Cover

Was bisher geschah …

Kommissarin Jeanette Kihlberg leitet die Ermittlungen bei einer grausamen Mordserie: Über mehrere Monate werden in Stockholm immer wieder Jungenleichen gefunden, die Zeichen schwerster Misshandlung zeigen. Auf der Suche nach dem Täter nimmt Jeanette Kontakt zu der Psychologin Sofia Zetterlund auf, bei der eines der Opfer in Therapie war, und bittet sie um Hilfe. Sofias Spezialgebiet sind traumatisierte Menschen mit multiplen Persönlichkeiten. Eine zweite Klientin Sofias ist Victoria Bergman, die aufgrund einer traumatischen Kindheit bei ihr in Behandlung ist. Und auch im Zusammenhang mit den Ermittlungen taucht der Name Victoria Bergman immer wieder auf. Alles sieht aus, als wäre sie ein Opfer, das an irgendeinem Punkt im Leben zur Täterin wurde. Um diesen Verdacht zu bestätigen, müsste man sie allerdings erst einmal finden – denn Victoria scheint seit etwa zwanzig Jahren spurlos verschwunden zu sein …

Über dieses Buch

Die Mordfälle an den Jungen, in denen die Kommissarin Jeanette Kihlberg ermittelt, müssen vorerst hintenangestellt werden, als ein ranghoher Geschäftsmann auf bestialische Weise ermordet, ja regelrecht abgeschlachtet wird. Die Indizien lassen auf einen Racheakt schließen – doch Rache wofür? Und von wem? Die Psychologin Sofia Zetterlund, zu der Jeanette inzwischen eine enge Verbindung hat, soll ein Täterprofil erstellen, doch dabei hat sie immer häufiger Bewusstseinsaussetzer. Und dann geschehen weitere Morde. Stehen sie im Zusammenhang mit Victoria Bergman? Während Jeanette und ihre Kollegen immer größere Teile eines perfiden Netzwerkes aufdecken, verliert Sofia immer mehr die Kontrolle …


Über den Autor

Erik Axl Sund ist das Pseudonym des schwedischen Autorenduos Jerker Eriksson und Håkan Axlander Sundquist. Håkan ist Ton-techniker, Musiker und Künstler. Jerker ist der Producer von Håkans Elektropunkband »iloveyoubaby!« und arbeitet zurzeit als Bibliothekar in einem Gefängnis. Zusammen haben sie drei Romane geschrieben: die Victoria-Bergman-Trilogie, für die sie 2012 mit dem Special Award der Schwedischen Krimiakademie ausgezeichnet wurden.

Erik Axl Sund

Narbenkind

Psychothriller

Aus dem Schwedischen
von Wibke Kuhn

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.


Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel
»Hungerelden« bei Ordupplaget, Stockholm.


Zitat von Harry Martinson aus: Aniara. Albert Bonniers Förlag,
Stockholm 1956 (Schwed. Originalausgabe). Deutsche Übersetzung
von Herbert Sandberg, erschienen in der Nymphenburger
Verlagsbuchhandlung, München 1961.


Deutsche Erstausgabe Oktober 2014
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Erik Axl Sund
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Published by agreement with Salomonsson Agency
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München
Umschlagmotiv: FinePic®, München und gettyimages/Paul Oomen
Redaktion: Leena Flegler
AG · Herstellung: Str.
Satz: DTP Service Apel, Hannover
ISBN 978-3-641-13973-5
V004

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Zur Erinnerung an uns,
die wir verraten haben

Oft sitzt sie, in die Mima starrend, und nachher werden ihre schönen Augen verwandelt. Einen rätselhaften Glanz bekommen sie, undeutbar, und des Auges Iris füllt sich mit Trauerfeuern, mit einem Hungerfeuer, das nach Brennstoff sucht, dem Licht der Seele, auf dass nie es finster werde. Vor einigen Jahren sagte sie einmal, dass sie persönlich es nicht ungern sähe, wenn wir, des Todes Becher in der Hand, ergeben ein Abschiedsmahl verzehrten und verschwänden.

Harry Martinson: Aniara

Freier Fall

Der Albtraum kommt in einem kobaltblauen Mantel nach Stockholm – etwas dunkler als der Abendhimmel über Djurgården und Ladugårdslandsviken. Er ist blond, blauäugig und trägt eine kleine Tasche über der Schulter. Die zu kleinen Schuhe sind rot und scheuern an der Ferse, aber das ist sie gewohnt. Die wunden Stellen gehören bereits zu ihrer Persönlichkeit. Der Schmerz macht sie wacher.

Sie weiß, dass sie Befreiung finden wird, wenn sie nur verzeihen kann. Befreiung für sich selbst, aber auch für diejenigen, denen sie verzeiht. Jahrelang hat sie versucht zu vergessen. Immer vergebens.

Sie selbst sieht es nicht so, aber ihre Rache ist Teil einer Kettenreaktion. Vor einem Viertelleben wurde in einem Geräteschuppen in der humanistischen Lehranstalt Sigtuna ein Schneeball in Bewegung versetzt, und er riss sie mit auf seinem Weg hin zum Unausweichlichen.

Man könnte sich fragen, was diejenigen, die den Schneeball einst mit ihren Händen geformt haben, von seinem weiteren Weg wissen. Vermutlich nichts. Sie sind wahrscheinlich einfach weitergegangen. Haben den Vorfall vergessen, als wäre es ein unschuldiges Spiel gewesen, das in jenem Geräteschuppen begann und dort auch sein Ende nahm.

Doch sie selbst konnte sich der Bewegung nicht entziehen. Zeit ist unwichtig geworden für sie, sie hat keine heilende Wirkung mehr. Hass taut nicht. Im Gegenteil, er verhärtet zu scharfen Eiskristallen, die ihr ganzes Wesen umhüllen.

Der Abend ist kühl, die Luft feucht von vereinzelten Regenschauern, die am Nachmittag und am Abend aufeinanderfolgten. Von der Achterbahn hört man Schreie. Sie steht auf, klopft sich den Staub vom Mantel und sieht sich um. Dann bleibt sie kurz stehen, atmet tief durch und erinnert sich wieder daran, warum sie überhaupt hier ist.

Sie hat etwas zu erledigen, und sie weiß genau, was sie tun muss.

Schräg unterhalb des hohen, umgebauten Aussichtsturms betrachtet sie den Aufruhr, der dort herrscht. Zwei Wachmänner führen einen Mann ab, ein kleines Mädchen läuft weinend neben ihm her. Wahrscheinlich seine Tochter.

Auf dem Boden liegt eine Frau und neben ihr eine zerschlagene Flasche. Menschen stehen um sie herum und beugen sich über sie, irgendjemand ruft nach einem Sanitäter. Glassplitter werfen scharfe Lichtreflexe auf den regennassen Asphalt.

Jetzt ist der Moment gekommen, in dem sie handeln muss, begreift sie – auch wenn das Ganze nicht so geplant war. Der Zufall spielt ihr in die Hände. So einfach, dass niemand je begreifen wird, was überhaupt geschehen ist.

Sie sieht den Jungen, der in einiger Entfernung allein vor dem Eingang zum Fahrgeschäft Free Fall steht.

Zu verzeihen, was verzeihlich ist, hieße nicht wirklich zu verzeihen, denkt sie sich. Echte Verzeihung bedeutet, etwas Unverzeihliches zu verzeihen. Doch diese Fähigkeit besitzt nur ein übermenschliches Wesen.

Der Junge sieht verwirrt aus, und sie geht langsam auf ihn zu, während er sich umdreht, ihr den Rücken zukehrt. Es ist lächerlich einfach, sich an ihn heranzuschleichen, und im Nu ist sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Er steht immer noch mit dem Rücken zu ihr da. Es sieht ganz so aus, als würde er jemanden suchen.

Echte Verzeihung ist unmöglich, unkontrollierbar, unbewusst, denkt sie. Und da sie erwartet, dass die Schuldigen Reue zeigen, kann sie auch nie vollendet werden. Die Erinnerung ist und bleibt eine Wunde, die niemals heilt.

Sie packt den Jungen am Arm. Er zuckt zusammen und dreht sich zu ihr um, während sie ihm die Spritze in den linken Oberarm drückt. Ein paar Sekunden lang blickt er ihr verwundert in die Augen, bevor seine Beine unter ihm nachgeben. Sie fängt ihn auf und setzt ihn vorsichtig auf eine Bank.

Niemand hat sie beobachtet.

Alles ist völlig normal.

Als sie sieht, wie die am Boden liegende Frau langsam beginnt, sich zu rühren, nimmt sie etwas aus ihrer Tasche, was sie dem Jungen behutsam über den Kopf zieht.

Es ist eine Maske aus rosa Plastik mit einem Schweinerüssel.

Gröna Lund

Kriminalkommissarin Jeanette Kihlberg weiß noch genau, wo sie sich befand, als sie erfuhr, dass Ministerpräsident Olof Palme auf dem Sveavägen ermordet wurde. Sie saß in einem Taxi auf dem Weg nach Farsta, und der Mann neben ihr rauchte Mentholzigaretten. Leiser Regen und leichte Übelkeit nach zu viel Bier.

Thomas Ravellis gehaltene Elfmeter im Spiel gegen Rumänien bei der Fußball-WM 1994 hat sie auf einem Schwarz-Weiß-Fernseher in einer Bar am Kornhamnstorg gesehen. Der Barkeeper schmiss eine Lokalrunde.

Als die Estonia unterging, lag sie mit Grippe im Bett und sah sich den Paten an.

Zu ihren deutlichsten Erinnerungen gehören The Clash im Hovet, ein Kuss mit klebrigem Lipgloss in der Dritten und wie sie erstmals die Tür zu ihrem Haus in Gamla Enskede aufschloss und es ihr Zuhause nannte.

Doch an den Augenblick, als Johan verschwindet, wird sie sich niemals erinnern. Er wird für immer ein schwarzer Fleck bleiben. Zehn ausgelöschte Minuten. Die ihr ein Betrunkener in Gröna Lund gestohlen hat. Ein Klempner aus Flen, der bei seinem Besuch in der Hauptstadt zu tief ins Glas geschaut hat.

Ein Schritt zur Seite, den Blick nach oben gerichtet. Johan und Sofia sitzen in dem Korb auf dem Weg hinauf, und obwohl sie auf festem Boden steht, ist ihr schwindlig. Es fühlt sich an wie umgekehrter Schwindel: von unten nach oben statt andersherum. Der Turm sieht wacklig aus, die Sitze sind simpel konstruiert, die Konsequenzen eines Fehlers wären katastrophal.

Auf einmal das Geräusch von splitterndem Glas.

Aufgeregte Schreie.

Irgendjemand heult, und Jeanette sieht, wie der Korb immer weiter hinauffährt. Ein Mann rennt auf sie zu, sie weicht ihm aus. Johan lacht über irgendetwas. Gleich sind sie oben angekommen.

»Ich bring dich um, du Wichser!«

Irgendjemand rempelt sie von hinten an. Jeanette sieht, dass der Mann keine Kontrolle mehr über seinen Körper hat. Der Alkohol hat seine Beine zu lang gemacht, seine Gelenke zu steif und sein betäubtes Nervensystem einen Hauch zu langsam. Er stolpert und stürzt.

Jeanette wirft einen Blick nach oben. Johans und Sofias Beine von unten. Sie baumeln leicht. Dann bleibt der Korb stehen.

Der Mann richtet sich auf, sein Gesicht ist vom Kies und Asphalt zerkratzt.

Ein paar Kinder weinen.

»Papa!« Ein kleines Mädchen, nicht älter als sechs, mit rosaroter Zuckerwatte in der Hand. »Können wir nicht heimgehen? Ich will nach Hause.«

Der Mann antwortet nicht, er sieht sich nur um, hält nach einem Gegner Ausschau, nach irgendetwas, woran er seinen Frust abreagieren kann.

Jeanette handelt aus ihrem Polizeireflex heraus und packt den Mann am Arm. »Hören Sie«, sagt sie behutsam, »beruhigen Sie sich ein bisschen, hm?«

Der Mann dreht sich um, und Jeanette sieht, dass seine wässrigen Augen blutunterlaufen sind. Traurig und enttäuscht, fast beschämt.

»Papa«, wiederholt das kleine Mädchen, aber der Mann reagiert nicht, er starrt nur ins Leere.

»Und wer zum Teufel bist du?« Er windet sich aus Jeanettes Griff. »Verpiss dich!«

Sein Atem riecht streng, und seine Lippen sind von einer dünnen weißen Schicht bedeckt.

»Ich wollte nur …«

Im selben Augenblick hört sie, wie der Korb von oben herabsaust, und die vergnügten Schreie wonnigen Schreckens stören ihre Konzentration für eine Sekunde.

Sie sieht Johan, dessen Haar nach oben fliegt. Er hat den Mund weit aufgerissen.

Und sie sieht Sofia.

Dann hört sie wieder das kleine Mädchen. »Nein, Papa! Nein!«

Sie sieht nicht, wie der Mann neben ihr den Arm hebt.

Die Flasche trifft Jeanette an der Schläfe, und um sie herum wird es schwarz.

Prins Eugens Waldemarsudde

So wie Menschen, die ihr Lebtag jeglichen Glücks beraubt wurden, es trotzdem fertigbringen, sich weiter an die Hoffnung zu klammern, nimmt Jeanette Kihlberg in Ausübung ihres Berufes eine uneingeschränkt ablehnende Haltung zu allem ein, was auch nur im Entferntesten nach Pessimismus riecht.

Deswegen gibt sie niemals auf, und deswegen reagiert sie auch so, wie sie reagiert, als Polizeimeister Schwarz lang und breit über das triste Wetter, seine Müdigkeit und den mangelnden Fortschritt bei der Suche nach Johan klagt. Da sieht Jeanette Kihlberg rot. »Verdammt noch mal, dann fahr doch heim! Für so was wie dich haben wir hier keine Verwendung!«

Das wirkt. Schwarz zuckt zurück wie ein geprügelter Hund, während Åhlund verdattert daneben steht. Jeanette ist so wütend, dass die Wunde an ihrem Kopf unter dem Verband kräftig zu pulsieren beginnt.

Sie fängt sich wieder ein wenig, seufzt und hebt beschwichtigend die Hände. »Haben Sie verstanden?«, wendet sie sich an Schwarz. »Sie sind bis auf Weiteres von Ihren Aufgaben entbunden.«

»Komm mit …« Åhlund fasst Schwarz am Arm, und die beiden gehen davon.

Nach ein paar Schritten dreht er sich zu Jeanette um und versucht, Zuversicht auszustrahlen. »Wir schließen uns einfach den anderen unten am Beckholmen an, vielleicht sind wir dort mehr von Nutzen?«

»Nur Sie, Åhlund. Nicht Sie beide, Schwarz fährt nach Hause, kapiert?«

Åhlund nickt stumm, und dann ist Jeanette allein.

Sie steht mit leerem Blick und steifgefroren am Rückgebäude des Vasamuseums und wartet auf Jens Hurtig, der in derselben Minute, als ihn die Nachricht von Johans Verschwinden erreichte, seinen Urlaub abgebrochen hat, um sich an der Suche zu beteiligen.

Als sie nach einer Weile den Wagen der Zivilstreife über den Weg im Galärparken auf sich zufahren sieht, weiß sie, dass es Hurtig ist und dass er noch jemanden mitgebracht hat. Eine Zeugin, die behauptet, sie habe gestern am späten Abend einen Jungen allein unten am Wasser gesehen. Nach allem, was Hurtig über den Polizeifunk durchgegeben hat, weiß Jeanette auch, dass sie sich nicht allzu viel von dieser Zeugenaussage erwarten darf. Trotzdem redet sie sich ein, dass es noch Hoffnung gibt.

Sie versucht, sich zu konzentrieren und den Verlauf der vergangenen Stunden zu rekonstruieren.

Johan und Sofia sind verschwunden. Auf einmal waren sie einfach weg. Nach einer halben Stunde ließ sie, ganz wie es sich gehört, Johan per Lautsprecher ausrufen und blieb angespannt am Informationsschalter stehen. Jedes Mal, wenn sie in der Menschenmenge auch nur die kleinste Kleinigkeit erspähte, die sie an Johan erinnerte, stürzte sie los, nur um jedes Mal unverrichteter Dinge zum Infoschalter zurückzukehren. Kurz bevor ihr Körper von den letzten Zuckungen ihrer Hoffnung zerrissen wurde, kamen ein paar Sicherheitsleute, und gemeinsam nahmen sie die planlose Suche auf dem Gelände wieder auf. Dabei fanden sie Sofia auf dem Kies auf einem der Gänge, umgeben von einer Menschentraube. Mit den Ellbogen schob Jeanette sich zu ihr vor, bis sie Sofia in die Augen sehen konnte. Das Gesicht, das vor Kurzem noch Erlösung für sie bedeutet hatte, verstärkte jetzt ihre Besorgnis und die Ungewissheit. Sofia stand völlig neben sich. Jeanette bezweifelte, dass sie sie überhaupt wiedererkannte. Und noch weniger konnte sie ihr sagen, wo Johan war. Unmöglich konnte Jeanette bei ihr bleiben, sie musste weitersuchen.

Eine weitere halbe Stunde später alarmierte sie ihre Kollegen von der Polizei. Doch weder sie selbst noch die gut zwanzig Polizisten, die das Ufer rund um den Vergnügungspark absuchten und jeden Zentimeter auf Djurgården durchkämmten, konnten Johan finden. Ebenso wenig wie die Kollegen von der Streife, denen man seine Beschreibung durchgegeben hatte und die die Innenstadt abfuhren.

Dann der Aufruf im Lokalradio. Ergebnislos bis vor fünfundvierzig Minuten.

Jeanette weiß, dass sie korrekt gehandelt hat, aber auch, dass sie wie ein Roboter unterwegs ist. Ein von Gefühlen gelähmter Roboter. Ein Widerspruch in sich. Hart, kalt und rational an der Oberfläche, aber gesteuert von chaotischen Impulsen. Die Wut, Gereiztheit, Angst, Verwirrung und Resignation, die sie während der vergangenen Nacht empfunden hat, ist zu einer einzigen diffusen Gefühlslage verschmolzen.

Das Einzige, was sie ganz deutlich empfindet, ist Unzulänglichkeit.

Und das nicht nur, was Johan angeht.

Jeanette denkt auch an Sofia.

Wie geht es ihr?

Jeanette hat mehrmals versucht, sie zu erreichen, aber ohne Erfolg. Wenn sie irgendetwas über Johan wüsste, hätte sie sich doch gemeldet, oder nicht? Oder weiß sie etwas und muss erst wieder zu Kräften kommen, bevor sie es erzählen kann?

Lass gut sein, denkt sie sich und schiebt die undenkbaren Gedanken beiseite. Konzentrier dich.

Das Auto hält an, und Hurtig steigt aus. »Verdammt«, sagt er. »Das sieht aber gar nicht gut aus.« Er nickt in Richtung ihres Kopfverbands.

Sie weiß, dass es schlimmer aussieht, als es ist. Die Wunde, die die Flasche hinterlassen hat, wurde an Ort und Stelle vernäht, und der Verband ist blutig, ebenso wie ihre Jacke und ihr Oberteil. »Kein Problem«, sagt sie. »Du hättest meinetwegen Kvikkjokk nicht absagen dürfen.«

Er zuckt mit den Schultern. »Jetzt sei doch nicht albern! Was soll ich denn dort oben? Schneemänner bauen?«

Zum ersten Mal seit mehr als zwölf Stunden muss Jeanette lächeln. »Wie weit bist du überhaupt gekommen?«

»Bis Långsele. Ich musste einfach nur vom Bahnsteig springen und in den nächsten Bus in Richtung Süden steigen.«

Eine kurze Umarmung. Mehr ist nicht nötig, denn ihr ist klar, dass er weiß, wie unendlich dankbar sie ihm für sein Kommen ist.

Sie macht die Beifahrertür auf und hilft der alten Dame aus dem Sitz. Hurtig hat der Frau ein Bild von Johan gezeigt, und Jeanette weiß, dass ihre Zeugenaussage nicht besonders aussagekräftig ist. Sie konnte nicht einmal sagen, welche Farbe Johans Kleidung hatte.

»Dahinten haben Sie ihn also gesehen?« Jeanette deutet zu dem steinigen Strand jenseits des Stegs, an dem die Fähre Finngrund liegt.

Die alte Frau nickt und zittert ein wenig in der kühlen Luft. »Er lag zwischen den Steinen und schlief. Ich hab ihn wach gerüttelt. Also so was, hab ich zu ihm gesagt. So jung und schon …«

»Ja, ja.« Jeanette ist ungeduldig. »Hat er irgendwas gesagt?«

»Nein, er hat bloß vor sich hin gebrabbelt. Wenn er irgendwas gesagt haben sollte, hab ich das jedenfalls nicht verstanden.«

Hurtig zückt Johans Foto und hält es der Frau noch einmal vor. »Aber Sie sind sich nicht hundertprozentig sicher, ob es dieser Junge hier war, stimmt’s?«

»Na ja, wie gesagt, er hatte die gleiche Haarfarbe, aber das Gesicht … Schwer zu sagen. Außerdem war er ja betrunken.«

Jeanette seufzt und geht zu dem Pfad hinüber, der an dem Steinstrand entlangführt. Betrunken?, denkt sie. Johan? Blödsinn!

Sie blickt nach Skeppsholmen, das jenseits des Wassers in kränklich grauen Dunst gehüllt ist.

Wie ist es bloß möglich, dass es so scheißkalt geworden ist?

Sie geht bis ans Wasser, klettert auf die Steine. »Und hier lag er also? Sind Sie sich da ganz sicher?«

»Ja«, sagt die Frau bestimmt. »In etwa dort.«

In etwa?, denkt Jeanette resigniert, während sie zusieht, wie die alte Dame sich ihre dicke Brille am Mantelärmel abtrocknet.

Allmählich steigt Verzweiflung in ihr auf. Das Einzige, worauf sie bauen können, ist eine alte Frau, die schlecht sieht. Die – sosehr sich Jeanette auch das Gegenteil wünschte – schlicht und einfach eine unzuverlässige Zeugin ist.

Sie geht in die Hocke und sieht sich nach irgendetwas um, was bestätigen könnte, dass Johan hier gewesen ist. Ein Kleidungsstück, seine Tasche, die Hausschlüssel. Irgendwas. Aber sie sieht nur kahlen Stein, sauber gespült von Wellen und Regenwasser.

Hurtig wendet sich noch einmal an die Frau. »Und dann ist er also weggelaufen? In Richtung Junibacken?«

»Nein …« Die Frau zieht ein Taschentuch aus der Manteltasche und schnäuzt vernehmlich die Nase. »Er ist davongetaumelt. Er war so betrunken, dass er kaum aufrecht stehen konnte …«

Jeanette ist gereizt. »Aber er ging in diese Richtung? In Richtung Junibacken?«

Die alte Dame nickt und schnäuzt sich erneut in das Taschentuch.

In diesem Moment fährt ein Feuerwehrauto auf dem Djurgårdsvägen vorüber. Nach dem Klang der Sirenen zu urteilen ist es auf dem Weg ins Inselinnere.

»Schon wieder falscher Alarm?«, fragt Hurtig und sieht verbissen zu Jeanette, die mutlos den Kopf schüttelt.

Es ist schon das dritte Mal, dass sie das Martinshorn eines Krankenwagens hört, doch bis jetzt galt keiner der Einsätze ihrem Sohn.

»Ich rufe Mikkelsen an«, sagt Jeanette schließlich.

»Von der Reichskripo?« Hurtig sieht sie erstaunt an.

»Ja. Meiner Meinung nach ist er für solche Sachen der beste Mann.« Sie steht auf und springt mit ein paar langen Schritten über die Steine hinweg, bis sie wieder auf dem Fußweg steht.

»Für Verbrechen an Kindern, meinst du?« Hurtig sieht aus, als würde er seine Worte noch im selben Moment bereuen. »Ich meine, wir wissen doch noch gar nicht, worum es hier geht.«

»Natürlich nicht, aber es wäre verkehrt, diese Möglichkeit außer Acht zu lassen. Mikkelsen hat auch die Suchaktionen auf Beckholmen, in Gröna Lund und auf Waldemarsudde koordiniert.«

Hurtig nickt und sieht sie mitleidig an.

Bitte nicht, denkt sie und wendet sich ab. Bloß kein Scheißmitleid. Dann breche ich zusammen.

»Ich ruf ihn an.«

Als Jeanette ihr Handy aus der Tasche zieht, sieht sie, dass es tot ist. Im selben Augenblick hört sie das Rauschen des Funkgeräts in Hurtigs Wagen, der nur zehn Meter entfernt steht.

Die Erkenntnis macht sie bleischwer.

Als sackte alles Blut in ihrem Körper nach unten und zöge sie zu Boden.

Man hat Johan gefunden.

Karolinska-Krankenhaus

Im ersten Moment dachten die Sanitäter, der Junge wäre tot.

Er wurde bei der alten Ölmühle auf Waldemarsudde gefunden. Seine Atmung und seine Herztätigkeit waren gleich null. Nach der ungewöhnlich kalten Spätsommernacht war er stark unterkühlt, und man konnte sehen, dass er sich mehrfach übergeben hatte. Womöglich hat er Aspirationsschäden davongetragen, weil Magensäure in die Lunge geraten ist.

Um kurz nach zehn ist Jeanette Kihlberg in den Krankenwagen gestiegen, der ihren Sohn ins Karolinska-Krankenhaus in Solna auf die Intensivstation bringen sollte.

Das Zimmer ist verdunkelt, doch der Schein der schwachen Nachmittagssonne sucht sich einen Weg durch die Jalousien, und die orangegelben Lichtstreifen ziehen sich wie ein Muster über Johans nackten Oberkörper. Das künstliche Licht der Herz-Lungen-Maschine flackert über dem Bett, und Jeanette Kihlberg kommt sich vor, als würde sie träumen.

Sie streichelt Johans Handrücken und wirft einen Blick auf die Instrumentenkonsole neben dem Bett.

Seine Körpertemperatur nähert sich allmählich wieder der Normalmarke, sie liegt nur noch knapp unter sechsunddreißig Grad.

Sie weiß, dass er stark alkoholisiert war. Fast drei Promille waren es, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Seither hat sie kein Auge mehr zugetan, sie fühlt sich wie ertaubt in ihrem Körper und könnte nicht einmal sagen, ob ihr heftiges Herzklopfen mit dem pulsierenden Gefühl in ihrer Schläfe zusammenhängt. Gedanken, die ihr völlig fremd sind, hallen ihr durch den Kopf – frustrierte, wütende, verängstigte, verwirrte und resignierte.

Sie ist immer ein rationaler Mensch gewesen. Bis heute.

Sie betrachtet ihn, wie er da im Bett liegt. Es ist das erste Mal, dass er im Krankenhaus ist. Nein, das zweite Mal. Das erste Mal war vor dreizehn Jahren, bei seiner Geburt. Damals war sie ganz ruhig und so gut vorbereitet, dass sie sogar den Kaiserschnitt vorhersehen konnte, noch ehe die Ärzte sich dafür entschieden.

Auf dies hier hat sie sich nicht vorbereiten können.

Sie drückt seine Hand fester. Sie ist immer noch kalt, aber er wirkt entspannt und atmet regelmäßig. Das Zimmer ist ganz still. Bis auf das elektrische Surren der Maschinen.

»Du«, flüstert sie, denn sie weiß, dass auch Bewusstlose hören können, »sie glauben, dass alles wieder gut wird.«

Sie bricht ihren Versuch ab, Johan Hoffnung einzuflößen.

Sie glauben? In Wirklichkeit wissen sie es nicht.

Als sie kam, herrschte das reinste Chaos. Sie hatten Johan mit dem Kopf nach unten in ein Bett gelegt und saugten ihm die Atemwege frei.

Aspiration. Es stand zu befürchten, dass Lungengewebe verätzt worden war.

Schlimmstenfalls.

Ihre verwirrten Fragen. Die ruhigen, aber inhaltslosen Erklärungen der Ärzte.

Ihre Wut und ihr Frust führten zur immer gleichen Frage: Warum zum Teufel wisst ihr nichts Genaues?

Sie mochten ihr von EKG-Überwachung erzählen, von Sauerstoff und Infusionen und ihr erklären, wie die Sonde in der Speiseröhre die Körpertemperatur kontrolliert und die Herz-Lungen-Maschine eine Aufwärmung von innen bewirkt. Sie mochten ihr etwas über die kritische Unterkühlung erzählen und wie sich ein längerer Aufenthalt in kaltem Wasser, gefolgt von einer Nacht mit Regen und starkem Wind, auf den Körper auswirkt. Sie mochten ihr erklären, dass Alkohol die Gefäße weitet und den Temperaturabfall beschleunigt und dass durch den Abfall des Blutzuckerspiegels das Risiko von Hirnschäden besteht.

Erzählen und erklären.

Sie erzählten ihr, dass die Gefahr wahrscheinlich gebannt sei, und sie erklärten, dass die Blutgase und das Röntgenbild der Lunge auf den ersten Blick positiv aussähen.

Nur was hieß das?

Blutgase? Auf den ersten Blick? Die Gefahr wahrscheinlich gebannt?

Sie glauben. Aber sie wissen nichts.

Wenn Johan irgendetwas hören kann, dann hat er alles mit angehört, was sie ihr in diesem Zimmer erzählt haben. Sie kann ihn nicht anlügen. Sie legt ihm die Hand auf die Wange. Das ist keine Lüge.

Als Hurtig das Zimmer betritt, wird sie aus ihren Gedanken gerissen.

»Wie geht es ihm?«

»Er lebt, und er wird wieder ganz gesund. Alles in Ordnung, Jens. Du kannst nach Hause fahren.«

Bandhagen

Hundert Mal pro Sekunde schlägt irgendwo auf der Erde der Blitz ein. Das sind ungefähr acht Millionen Mal pro Tag. Über Stockholm zieht sich das heftigste Gewitter des Jahres zusammen, und zweiundzwanzig Minuten nach zehn schlägt der Blitz an zwei Stellen gleichzeitig ein: in Bandhagen, südlich der Stadt, und in der Nähe des Karolinska-Krankenhauses in Solna.

Polizeimeister Jens Hurtig steht auf dem Krankenhausparkplatz, und er will gerade nach Hause fahren, als sein Handy klingelt. Er zieht die Fahrertür zu, bevor er das Gespräch annimmt. Es ist Polizeichef Dennis Billing. Jens nimmt an, dass er anruft, um zu erfahren, was passiert ist.

Er steckt sich den Kopfhörer ins Ohr und meldet sich: »Hurtig.«

»Ich hab gehört, dass Sie Jeanettes Sohn gefunden haben. Wie geht es ihm?« Der Polizeichef klingt besorgt.

»Er hat ein Schlafmittel bekommen. Sie ist jetzt bei ihm.« Hurtig steckt den Schlüssel ins Zündschloss und lässt den Motor an. »Gott sei Dank scheint er nicht in Lebensgefahr zu sein.«

»Gut, gut. Dann ist sie wahrscheinlich in ein paar Tagen wieder da, vermute ich mal.« Der Polizeichef macht ein schmatzendes Geräusch. »Und wie geht es Ihnen?«

»Was meinen Sie?«

»Sind Sie müde, oder können Sie noch in einer anderen Angelegenheit nach Bandhagen fahren?«

»Worum geht es denn?«

»Jetzt, da Jeanette Kihlberg nicht verfügbar ist, haben Sie die Chance zu zeigen, was in Ihnen steckt. Könnte sich gut machen in Ihren Unterlagen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe Sie nur zu gut.« Jens Hurtig biegt auf den Norra Länken. »Was ist denn passiert?«

»Man hat dort eine tote Frau gefunden. Womöglich vergewaltigt.«

»Okay, ich fahre sofort hin.«

»So mag ich das. Sie sind ein guter Mann, Jens. Wir sehen uns dann morgen.«

»Ja.«

»Und hören Sie …« Polizeichef Dennis Billing schluckt. »Richten Sie Janne Kihlberg aus, dass es völlig in Ordnung ist, wenn sie eine Weile zu Hause bleiben und sich um ihren Sohn kümmern will. Ehrlich gesagt finde ich, dass sie sich schon längst mehr um ihre Familie hätte kümmern müssen. Man munkelt, dass Åke sie verlassen hat.«

»Was meinen Sie?« Hurtig hat die Andeutungen des Polizeichefs allmählich satt. »Wollen Sie, dass ich ihr ausrichte, sie soll zu Hause bleiben, weil Sie der Meinung sind, dass Frauen besser zu Hause bleiben und sich um Mann und Kinder kümmern, als einen Beruf auszuüben?«

»Jens, beruhigen Sie sich. Ich dachte, wir beide verstehen uns …«

»Nur weil wir beide Männer sind«, fällt Hurtig ihm ins Wort, »heißt das noch lange nicht, dass wir derselben Meinung sind.«

»Nein, natürlich nicht.« Billing seufzt. »Ich dachte nur, dass vielleicht …«

»Tja, ich weiß auch nicht. Wir hören voneinander.« Hurtig legt auf, ehe Dennis Billing noch irgendwas anderes Plumpes oder himmelschreiend Blödes sagen kann.

An der Abfahrt nach Solna sieht er hinüber zur Pampas Marina und zu der Reihe von Segelbooten, die dort liegen.

Ein Boot, denkt er sich. Ich kaufe mir ein Boot.

Der Regen rauscht auf den Sportplatz des Gymnasiums Bandhagen nieder, und Polizeimeister Jens Hurtig schlägt die Kapuze seiner Jacke hoch, bevor er die Autotür zuwirft. Er sieht sich um. Er kennt diesen Ort.

Hier ist er mehrmals als Zuschauer gewesen, als Jeanette Kihlberg in der gemischten Mannschaft des Polizeikorps Fußball gespielt hat. Er weiß noch, dass er überrascht war zu sehen, wie gut sie war. Besser als die meisten männlichen Spieler, und auf ihrer Position im offensiven Mittelfeld war sie die kreativste von allen. Diejenige, die die befreienden Pässe schlug und die Freiräume erkannte, die sonst keiner sah.

Seltsamerweise fiel ihm auch auf, wie sich ihre Eigenschaften als Chefin in ihrem Handeln auf dem Spielfeld widerspiegelten. Sie hatte Autorität, ohne dominant zu sein.

Als sich ihre Mannschaftskameraden bei einer Gelegenheit über eine Schiedsrichterentscheidung ereiferten, schritt sie ein und beruhigte die Gemüter. Sogar der Schiedsrichter hörte ihr zu.

Er fragt sich, wie es ihr wohl gerade geht. Obwohl er keine eigenen Kinder hat und auch nicht den Wunsch verspürt, sich welche zuzulegen, begreift er, dass sie es im Moment wirklich schwer haben muss. Wer kümmert sich um sie, jetzt, da Åke abgehauen ist?

Er weiß, dass ihr die Fälle um die ermordeten Jungen schwer zugesetzt haben. Und nun ist auch noch ihrem eigenen Sohn etwas zugestoßen. Er wünschte sich, er könnte mehr für sie sein als nur ihr Mitarbeiter. Ein Freund.

Er hasst Hierarchien, obwohl er sich ein Leben lang problemlos eingeordnet hat. Menschen sind nun mal nicht gleichwertig, und letztendlich kommt es doch immer nur auf eines an: Geld. Du bist dein Gehaltsscheck.

Er muss an die namenlosen Jungen denken. Sie hatten keinerlei Wert in der schwedischen Gesellschaft. Standen außerhalb des Systems. Aber wenn ein Mensch als vermisst gilt, muss es doch auch jemanden geben, der ihn vermisst.

Die Klassengesellschaft ist noch lange nicht abgeschafft, die Klassen wurden lediglich umbenannt. Adel, Klerus, Bürger und Bauern oder Oberschicht und Unterschicht. Arbeiter und Kapitaleigner.

Männer und Frauen.

Völlig egal.

Mittlerweile bezeichnen sich die Moderaten sogar als die neue Arbeiterpartei, obwohl sie die fettesten Brieftaschen von allen haben. Doch ganz unten am Boden der Gesellschaft gibt es Menschen, die haben nicht einmal eine Brieftasche. Menschen ohne Papiere.

Als Jens Hurtig auf die Gebäude hinter den gekiesten Flächen zueilt, ist er deprimiert.

Schwarz und Åhlund sind bereits da. Sie stehen unter einem Vordach bei den Umkleidekabinen und winken ihn zu sich.

»Mistwetter!« Hurtig fährt sich mit der Hand über die Stirn und wischt sich das Regenwasser aus den Augen. Der Himmel wird jäh von einem Blitz erleuchtet, und er zuckt zusammen.

»Angst vor Gewittern, Chef?« Schwarz boxt ihn gegen den Arm und grinst.

»Was ist passiert?«

Åhlund zuckt mit den Schultern. »Eine tote Frau. Wahrscheinlich vergewaltigt, bevor sie umgebracht wurde. Im Moment schwer zu sagen. Die Jungs schlagen gerade ihr Zelt auf. Wir müssen noch einen Moment warten.«

Hurtig nickt und zieht seine Jacke fester um sich. Er registriert die Flutlichtanlagen an den Längsseiten des Fußballfeldes und überlegt, ob er den Platzwart rufen lassen soll, der sie einschaltet. Aber nein, damit würde er sich nur unnötig Probleme schaffen. Die Presse hat die Nachricht ganz sicher schon im Polizeifunk gehört und wird jeden Moment hier sein. Und ein grölender Mob im Scheinwerferlicht ist nicht gerade das, was er in diesem Augenblick gebrauchen kann. Am besten wickeln sie diese Sache hier so diskret wie möglich ab.

»Wer kommt denn? Nicht zufällig Rydén, oder?«

Åhlund schüttelt den Kopf. »Nein, Billing meinte, er schickt Ivo Andrić, weil wir neulich erst mit ihm zusammengearbeitet haben.«

»Ich dachte, Ivo ist im Urlaub?«

Als Hurtig zum letzten Mal mit dem bosnischen Pathologen gesprochen hat, meinte dieser, dass er sich nach den Ermittlungen zu den ermordeten Jungen erst mal einen langen Urlaub gönnen wolle.

Als er erfahren hatte, dass die Polizei den Fall zu den Akten gelegt hatte, betrachtete Ivo Andrić dies als persönliches Versagen.

»Nein, ich denke nicht.« Åhlund zückt ein Päckchen Kaugummi. »Ich hab allerdings gehört, dass er kündigen wollte, als wir die Ermittlungen zu den Flüchtlingskindern einstellen mussten. Vielleicht hätten wir das alle tun sollen. Will jemand?« Er hält ihnen das Kaugummipäckchen hin.

Hurtig hatte die gleiche Hilflosigkeit und Resignation verspürt.

Der Befehl war von oben gekommen, und wenn er es richtig verstanden hatte, waren die Ermittlungen eingestellt worden, weil die Jungen allesamt illegal im Land gewesen waren. Kinder ohne Identität, von niemandem vermisst und daher nicht annähernd so wichtig wie irgendwelche blonden, blauäugigen Kinder aus Mörby oder Bromma. Vollidioten!, hatte er gedacht. Gefühlskrüppel!

Auch wenn es ihnen nicht gelungen war, ihren Mörder zu finden, hätten diese Kinder zumindest ihre Namen zurückbekommen müssen. Aber das hätte Geld gekostet, und die Kinder hatten niemandem etwas bedeutet.

Personae non gratae.

Die Gleichheit der Menschen ist eine Geschichte mit Fußnoten.

Hurtig steuert das kleine weiße Zelt der Kriminaltechniker an und erkundigt sich nach dem Stand der Dinge, bevor er zurückkehrt und resigniert die Arme hebt. Wieder taucht ein heftiger Blitz das Fußballfeld in weißes Licht. Er fährt zusammen und runzelt die Stirn. Man sieht ihm deutlich an, dass ihm gar nicht wohl ist.

»Andrić kommt gleich. Nach Ansicht der Kriminaltechniker gibt es keine Unklarheiten, sie haben die Lage im Griff. In ein paar Stunden kriegen wir einen ersten Befund.«

»Was heißt das – keine Unklarheiten?« Schwarz sieht ihn neugierig an.

»Die Frau ist offenbar identifiziert. Eine Tasche mitsamt Brieftasche lag neben ihr. Der Führerschein wurde auf eine gewisse Elisabeth Karlsson ausgestellt. Und es deutet alles darauf hin, dass sie vergewaltigt und anschließend ermordet wurde. Aber das kann Andrić besser beurteilen, sobald er die Leiche untersucht hat.« Hurtig reibt sich die kalten Hände. »Die Techniker machen ihren Job, zwei Hundestaffeln durchsuchen die Umgebung, und auf dem Präsidium versuchen sie, Angehörige ausfindig zu machen. Was gibt es sonst noch zu tun?«

»Wie wär’s mit einem Kaffee?«

Ungerührt geht Schwarz zu seinem Wagen.

Das Regenwasser strömt gurgelnd aus der Regenrinne und bildet große Pfützen auf dem Kies.

Wie macht er das nur?, fragt sich Hurtig und folgt ihm.

Bandhagen

Als Ivo Andrić auf den Parkplatz des Gymnasiums Bandhagen fährt, sieht er Hurtig, Schwarz und Åhlund, die in ihre Autos steigen. Sie wollen gerade fahren. Als Jens Hurtig eine Hand hebt, erwidert er den Gruß, bevor er vor den großen Ziegelsteinbau fährt und den Motor abstellt.

Er bleibt noch kurz in seinem Wagen sitzen und starrt über den dunklen, sumpfigen Fußballplatz. In der einen Ecke steht das kleine Zelt der Techniker, in der anderen ein trauriges, verlassenes Fußballtor mit kaputtem Netz. Der Regen rauscht nur so herab und macht keinerlei Anstalten, schwächer zu werden. Andrić will so lange wie möglich im Auto sitzen bleiben. Er ist müde und fragt sich, was er hier überhaupt ausrichten soll. Er weiß, dass er von vielen als führender Kopf in der Rechtsmedizin betrachtet wird und dass er Erfahrung hat wie kaum ein anderer. Trotzdem. Seine Erfahrungen aus seiner Arbeit im Ausland sollten ihm eigentlich eine andere Art von Aufgaben bescheren.

Ausland, denkt er. Bosnien. Das Land, das er einst seine Heimat nannte.

Jetzt sitzt er hier mit seiner grässlichen Müdigkeit und den vom Schlaf noch ganz verklebten Augen. Er denkt an die Vorfälle der letzten Zeit, an die toten Jungen.

Den ersten hatte man in einem Gebüsch am Eingang zur U-Bahn-Station am Thorildsplan gefunden. Der Körper war so gut wie mumifiziert gewesen.

Dann kam der weißrussische Junge auf Svartsjölandet, gefolgt von der einbalsamierten Leiche an der Boule-Anlage am Danvikstull. Allen drei war gemeinsam, dass sie schwer misshandelt worden waren.

Am Ende kam noch Samuel Bai dazu, der Kindersoldat, den man auf einem Dachboden im Monument-Viertel am Skanstull fand.

Während einiger warmer Sommerwochen nahmen diese vier Fälle seine gesamte wache Zeit in Anspruch, und Ivo Andrić ist nach wie vor der Meinung, dass all diese Morde von ein und demselben Täter begangen wurden.

Die Ermittlungen hat Jeanette Kihlberg geleitet, und an ihr hat er nicht das Geringste auszusetzen. Sie hat ihre Arbeit gut gemacht, aber ansonsten strotzte die Ermittlung nur so von Fehlern und Versäumnissen. Nach wochenlanger Arbeit ist daraus am Ende eine Nicht-Ermittlung geworden.

Denn auf der anderen Seite standen ein Polizeichef und ein Staatsanwalt, die ihre Arbeit nicht getan haben, und diverse angesehene Menschen mit falschen Alibis. Der Mangel an Energie, den er bei der ganzen Sache wahrgenommen hat, in Kombination mit dem Unwillen, sämtliche verfügbaren Register zu ziehen, hat ihn vollends desillusioniert, und wo sein Vertrauen in das Rechtswesen schon immer mäßig war, ist es inzwischen völlig ausradiert.

Als der Staatsanwalt den Fall ad acta legen ließ, hat dies das letzte bisschen Luft aus ihm herausgelassen.

Ivo Andrić zieht sich die Jacke fester um den Körper und setzt seine Baseballkappe auf. Er macht die Autotür auf, tritt in den strömenden Regen hinaus und trabt auf die Absperrung zu.

Elisabeth Karlsson liegt auf der Seite im nassen Kies neben dem Fußballfeld des Gymnasiums. Ihr linker Arm bildet einen derart unnatürlichen Winkel, dass er zweifellos gebrochen sein muss. Ansonsten sind auf den ersten Blick keine schweren Verletzungen zu erkennen.

Ivo Andrić nimmt zur Kenntnis, was er vom Tatort selbst ablesen kann. Die Frau wurde Opfer sexueller Gewalt, aber die Todesursache wird sich erst bestimmen lassen, sobald der Körper in der Rechtsmedizin Solna im Trockenen liegt. Er verkündet, dass die tote Frau abtransportiert werden kann, und ein paar Sanitäter hüllen ihre Leiche in einen grauen Plastiksack.

Mit langen Schritten geht Ivo Andrić zu seinem Auto zurück.

Was er hier gesehen hat, hat in ihm einen Verdacht aufkommen lassen, den er möglichst rasch bestätigen will.