Inhaltsverzeichnis
Meinem langjährigen Freund
Michael Günther gewidmet.
Vorwort
Verwirrende Vielgötterei, eine fatalistische Karma-Theorie und das ungerechte Kastensystem – das sind oftmals die ersten Assoziationen mit dem Hinduismus. Vielleicht noch das Kamasutra mit seiner Liebesakrobatik. Sowohl der Hinduismus wie auch das Kamasutra sind lange genug einseitig wahrgenommen worden. Es ist an der Zeit, beide Themen ohne Klischees und Stereotypen in ihrer Verbindung darzustellen.
Der Hinduismus ist eine multidimensionale Religion, die den Menschen in seiner Gesamtheit erfasst und ihn emotional, ästhetisch und intellektuell versorgt. Diese Tatsache kommt in den Hindumythen zum Ausdruck: Sie sind fesselnde Erzählungen mit der schönsten Poesie, sie stellen philosophische Schulen – darunter auch den indischen Materialismus – dar, beschreiben die Abfolge von Königen verschiedener Dynastien, beschäftigen sich mit indischer Heilkunde, Astrologie, Astronomie, Kosmologie, Entstehung des Universums, politischer Theorie, Soziologie, Sexualität und mit allem, was in der Welt wissenswert ist.
Es ist, als ob in dieser erhabenen Erzählung alle Phänomene ihren rechtmäßigen Platz und ihren je eigenen Sinn erhalten. Nach hinduistischer Auffassung sollte Sexualität nur in einem kosmischen Zusammenhang betrachtet werden. Die indische Tradition ist geprägt von einer lustbetonten Philosophie, die der Erfüllung des Liebestriebes einen zentralen Platz im Leben einräumt. Die Erfüllung von Kama, der Sexualität, ist ein von Gott gegebener Auftrag an den Menschen. Derselbe Gott versorgte ihn auch mit dem notwendigen Sexualwissen, woraus alle »Sexexperten« des alten Indiens geschöpft haben. Das Kamashastra, so heißt die Sexualwissenschaft Indiens, greift auf diese uralten Traditionen zurück und zeigt dem Menschen den Weg in seinem Liebesleben. Das Kamasutra ist eines von vielen Werken zur Sexualwissenschaft. Zum Glück ist es nicht nur eine komplizierte, physisch kaum durchführbare Liebesakrobatik.
Neben genussorientierter Philosophie ist das Kamasutra eine Psychologie, die Anregungen liefert, wie jemand seine Liebesreize steigern, einen Partner erobern, ihn emotional und körperlich glücklich machen, unterwerfen und sogar loswerden kann. Die Liebeslehre Indiens ist eine Politik der Machtverhältnisse unter Partnern, sie ist Esoterik und ebenso Medizin. Das vorliegende Buch umkreist in neun Kapiteln ein zentrales Motiv: die Untrennbarkeit von Religion und Sexualität – von Hinduismus und Kamashastra.
Danken möchte ich Benita von Bonin, Peter Kink und Professor Calamacarla Venkata Seshacaryulu für ihre Unterstützung und Dr. Martin Scherer und Anna Egger für ihre Geduld.
München, im September 2009
KAPITEL 1
Am Anfang war der Trieb Gottes: Mythen und Moral
Einst wurde ein böser Dämon, Taraka, übermächtig und fast unsterblich. Er besiegte die Götter, verjagte sie aus dem Himmel und tyrannisierte die ganze Welt. Selbst Vishnu, der Beschützer der Welt, bewaffnet mit seinen unfehlbaren Waffen, der Keule und dem Diskus, musste vor ihm fliehen und sich in einer Höhle verstecken. In ihrer Verzweiflung suchten die Götter Brahma, den Schöpfer der Welt, dem sie alle entsprungen waren, auf und baten ihn inbrünstig um Rettung aus der Not. Brahma, der dem Dämon leichtsinnig die unbesiegbare Kraft verliehen hatte, verriet den Göttern ein Geheimnis: Dem Bösewicht sei vorbestimmt, durch die Hände eines künftigen Sohns von Shiva, dem Zerstörer der Welt, zu sterben. Also müsse Shiva einen Sohn zeugen. Damit sahen sich die Götter vor eine neue Schwierigkeit gestellt. Denn nach dem Tod seiner Frau Sati interessierte sich Shiva nicht mehr für die Welt. Versunken in seine eigene Seele, meditierte er als Asket seit vielen Jahren auf dem Berg Kailasha. Ihn aus der Meditation zu reißen war schier unmöglich, ganz davon zu schweigen, dass jemand ihn zur Zeugung eines Sohnes bewegen könnte.
Nur ein einziger Gott schien fähig, den Göttern in ihrer schwierigen Lage zu helfen und der Welt das Glück zurückzubringen: Der Liebesgott Kamadeva1, den niemand, weder Götter noch Dämonen, besiegen können.
Dieser Mythos macht deutlich, dass der Hinduismus Liebe und Sexualität eine zentrale Rolle im kosmischen Zusammenhang zuweist. In der Vielgötterei spiegelt sich die Auffassung wider, dass diese beiden Kräfte der ganzen Schöpfung vorangehen und sie bis zum Ende begleiten müssen. Die buchstäbliche Vergöttlichung dieser Urkräfte ist der Liebesgott Kamadeva, der wie andere Hindugötter auch viele Beinamen besitzt. Ihm ist es zu verdanken, dass Männer und Frauen sich gegenseitig begehren und leidenschaftlich fortpflanzen wollen. Er durchdringt die ganze Schöpfung, selbst die Götter und Dämonen unterliegen seinem Einfluss. So ist er wahrlich allgegenwärtig. Seine Zuständigkeitsbereiche sind Liebe, Erotik, Sexualität und Triebhaftigkeit, worüber im alten Indien eine lange wissenschaftliche Tradition und eine Reihe von bedeutenden Fachbüchern entstanden sind.
Einige wenige Hymnen in den Veden, den frühesten und heiligsten Werken der Hindus, lobpreisen den Liebesgott und messen ihm eine größere Bedeutung bei als allen anderen Gottheiten. Das Atharva-Veda erklärt ihn zum Erstentstandenen, er sei vor allen anderen Göttern geboren; weder Götter, Ahnen noch die Menschen seien fähig, ihn zu übertreffen. Er sei unendlich größer als alles andere.2 »Weder die Winde, noch das Feuer, noch die Sonne, noch der Mond sind mächtiger als du. Du bist größer als all diese«, besingt es ihn. Auch die heilige Literatur der nach-vedischen Zeit erkennt die kosmische Bedeutung von Sexualität und Erotik und setzt sich unverkrampft mit diesem Thema auseinander. Darin heißt es außerdem, Kamadeva sei aus dem Herzen des Schöpfergottes Brahma entsprungen. Daher sein Beiname Manoja, der dem Herzen Geborene.3 Liebe und Erotik gingen demnach der Schöpfung voraus.
Die eigentlichen Hauptakteure im post-vedischen Hinduismus sind Brahma (der Schöpfer), Vishnu (der Beschützer) und Shiva (der Zerstörer). Verglichen mit dieser Triade spielt der Liebesgott insgesamt eine untergeordnete Rolle. Nichtsdestotrotz kommt ihm in der Hindumythologie eine große Bedeutung zu. Immer wenn Götter oder Menschen Liebe und Erotik vernachlässigen, sie aus ihrem Leben verbannen und sich einseitig anderen Interessen widmen, geraten sie aus dem Gleichgewicht und werden somit zu einer Gefahr für die Welt. Dann greift der Liebesgott ein, um die Welt zu gesunden und ihre Normalität wiederherzustellen. Er hat eine heilende und normalisierende Funktion. In der Hindumythologie gibt es eine Fülle von Beispielen für seine Wirkmacht.
Anders als das Christentum hält die »Ewige Religion«4 Sexualität und Triebe nicht für die Urquelle des Bösen, verantwortlich für die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies, sondern für ein wesentliches Merkmal des Daseins. Es gilt also, diese kosmische Kraft zu vergöttlichen und zu verehren. Mehr noch: Der Hinduismus erklärt Sexualität und Erotik, das Kama, zum unverzichtbaren Hauptwert einer idealen Lebensführung – ja, zu einer Tugend, die es zu pflegen gilt.
Wie alle Hindugötter ist auch der Liebesgott Kamadeva verheiratet.5 In den Tempelreliefs und in der Literatur begegnet man ihm stets mit seiner Gemahlin Rati6, der Göttin der Wollust. Der Frühling ist sein Freund. Bewaffnet mit einem Bogen aus Zuckerrohr, schießt er auf seine Opfer, mit Pfeilen, die sich wie angenehme Winde anfühlen und an deren Spitzen duftende Blumen blühen. Damit sorgt er für Verwirrung im Herzen seiner Opfer. Folgerichtig ist dem Liebesgott der Beiname »Vernichter der Ruhe«7 zugedacht.
Solch einen mächtigen Gott baten nun die Götter um Hilfe. Kamadeva selbst schilderte den Göttern prahlerisch, keine Frau sei so stolz, dass er sie nicht zähmen könne. Es gebe weder einen Helden, einen Weisen noch eine stolze Frau8, die er sich nicht unterwerfen könne. Über die ganze Welt, sogar über den Schöpfergott Brahma, walte er. Selbst die strengsten Asketen würden ihm augenblicklich verfallen. So protzte er, bevor er den Auftrag der Götter übernahm.
Am Ort des Geschehens jedoch versagten sowohl die Frühlingsromantik als auch der Einfluss des Liebesgottes. Und dies mit fatalen Folgen: Shiva ließ sich von seiner Meditation nicht ablenken, geschweige denn zu Liebeslust erregen. Als Kamadeva sich anschickte, einen Blumenpfeil auf ihn abzuschießen, öffnete Shiva zwar seine Augen, aber nur, um mit einem einzigen Blick den Unruhestifter zu verbrennen und wieder in Meditation zu versinken.
Es war Parvati, die Anwärterin und künftige Gemahlin Shivas, die sich für Kamadeva aussprach und sein Leben rettete. Da Shiva sich ihr gewogen zeigte und ihr einen Wunsch erfüllen wollte, offenbarte sie ihm ein Geheimnis: Nun, da der Liebesgott tot sei, habe sie keinen Wunsch mehr, der von Shiva zu erfüllen wäre. Dem Liebesgott sei es zu verdanken, dass der Orgasmus9 zwischen Mann und Frau so blendend wie die Kraft von Millionen Sonnen sei, belehrte sie ihn. Möge er Kamadeva doch wieder das Leben schenken! Shiva erhörte ihre Bitte und erweckte Kamadeva wieder zum Leben. Aber sein zu Asche verkohlter Körper und seine Glieder blieben ein für allemal verloren. Daher trägt der Wiederauferstandene den Beinamen Ananga – der Körpergliedlose. Dies erwies sich als versteckter Segen für den Liebesgott. Denn ab jetzt konnte er sich unbemerkt überallhin begeben und im Verborgenen wirken.
Die Bemühungen des Liebesgottes sollten nicht vergeblich gewesen sein, wie der Mythos später noch zeigt. Beeindruckt von der inbrünstigen Anbetung Parvatis legte Shiva seine asketische Trauer ab und heiratete sie. Nun brach in ihm eine bis dahin schlummernde Triebhaftigkeit von ungeahnter Intensität aus, und die Götter hatten eine neue Sorge. 10
Nach der Vermählung gab sich Shiva leidenschaftlich und unaufhörlich, wie ein guter Schüler von Vatsyayanas Kamasutra, der Sexualität hin. Nicht umsonst wird Shiva als »Experte im Sex« (in der heiligen Schrift Shivapurana) und als Kama, die Verkörperung der Sexualität (im Epos Mahabharata), bezeichnet.11
In vieler Hinsicht könnte man Shiva nicht nur wegen seiner Potenz als Experten im Sinne des Kamasutra bezeichnen. Er gilt als Verkörperung der Ästhetik.12 Er ist Musikexperte13 und spielt virtuos die indische Laute. Mit seiner Gemahlin hält er sich immer in schöner Umbebung auf und macht mit ihr Ausflüge in die Berge und die Wälder. Er spielt Brettspiele und tanzt mit ihr. Ihm zollt man die Beinamen Nataraja, der König des Tanzes, Nrityapriya, Tanzliebhaber, und Kameshwara der Herr der Sexualität: Alle diese Fähigkeiten gehören zu den 64 Kunstformen oder -fertigkeiten, die ein sinnlicher Mann oder eine sinnliche Frau besitzen müsse, so das Kamasutra. Zwar streitet Shiva bei diesen Vergnügungen immer wieder mit seiner Gemahlin, aber – wie auch der trickreiche Protagonist im Kamasutra – versöhnt er sich mit ihr, zum Wohlergehen der Welt, für das loka kalyana. Außerdem kann bekanntlich ein Streit Liebende noch stärker aneinander binden.
Shivas Persönlichkeit zeigt zwei gegensätzliche Eigenschaften: extreme Askese und unbeherrschbare Triebhaftigkeit. Die meisten Religionen sehen einen Widerspruch zwischen dem asketisch-keuschen und dem lusthaften Lebenswandel. Das Triebhafte wird immer zugunsten des Asketischen verdammt und verworfen. Der Hindu dagegen sieht keinen Widerspruch zwischen diesen beiden Charakterzügen. Er hat keine Schwierigkeiten damit, wenn zwei verschiedene Naturen und Wahrheiten nebeneinander existieren. Der Mensch ist eben so beschaffen und deshalb auch die von ihm, nach eigenem Ebenbild, erschaffenen Götter. So kann Siva streng asketisch aber auch unbeherrschbar triebhaft sein.
Parvati steht ihrerseits Shiva in nichts nach. Die heiligen Schriften schreiben ihr interessante Attribute zu. Erfüllt von Erotik sei sie die Verkörperung von Sexualität und Liebe und reite auf den Wogen der Liebesspiele. 14
Die Neuvermählten ließen sich von nichts ablenken. Ihr Liebesakt dauerte jahrelang und machte die ungeduldig auf die Geburt von Shivas Sohn wartenden Götter nervös. Als endlich Shiva seinen Samen ergoss, besaßen seine Männlichkeitstropfen so viel Hitze, dass Parvati es nicht aushielt. Schnell gab sie den Samen an die Erde zu deren Befruchtung weiter. Die Erde wiederum vertraute ihn aus demselben Grund dem Feuergott Agni15 an. Selbst der Feuergott konnte diese Hitze nicht ertragen und übergab Shivas Samen der Flussgöttin Ganga. So gebar schließlich Ganga Shivas Sohn, den späteren Heerführer der Götter. Die Geschichte ist ein beliebtes Reliefmotiv in den Shiva-Tempeln.
Dieser Teil des Mythos erinnert an die alttestamentarische Geschichte von Onan.16 Onan, Sohn eines Judas, weigerte sich, Kinder mit der Witwe seines Bruders zu zeugen, und ließ stattdessen seinen Samen auf die Erde fallen. Der erzürnte Gott bestrafte ihn mit dem Tod. Onans Sünde bestand darin, dass sein Samen zur Erde fiel, anstatt den Zielort zu erreichen und dort zu bleiben. Auf gewisse Art tat dasselbe auch Shivas Gemahlin Parvati, die den Samen ihres Mannes an die Erde weitergab – ebenso wie der Reihe nach auch die Erde und das Feuer. Dennoch gilt diese Handlung im Hinduismus nicht als Vergehen gegen ein göttliches Gebot. Mehrmals kommt es in den Schöpfungsgeschichten der Veden sogar vor, dass der Schöpfergott seinen Samen auf die Erde fallen lässt, woraufhin ihm Nachfahren entstehen.17 Dass Kartikeya, der am Gangesufer geborene Sohn Shivas, in einem welterschütternden Krieg die Götter gegen den Dämon Taraka führte und ihn tötete, ist der logische Schluss dieser Geschichte.
Was die Beziehung zwischen dem Hinduismus und der Sexualität anbelangt, ist der Kult um Shiva aufschlussreich. Fast alle Hindugötter werden zu Verehrungszwecken anthropomorphisch dargestellt. Nur in Shivas Fall ist das anders. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wird nur sein Linga18, sein Phallus, nicht aber seine körperliche Gestalt, verehrt. So ist der Shiva-Kult ein Phalluskult. Diesen kann man bis in die Industal-Zivilisation der vorchristlichen Jahrtausende zurückverfolgen. Archäologen fanden bei Ausgrabungen zahlreiche Siegel, in die Tier-, Baum- und Menschenbilder eingeprägt sind, welche uns einiges über die religiösen Vorstellungen von damals erzählen. Daneben fanden sie aber auch Kultobjekte wie Terrakottafiguren einer Muttergöttin und aus Stein gehauene Phalli, die zum Teil zwei Fuß groß waren, sowie einfassende Vaginen. Allerdings ist unklar, welche Mythen und Vorstellungen um diese Kultfiguren gewoben waren, da die Entzifferung der Industal-Schriftzeichen umstritten ist.
Die spätere Entwicklung des Hinduismus ist zum Glück nicht von »Sexualpessimismus«19 überschattet: Man versucht nicht, einen unverkennbaren Hinweis auf die Sexualität zu vertuschen oder gar zu leugnen. Dem Hinduglauben zufolge besitzt Shivas Phallus enorme Hitze, welche die Welt gefährden könnte. Daher hängt im Allerheiligsten jedes Tempels über dem Linga ein mit Wasser gefüllter Topf. Rund um die Uhr tröpfelt das Wasser aus einem Loch auf das Linga, um es abzukühlen. Das Linga ist in einen steinernen Ring, Yoni (Sanskrit für Vagina), eingelassen. Bei der rituellen Verehrung wird das Linga mit Unmengen Wasser, Milch, Joghurt, Honig und Kokosmilch übergossen und mit Duftölen gesalbt.
Eine Geschichte aus der Mythologie setzt Shivas Allmacht, also seine Omnipotenz, mit der Größe seines Phallus gleich. Einst stritten sich Brahma und Vishnu, der Schöpfer und der Beschützer der Welt, darüber, wer von ihnen der Stärkere sei. Sie konnten sich aber nicht einigen. Der Streit artete in einen Krieg aus und gefährdete die Welt. Da entschloss sich Shiva, die Streitenden Demut zu lehren. Er ließ seinen Penis in Form einer unendlich großen Lichtsäule zwischen ihnen aufragen. Dann befahl er ihnen, den Beginn und das Ende dieses Phallus in Erfahrung zu bringen. Der Schöpfergott nahm die Form eines Schwans an und flog aufwärts zum Himmel, um das obere Ende zu ermitteln. Vishnu verwandelte sich in ein Wildschwein und grub sich durch die Erde, um das untere Ende des Phallus zu finden. Nach einer langen, vergeblichen Suche kehrten beide zurück und standen demütig vor dem Licht-Linga, worin sie die Allmacht Shivas erkannten. Sogleich unterwarfen sie sich Shiva.20 Die Tempelbildhauer hatten – wie anders? – ein Faible für diese Geschichte.
Gleichwohl gilt Shiva als ein asketischer Gott, da er die Ideale der Yoga-Philosophie verkörpert, die in Besitzlosigkeit und Weltentsagung ihren höchsten Ausdruck finden – nicht umsonst heißt er auch Yogishwara, der Herr des Yogas.21 Aparigraha, die Besitzlosigkeit, beherzigt er so sehr, dass er nicht einmal Kleidung besitzt und als digambara22 bekannt ist. Er trägt auch keine Schmuckstücke, außer den Giftschlangen, die sich um seinen Hals winden. Darum sein Beiname Nagabhushana, der von Kobras Geschmückte. Sein bevorzugter Aufenthaltsort ist die Verbrennungsstätte,23 sein Körper ist mit der Asche der verbrannten Leichen, die die Vergänglichkeit der Welt symbolisiert, eingerieben. Versunken in Meditation vernachlässigt er die Pflege seines Körpers. Wegen seiner verfilzten Haare ist er als Kapardi bekannt. Seine Absage an jede Art von Besitz geht so weit, dass er zur eigenen Ernährung um Almosen bettelt, weshalb er auch Herr der Bettelei24 genannt wird.
Ganz anders Vishnu, der Beschützer der Welt, in seiner opulenten Erscheinung. Er hält sich auf dem Milchmeer auf, ruht auf dem weichen Schlangenkörper von Adishesha, der Riesenkobra, deren 1000 Hauben einen schattigen Schirm über seinem Kopf bilden. Kaustubha, einer der acht wertvollsten Juwelen der Welt, schmückt seine Brust. Seine Gemahlin Lakshmi, die Tochter des Milchmeers und Göttin des Wohlstands, sitzt ihm zu Füßen, die sie demütig massiert.
Götter wenden sich als Erstes an Vishnu, wenn sie von Dämonen bedroht werden. Um sie zu schützen, die guten Menschen zu erlösen und Gerechtigkeit in der Welt wiederherzustellen, inkarniert sich dieser immer wieder aufs Neue und erscheint auf der Erde. Das hat er seinen Verehrern versprochen. Jedes Mal, wenn er in die Welt herabsteigt, begleitet ihn seine gesamte Entourage. Auch seine Gemahlin, die Riesenkobra, seine Keule und sein Diskus und andere Gottheiten werden dann als Menschen geboren.
So war es auch, als sich Vishnu im Tretayuga als Rama inkarnierte,25 um die Welt von den Gräueln des zehnköpfigen Dämons Ravana zu erlösen. Seine glorreiche Jugend, die ihre Krönung in der Ehe mit Sita und in der Entscheidung seines Vaters, ihn auf den Thron zu setzen, fand, nahm jedoch eine tragische Wende. Seine Stiefmutter sorgte dafür, dass Rama nicht nur auf den Thron verzichten, sondern auch für vierzehn Jahre in die Waldverbannung gehen musste. Hier in der Wildnis geschah etwas, das eine Absonderlichkeit des Hinduismus offenbart, die so in anderen Weltreligionen kaum vorstellbar wäre.
Zu den Attributen der Hindugötter gehören Allgegenwärtigkeit, Allwissenheit und Allmacht, aber auch Wahrheit, Güte und Schönheit.26 Rama, eine Inkarnation Vishnus, war ein außerordentlich schöner Mann. Als er während seiner Verbannung durch die Wildnis streifte, betörte seine Schönheit ungewollt einige Eremiten, die dort jahrelang in der Abgeschiedenheit des Waldes meditiert hatten. Sie verliebten sich in Rama, begehrten ihn und wollten sich ihm ganz und gar hingeben. Die höchste Form der Hingabe ist zweifelsohne die einer Frau zu ihrem Mann – der ewigen Braut zu ihrem Gemahl.27 Die Eremiten begehrten den Gott in körperlicher Liebe, die unter der Bezeichnung Mathura bhakti, süße Hingabe, bekannt ist. Rama musste gegen diese homophile Hingabe eine Abneigung empfunden haben, weswegen der Wunsch der Eremiten unerfüllt blieb. Jeder unerfüllte Wunsch ist aber ein Hindernis auf dem Weg zur Erlösung. Es war nun die Pflicht des Gottes sowie der Gläubigen, dieses Hindernis zu beseitigen.
Dies geschah in dem auf Tretayuga folgenden Zeitalter Dwaparayuga28, in welchem die Eremiten sich als Kuhhirtinnen und Vishnu als Krishna inkarnierten. Da Krishna Gott war, erinnerte er sich an die vergangenen Existenzen und auch an die Sehnsüchte dieser Dorfweiber; diesmal erfüllte er ihre Wünsche nach Herzenslust. Die Liebe zwischen den Kuhhirtinnen und Gott bildet den Kern des Krishna-Kults, der durch die ganze Geschichte Indiens bis heute unzählige Anhänger hat und den zentralen Gegenstand zahlreicher Werke von Dichtkunst, Tanz, Musik, Malerei und Bildhauerei bildet.
Krishnas Name wird üblicherweise als »der Schwarze« oder »der Dunkelhäutige« übersetzt und so wird er auch von Kunstmalern dargestellt. Besser wäre es jedoch, ihn als »den Attraktiven« oder »den Magnetischen« zu übersetzen, da der Name von der Wurzel krish, die unter anderem »anziehen« bedeutet, abgeleitet wird. Krishna übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Menschen und Tiere gleichermaßen aus. Die Beschreibung seiner Person passt haargenau auf die eines Lebemannes im Kamasutra: Er hat eine gepflegte äußere Erscheinung, trägt seidene, meist gelbe Gewänder, seine Haut duftet angenehm nach Sandelpaste, ein Moschus-Tilaka29 verziert seine Stirn und eine Perle seine feine Nase. Die Haare sind auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengefasst, worin Pfauenfedern stecken. Seine Arme sind von Armreifen geschmückt und eine große Girlande hängt von seinem Nacken herab. Aus seiner Flöte, die ihn immer begleitet, ertönen die betörenden Ragas, Melodien. Er ist der Betörer, Mohana, und Erzeuger der Liebestriebe.30
Die heilige Schrift Shrimadbhagavata Purana, die die Lebensgeschichte von Krishna erzählt, gibt ausführlich Auskunft über ihn, seine zahlreichen Kuhhirtinnen und seine Liebesorgien in mondbeleuchteten Frühlingsnächten am Ufer des Yamuna-Flusses.
Ganze Vrajabhumi, die Gegenden der Kuhhirten,31 liebte Krishna grenzenlos. Die Kuhhirtinnen verliebten sich hoffnungslos in ihn und wollten eins mit ihm werden. Um ihn für sich zu gewinnen, vollführten sie ein Ritual für die Muttergöttin Katyayani, damit die glücklich Umgestimmte ihnen den Wunsch gewähre, Krishna zu erobern. Bei dieser Zeremonie zu Ehren der Muttergöttin soll eine Frau bei Morgengrauen im Fluss Yamuna baden, danach aus dem Lehm des Flussufers eine Figur der Muttergöttin formen, sie verehren und dann mit einem bestimmten Mantra auf sie meditieren. Dabei soll sie sich den Mann wünschen, den sie begehrt.