Flügel des Gebäudes war verdunkelt. Herabgelassene Jalousien waren an allen Fenstern zu sehen. Hier residierte der Hausherr, Wolfgang Göldner. Niemand außer seiner Mutter durfte diesen Teil des Hauses betreten.

Wehmütig kehrte Friederike Göldner an diesem Tag von Sophienlust zurück. Ohne die Kinder wirkte das ohnehin ruhige Haus wie ein Grab. Trotzdem war Friederike ungeheuer erleichtert, die Kinder in einer so freundlichen und angenehmen Umgebung wie Sophienlust zu wissen. Sie wären in dem düsteren Haus seelisch krank geworden.

Ein paar vereinzelte Schneeflocken hatten sich auf Friederikes Hut verirrt. Sie stäubte sie herunter. Da trat die Köchin aus der Küche. »Sie sind schon zurück«, sagte sie aufatmend. »Ich wagte es nicht, Herrn Göldner das Abendessen zu bringen. Nun können Sie das ja tun.« Man sah ihr an, wie erleichtert sie war.

Friederike wußte, warum. Ihr Sohn hätte die Köchin sofort aus dem Zimmer gewiesen. Lieber hungerte er, als dass er einen Menschen in seiner Nähe duldete. »Hatte mein Sohn heute Besuch?«

Hanna Winter nickte. »Der Direktor der Fabrik war hier. Der junge Herr empfing ihn im verdunkelten Wohnzimmer. Ich war zufällig im Garten. Es schimmerte kein Licht durch die Jalousien. Dem Mann muss das unheimlich vorgekommen sein.«

»Ich glaube, er hat sich bereits daran gewöhnt. Mein Sohn empfängt ihn ja immer im dunklen Zimmer.«

Seufzend ging die achtundfünfzigjährige Köchin zurück in die Küche. »Darf ich Ihnen jetzt Ihr Abendessen zubereiten?«

»Nur einen kleinen Imbiß, Hanna. Ich bin nicht hungrig. Und geben Sie mir Bescheid, sobald Sie das Essen für meinen Sohn fertig haben. Ich bringe es ihm dann. Sie finden mich in meinem Zimmer.«

Mit einem Tablett auf dem Arm betrat Friederike Göldner zwanzig Minuten später das abgedunkelte Arbeitszimmer ihres Sohnes. »Guten Abend, Wolfgang. Ich bringe dir dein Essen.« Im Dunkeln tastete sie sich zu seinem Schreibtisch. Sie kannte jeden Gegenstand in seinem Zimmer. Trotzdem überkam sie jedesmal ein eigenartiges Gefühl, wenn sie sich durch die Dunkelheit zu ihm vortastete.

Er beantwortete ihren Gruß nicht, sondern schwieg.

»Wo darf ich es hinstellen, Wolfgang?«

»Hier auf den Schreibtisch«, erklang nun eine angenehme Stimme. Es war ein warmer, tiefer Bass. Aber der Tonfall klang gallebitter und sehr abweisend.

Ist das noch mein Sohn? fragte sich Friederike Göldner. Sie stellte das Essen auf den Schreibtisch. Inzwischen hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, sodass sie wenigstens die Umrisse der Gegenstände erkennen konnte. Sie wollte ihm Tee in die Tasse gießen. Doch da fuhr er sie an. »Lass das bitte! Ich mache es selbst.«