Inka Loreen Minden

Secret Passions

Opfer der Leidenschaft

gay romance

 

Inhalt

Der vierte Gay Historical von Inka Loreen Minden!

 

Bad Boy Derek verführt den Earl of Torrington

 

Ein Mörder geht um in London. Seine Opfer: Männer, die Männer begehren.

Detektive Derek Brewer von Scotland Yard versucht dem Killer auf die Schliche zu kommen und merkt nicht, dass er sich längst in dessen Nähe befindet.

Bei seinen Recherchen lernt er Simon Grey, den Earl of Torrington, kennen. Doch der Mann hat ein Geheimnis und viele meiden ihn wegen seiner düsteren Vergangenheit. Aber welch dunkle Leidenschaften verbirgt er wirklich?

Trotz aller Widrigkeiten kommen sich die beiden näher und können nicht voneinander lassen, obwohl sie wissen, dass ihre Beziehung keine Zukunft hat. Dennoch verlieren sie sich immer mehr in einem Strudel der Lust …

 

Zwei ungleiche Männer, verbotene Sehnsüchte und spannende Kriminalfälle im London des 19. Jahrhunderts.

 

Im gewöhnlichen Taschenbuchformat hätte dieser Roman 300 Seiten!

 

 

»amor vincit omnia – Liebe besiegt alles«

Vergil

 

Kapitel 1

 

Derek schob einen Finger unter das eng anliegende Leder, um sich an der Nase zu kratzen. Wie er diese Maske hasste! Er schwitzte darunter wie eine Küchenmagd vor dem Herd. Hier musste er die Gesichtsbedeckung jedoch tragen. Das war Vorschrift. Nicht, dass er wild darauf wäre, erkannt zu werden. Diese Anonymität kam ihm gerade recht.

Seufzend lehnte er sich im Sessel zurück, streckte die Beine aus und gähnte herzhaft. Wie jede Nacht in den letzten vier Wochen befand er sich auch heute im Sherman House. Das war ein nobles Etablissement, in dem sich Männer mit Männern trafen, um sich körperlichen Gelüsten hinzugeben. Nur Eingeweihte kannten diesen Treffpunkt; offiziell war das Sherman House als exklusiver Herrenclub bekannt. Sodomie wurde hart bestraft. Derek tat also gut daran, sein schmutziges Geheimnis zu wahren. Aber er war ja nicht zu seinem Vergnügen hier. Derek suchte einen Mörder.

Er seufzte erneut, nippte an seinem Wein und murmelte: »Langweilig.« Gereizt fuhr er sich durch sein braunes Haar. Selbst auf seiner Kopfhaut schwitzte er. Hier drin war es viel zu warm und stickig. Außerdem zerrte die Musik an seinen Nerven.

Derek warf einen flüchtigen Blick auf den Klavierspieler, einen Burschen von etwa achtzehn Jahren. In welcher Schenke hatte Oliver den aufgetrieben? Der Mann spielte furchtbar. Vielleicht erkannte er lediglich seine Noten nicht. Bloß drei Leuchter erhellten den großen Salon und sorgten für schummriges Licht.

Derek saß in einer Ecke des Raumes, von wo aus er einen wunderbaren Überblick hatte und die beiden Türen im Auge behalten konnte. Er bekam genau mit, wer kam und wer ging. Außerdem brauchte er nur seine Hand zum Buffet auszustrecken, damit er sich am Essen bedienen konnte.

Er stellte sein Glas ab, griff nach einem Bündel Weintrauben, pflückte eine süße Beere nach der anderen ab und ließ sie genüsslich im Mund verschwinden. Wenigstens das Essen war vorzüglich. Sein Freund Oliver Clearwater, der das Sherman House unterhielt, scheute keine Mühen. Allerdings ließ er sich jeglichen Service eine Menge kosten, weshalb hauptsächlich vermögende Kaufleute oder Adlige hier anzutreffen waren.

Ein Herr schlenderte an Derek vorbei, ein richtiger Geck in einem weinroten Frack, und streifte dabei sein Knie. Eine stumme Aufforderung, mit ihm nach oben zu gehen.

Derek schüttelte den Kopf, ohne ihn weiter zu beachten.

Eine Zeit lang beobachtete er einen dicken Alten, dem in Strömen der Schweiß unter der Maske hervorlief, nur weil ein junger Gespiele auf seinem Schoß saß und die Hände unter seine Weste geschoben hatte. Alle Anwesenden im Salon waren bekleidet. Hier sollte es relativ sittsam zugehen. Wer mehr wollte, musste die privaten Räume aufsuchen oder eine jener »Lusthöhlen«, wo man sich mit mehreren Partnern vergnügen konnte. Im Keller des Gebäudes gab es außerdem richtige Verliese, in denen die wirklich harten Akte stattfanden.

Derek wusste, wer der korpulente Mann war: Sir William Shaklesbridge. Der viel jüngere Bursche auf seinem Schoß war sein Kammerdiener. Die beiden kamen immer zusammen her, wahrscheinlich, damit Shaklesbridges Frau nichts von ihrer Liaison mitbekam.

Derek hatte in den vergangenen Wochen alle regelmäßigen Besucher bis zu ihren Wohnsitzen verfolgt, um ihre Identitäten zu enthüllen. Bisher hatte ihn allerdings noch keine Spur zum Mörder geführt, der seine Opfer hinterrücks erstach, immer, wenn sie nach ihren »Vergnügungen« auf dem Weg nach Hause waren. Alle drei ermordeten Adligen waren Kunden des Sherman House’ gewesen. Das hatte Derek sehr schnell herausgefunden.

Chief Inspektor Brown von Scotland Yard hatte Derek gebeten, den Fall zu übernehmen, weil er die Straßen Londons wie seine Westentasche kannte, Kontakt zum »Untergrund« hatte und dank seiner Vergangenheit allerlei Vorteile aufwies. Derek war nicht stolz auf das, was er früher getan hatte, dennoch freute es ihn, helfen zu können. Er liebte die Polizeiarbeit.

Oliver war direkt erleichtert gewesen, dass Derek mit dem Fall betraut worden war. Derek verstand ihn. Sein Freund, den er als Einzigen eingeweiht hatte, wollte die Sache schnell geklärt haben, könnte es schließlich ein schlechtes Licht auf sein Etablissement werfen. Noch war zu keinem der Anwesenden durchgedrungen, dass der Mörder offensichtlich ein Sodomitenhasser war, und dabei sollte es auch bleiben. Keine Panik – die Geschäfte mussten weiterlaufen.

Derek hatte Inspektor Brown, der von einem gewöhnlichen Straßenräuber ausging, bisher ebenfalls nicht erzählt, dass die drei Opfer alle eines gemeinsam hatten. Derek war kaum besser als diese Männer, die sich vor seinen Augen geradezu schamlos benahmen, und der Inspektor sollte das niemals erfahren. Sir William, zum Beispiel, steckte seinem Kammerdiener die Zunge in den Mund, während sich auf einer Chaiselongue zwei andere Herren durch ihre Hosen mit der Hand befriedigten. Dieses Schauspiel musste sich Derek nicht weiter antun. Er holte tief Atem, warf die leergepflückte Traubenrispe zurück auf den Teller und erhob sich. Er sollte gehen und ordentlich ausschlafen. Es war bereits kurz vor ein Uhr morgens. Draußen erwarteten ihn eine laue Sommernacht und ein wenig bessere Luft als hier drin. So wie es schien, würde er heute an keine neuen Informationen gelangen.

Lust auf ein schnelles Abenteuer hatte er nicht. Nicht mit einem von ihnen. Hier war kein Mann, der ihn interessierte. Diese aufgeblasenen Adligen, die vor keiner Perversion zurückschreckten, vermochten seine Leidenschaft schon lange nicht mehr zu wecken. Die meisten ließen alles mit sich anstellen und gierten stets nach härteren Praktiken. Das war nicht das, was Derek wollte. Außerdem musste er morgen zu einem Klienten. Inspektor Brown hatte ihm einen neuen Fall besorgt, einen, bei dem ihm ein Bonus obendrauf bezahlt wurde. Beim Sodomitenmörder trat er ohnehin auf der Stelle. Er schlug immer dann zu, wenn Derek im Sherman House war – es war frustrierend.

Vielleicht hatte Derek bei seinem neuen Auftrag mehr Glück. Er brauchte das Geld, denn er wollte sich endlich eine anständige Wohnung leisten. Alles, was er sich neben der Polizeiarbeit dazuverdienen konnte, kam ihm gelegen.

Gerade war er auf dem Weg zum Ausgang, als die Tür aufschwang. Ein großer Mann trat ein, den Derek hier noch nie gesehen hatte. Sein Puls beschleunigte sich. Ein Neuzugang kam selten vor und stattlich sah er außerdem aus. Auf den ersten Blick unterschied er sich kaum von den anderen: Er trug lange Hosen in dezentem Schwarz, ein blütenweißes Hemd, eine Weste und einen Frack. Um den Hals hing einer dieser modernen Männerschals: schillernde, dunkelgrüne Seide. Der Neue war ebenso perfekt angezogen wie die anderen. Aber da lag etwas in seiner ganzen Erscheinung … Die Gespräche verstummten.

Er strahlte eine gewisse Unschuld aus. Er war womöglich noch rein, unverdorben – auf jeden Fall ein Spiel wert.

Dereks Herz schlug schneller. Vielleicht wurde die Nacht doch ganz interessant.

Wie alt mochte er sein? Von seiner Position hier hinten im Raum konnte Derek das schlecht schätzen, dazu war es zu düster. Ihm stachen jedoch die schlanke Figur und die schwarzen Haare ins Auge, die im Kerzenschein glänzten wie das Gefieder eines Raben. Keine grauen Strähnen.

Seufzend fuhr sich Derek durch sein eigenes Haar, wobei er aufpassen musste, dass seine Halbmaske aus Leder nicht verrutschte. Der Fremde trug natürlich auch einen Gesichtsschutz, einen relativ großen, wie die meisten Gäste; seine Lippen waren dennoch gut zu erkennen. Im Moment hatte er sie fest aufeinandergepresst. Er wirkte nicht arrogant; kein bisschen überheblich, wie mancher Dandy hier. Eher unsicher, eingeschüchtert, so verloren, wie er an der Tür stand, bevor er seine Schultern straffte und einige Schritte in den Salon machte.

In Dereks Magen kribbelte es. Das wäre ein Gespiele nach seinem Geschmack. Derek erkannte auf Anhieb, wenn er einen absoluten Neuling vor sich hatte. Sein Jagdinstinkt war geweckt. Er wollte ihn unbedingt, bevor ihn ein anderer wegschnappte.

»Frischfleisch«, hörte er die Anwesenden tuscheln, die gierig ihre Hälse nach dem Besucher reckten.

Derek schoss jedoch ein anderer Gedanke durch den Kopf: Potenzieller Mörder.

Sein Atem stockte. Der Herr war zu perfekt, zumindest äußerlich. Er musste diesen Mann beobachten, durfte sich nicht durch seine eigenen Vorlieben ablenken lassen.

Vorsicht Derek!, ermahnte er sich. Vielleicht markierte der Ankömmling nur den Unschuldigen. Er konnte durchaus der Killer sein, der mit ihnen allen spielte.

Unschlüssig stand der Neue im Raum. Obwohl er eher unaufdringliche Kleidung trug, offenbarte die Qualität des Stoffes, dass er viel Geld besaß. Reiche Liebhaber waren im Sherman-House die begehrtesten Objekte, nicht nur in körperlichen Angelegenheiten.

Seufzend studierte Derek seine Gestalt und nippte dabei am Wein. Der Mann war groß, breitschultrig und besaß bestimmt Kraft. Er könnte einen wunderbaren Killer abgeben, nur – wer konnte das nicht. Jeder hier war verdächtig, selbst der Kammerdiener, der nun nicht mehr am dickbäuchigen Sir William herumspielte, sondern den Blick ebenfalls auf die »frische Ware« gerichtet hielt. Die beiden hatten eine Vorliebe für hemmungslose Dreier.

Der Mann schaute sich um und schlenderte dann zum Tisch mit den Speisen. War ein Killer so unverfroren und suchte sich sein nächstes Opfer direkt vom »Buffet« aus?

Derek ging einige Schritte näher an ihn heran, um ihn zu studieren. Er tat selbst so, als interessierte ihn das Essen, wobei er einen Blick zur Seite warf. Der Neue besaß lange, schlanke Finger, die leicht behaart waren. Die Nägel sahen gepflegt aus, dennoch verrieten Hände oft das wahre Alter eines Menschen. Dereks Blick wanderte höher. Um die Mundwinkel hatte er wenige Fältchen – Gott, was für sündhafte Lippen! –, woraufhin Derek ihn auf Anfang dreißig schätzte, also kaum älter als er selbst.

So alt und doch wirkte er wie ein unschuldiger Knabe? War sein Verhalten aufgesetzt?

Manchen Anwesenden dieses Etablissements war es egal, wie alt ihre Liebhaber waren oder wie sie aussahen, wenn sie nur reich genug waren. Sie legten lediglich Wert darauf, von ihnen ausgehalten zu werden. Aber Derek war kein Kostverächter – er brauchte auch etwas fürs Auge, und dieser Mann schien nicht nur vermögend zu sein, sondern war genau nach seinem Geschmack!

Derek versuchte ruhig weiterzuatmen und sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Er musste irgendwie an ihn herankommen, herausfinden, wer er war, ob er wirklich bloß hierher gekommen war, um sich zu vergnügen, oder ob er dunklere Absichten besaß.

Sofort wurde der Neue von mehreren Herren umrundet und begafft wie ein englisches Vollblutpferd. Der Besucher griff nach einem Champagnerglas und leerte es in einem Zug. Trotz des Dämmerlichts sah Derek, wie dessen Hände zitterten. Er war also alles andere als ruhig, aber ein guter Schauspieler; er versteckte seine Nervosität vorzüglich.

Die Herren bedrängten ihn weiterhin, begannen sogar, ihn zu berühren und Wetten abzuschließen, für wen sich der Frischling entscheiden würde. Jeder wollte ihn für sich, doch er schien es sich nun anders zu überlegen. Er stellte das Glas zurück auf den überladenen Tisch, bahnte sich elegant einen Weg durch die Maskierten und steuerte die große Flügeltür an, durch die er gerade erst gekommen war. Leider versperrten ihm zwei weitere Männer, die süffisant lächelten, den Ausgang. Offensichtlich hatten sie es ebenfalls auf ihn abgesehen. Er saß in der Falle!

»Wohin denn so eilig, mein Süßer?«, gurrte Sir William und kniff dem Neuen in den Hintern.

Derek sah, wie sich die Hände des Herrn zu Fäusten ballten. In seinem Magen kribbelte es vor Unruhe. Wenn das der Mörder war! Er durfte nicht entkommen. Das war eine einmalige Chance!

Und wenn er kein Killer war, dann … Sein Beschützerinstinkt verdrängte den Jagdtrieb.

»Er ist für diese Nacht schon vergeben, meine Herren!«, rief Derek mit verstellter Stimme. Im Sherman House benutzte er seinen besten Cockney-Dialekt, der ihn als gewöhnlichen Arbeiter der Unterschicht kennzeichnete. Wahrscheinlich ließen ihn die hohen Herren deshalb links liegen – was ihm sehr recht war. Derek war eben keiner von ihnen, was er seiner rauen Vergangenheit zu verdanken hatte. Aber nicht nur, weil er von den Schnöseln in Ruhe gelassen werden wollte, verstellte er hier seine Stimme. Er verspürte auch nicht das Bedürfnis, von einem der Umstehenden einmal irgendwo wiedererkannt zu werden.

Sein Straßenjargon hatte noch einen anderen Vorteil: Er war kein potenzielles Opfer, zumindest nicht nach seinen Recherchen. Der Mörder hatte es bislang nur auf äußerst Reiche abgesehen gehabt.

Die Arme ausgestreckt, eilte Derek auf den verunsichert wirkenden Mann zu, ergriff dessen Hand und zog ihn an sich. Während er ihn umarmte, flüsterte er ihm zu: »Spiel einfach mit und du bist gleich draußen.«

Sofort stieg ihm der aromatische Geruch einer Rasierseife in die Nase: Sandelholz, ein balsamisch-süßer und samtiger Duft … Sandelholzseife gehörte zu den teuersten und am schwersten erhältlichen Seifen in England.

Derek fühlte die Muskeln des Unbekannten, spürte die Hitze durch seine Kleidung. Der Neue war ein wenig kleiner als er und starrte Derek durch die Maske hindurch direkt an. Leider war es zu dunkel, um seine Augenfarbe zu erkennen. Derek konnte sowieso nur auf die schön geschwungenen Lippen blicken, die sein Gegenüber leicht geöffnet hatte, als wollte er widersprechen. Dazu ließ ihm Derek keine Zeit. Er geleitete den Mann zu einem hinteren Ausgang, während die anderen murrten und sich wieder ihren Partnern hingaben.

Dann stieg Derek mit dem Fremden an der Hand die Stufen zur oberen Etage empor. Ohne Widerspruch ließ sich der Mann von ihm durchs Treppenhaus führen. Es wurde von einer großen, freihängenden Lampe erhellt. Oliver hatte wirklich keine Kosten gescheut; im Sherman House gab es gasbetriebenes Licht und teilweise fließendes Wasser.

Sein Begleiter hatte bis jetzt kein Wort gesprochen, und auch als Derek mit ihm durch den langen Flur schritt, von dem auf beiden Seiten Türen abzweigten, hinter denen dumpfe Stöhnlaute zu vernehmen waren, verhielt er sich ruhig.

Plötzlich fühlte es sich seltsam an, diese große Hand zu halten. Dereks Herz klopfte schneller und er zitterte. Er konnte es nicht leugnen: Er war aufgeregt. Weil er allein mit einem möglichen Mörder war oder weil er sich freute, den Unbekannten zu entblättern? – Natürlich nur, um herauszufinden, ob er bewaffnet war!

Sie hielten vor einer Tür. Derek ließ seinen Begleiter los und zog einen Schlüssel aus seiner Weste, mit dem er aufsperrte. Oliver hatte dieses Zimmer nur für ihn reserviert. Derek hätte hier wohnen dürfen, aber das Risiko ging er dann doch nicht ein. Tagsüber wollte er ungern in der Nähe dieses Hauses gesehen und mit ihm in Verbindung gebracht werden, obwohl das gewaltige Himmelbett mit der weichen Matratze und die große Badewanne schon verlockend waren.

Zögernd blieb der Neue auf der Schwelle stehen. Zum ersten Mal hörte Derek ihn sprechen, was ein Prickeln über seinen Rücken schickte: »Hier geht es aber nicht nach draußen.«

Der Fremde besaß eine angenehme, feste Stimme, viel zu wohlklingend für einen Killer. Täuschung, Derek, was ist nur los mit dir?

Sofort legte er dem Unbekannten einen Finger auf den Mund und flüsterte: »Pst. Du solltest leise reden oder deine Stimme verstellen.«

Meine Güte, warum hatte er das gesagt? Derek erschrak vor sich selbst. Wenn das hier der Killer war, dann sollte Derek ihm wirklich keine Tipps geben, sich bedeckt zu halten. Aber ein Gefühl tief in ihm drin, das auf seiner jahrelangen Erfahrung und seinem Instinkt aufbaute, sagte ihm, dass er es mit einem gewöhnlichen Reichen zu tun hatte, der einfach nur zu seinem persönlichen Vergnügen hierher gekommen war.

Derek konnte sich gut an sein erstes Mal im Sherman-House erinnern und wusste, wie aufgeregt der Mann sein musste, aber auch wie verzweifelt.

Oder der Mörder ist nervös.

Wer hierher kam, spielte mit seinem Leben. Es galt, gewisse Regeln zu beachten, wenn man es vorzog, seiner Lust weiterhin zu frönen, und dazu gehörte, nicht erkannt zu werden. Der Fremde schien das zu begreifen, denn die Augen hinter der Maske wurden größer.

Immer noch den Finger auf diesen herrlichen Lippen, strich Derek sanft darüber und bemerkte, wie voll und weich sie waren. Wunderschön … perfekt …

Ob er in den Genuss kommen würde, sie zu küssen? Niemals zuvor hatte Derek das Bedürfnis verspürt, mit einem Besucher dieses Etablissements derart intim zu werden, aber bei diesem hier würde er vielleicht eine Ausnahme machen. Derek musste nur die Oberhand haben, so wie eigentlich immer. Denn der Mörder konnte auch erst den Verführer spielen, um dann zu töten, wenn das Opfer es am wenigsten vermutete und womöglich nackt und wehrlos war.

Die Lider schließend, schien sich der Unbekannte Dereks Berührungen hinzugeben. Er atmete schneller, bewegte sich allerdings nicht, seine Arme hingen an den Seiten herab. »Ich weiß nicht, ob ich das kann«, wisperte er.

Derek durfte ihn auf keinen Fall gehen lassen. »Du bist doch hergekommen, um Spaß zu haben.«

Der Mann nickte.

»Dann versuche es. Ich werde nichts tun, was du nicht willst. Nur Mut. Der Anfang ist immer das Schwerste.«

»Okay«, hauchte er.

»Wie heißt du?«, fragte Derek.

»S…« Sein Gegenüber wollte zum Sprechen ansetzen, als Derek hastig hinzufügte: »Verrate niemandem deinen wirklichen Namen! Ich nenne mich hier Marcus.« Falls sich der Mann verdächtig verhielt, würde Derek ihm einfach nach Hause folgen. Er war nicht umsonst ein Meister der Tarnung. Für den Anfang war es aber nötig, ihn in Sicherheit zu wiegen, falls er überhaupt etwas mit den Morden zu tun hatte.

»Stuart«, flüsterte er und fuhr sich durch das dichte schwarze Haar.

»Was sind deine Vorlieben?«, fragte Derek alias Marcus neugierig.

Stuart hob die Schultern. »Ich habe noch nicht viele Erfahrungen gesammelt.«

»Gut, dann lass uns herausfinden, was dir gefällt.« Bitte lass ihn nicht der Killer sein. Stuart ist einfach zu interessant.

In seinem Unterleib kribbelte es. Er sperrte sein Zimmer ab und ging mit Stuart den Flur entlang bis zum Ende. Dort befand sich eine schmale, unscheinbare Tür, hinter der sich ein Geheimgang anschloss. Dieser führte an mehreren Räumen vorbei. Wer viel Geld bezahlte, konnte den anderen Gästen durch Gucklöcher bei ihren Liebesspielen zusehen. Derek hatte natürlich das Privileg, alles im Haus umsonst nutzen zu dürfen. Es gab Lakaien, die in den Fluren standen und überwachten, dass sich keiner unrechtmäßig bediente.

Derek nickte einem dieser Angestellten zu, öffnete die Tür und winkte Stuart in den pechschwarzen Gang.

Stuart zögerte. »Was ist dort drin?«

»Lass dich überraschen«, sagte Derek und ließ ihn vorangehen. An den Schultern schob er ihn vorwärts. »Streck deine Arme aus, Stuart. Gleich kommt eine Wand.«

Derek sah bereits aus einiger Entfernung die kleinen Löcher, durch die Licht schien. Es waren Gucklöcher, sogenannte Peepholes, durch die man in diverse Zimmer schauen konnte.

Stuart blieb stehen. Derek drängte sich leicht an ihn. »Schau hindurch und beschreibe mir, was du siehst«, wisperte er Stuart ins Ohr. »Dann sagst du mir, was du davon einmal ausprobieren möchtest.«

Zögerlich kam Stuart seinem Wunsch nach und beugte sich nach vorne. Dabei drückte sich sein Gesäß gegen Dereks Schritt. Ein Pulsieren schoss durch seine Lenden, als sich der feste Hintern an sein Geschlecht drängte.

Leider dauerte der Moment viel zu kurz. Stuarts Kopf schnellte hoch.

Derek wollte gerade reagieren, sich einem Kampf stellen, als er erkannte, dass Stuart sich erschrocken hatte.

Langsam hatten sich Dereks Augen an die Dunkelheit gewöhnt, denn durch die zahlreichen Löcher fiel Licht. Stuart lehnte an der Wand, die Lider geschlossen.

»Hat dir nicht gefallen, was du gesehen hast?« Derek spähte kurz in das Zimmer. Ein nackter Mann stand dort, den Bauch an eine Wand gepresst, Arme und Beine wie ein X gespreizt. Er war an Ringen festgekettet und sein Rücken übersät mit roten Striemen. Der Maskierte mit der Peitsche kniete zwischen den Schenkeln, das Gesicht in das Gesäß des Gefesselten gepresst, und leckte ihn hingebungsvoll.

Derek trat neben Stuart und legte seine Hand unvermittelt auf dessen Schritt. Stuart zuckte zusammen, Derek grinste. Der Mann hatte eine Erektion!

Derek rückte näher heran, ohne seine Hand wegzunehmen, und flüsterte: »Irgendetwas an der Szene hat dir also doch gefallen.«

Als Stuart nichts erwiderte, drückte Derek zu, massierte ihn durch die Hose, bis Stuart stöhnte, und zog anschließend abrupt seine Hand weg.

Stuart stöhnte erneut auf, nur diesmal klang es frustriert.

»Sag mir, was dir gefallen hat, dann …« Derek legte seine Hand ein weiteres Mal auf Stuarts Schritt und wiederholte die Prozedur, bevor er sie erneut wegnahm.

»Ich … es … er hat ihn …« Stuarts Stimme brach.

»Geleckt?«, hauchte Derek an seine Wange.

Stuart nickte.

Derek begann wieder, ihn durch den Stoff zu massieren. »Bist du schon mal geleckt worden?«

Als Antwort bekam er ein Kopfschütteln.

»Lass uns zu einem anderen Raum gehen.« Derek nahm Stuarts Hand und führte ihn zu den nächsten Gucklöchern. Bevor er Stuart hindurchsehen ließ, schaute er selbst: Ein junger Mann, vom Körperbau nicht älter als zwanzig, lag mit verbundenen Augen auf einem Bett. Splitternackt. Hände und Füße wurden ihm von jeweils einem Maskierten festgehalten, während sich ein Dritter über ihn beugte und sich an seinem Geschlecht gütlich tat. Die Spitze war hochrot und es zuckte, wenn es kurz aus dem Mund entlassen wurde.

Die drei wesentlich älteren Herren waren alle noch vollständig bekleidet, nur ihre Erektionen ragten aus der Hose. Ab und zu tauschten sie die Positionen und beugten sich zum Gesicht des Wehrlosen hinab, der sie abwechselnd mit dem Mund befriedigen musste, während er selbst verwöhnt wurde.

Derek ließ Stuart schauen, stellte sich wieder dicht hinter ihn und ließ ihn seine Härte spüren.

Normalerweise hatte Derek keinen Verkehr mit Männern der »besseren Gesellschaft«. Er verabscheute sie. Lieber suchte er sich einen von seinesgleichen, auch wenn die sich nur selten hierher verirrten. Warum ließ er dann nicht von Stuart ab? Er war nicht der Killer, sicher nicht.

Was, wenn doch?, redete er sich ein, nur um nicht von seiner Seite weichen zu müssen.

Aber ließ sich ein Sodomitenhasser tatsächlich auf diese Art berühren? Stuart schien seine Zuwendungen wirklich zu genießen. Er lehnte sich gegen Derek und ließ es zu, dass dieser ihm erneut zwischen die Beine fuhr. Derek hatte beide Arme um ihn gelegt und streichelte wie beiläufig an Stuarts Körper auf und ab. Tatsächlich durchsuchte er ihn nach Waffen. Er trug jedoch keine bei sich.

Derek fand immer mehr Gefallen an dem Mann. Er war nie und nimmer der Mörder. Derart abgebrüht war niemand, zumal Stuart ihm nichts vormachen konnte. Er war hocherregt.

Derek entspannte sich. Nun würde er ihr Spiel auch genießen können.

»Was machen sie jetzt?«, fragte Derek, der sich weiterhin gegen Stuart presste und seine Lenden an ihm rieb. Dabei drückte er Stuarts Schal nach unten, unter dem sich ein feiner Schweißfilm gebildet hatte. Sachte blies Derek über die feuchte Haut. Stuart erschauderte und stöhnte leise. Dieser Mann hatte offensichtlich noch nicht viel Zuwendung genossen. Er reagierte auf die leisesten Zärtlichkeiten, auf das Lecken der Ohrmuschel, auf das Küssen des Nackens. Mm, wie gut er dort duftete, nach Sandelholz und Mann.

Derek ließ die Hand zum Bund von Stuarts Hose wandern. »Nicht so schüchtern. Was siehst du?«

Stuart holte tief Luft. »Der junge Mann kniet auf allen vieren. Die anderen … sie wechseln sich ab.«

»Womit? Was tun sie, Stuart?« Derek nestelte an der Hose herum, bis er sie endlich ein Stück geöffnet hatte.

Stuart zitterte. »Sie … nehmen ihn. Von hinten.«

»A tergo«, flüsterte Derek und glitt in Stuarts Hose. Seine Finger stießen an die Penisspitze, die warm, glatt und feucht von Stuarts Lust war.

Sein neuer Liebhaber stöhnte erneut auf. »W-was?« Er atmete schwer. Da Dereks Sinne im Dunkeln geschärft waren, nahm er Stuarts Intimduft wahr: herb und maskulin. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Er würde zu gerne von Stuart kosten, aber das könnte ihn verschrecken. Derek würde es bei diesem Mann langsam angehen lassen. Er wollte ihn entdecken, Stück für Stück, seine Lüste herauskitzeln und erforschen, wie weit er bei ihm gehen konnte.

»A tergo bedeutet: Geschlechtsverkehr von hinten. Die Eichel wird dabei besonders intensiv stimuliert.« Mit dem Daumen rieb er über Stuarts feuchte Spitze. »Ich liebe diese Stellung. Die Penetration ist besonders tief und intensiv.« Der Penis in seiner Hand zuckte.

Derek lachte leise. »Du magst es, wenn ich dir das erkläre?«

»Es ist … interessant«, sagte Stuart schwer atmend.

Derek grinste. »Du meinst: erregend, aufregend, lustvoll.« Mit allen Fingern umschloss er das fremde Geschlecht, um es kraftvoll zu massieren.

Aus Stuarts Kehle löste sich ein dunkler, vibrierender Laut, der Derek durch und durch ging. Sein eigenes Geschlecht war bereits hart wie Granit und drückte unangenehm gegen seine Hose. Mit gekonnten Griffen befreite er es aus der Enge und seufzte auf. Er rieb seine Erektion an Stuarts Hose, in der Hoffnung, dass der sie auch endlich in die Hand nehmen würde.

»Magst du, wenn dir jemand sagt, was du tun sollst?«, wisperte Derek nah an Stuarts Ohr, dann leckte er es ab. Das Geschlecht in seiner Hand schwoll weiter an. Dick war es, groß und schwer. Aus der prallen Spitze liefen unentwegt Tropfen. »Ja, du magst es.«

Als Stuart den Kopf senkte, zog es heftig hinter Dereks Brustbein. Dieser Mann hatte von Natur aus eine devote Ader, das spürte er überdeutlich. Es würde ihm höchsten Genuss bereiten, ihn zu formen, mit ihm zu »arbeiten«, ihn anzuleiten, seine Lust herauszulassen.

»Dreh dich um, Stuart«, befahl Derek leise.

Er gehorchte.

Mit dem Zeigefinger zog Derek den Schwung von Stuarts Lippen nach, ließ ihn über das Kinn gleiten und tiefer über Brust und Bauch. Am liebsten wollte Derek ihn nackt sehen.

Eins nach dem anderen, sagte er sich und drängte sich dicht an Stuart. Als sich ihre Geschlechter berührten, keuchte sein geheimnisvoller Lover auf. Derek drückte mit den Fingern einer Hand ihre Erektionen aneinander und rieb mit dem Daumen über Stuarts Eichel. Dessen Körper zitterte.

Derek genoss Stuarts Reaktionen, die ihn unglaublich erregten. »Rieche deine Lust. Schmecke sie.« Kurzerhand schob ihm Derek seinen Daumen in dem Mund. Ihm selbst entwich ein Stöhnen, als Stuart daran saugte. »Und nun probier von mir.« Er wiederholte die Prozedur an seinem Geschlecht und ließ sich von Stuart den Finger sauberlecken. Anschließend umfasste er mit beiden Händen ihre Erektionen, um sie gegeneinanderzudrücken, aneinander zu reiben, zu massieren.

»Gott …«, entfuhr es Stuart. Er lehnte sich nach vorne, legte die Stirn an Dereks Schulter.

Derek drehte den Kopf. Die Haare hätten seine Nase gekitzelt, wenn die Maske nicht gewesen wäre, unter der er schwitzte und kaum noch Luft bekam. Aber er konnte Stuart wieder intensiv riechen. Zögerlich legten sich dessen Hände an Dereks Seiten.

»Du darfst mich überall berühren. Ich bin nicht zerbrechlich.«

Stuarts Hände zerrten Dereks Hemd aus der Hose und fuhren darunter. Als Stuart seine Haut berührte, stöhnten sie beide auf.

»Sieh mich an. Ich will dir in die Augen schauen, wenn du kommst.« Derek sah zwar Stuarts Augen nicht richtig, nur einen glitzernden Schimmer, aber das war egal. Es war die Vorstellung, die zählte.

Er rieb weiter an ihren Geschlechtern, während Stuart fast zögerlich seine Brust erkundete, den Bauch und sich schließlich auch an Dereks Erektion wagte. Stuart nahm sie in die Hand, um sie zu massieren. Nicht zärtlich, wie Derek es für den Anfang erwartet hätte, sondern durchaus kraftvoll, so wie es ein Mann gern hatte.

Derek war sofort so heftig erregt, dass er spürte, wie sein Samen den Schaft emporstieg. Hastig löste er Stuarts Schal, bevor er wieder ihre beiden Erektionen zugleich in die Hand nahm.

»Komm für mich«, flüsterte Derek.

Sie rieben sich zusammen, streichelten ihre Hoden, kitzelten die empfindlichen Spitzen. Derek nahm Stuarts Hand weg und wickelte den Schal über ihre Geschlechter, verzurrte sie fest, sodass sie sich hart aneinanderpressten. Dann massierte er ihre Erektionen durch den Stoff weiter. Was für ein gewaltiges Gefühl, auf diese Weise eins mit Stuart zu sein!

»Ah!« Stuart schrie auf.

»Pst, sie könnten uns hören.« Als Derek die Hand auf Stuarts Mund legte und zudrückte, schien das seine Erregung nur zu steigern. Stuart warf den Kopf zurück und verströmte sich in den Schal. Als sein warmer Samen über Dereks Erektion lief, kam er wenige Sekunden später ebenfalls.

Eine Weile lehnten sie sich aneinander, um zu verschnaufen. Dann wickelte Derek den Schal ab, machte sie beide damit sauber und ließ den Stoff in seiner Tasche verschwinden.

Hastig richtete Stuart seine Kleidung und marschierte Richtung Tür.

Derek hielt ihn am Arm fest, bevor er auf den Flur trat. »Willst du schon gehen?« Er bemerkte, wie aufgewühlt Stuart war. Der zitterte und fuhr sich ständig über den Nacken. Vielleicht war es das erste Mal mit einem Mann gewesen. Stuart wirkte verunsichert und schaute Derek nicht an.

»Hey …« Derek lockerte den Griff. »Da gibt es nichts, wofür man sich schämen müsste. Es hat dir doch gefallen, oder?«

Stuart nickte.

»Dann komm wieder.«

Kopfschüttelnd erwiderte er: »Ich … weiß nicht.«

»Bitte.« Verdammt, seit wann flehte er einen Mann an? Das war nicht seine Art. Er kannte diesen Kerl ja nicht einmal. Aber er fand ihn interessant. Derek wollte unbedingt mehr mit ihm ausprobieren. Schon lange hatte ihn kein anderer dermaßen fasziniert.

»Also, sehen wir uns wieder?«, fragte Derek. Sein Herzschlag, der sich nach dem heftigen Orgasmus soeben erst beruhigt hatte, legte wieder an Tempo zu. »Wie wäre es mit morgen? Mitternacht? Ich bin hier, niemand wird dich bedrängen. Komm direkt in mein Zimmer herauf.«

Stuart nickte stumm, dann flüchtete er regelrecht nach unten, vorbei an den Lakaien. Derek folgte ihm zur Garderobe, wo Stuart seinen Mantel von einem ebenfalls maskierten Diener entgegennahm und zur Hintertür eilte.

Derek blieb immer an seiner Seite. »Dann bis morgen, also?«, fragte er noch einmal.

Kurz schaute Stuart zu ihm. »Vielleicht. Leb wohl.« Dann ging er hinaus, woraufhin die Dunkelheit ihn verschluckte.

Derek schloss die Tür und begab sich zum nächsten Fenster.

Da kam Oliver aus dem hinteren Teil des Gebäudes. Dort lagen sein Büro, die Küche und der Trakt des Personals. Offensichtlich war er mit Franny zugange gewesen, die für Oliver die Buchführung machte, denn er schwitzte und sein Gesicht war genauso rot wie Frannys schulterlanges Haar. Die Farbe stand im heftigen Kontrast zu seinen aschblonden Locken.

»Willst du ihm nicht hinterhergehen?« Oliver klang leicht atemlos.

»Natürlich werde ich das.« Aber nicht, weil Derek ihn für den Mörder hielt, sondern weil er Angst hatte, Stuart könnte das nächste Opfer werden.

Derek schob den Vorhang des Fensters beiseite, das sich direkt neben dem Ausgang befand, der hinten zum Garten hinausführte, und schaute, welche Richtung Stuart einschlug. Er würde ihn erst sehen können, wenn er auf der beleuchteten Straße stand.

»Wer war das überhaupt?«, fragte Oliver. Jetzt, als er sich direkt neben Derek befand, roch er Olivers Schweiß. Anscheinend hatte er es wirklich gerade mit Franny oder einem Gast getrieben – das wusste man bei Oliver nie genau. Dem war es egal, ob der Hintern einer Frau oder einem Mann gehörte.

Oliver war genau wie Franny in derselben Kindergang wie Derek gewesen. Fran und Oliver hatten schon früh bemerkt, dass sie irgendwie zusammengehörten und hatten deshalb viele Deals gemeinsam durchgezogen. Leandro hatte sie immer als »Dreamteam« bezeichnet.

Bei der Erinnerung an seinen alten Anführer zog es in Dereks Brust. Seinetwegen war Leandro tot.

»Ich hab den Mann hier noch nie gesehen«, sagte Derek. »Ich werde gleich wissen, wer dieser Stuart wirklich ist.« Er beobachtete, wie Stuart das Gartentor passierte und nach links abbog. Nun versperrte ihm eine hohe Mauer die Sicht. Bevor er zur Tür hinaushuschte, schnappte er sich seinen Umhang und flüsterte Oliver breit grinsend zu: »Denk nicht mal dran, der gehört nur mir.«

Hastig, jedoch ohne ein Geräusch zu verursachen, lief Derek durch den düsteren Garten, wobei er sich die lästige Maske herunterriss und sie achtlos in eine Blumenrabatte warf. Es war eine relativ helle Nacht, denn sie hatten Vollmond, aber die zahlreichen Bäume und Büsche warfen Schatten.

Derek erschrak, als er beinahe mit einer Person zusammenstieß, die er nicht gleich gesehen hatte, weil sie einen schwarzen Umhang trug. Er erkannte an ihrer kleinen Gestalt, um wen es sich handelte. »Franny!« Sein Herz schlug heftig. »Was machst du hier im Dunkeln?«

»Der Koch braucht dringend ein Gewürz aus meinem Garten«, sagte sie und hielt ihm einen Korb vor die Nase. Sie lächelte spitzbübisch, sodass sie beinahe wie ein Junge aussah. »Und wem jagst du hinterher?«

»Erzähl ich dir später«, sagte er und rannte zur mannshohen Mauer, die sich um das gesamte Grundstück zog und somit vorbeilaufenden Passanten die Sicht verwehrte. Derek zog sich an ihr hoch und lugte darüber. Gerade bog Stuart in eine enge Nebenstraße ein, die weder von Laternen noch vom Mondlicht erhellt wurde. Derek schwang sich elegant über die Mauer. Wie eine Katze landete er beinahe lautlos auf der anderen Seite und lief in dieselbe Straße, in der Stuart eben von der Dunkelheit verschluckt worden war. Derek erkannte seine Silhouette. Stuart trug einen Mantel mit Kapuze. Er nestelte darunter herum – anscheinend zog er sich die Maske aus.

Dereks Herz klopfte schneller. Vielleicht konnte er einen Blick auf sein Gesicht erhaschen. Er war zu neugierig, wie der Mann aussah, aber er würde ohnehin bald wissen, wo er wohnte.

Das Sherman House lag am Rande eines Viertels, in dem sehr viele Reiche ihre Stadthäuser hatten und deshalb keinen weiten Weg bis zum Etablissement besaßen. Das war wohl auch der Grund, warum bereits drei Adlige auf dem Nachhauseweg erstochen worden waren. Dieses Schicksal würde dem dicken Sir William vielleicht nicht blühen, der wohnte etwas außerhalb und ließ sich immer mit der Kutsche fahren.

Gerade, als Stuart in eine weitere Gasse abgebogen war, hörte Derek schrille Pfiffe durch die Nacht hallen, die aus der anderen Richtung kamen. Trillerpfeifen! Das waren Bobbys. Es musste etwas passiert sein!

»Verflucht«, murmelte er und entschied sich nachzusehen. Er war Polizist, es war seine Aufgabe, die Peelers zu unterstützen. Also rannte er in die entgegengesetzte Richtung zwischen zwei eng beieinanderstehenden Häusern hindurch, bis er auf der Rückseite eines noblen Stadthauses landete. Eine Gestalt lag vor einem Tor, das in den hinteren Garten führte. Drei Männer standen um sie herum, zwei davon trugen Kopfbedeckungen mit silbernen Abzeichen. Den Mann ohne Hut erkannte Derek auf Anhieb, weil seine grauen Haare im Mondlicht wie Silber glänzten: Inspektor Brown.

Eine weinende Frau im Morgenmantel hing in den Armen einer anderen Frau, vielleicht ihrer Amme, denn sie hielt ein wimmerndes Baby. Ein Diener nahm das Kind und ging mit ihm durch den Garten ins Haus. Die weinende Lady musste wohl die Ehefrau des Ermordeten sein.

»Sir?«, sagte Derek, als er Brown erreichte. Die anderen beiden Peelers begrüßte er mit einem Nicken. Derek kannte sie nur flüchtig, da er sich selten auf der Wache aufhielt.

»Derek, gut, dass du da bist!« Der grauhaarige Polizist zog ihn auf die Seite. »Das ist schon der vierte Mann. Wieder ein Adliger. Kehle und Halsschlagader wurden genau wie bei den anderen durchtrennt. Hier will jemand sichergehen, dass seine Opfer garantiert nicht überleben. Der Mord muss eben erst geschehen sein, die Leiche ist noch warm. Hast du bereits etwas herausgefunden?«

»Ich wollte gerade einem Hinweis nachgehen, da hörte ich die Pfiffe«, erwiderte er, erleichtert, dass er Stuart endgültig von der Liste der Verdächtigen streichen konnte. »Aber ich hab noch nichts Konkretes, Sir.« Es tat weh, Inspektor Brown zu belügen. Er war beinahe wie ein Vater für ihn. Ein guter Vater. Brown sollte jedoch nicht erfahren, dass er sich ausschließlich für Männer interessierte und die Opfer alle mit dem Sherman House in Verbindung standen.

Nach Dereks Recherchen hatte bisher keiner der Adligen zuhause erwähnt, dass er sich nachts im Sherman House aufhielt – das ja offiziell als ehrbarer Herrenclub galt. Wenn Brown dort erst einmal herumschnüffelte, könnte die Wahrheit ans Licht kommen. Fran fälschte die Bücher ausgezeichnet – Brown wiederum war ein hervorragender Detektiv. Er würde Oliver und Franny einem Verhör unterziehen. Wenn die ihn auch nur erwähnten … Derek würde seinen Job verlieren und bestimmt seinen Mentor dazu. Es würde einen riesengroßen Skandal geben, wenn herauskam, dass bei der Metropolitan Police ein Sodomit arbeitete.

Brown klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist mein bester Mann, Junge. Ich weiß, dass du den Fall lösen wirst. Lass dir nur nicht mehr so viel Zeit.«

»Sir!« Einer der Polizisten kam auf Brown zu. Er trug wie die anderen einen schwarzen Anzug, an dem silberne Knöpfe und Abzeichen funkelten. Er hielt Brown eine Halbmaske aus Leder hin. »Die hatte der Mann bei sich, ansonsten nichts. Ausgeraubt, wie es scheint.«

Maskenmörder nannte ihn Scotland Yard, weil bei den Leichen immer eine Ledermaske gefunden worden war. Inspektor Brown ging davon aus, dass es ein Erkennungszeichen des Mörders war. Er wollte wohl zu einer Berühmtheit werden.

Aber Derek wusste es besser.

Kapitel 2

 

Simon saß auf der Couch im Salon und nippte an seinem Tee. Seine Schwester Sarah spähte, ihre Tasse in der Hand, zum Fenster hinaus auf das nachmittägliche Treiben der Victoria Street. Der Verkehr nahm immer mehr zu, Fahrer dampfbetriebener Automobile schimpften über verstopfte Straßen und Pferdemist, während die Kutscher ihre Tiere beruhigen musste, die durch das Schnaufen und Zischen der Motoren verstört wurden. Eines Tages würde sich Simon auch eines dieser modernen Fahrzeuge zulegen. Er hatte gehört, dass sogar welche mit Gas- oder Benzinmotoren entwickelt wurden. Diese Blechmonster faszinierten ihn. Dampfomnibusse befuhren immer mehr Strecken, auch außerhalb Londons. Respekt hatte Simon lediglich vor den Heizkesseln. Bevor sich die Technik nicht verbesserte, wartete er lieber mit einem Kauf.

Smithers, Simons angegrauter Butler, stand kerzengerade neben der Tür. Er war als Einziger von der ursprünglichen Belegschaft übrig geblieben, die einst sein Vater eingestellt hatte.

Leise seufzend drehte sich Sarah zu Simon um. »Hast du schon gehört? Heute Nacht ist ein weiterer Mann erstochen worden. Es soll sich dabei um Lord Wellsey gehandelt haben.«

Simon stellte seine Teetasse zurück auf den Tisch. »Woher weißt du das?«

Seine Schwester zuckte mit den Schultern. »Na, von Margaret und die weiß es vom Stalljungen.«

»Die Angestellten tratschen viel, wenn der Tag lang ist, besonders deine Miss Stone. Eine Anstandsdame sollte dir lieber beibringen, was eine Lady wissen und können muss.«

Sarah schnaubte. »Wie Kissen besticken?« Ihre kleine Nase kräuselte sich. »Bisher hatte Margaret immer recht. Du wirst sehen, Bruder, morgen steht es im Kurier.« Sarah seufzte erneut. »Arme Lady Wellsey, sie hat eben erst ein Baby bekommen.«

Seine Schwester setzte sich kurz zu ihm an den Tisch, trank einen Schluck von ihrem Tee und sprang sofort wieder auf, um ans Fenster zu eilen. »Ihn wird doch keine Kutsche überrollt haben?«

»Wen? Lord Wellsey?«, fragte Simon.

»Nein, der wurde ja erstochen. Ich meine Mr. Tipps.«

Simons Magen zog sich zusammen. Er würde Sarah gewiss nicht sagen, dass Mr. Tipps ein ähnliches Schicksal erlitten hatte wie Lord Wellsey. »Erzähl mir mehr über den Mord.«

Grinsend drehte sich Sarah zu ihm. »Neugierig geworden?«

Er lächelte, als würde er ihr zustimmen, und dachte: Eigentlich wollte ich dich ablenken, Schwesterherz.

Sarah setzte sich erneut und beugte sich verschwörerisch über den Tisch. »Margaret hat gehört, dass alle Erstochenen eine Maske bei sich trugen.«

»Eine Maske?« Jetzt wurde Simon hellhörig. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Marcus kam ihm in den Sinn.

»Ja, sie glaubt, Lord Wellsey habe einer Sekte angehört, genau wie die anderen drei Männer.«

Simon verschluckte sich an seinem Tee. Ein Hustenkrampf schüttelte ihn und Sarah eilte um den Tisch, um ihm auf den Rücken zu klopfen.

»Geht es wieder?«, fragte sie und setzte sich neben ihm auf die Couch.

Er nickte.

Zu seinem Leidwesen wandte sich Sarah an seinen Butler. »Smithers, wann haben Sie zuletzt Mr. Tipps gesehen?«

Simon schaute seinen Diener an und schüttelte leicht den Kopf. Smithers wusste natürlich, was passiert war.

»Das ist schon eine Weile her, Mylady«, erwiderte Smithers.

Simon räusperte sich und suchte nach einem anderen Thema, als ihm Mr. Derek Brewer einfiel. »Ich erwarte heute einen alten Bekannten. Er hat geschäftlich ein paar Tage in London zu tun und ich habe ihm angeboten, bei uns zu wohnen.« Außer ihm selbst würde in diesem Haus niemand erfahren, wer der Besucher wirklich war. Simon hatte Brewer noch nie gesehen und war schon gespannt auf den Mann.

Sarahs Miene hellte sich auf. »Woher kommt er?«

Verdammt. »Brighton«, war das Erste, was ihm einfiel.

»Aus Brighton!« Ihre himmelblauen Augen begannen zu leuchten und sie griff nach seinen Händen. »Dort müssen wir unbedingt wieder hinfahren, ich liebe die See!«

Simon lächelte. Hoffentlich konnte Mr. Brewer gut improvisieren, falls er noch nie in Brighton gewesen war. Einem Detektiv würde sicher etwas einfallen.

»Großartig, endlich kommt Leben ins Haus!« Sofort schlug sie sich die Hand auf den Mund. »Entschuldigung.« Sie ging zurück zum Fenster, wobei sie den Kopf hängen ließ.

»Schon gut.« Es belastete Simon genauso wie seine Schwester, dass es ihrer Mutter seit einigen Wochen immer schlechter ging. Bereits vor vielen Monaten hatte Simon eine Krankenschwester eingestellt, die sich rund um die Uhr um sie kümmerte. Ihre Mutter Carolyne lag meistens im Bett oder saß im Rollstuhl. Sarah sowie Simon verbrachten viel Zeit mit ihr, um ihr vorzulesen oder zu erzählen, was sie den Tag lang machten, auch wenn Carolyne darauf nicht immer reagierte. Sie wirkte oft apathisch.

Sarah kämmte gerne Carolynes langes, schwarzes Haar, das mit silbernen Strähnen durchzogen war. Ihre Mutter hatte es schon früher genossen, wenn ihre Tochter das gemacht hatte. Sarah hatte sich richtiggehend aufgeopfert, bis es ihr geistig und körperlich ständig schlechter gegangen war. Daher hatte Simon die Krankenschwester kommen lassen.

Sein Herz wurde schwer, als er Sarah beobachtete, die auf die Straße sah und gedankenverloren eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte. Sie war stets so ernst und lachte selten. Jetzt hatte irgendjemand auch noch Mr. Tipps umgebracht, ihr Ein und Alles. Und das nur seinetwegen.

Simons Magen verkrampfte sich. Er stand auf, um neben seine Schwester zu treten. Dann drehte er sich zu seinem Butler Smithers herum, der eben den Tisch abräumte. »Wenn Mr. Brewer kommt, schicken Sie ihn bitte in mein Arbeitszimmer.«

Smithers verbeugte sich. »Sehr wohl, Mylord.«

Als sein Butler den Raum verlassen hatte, begann Sarah erneut mit ihrem Lieblingsthema: Hochzeit. Leider ging es dabei nicht um sie, sondern um ihn. Das Thema machte Simon mürrisch. Er wollte keine Frau. Er hatte bereits einmal kurz vor einer Verlobung gestanden, doch dann hatte sich dieser tragische Unfall ereignet, der seitdem seine linke Gesichtshälfte entstellte. Claire, seine zukünftige Braut, hatte sich daraufhin von ihm abgewandt. Was für sie auch besser gewesen war. Denn die Gerüchte und all die üblen Geschichten, die man sich seitdem über ihn, den Earl of Torrington, erzählte, hätten ihr Leben sicherlich zerstört. Claire war eine sehr zarte Person, nicht nur körperlich.

»Musst du wieder damit anfangen, Sarah?« Simon rieb sich über die vernarbte Wange, die ihn öfter juckte. In seiner Tasche trug er deshalb stets ein Döschen mit Salbe herum, die den Juckreiz linderte.

Er erinnerte sich an das letzte Gespräch mit Claire vor einigen Wochen. Er war mit seiner Schwester zu einer Abendgesellschaft bei Lady Somerset eingeladen gewesen, wo er Claire getroffen hatte. Sie war nun seit sieben Jahren mit Alfrad Cavendish, dem Marquess of Blanford verheiratet, der ein Faible für seltene exotische Pflanzen und Tiere hatte. Lord Blanford besaß sogar ein Gewächshaus mitten in der Stadt. Claire liebte die Natur, die er ihr in ihr Heim gebracht hatte. Damit hatte der Marquess sie umgarnt. Lady Blanford … Sie war eine elfenhafte Schönheit, seiner Schwester sehr ähnlich, und hätte ohnehin nicht zu ihm gepasst. Er war ein Monster. Wegen seiner Narben und – wegen seiner Neigungen.

Simon seufzte. Es hatte ihn auf Lady Somersets Gesellschaft verwundert, als Claire ihn auf die Seite gezogen und sich ernsthaft bei ihm entschuldigt hatte. Nach so langer Zeit.

»Ich war jung und dumm, Simon«, hatte sie gesagt. »Ich hoffe, du kannst mir eines Tages verzeihen. Ich weiß, dass du ein wunderbarer Ehemann gewesen wärst. Liebevoll und … zärtlich. Nicht, wie die anderen sagen.«

Simon war dermaßen überrascht gewesen, dass er kaum hatte sprechen können. Er hatte Claires zierliche Hand genommen und sie geküsst. »Ich habe dir längst verziehen«, hatte er erwidert. Doch in dem Augenblick war der Marquess aus dem Raucherzimmer gekommen und hatte ihm Claire entrissen. Eifersucht hatte in Lord Blanfords Augen geblitzt. Simon konnte den Mann verstehen. Er würde auch nicht wollen, dass sich seine Frau ganz allein bei anderen Männern aufhielt.