Vorwort von Karl Ulrich Petry

Als Chefarzt einer der in die Studie eingebundenen Abteilungen wurde ich um ein Vorwort gebeten; ich komme dieser Bitte gerne nach. Man wird mir verzeihen, dass ich als Gynäkologe die Gesichtspunkte meines Faches in den Vordergrund stelle, ohne dabei den Wert der vorliegenden Untersuchungen für andere Fächer und die Pflege allgemein in Frage stellen zu wollen.

Geburt und Tod, Anfang und Ende unserer physischen Existenz, sind die Eckdaten des Lebens aller Menschen über sämtliche kulturelle Unterschiede hinweg. Das Schicksal, geboren zu werden und zu sterben, teilen wir nicht nur mit allen anderen Menschen, sondern auch mit sämtlichen Säugetieren; es definiert seit Urzeiten unseren Beginn und unser Ende. Damit werden Geburt und Tod zu einschneidenden Ereignissen, ja zu den Ereignissen im Leben des Menschen überhaupt, die alle anderen bedeutsamen Vorgänge während der begrenzten Zeitspanne irdischen Lebens an Bedeutung übertreffen und daher, soweit mir bekannt ist, in allen Kulturen, Religionen und Weltanschauungen entsprechend reflektiert werden. Vor allem aufgrund der bis in das vergangene Jahrhundert hohen Mütter- und Säuglingssterblichkeit waren Schwangerschaft und Geburt dabei aber durchaus nicht nur positiv besetzt; das schaurige Nebeneinander von Geburt und Tod ist nicht nur Gegenstand trockener medizinischer Berichte, sondern Thema zahlreicher Märchen und Sagen. Erst durch die Entwicklung der modernen Geburtshilfe, Perinatalmedizin und Hygiene sind seit zwei Generationen die Schrecken der Geburt abgemildert und konkrete Gefahren so selten geworden, dass sie im Bewusstsein der Allgemeinheit in den Industriestaaten kaum mehr wahrgenommen werden.

Aus diesen Voraussetzungen resultiert eine Sonderstellung der Geburtshilfe innerhalb der westlichen Schulmedizin: Schwangere erwarten von einer modernen Geburtshilfe selbstverständlich die Verhinderung aller mit Schwangerschaft und Geburt verbundenen Risiken, ja sogar der Unannehmlichkeiten, und darüber hinaus einen würdigen Rahmen für ein zu ihrer jeweiligen Weltanschauung passendes positives Geburtserlebnis. Kaum ein anderer Kernbereich der Medizin richtet sich so sehr nach den Vorstellungen seiner Kunden. Die Leistungskataloge geburtshilflicher Abteilungen mit Akupunktur, Aromatherapie, Massagen, traditioneller chinesischer Medizin und zahllosen weiteren Angeboten scheinen eher zu Wellness-Hotels als zu einer Klinik zu passen. Es erstaunt, dass in einem Fach, das die Wünsche der Schwangeren so zur Richtschnur des eigenen Angebots macht, bisher die besonderen Bedürfnisse von Muslimat zumindest nicht bewusst berücksichtigt wurden, d.h. keine Untersuchungen zu den Erwartungen von muslimischen Patientinnen vorlagen, obwohl deren Anteil an den Geburten in Deutschland stetig steigt. Die vorliegende Studie beschreitet somit Neuland und füllt einen Teil dieser Wissenslücke. Das Ergebnis, nämlich die hohe Zufriedenheit islamischer Patientinnen und hier vor allem der Wöchnerinnen, ist für Geburtshelfer sicher erfreulich, dennoch besteht kein Grund, sich auf den vorläufigen positiven Resultaten auszuruhen. Die Wahrnehmung des Patienten in seiner Individualität, und das schließt seine Verwurzelung in einer bestimmten Weltanschauung ein, ist ein zentrales Anliegen ärztlicher und pflegerischer Ethik, dem wir uns verpflichtet fühlen.

Prof. Dr. med. habil. Karl Ulrich Petry

Wolfsburg 2005

Vorbemerkungen

Die vorliegende Untersuchung verdankt sich einer Initiative der Dr. Buhmann-Stiftung entsprechend ihrer Zielsetzung, den christlich muslimischen Dialog in einer Weise zu unterstützen, die die Akzeptanz und damit die Lebensqualität der in Niedersachsen lebenden deutschen und nicht-deutschen Muslime fördert. Neben anderen direkt von der Stiftung geforderten oder durchgeführten Projekten sollte in diesem konkreten Zusammenhang ein Fortbildungspaket zur interkulturellen Pflege für Krankenpflegekräfte angeboten werden. Eine entsprechende Bedarfsskizze, verfasst von der Migrationssoziologin Elçin Kürşat, lag ebenso vor wie der Aufriss eines ähnlichen Programms, das mit Erfolg in Berlin gestartet war.1

Ein solches Angebot reagiert auf aktuelle Bedürfnisse: In den vergangenen acht bis zehn Jahren – kaum früher – ist eine Fülle von Literatur erschienen, die zum ersten Mal darauf aufmerksam macht, dass Migranten unterschiedlichen Glaubens einen prozentual nicht unerheblichen Anteil unserer Mitbürger stellen. Lebensgewohnheiten, religiöse Vorschriften und ethnisch motivierte Sitten und Gebräuche weichen mehr oder weniger von denen der alteingesessenen Bevölkerung ab und sind bisher eher als Fremdheitsindikatoren denn als potenzieller Bedürfniskatalog wahrgenommen worden. Neben einem Informationsteil, der über Religion und Sitten der Zuwanderer aufklärt, enthalten einige dieser Veröffentlichungen genaue Handlungsanweisungen, wie mit Patienten anderen Glaubens umzugehen sei. Die Themen behandeln Fragen des Umgangs der Geschlechter miteinander, Speisevorschriften, Hygiene und Bekleidung, Besucher, Kommunikation etc.; der Themenkatalog ist in den relevanten Schriften sehr ähnlich bis deckungsgleich.2 So fehlt z.B. in keiner muslimische Patienten betreffenden Veröffentlichung der Hinweis auf das Kopftuch oder auf das Verbot des Genusses von Alkohol und Schweinefleisch. Überraschend ist bei so weitgehender grundsätzlicher Ähnlichkeit die Bandbreite der Antworten im Detail: So besteht z.B. keineswegs Einigkeit darüber, wie gravierend die Einnahme von Gelatinekapseln (möglicherweise aus Schweineknorpel) in Zusammenhang mit dem Schweinefleischverbot ist oder wie problematisch ein nicht gleichgeschlechtlicher Arzt oder Pfleger sein kann. Da die Handreichungen zur Pflege gerade muslimischer Patienten teilweise aus der Feder muslimischer Autoren stammen, drängen sich Fragen auf: Geben die genannten Handreichungen vielleicht eher die Wünsche dieser Autoren wieder oder spiegeln theoretisches Wissen, das in der Praxis nicht gefragt ist? Sind die Handlungsanweisungen vielleicht eher kultur- als religionsspezifisch, also konkret: Sind die Ansprüche muslimischer und yezidischer Kurdinnen untereinander ähnlicher als diejenigen von Yemenitinnen und deutschen Musliminnen? Sind es überhaupt die Frauen, für die religiöse Vorschriften im Krankenhaus verpflichtend sind, während sie für Männer nur eine periphere Rolle spielen? Unterscheiden sich die Ansprüche von Migrantinnen der ersten von denen der zweiten Generation?

Diese und ähnliche Fragen drängen sich auf und verlangen nach Antworten, unter anderem auch, weil die Migrationssoziologie ihren Finger auf einen vielleicht blinden Fleck in der Welt von Wissenschaft und Krankenpflege gelegt hat. Im Rahmen der gut gemeinten Auseinandersetzung um mögliche spezifische Bedürfnisse von Migranten tauchen Vorstellungen von der angeblichen Besonderheit dieser Bevölkerungsgruppe auf, die ihre Nähe zu alten und längst überwunden geglaubten Vorurteilen nur schwer verbergen können: Religiös-ethnische Fragestellungen zur Situation von Migranten sind letztlich nichts weiter als die sprachlich gewandelte Fortsetzung der alten, völkisch-rassistischen Betrachtungsweise einer Bevölkerungsgruppe, die als fremd erlebt und daher latent abgelehnt wird. Dementsprechend gehen auch literarische Pflegehilfen oder Fortbildungen an den tatsächlichen Bedürfnissen der Erkrankten vorbei, indem wieder einmal über sie statt mit ihnen gesprochen und wieder einmal über ihren Kopf hinweg entschieden und gehandelt wird.

Zurück zum Ausgangspunkt, der angebotenen Fortbildung für Pflegekräfte der Krankenhäuser in der Region Hannover: Vor einer Fortbildung, so der gemeinsame Tenor der an der Diskussion Beteiligten – das sind die Dr. Buhmann-Stiftung, das Dezernat Soziale Infrastruktur der Region Hannover, die Pflegedirektion der Krankenhäuser der Region Hannover und das Seminar für Religionswissenschaft der Universität Hannover – sollte ein thematisch begrenztes Forschungsvorhaben stehen, das die Situation, die Wünsche und Bedürfnisse der erkrankten Muslime zunächst einmal in Erfahrung bringt, um anschließend auf die tatsächlichen Bedürfnisse angemessen reagieren zu können.

Die Durchführung des Forschungsvorhabens lag in den Händen des Seminars für Religionswissenschaft der Universität Hannover. Hier wurden im Rahmen der Ausbildung von Religionswissenschaftlern im Kontext eines Hauptseminars zunächst die theoretischen Grundlagen erarbeitet, um dann die Befragungen zunächst durchzuführen und anschließend auszuwerten. In die endgültige Ausarbeitung sind die studentischen Beiträge – in mehr oder weniger intensiv überarbeiteter Form – mit eingegangen.

Trotz des hohen Engagements aller Beteiligten wäre diese Veröffentlichung nicht zustande gekommen ohne die freundliche und uneigennützige Hilfe verschiedener Personen und Institutionen, die wenigstens kurz Erwähnung finden sollte. Hier ist zunächst mein akademischer Lehrer und Mentor Professor Dr. Dr. Peter Antes zu nennen, der die Durchführung des Projektes am Seminar für Religionswissenschaft der Universität Hannover nicht nur ermöglichte, sondern uns auch bei der Durchführung unterstützte. Nicht zuletzt nahm er die Mühe auf sich, das fertige Skript noch einmal kritisch durchzulesen. Für diese erhebliche Mühe sei an dieser Stelle ausdrücklich und herzlich gedankt. Dank gebührt auch der Dr. Buhmann-Stiftung und hier besonders Herrn Dr. Christian Buhmann selbst, der das Projekt stets wohlwollend begleitete und die Untersuchung selbst wie auch die Veröffentlichung der Ergebnisse finanziell förderte. Zu den großzügigsten Förderern gehört auch die Eos-Loge Hannover, die mit ihrem finanziellen Engagement vor allem die Beteiligung der in die Studie eingebundenen jungen Nachwuchswissenschaftler ermöglichte. Auch den besonders engagierten der in die Studie eingebundenen Krankenhäuser und Personen möchte ich ausdrücklich danken. Es sind dies Professor Dr. Karl Ulrich Petry, Leiter der Abteilung Frauenheilkunde des Krankenhauses Wolfsburg, Angelika Hausen, Pflegedirektorin der Kliniken der Region Hannover, und Semsin Tüzün, Stellvertretende Pflegedienstleiterin des Krankenhauses Burgwedel, deren interkultureller Kompetenz wir manchen Hinweis verdanken. Besonders offen und hilfsbereit waren auch die Schwestern und Hebammen des Nordstadtkrankenhauses Hannover; gleiches gilt für Ärzte und Schwestern der Bertaklinik.

Gedankt sei auch dem afrikanisch-deutschen Kulturverein Benkadi, der uns half, Kontakte zu schwarzafrikanischen Muslimen herzustellen, sowie den Repräsentanten, Vertretern oder Mitgliedern (vor allem niedersächsischer) muslimischer Gruppierungen, von denen ich einige stellvertretend nennen möchte: Es sind dies Hamideh Mohagheghi, Dr. Hilal Al-Fahad, W.D. Ahmed Aries und Selma Öztürk.

Nicht zuletzt möchten wir uns bei den Patienten und vor allem den Patientinnen bedanken, die uns in teilweise sehr langen Gesprächen bereitwillig und offen Auskunft gaben. Sie haben uns vertraut, uns ihre intimen Sorgen und Nöte anvertraut und uns oft wie Freunde behandelt. Ich hoffe, dass dieses Vertrauen gerechtfertigt war und dass dieses Büchlein dazu beiträgt, die berechtigten Belange dieser Bevölkerungsgruppe ein wenig mehr ins öffentliche Bewusstsein zu bringen.

An Letzterem hat auch der Kohlhammer-Verlag nicht unbeträchtlichen Anteil. Wir freuen uns, dass unsere Arbeit hier in guten und bewährten Händen ist.

1 Die Texte finden sich im Anhang.

2 Vgl. beispielsweise Abdoljavad Falaturi 1997; Sieglinde al Mutawaly 1996.

1 Fragestellung, Ziele, Methoden

1.1 Fragestellung

Ansatzpunkt der Untersuchung sind daher zwei unterschiedliche wissenschaftliche Aussagen: Während, vereinfacht ausgedrückt, die Migrationssoziologie religiös-ethnische Fragestellungen zur Situation von Migranten in Krankenhäusern für letztlich nichts weiter als die sprachlich gewandelte Fortsetzung einer alten, völkisch-rassistischen Betrachtungsweise hält, geht die Religionswissenschaft von religionsspezifischen Heilserwartungen und damit auch Heilungsansprüchen aus, die sich zwangsläufig in einer situationsspezifischen Wahrnehmung von Krankheit und kurativen Maßnahmen einschließlich der zu erwartenden Erfolge niederschlagen müssen.

1.2 Ziele

Damit sind die Ziele der Studie bereits umrissen:

Die Heilungserwartungen der in der Region Hannover lebenden Muslime sollen erfragt und dargestellt werden. Dazu gehört zunächst auf deskriptiver Ebene eine Skizze der muslimischen Gruppierungen, ihres kulturellen Umfeldes, ihrer Herkunft und nicht zuletzt ihrer sozialen Situation. Verbunden mit dieser Form der Darstellung ist die Absicht, Informationen über eine Religion und ihre Anhänger zu vermitteln, die in Deutschland schon lange kein Randphänomen mehr ist, aber immer noch als ein solches wahrgenommen wird. In einer ähnlichen, aber südostasiatische Migranten betreffenden Studie bemerkt der Religionswissenschaftler Martin Baumann dazu treffend: „Wie sich vielfach im Hinblick auf Migrantengruppen gezeigt hat, lassen in der Mehrheitsbevölkerung vorhandene Wissensdefizite über fremde Wertkonzepte und Ritualhandlungen Misstrauen und Ablehnung wachsen.“3 Diese Wissensdefizite abzubauen, setzt sich die Studie zum Ziel. In diesem Zusammenhang muss die Rolle der Religion als Integrationsfaktor ebenso angesprochen werden wie ihre Signifikanz hinsichtlich gesellschaftlich konfliktträchtiger Situationen und die Rolle der Mehrheitsbevölkerung. Im Zentrum der Studie steht jedoch das eigentliche Thema, nämlich die spezifischen und konkreten Heils- und Heilungserwartungen erkrankter Muslime und der sich daraus möglicherweise ergebenden Defizite und Konflikte in der Patientenversorgung und im medizinischen Bereich. In diesem Zusammenhang sollen die Geschichte der muslimischen Medizin, d.h. arabisch-orientalischen, der europäisch-westlichen Medizin gegenübergestellt und ihre Verknüpfungen deutlich gemacht werden.

Da die Durchführung der Studie in den Händen des Seminars für Religionswissenschaft der Universität Hannover lag und die Dr. Buhmann-Stiftung sich zudem dem interreligiösen Dialog und erst in zweiter Linie sozialen oder medizinischen Aspekten verpflichtet sieht, entsprach die Auswahl der zu befragenden Gruppen einem religionswissenschaftlichen Ansatz: Es sollten Muslime in typischen Übergangssituationen bzw. in einer charakteristischen, religiös oder traditionell definierten Rolle erfasst werden. Dies waren:

Geburt und Wochenbett: Befragung von Patientinnen und Angehörigen auf den Wöchnerinnenstationen;

Schwersterkrankung und Sterben: Befragung von Patienten und Angehörigen auf internistischen / onkologischen Stationen;

Männliches Rollenverhalten und Krankheit: Befragung von Patienten und Angehörigen (Urologie, Chirurgie).

In der Praxis konnte diese Beschränkung nicht durchgehalten werden. Zwar war es kein Problem, in einem weitgehend vorgegebenen Zeitrahmen eine aussagefähige Anzahl von Wöchnerinnen zu befragen; schwieriger gestaltete sich dagegen bereits die Untersuchung des Themenkomplexes „männliches Rollenverhalten“ sowie „Schwersterkrankung und Sterben“ aus dem Grunde, da kaum geeignete Patienten zur Verfügung standen. Dies mag zum Teil an der nicht immer vorbildlichen Kooperation der in die Studie eingebundenen Krankenhäuser gelegen haben, ist aber zum anderen sicherlich auch auf abweichendes Verhalten und Krankheitsverständnis muslimischer Migranten zurückzuführen, die nur bei drückenden Beschwerden ein Krankenhaus aufzusuchen scheinen und im Alter ihren Lebensmittelpunkt in die ehemalige Heimat zurückverlegen. Ergänzend zu den Patientenbefragungen wurden Interviews in Moscheegemeinden bzw. Vereinigungen durchgeführt, die zur Abrundung des Bildes beitragen. Auch dies ist Thema eines eigenen Abschnittes.

Ebenfalls parallel durchgeführte Befragungen in Arztpraxen bzw. unter Hebammen / Pflegepersonal zeigten deutlicher als die eigentlichen Patientenbefragungen die in der Praxis auftretenden Schwierigkeiten im Umgang mit muslimischen Migranten im Gesundheitswesen, aber auch die Informationsdefizite und, als Resultat, konkret geäußerte Fortbildungswünsche.

1.3 Methode

Wie der renommierte Sozialforscher Roland Girtler schreibt, sind es „oft persönliche Erlebnisse und tiefer gehende Kontakte, die einem Sozial- bzw. Kulturwissenschaftler ein bestimmtes Thema als interessant erscheinen lassen.“4 Aus persönlicher Betroffenheit oder Sympathie entsteht ein bestimmtes Forschungsinteresse, der Wunsch, einen Bereich gesellschaftlichen Lebens „von innen her kennenzulernen und seine Wirklichkeit zu erforschen“.5 Daraus folgt der Verzicht auf eine Standardisierung von Fragen oder gar die Präsentation von Mittelwerten zu Gunsten von Beschreibungen spezifischer Situationen, von Hoffnungen und Erwartungen, von Ängsten und Enttäuschungen. Die Studie arbeitet also nach dem Prinzip der qualitativen Sozialforschung, indem sie mit Hilfe freier Interviews nach dem Beispiel von Alltagsgesprächen die subjektive Perspektive des Befragten erkundet, ohne dass durch ein festgelegtes Frageraster das Spektrum der möglichen Antworten bereits vorher beeinflusst oder gar festgelegt wird.6 Im Unterschied zu quantitativen Methoden bieten sich qualitative Methoden an, wenn es um die „Deskription empirischer Sachverhalte und sozialer Prozesse, Aufstellung von Klassifikationen und Typologien, Gewinnung von Hypothesen am empirischen Material, Prüfung von Forschungshypothesen“ geht.7 Dies bedeutet, dass im Unterschied zur quantitativen Sozialforschungen mit einer wesentlich geringeren Anzahl von Personen gearbeitet werden kann und wird, wobei dann aber der Auswahl möglichst repräsentativer Probanden eine erhöhte Relevanz zukommt. Qualitative Interviews lassen ihre Interviewpartner ausführlich zu Wort kommen, um so möglicherweise auch neue und unbekannte Fragestellungen zu erschließen. In technischer Hinsicht wird an Alltagsgespräche angeknüpft, um in einer möglichst wenig künstlichen und entspannten Atmosphäre Hemmschwellen abzubauen und damit zu intimen Kenntnissen sozialer Sachverhalte zu gelangen. Problematisch ist hier gelegentlich, einen guten Zugang zu den Probanden zu finden, denn, wie Girtler betont, hat jede Gemeinschaft ihre Erfahrungen mit und daher Ressentiments gegen Außenstehende. Voraussetzung für eine gelungene und wirklichkeitsnahe Studie in gesellschaftlichen Sondergruppen ist daher der gute, besser freundschaftliche Kontakt zu Mitgliedern dieser Gruppe, die weitere Kontakte vermitteln können. Diese Voraussetzungen waren in fast optimaler Weise gegeben, denn die Offenheit und positive Grundeinstellung Muslimen gegenüber, für die die Hannoversche Religionswissenschaft und die Buhmannstiftung gleichermaßen stehen, half, Ängste bei den Interviewten abzubauen. Als besonders günstig erwies sich in diesem Zusammenhang, dass einige der befragenden studentischen Mitarbeiter auf einen eigenen Migrationshintergrund verweisen bzw. sich mit den Interviewten in ihrer Muttersprache verständigen konnten. Diese Interviews unterscheiden sich in nicht unbedeutenden Details von den von deutschstämmigen Mitarbeitern durchgeführten Interviews: Sie sind kritischer; mehr dazu im Interpretationsteil.

Noch ein Wort zu den Interviews, die oben zunächst als freie Interviews im Unterschied zu Fragebogeninterviews charakterisiert wurden. Auch bei den freien Interviews gibt es Unterschiede. Hier ist zunächst das narrative Interview zu erwähnen, das in Erzählform Auskunft über biographische Daten, Erlebnisse Berufsverlauf etc. gibt und in den hier vorliegenden konkreten Fällen oft lange Passagen über den Islam, Inhalte des Koran, Feste und Vorschriften enthielt. Vorgegeben wurde von uns lediglich das Thema in Form einer einleitenden Frage: „Wie geht es Ihnen?“ oder „Fühlen Sie sich hier wohl?“ Meist reichten diese kurzen Sätze und die offenkundige Bereitschaft des Fragenden zuzuhören, um lange Erzählungen oder Berichte zu provozieren, die die Situation der Erkrankten in wünschenswerte Tiefe ausleuchteten. Gelegentlich nahmen diese Gespräche – vor allem unter Frauen – den Charakter einer freundschaftlichen Plauderei an, in deren Verlauf auch die Zielperson Einblick in das Leben der Fragenden gewann und in dem es zuletzt um den Austausch von Positionen und Bekenntnissen ging. So wurde ich nach meinen persönlichen Glaubensüberzeugungen gefragt, ob ich Freundschaften zu Muslimen unterhielte, wie ich meine Kinder erziehe usw.

Nicht immer führten die einleitenden, allgemeinen Fragen zu den erwünschten Ergebnissen. So wurde zwar meist gern über die Krankengeschichte berichtet, über die Pflege, Ärzte usw., der kulturelle Hintergrund einschließlich der religiösen Bindungen kam jedoch gelegentlich zu kurz, so dass hier eine Reihe von Zusatzfragen gestellt wurde, die zur Abrundung des Bildes beitragen sollten. Zu diesem Zweck wurde von uns, der Arbeitsgruppe, zuvor ein Interviewleitfaden erarbeitet8, der zunächst lediglich für die Interviewer einen Rahmen vorgeben sollte, der unsere Interessen absteckte. Dieser Interviewleitfaden sollte keinesfalls dazu dienen, bestimmte Problemstellungen abzufragen; vielmehr sollte es der jeweiligen Situation überlassen bleiben, wann welche Fragen zu stellen seien. Diese so genannten problemzentrierten Interviews wurden immer dann angewendet, wenn der Patient nicht in der Lage war, in freier Erzählung die gewünschten Auskünfte zu geben,9 oder wenn das Gespräch zu sehr in Bereiche abglitt, die für unseren Themenschwerpunkt nicht relevant waren, für die Interviewten aber von Interesse. Ein Beispiel: So erzählten einige ältere Frauen ausführlich über ihre Kinder, deren berufliche Erfolge oder geglückte Ehen. Hier wurde dann mit Zusatzfragen das Gespräch auf die eigentliche Problematik zurückgelenkt.

3 Vgl. Martin Baumann 2000, 13.

4 Roland Girtler 1985, 9.

5 Ebd. 14.

6 Der Wert qualitativer Methoden in der Sozialforschung wird bis heute kontrovers diskutiert. Vgl. dazu Andreas Diekmann 2004, 443–455.

7 Ebd. 444.

8 Der Interviewleitfaden findet sich im Anhang.

9 Vgl. Andreas Diekmann 2004, 450–451.

2 Migration und Religion

(unter Mitarbeit von Asiye Berge-Traoré)

2.1 Der Islam in Niedersachsen

Kaum eine einschlägige Publikation kommt ohne den Hinweis auf eine bisher nicht gekannte religiöse Vielfalt in der deutschen bzw. niedersächsischen Kulturlandschaft aus,10 und tatsächlich ist hier ein deutlicher Wandel nicht zu übersehen. Wie Baumann in seiner Untersuchung über die Religiosität / religiöse Organisation asiatischer Migranten zusammenfassend ausführt, ist religiöser Pluralismus zumindest in Niedersachsen ein Phänomen der jüngsten Geschichte. Noch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war die Bevölkerung weiter Teile des heutigen Niedersachsens durchgängig protestantisch; lediglich in bestimmten Regionen wie Osnabrück, Emsland oder Südoldenburg dominierte der Katholizismus. Erst durch die Gründung des Bundeslandes Niedersachsen 1946 entstand ein in konfessioneller Hinsicht bunteres Landschaftsbild, das durch den Zustrom von Flüchtlingen, Vertriebenen und Evakuierten zusätzlich an Heterogenität gewann. Diese durch die politischen und demographischen Veränderungen während der Nachkriegszeit hervorgerufenen Verschiebungen innerhalb der konfessionellen Zusammensetzung der einzelnen Regionen gingen nicht ohne Probleme vonstatten, da die anderskonfessionellen Zuwanderer Konkurrenten in einer weitgehend noch durch Mangel (Wohnung, hochwertige Nahrung, Arbeit) geprägten sozialen Umwelt darstellten. „Erst langsam,“ so stellt Baumann fest, wuchs „das politisch als auch demographisch neue niedersächsische Volk ... zusammen, die einstige regionale monokonfessionelle Prägung wich vielerorts einer Bikonfessionalität.“11

Eine Sonderstellung nahmen die jüdischen Gemeinden ein, die sich seit jeher in einer Diasporasituation befunden hatten, als Fremdlinge angesehen und stigmatisiert wurden. Erst 1870 konnten die Hannoveraner Juden nach knapp zweihundert Jahren der Hinterhofexistenz eine repräsentative Synagoge an zentraler Stelle errichten, die jedoch 1938 zerstört wurde. Heute befindet sich an dieser Stelle das Parkdeck der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers; lediglich eine unauffällige Gedenktafel erinnert an die Synagoge und die kurze Zeit der erfolgreichen jüdischen Emanzipation.12

Festzuhalten bleibt bei diesem begrenzten Ausflug in die niedersächsische Religionsgeschichte, dass religiöse Vielfalt auch auf kleinstem und anscheinend altgewohntem Level keineswegs zum gelebten Alltag in der jüngeren niedersächsischen Geschichte gehört, sondern dass vielmehr bloße konfessionelle Unterschiede in Zeiten politischer oder wirtschaftlicher Unsicherheit zur Verstärkung von Ressentiments führen konnten und führten. Entschärft wurden diese durchaus nicht immer nur marginalen Konflikte in den folgenden Jahren durch erhebliche Fortschritte auf dem Gebiet der Ökumene einerseits, andererseits aber vor allem durch die allgemein fortschreitende Säkularisierung, die zwar nicht zu einer Entchristlichung, aber doch zu einer fortschreitenden Entkirchlichung führte und damit die konfessionellen Unterschiede verwischte oder im gelebten Alltag bedeutungslos machte.13

Diese neue, in religiöser und vor allem ethnisch-kultureller Hinsicht immer noch recht homogene Kulturlandschaft begann sich seit den 1960er Jahren durch den Zuzug von Arbeitsmigranten, aber auch von Flüchtlingen, in einem bislang nicht gekannten Ausmaß zu verändern.14 So leben heute in Niedersachsen rund 480 000 Ausländer – eingebürgerte Migranten mit inzwischen deutschem Pass sind naturgemäß in dieser Zahl nicht enthalten.15 Ein Blick auf die Herkunftsländer zeigt, dass in Niedersachsen türkische Staatsangehörige mit gut 118 000 Personen den weitaus größten Anteil an den Ausländern stellen, mit weitem Abstand gefolgt von rund 40 000 Serben und Montenegrinern. Italiener und Niederländer stellen mit je 26 000 und 20 000 Personen erst die dritt- bzw. viertgrößte Migrantengruppe. Interessanter als die Nationalität ist für die vorliegende Untersuchung die Frage nach der Religionszugehörigkeit, die jedoch in dieser Form von der Statistik nicht beantwortet wird – auch hier kann der Umweg über das Herkunftsland weiterhelfen. So dürften von den europäischen Migranten die knapp 7 000 Bosnier / Herzegowiner mehrheitlich Muslime sein; ebenso etwa die Hälfte der rund 15 000 gemeldeten Afrikaner einschließlich Algeriern, Marokkanern und Tunesiern. Für Asien stellen Afghanistan mit etwa 4 000, Irak und Libanon mit jeweils gut 8 000, Iran mit etwa 8 000, Syrien und die Vereinigte Arabische Republik mit zusammen knapp 6 000 registrierten Ausländern die größten Migrantengruppen, gefolgt von Ländern wie Aserbaidschan und Indonesien. Insgesamt dürften in Niedersachsen inzwischen zwischen 200 000 und 230 000 Muslime aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern leben, wobei die türkeistämmigen Migranten mit mehr als 50 % den bei weitem größten Anteil stellen. Ähnlich heterogen wie die Herkunft ist die regionale Verteilung der Migranten: Während ländliche Kreise wie Uelzen und Lüchow-Dannenberg ebenso wie große Teile Ostfrieslands einen Ausländeranteil von weniger als 3,5 % verzeichnen, stechen Hannover, die Grafschaft Bentheim, Braunschweig, Salzgitter und Wolfsburg als typische Ziele von Arbeitsmigranten mit einem Ausländeranteil von mehr als 7,5 % hervor, wobei mit Ausnahme von Wolfsburg – hier dominieren Italiener – türkeistämmige Migranten wiederum den größten Anteil stellen.

Nicht vergessen werden dürfen im Spektrum der in Niedersachsen ansässigen Muslime diejenigen, die auf keinen Migrationshintergrund verweisen können. Wenn im öffentlichen Diskurs die Islamfrage gern auf das Thema Migration und hier besonders auf in Deutschland lebende Türken verengt wird, geht eine solche Diskussion an einem wichtigen Abschnitt der Geschichte des Islam in Deutschland, nämlich am deutschen Islam, vorbei (zur Zeit ca. 80 000 Personen).16 Hier sind zwar auch, aber nicht nur die Konvertiten gemeint, die, obwohl eine nur kleine Gruppe, dennoch in der öffentlichen Diskussion eine entscheidende, weil vermittelnde Aufgabe innehaben, wenn es um Fragen der zukünftigen Rolle des Islam in der deutschen Gesellschaft geht. Im Gegenteil ist das Miteinander von Christen und Muslimen in Deutschland Teil einer alten Erfolgsgeschichte: Beispielhaft und vorbildlich für ein Zusammenleben von christlicher Mehrheit und muslimischer Minderheit war der Islam in Preußen, wo im 18. und 19. Jahrhundert muslimische Adlige dem König in einem Ulanenregiment ergeben dienten, um auf diese Weise eine tief empfundene Dankesschuld für die Gewährung freier Religionsausübung abzutragen.17 Hinzuzufügen wäre, dass auch in den darauf folgenden Jahrzehnten in Deutschland der Islam und Muslime positiv bewertet wurden. Vor allem die Schicht des liberalen Bildungsbürgertums sah im Islam ein beispielhaftes religiöses System, das ohne die für das Christentum charakteristischen hierarchischen Strukturen auskam. Nicht zuletzt schufen sowohl die Märchensammlung 1001 Nacht als auch die Trivialromane Karl Mays ein romantisch verklärtes Orientbild, das die Einstellung der Deutschen zum Islam für lange Zeit positiv prägte.18

2.1.1 Die religiöse Organisation der niedersächsischen Muslime

Entsprechend der nationalen Herkunft der Muslime, der verschiedenen Ethnien, Kulturen und religiösen Sondergruppen spielt sich das religiöse Leben in Deutschland in einem höchst vielfältigen und nur schwer überschaubaren Rahmen ab. Wenn die für Gesamtdeutschland geltenden bzw. festgestellten Verhältnisse in etwa auf Niedersachsen übertragen werden können, muss davon ausgegangen werden, dass von den etwa 230 000 Muslimen nur etwa ein bis zwei Drittel praktizierende Muslime sind, und auch von diesen sind längst nicht alle in Moscheegemeinden organisiert; vielmehr beträgt ihr Anteil nur rund 14 bis 25 %. Die unterschiedlichen Zahlenangaben der einzelnen Quellen rühren daher, dass nur wenige Muslime tatsächlich eingetragene Mitglieder ihrer Moscheegemeinde sind, ein weitaus größerer Kreis jedoch regelmäßig am Gemeindeleben teilnimmt.19 Zwar spiegelt die Vielfalt der Moscheegemeinden mit ihren häufig landsmannschaftlichen Organisationsformen auch im Raum Hannover das gesamte Spektrum der muslimischen Ökumene, den Schwerpunkt bilden aber auch hier wieder entsprechend ihrer zahlenmäßigen Dominanz solche türkisch-osmanischer Richtung. Neben Sunniten der unterschiedlichen Rechtsordnungen finden sich in Niedersachsen Aleviten, Schiiten der verschiedenen Richtungen sowie Vertreter der Ahmadiyya oder Sufigemeinschaften. Naturgemäß gibt es strengere, fundamentalistische Gemeinden neben Modernisten, ethnisch geschlossene Gemeinschaften neben solchen mit internationaler Mitgliedschaft. Entsprechend der toleranten Grundhaltung des Islam werden Sonderwege und Häresien sowohl innerhalb der Gemeinden als auch im Gemeindespektrum im Allgemeinen geduldet, wenn auch gelegentlich Kritik aus den Herkunftsländern zu hören ist. Ein generelles Toleranzproblem gibt es lediglich bei der Ahmadiyya, die aus theologischen Gründen aus der islamischen Weltgemeinschaft ausgeschlossen wurde20 und deren Ansinnen, in Hannover-Stöcken eine Moschee zu errichten, nicht nur von den dortigen alteingesessenen Anwohnern, sondern auch von einigen muslimischen Gruppierungen heftig befehdet wurde.

Viele der muslimischen Gemeinden sind vereinsrechtlich organisiert und werden als landsmannschaftliche Kulturvereine geführt, so z.B. in Hannover der Marokkanische Verein, der seinen Sitz in einem der nördlichen Stadtteile hat und Muslime marokkanischer Herkunft geistlich betreut.

Auch eine der großen und mitgliederstarken Moscheen Hannovers, die heute der Milli Görüş angehört, begann als landsmannschaftlichreligiöse Vereinigung: Im Jahr 1973 trafen sich einige der damaligen türkischen „Gastarbeiter“ mit dem Ziel, einen Verein zu gründen, der ihnen die Pflege ihrer religiösen und nationalen Bräuche auch in der Fremde ermöglichen sollte. Noch im selben Jahr entstand der „Islamische Verein der Türken in Hannover“, der zunächst in angemieteten Räumlichkeiten unterkam. Diese junge Gemeinde, in der schon bald ein türkischer Imam die fünf täglichen Pflichtgebete leitete, wurde schnell unter Hannoverschen Türken, aber auch einigen Angehörigen anderer Nationalitäten populär und erfreute sich regen Zulaufs. In den frühen 1980er Jahren konnte ein größeres Gebäude im Stadtzentrum erworben werden; der Name des Vereins lautete bis zum Anschluß an die AMGT (Avrupa Milli Görüş Teskilatlari – Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa) im Jahr 1993 „Islamischer Verein in Hannover und Umgebung e.V.“.21

Da der Islam im Gegensatz zum Christentum keine Kirche kennt, übergeordnete Strukturen also ursprünglich fehlen, sind die Moscheegemeinden und Kulturzentren in organisatorischer Hinsicht in Dachverbänden zusammengefasst.22 Ein solcher Zusammenschluss, der in den frühen 1980er Jahren erfolgte, erlaubte über die Vernetzung und auch Rückbindung an Organisationen sowohl eine gezielte finanzielle und personelle Unterstützung aus den Heimatländern der Muslime, ermöglichte aber auch z.B. bei den Aleviten die Ausbildung einer eigenen Identität in bewusster Absetzung vom sunnitischen und schiitischen Mehrheitsislam.23

Unter den Organisationen – auch hier stehen naturgemäß türkische Organisationen im Vordergrund – ist für Niedersachsen wie Deutschland in erster Linie die mitgliederstarke DITIB, die Türkisch-Islamische Anstalt für Religion, zu nennen, die seit 1985 ihren Hauptsitz in Köln hat und als Zentrum des offiziellen und daher politisch laizistisch ausgerichteten türkischen Islams in Westeuropa gelten kann. Das dem türkischen Ministerpräsidenten unterstehende Zentrum für Religionsangelegenheiten (Diyanet Işleri Başkanliǧi, kurz DIB) in Ankara bestimmt sowohl die Satzung als auch die personelle Struktur der DITIB (Diyanet Işleri Türk-Islam Birligi); so wird der Vorsitz bei der DITIB stets von Botschaftsräten bekleidet, der Beirat rekrutiert sich aus Diplomaten, und die Imame sind türkische Staatsbeamte. Damit spiegelt die DITIB in politischer Hinsicht sowohl die sich am Ideal eines ethnisch und religiös homogenen Nationalstaates orientierende Staatsideologie als auch die jeweilige politische Ausrichtung des Mutterlandes mit ihren wechselnden Mehrheiten.24 Als größte islamische Organisation ist die Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa (IGMG – Islamische Gemeinschaft Milli Görüş) mit 2 600 eingetragenen Mitgliedern in Niedersachsen zu nennen. Die Milli Görüş geht auf den türkischen Parteiführer und ehemaligen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan zurück, der in ideologischer Anknüpfung an ein glorifiziertes osmanisches Reich zunächst eine betont islamistisch-nationalistische Ideologie vertrat.25 Allerdings revidierte Erbakan im Zuge der Wandlung seiner Wohlfahrtspartei von einer ländlichen Honoratiorenpartei zu einer modernen Volkspartei seine Ansichten zunächst auf dem Parteikongress 1994 durch ein Bekenntnis zum laizistischen Staat und zwei Jahre später durch eine klare Absage an Pläne zur Einführung der Scharia.26 Nach dem politischen Sturz Erbakans und dem Verbot der Wohlfahrtspartei setzte die reformorientierte Mehrheit dieser Gruppierung als Tugendpartei ihren inneren Reformkurs fort und stellt zur Zeit als AKP (seit 2002) die türkische Regierung mit einer pro-westlichen und auf EU-Mitgliedschaft ausgerichteten Politik. Dieser hier kurz angerissene ideologische und politische Wandel spiegelt sich auch in der deutschen IGMG. Eine erste Vorläuferorganisation wurde 1967 als islamistische Türkische Union Europa e. V. gegründet. Interne Auseinandersetzungen führten zur Abspaltung der iran-orientierten Cemaleddin Kaplan-Anhänger, die sich zum Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V. ICCB, dem späteren Kalifatsstaat zusammenfanden, während sich eine an den Ideen Erbakans orientierende Mehrheit 1985 zur Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa AMGT zusammenschloß. Aus der AMGT gingen dann die Islamische Gemeinschaft Milli Görüş e. V. sowie die ihr nahe stehende Europäische Moscheebau- und Unterstützungsgemeinschaft e. V. EMUG hervor.27 Nicht nur die veränderten politischen Verhältnisse im Mutterland, sondern auch eine notwendige Auseinandersetzung und Kooperation mit den Institutionen der Aufnahmegesellschaft sowie das Aufkommen neuer intellektueller Eliten der zweiten Migrantengeneration führten innerhalb der Milli Görüş zu einem Umdenkungsprozess, der inzwischen in ein klares Bekenntnis zum deutschen Staat mündet und selbstbewusst Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben einfordert.28

Als weitere Großverbände sind der Verband der islamischen Kulturzentren (Süleymancilar) und die Jama’at un-Nur (Nurculuk) zu nennen, die das Spektrum der sunnitischen ordensähnlichen Gemeinschaften in Deutschland repräsentieren.29 Der Verband der islamischen Kulturzentren, der 1973 noch unter dem Namen Avrupa Islam Kültür Merkezleri Birliğ gegründet wurde, steht in enger Beziehung zur Süleymanci-Bruderschaft, die auf den Mystiker und 33. Mursid des Naksbandi-Ordens, Süleyman Hilmi Tunahan (1888–1959), zurückgeht. Zu Zeiten Atatürks setzte sich Tunahan vehement für die Beibehaltung vorrepublikanischer religiöser Strukturen ein und geriet damit in Gegensatz zum offiziellen Staatsislam. Dieser Gegensatz ist, obwohl man der Süleymancilar seit der Demokratisierung von 1950 größere Freiheiten einräumt, bis heute nicht überwunden, so dass die DIB in einem vermutlich tendenziösen Gutachten aus den 1960er Jahren diese Gruppierung als häretisch einstuft. Tatsächlich soll jedoch ein innerer Kreis der Süleymancilar über eine Geheimlehre verfügen, nach der die Erleuchtung nur durch schrittweise Initiation in den Orden möglich ist. Der Verband, der sich gegen diese Unterstellungen vehement zur Wehr setzte, reagiert seit 1991 durch größte Offenheit und durch ein öffentliches Bekenntnis zu Deutschland, zur Integration und zum interreligiösen Dialog.30

Die Nurculuk-Bewegung trat in Deutschland zum ersten Mal 1967 als Vereinigung der Dienste islamischer Gemeinden an die Öffentlichkeit, organisierte sich aber 1979 unter dem Namen Jama’at un Nur’ neu. Sie geht auf Said Nursi (1873–1960), den aus Nurs in der Osttürkei gebürtigen Korankommentator zurück, dessen Werk Risale-i Nur die religiösen und politischen Grundlagen der Jama’at un Nur’ absteckt. In seinem Werk kritisiert Said Nursi die religiösen Hierarchien der osmanischen Zeit ebenso wie die Reformen Atatürks, lehnt nationalistische Strömungen jedweder Couleur ab und spricht sich für ein rationalistisches, wissenschaftsfreundliches und rechtlich auf der Scharia fußendes Staatswesen aus.31 Die Jama’at un Nur’ bekennt sich in ihrer Satzung ausdrücklich zum Gedankengut von Said Nursi, einschließlich einer Weiterentwicklung seines Staatsmodells, das zunächst „unter Ablehnung jedes Nationalismus auf der Idee des islamischen Staates beruhte,“32 heute aber den türkischen Nationalismus mit dem Islam gleichsetzt. Trotz eines breiten Unterrichtsangebots in deutscher Sprache und damit einem klaren Bekenntnis zur Integration ist die Jama’at un Nur’ hinsichtlich ihrer politisch-religiösen Grundlagen dem Mutterland noch eng verhaftet.

Auch die Glaubensgemeinschaft der Aleviten verdankt sich entstehungsgeschichtlich einem islamischen Orden, dessen Ursprünge bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückreichen. Haci Bektaş Veli (1248–1337/1343) gilt in Selbstdarstellungen der Aleviten als der Begründer des Alevitentums auf dem Boden der Türkei und, in religiöser Hinsicht, als Inkarnation Alis. Das Schicksal der Aleviten im Osmanischen Reich und in der späteren Türkei war und ist wechselhaft: Während die ersten osmanischen Sultane den „freidenkerischen türkischen Mystikerkreisen“ nahe gestanden hatten, gewann unter späteren Herrschern ein orthodoxes Sunnitum die Oberhand, das mit der religiösen und politischen Unterdrückung der Aleviten parallel ging.33 Die Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer Situation mit Beginn der Moderne, die sich unter anderem in einem Liebäugeln mit dem Kemalismus zeigte, gerieten seit der Zeit des Ersten Weltkriegs auch unter dem Eindruck der Verfolgung der Armenier ins Wanken, zu denen man enge Beziehungen unterhalten hatte; endgültig zerschlugen sie sich aber während eines pogromartigen Feldzuges 1938 gegen das alevitische Zentrum Dersim.34 Die Aleviten reagierten mit politischer Radikalisierung einschließlich gelegentlicher Affinität zur PKK (Partiya Karkeren Kurdistan, Kurdische Arbeiterpartei) oder mit Binnenmigration auf die Verfolgung und siedelten seit 1961 verstärkt in den Provinzstädten, wobei sie häufig ihre religiöse Identität geheim hielten. Unter der sich fortsetzenden Verfolgung, so in Elbistan 1968, in Maltya 1976 und in Sivas 1993, flohen oder emigrieren seit den 1960er Jahren viele Aleviten nach Deutschland. Hier kam es 1978 zur Gründung des Alevitischen Vereins Patriotische Einheit in Berlin, der ein Jahr später in Türkischer Arbeiterverein umbenannt wurde. In den frühen 1980er Jahren schlossen sich mehrere alevitische Vereine zusammen; 1992 entstand die Föderation / Vereinigung der Aleviten-Gemeinden in Deutschland e. V. (AABF) mit Sitz in Köln; 2005 wurde endlich ein niedersächsischer Dachverband der Aleviten gegründet, dessen Mitgliedsgemeinden nicht automatisch Mitglieder des deutschen Dachverbandes sein müssen.35 Vor allem unter dem Eindruck der Verhältnisse in der Türkei mit ihren Bestrebungen in Richtung einer Sunnitisierung und Turkisierung der Bevölkerung wird innerhalb alevitischer Kreise das Verhältnis der Aleviten zum Islam einerseits und zu einem bewussten Kurdentum andererseits kontrovers diskutiert.36

Während die genannten Gemeinschaften in Deutschland nicht nur unmittelbar auf die Bedürfnisse türkeistämmiger Muslime zugeschnitten sind, sondern hinsichtlich ihrer ideologischen Ausrichtung die politische Auseinandersetzung in der Türkei der letzten hundert Jahre direkt reflektieren, entstammt die Sondergemeinschaft der Ahmadiyya ursprünglich einem völlig anderen kulturellen Umfeld. Die Ahmadiyya geht auf Mirza Gulam Ahmad (1835–1908) aus Qadiyan in der damals nordindischen Provinz Pandjab zurück, der Ende der 1880er Jahre mit Offenbarungen an die Öffentlichkeit trat und für sich beanspruchte, der erwartete Mahdi und gleichzeitig neuer Prophet zu sein. 1889 entstand aus der Bewegung um Ahmad die religiöse Organisation der Ahmadiyya, die sich trotz heftigster Kritik von Seiten des etablierten Islam (1974 erklärte das pakistanische Parlament den Ausschluss der Gruppe aus dem Islam) erfolgreich vor allem im Ausland verbreiten konnte.37 Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg war die Ahmadiyya auch in Deutschland präsent; bereits in den 1920er Jahren entstanden in Berlin Moscheen zweier rivalisierender Ahmadiyya-Gruppen, von denen sich vor allem die Gruppierung um die Moschee in Wilmersdorf durch größte Offenheit auszeichnete und Besucher aller muslimischen Konfessionen und Nationen an sich binden konnte. Bereits 1930 begann diese Gemeinde unter dem Namen Deutsch-moslemische Gesellschaft e. V. deutschsprachige Publikationen herauszugeben, um auf diese Weise den Islam den Angehörigen unterschiedlichster Nationalitäten in Deutschland zugänglich zu machen und die verschiedenen Gruppierungen unter ihrem Dach organisatorisch zu einigen: „Wegen der ausschließlich auf ein Leben in Deutschland ausgerichteten Gemeindeorganisation sowie einer fehlenden politischen Auslandsbindung gelang es den Ahmadiya-Gruppen für einige Jahre, Muslime nicht nur verschiedener Nationalität, sondern auch verschiedener islamischer Glaubensausprägung (Sunna und Schia) organisatorisch zu verbinden.“38 Nach dem Zweiten Weltkrieg verlagerten sich die Aktivitäten der Ahmadiyya in andere deutsche Städte; Hauptsitz ist heute die Nur-Moschee in Frankfurt. In Hannover ist die Ahmadiyya-Muslim-Gemeinde seit 1974 ansässig und hat nach eigenen Angaben ca. 330 Mitglieder pakistanischer, deutscher, arabischer und spanischer Nationalität.39

Wie die Ahmadiyya gehören auch die Schiiten zu den seit den 1920er Jahren in Deutschland ansässigen und in der Regel hervorragend integrierten Muslimgruppen, haben aber bislang keinen eigenen Dachverband in Deutschland. Bei den schiitischen Muslimen handelte es sich meist um Iraner: zunächst Studenten, die an deutschen Universitäten vorwiegend die medizinischen und technischen Fächer studierten, dann aber auch Kaufleute, die im Importbereich tätig waren und sind. In der Zeit nach 1979 kamen zahlreiche iranische Flüchtlinge hinzu, die sich bevorzugt in den großen deutschen Städten ansiedelten. Die erste Mosche entstand 1963 in Hamburg, nachdem sich dort zehn Jahre zuvor ein schiitisch-islamischer Verein formiert hatte. Heute bildet die repräsentative Imam-Ali-Moschee an der Außenalster mit dem Islamischen Zentrum Hamburg einen der Schwerpunkte schiitischen Lebens in Deutschland. Zu Zeiten des Schah-Regimes galt Hamburg als Zentrum des religiös-politisch motivierten Widerstands, das unter der Leitung eines der führenden Köpfe der islamischen Revolution, Ayatollah Muhammad Beheschti stand. Bis heute sagt man daher dem IZHH nach, „eine von der iranischen Regierung kontrollierte Institution“ zu sein.40 In Hannover haben die Schiiten – Migranten aus Iran, Irak, Pakistan und Yemen sowie Minderheiten aus weiteren Ländern – eine geistige Heimat in der Salman Farsi Moschee in Hannover-Langenhagen gefunden. Im Gegensatz zu den muslimischen Gruppierungen türkischer Provenienz und im Gegensatz zur Charakterisierung des IZHH gelten schiitisch-iranische Moscheegemeinschaften heute mehrheitlich als unpolitisch.41

Nicht unpolitisch im Sinne einer öffentlichen Vertretung muslimischer Positionen, aber überparteilich ist die Deutsche Muslim Liga e. V., nach ihrer Satzung eine „Vereinigung von Muslimen und Freunden des Islam“, die sich als Interessenvertretung der deutschen Muslime versteht.42 Die DML wurde 1952 von deutschen Muslimen in Hamburg gegründet und wird seit 1992 beim deutschen Bundestag in der Liste derjenigen Verbände geführt, denen in bestimmten, die Religion betreffenden Fragen ein Anhörungsrecht zusteht. Die Deutsche Muslim Liga hat sich ausdrücklich sowohl zum Deutschen Staat als auch zu den Grundwerten des Islam bekannt und lehnt „jede Form von religiösem, ethnischem und politischen Extremismus ab – dies gilt auch ausdrücklich für sich muslimisch nennende extremistische Positionen.“43

Wie die obige kurze Charakterisierung der einzelnen Verbände hoffentlich gezeigt hat, lassen sich inhaltlich die Etiketten, mit denen die genannten Organisationen in der Öffentlichkeit bedacht wurden und die eine Bandbreite von liberal über fundamentalistisch bis extremistisch umfassen, nur noch schwer aufrecht halten. Zwar ist der organisierte Islam in Deutschland tendenziell selbstbewusster und daher in den Augen der Öffentlichkeit auch konservativer geworden, dennoch oder vielleicht auch gerade deshalb verschwinden extremistische Richtungen oder werden zu Minderheiten, die nur in den Medien noch deutlich überrepräsentiert sind.44

Während die islamischen Gemeinden bis in die 1980er Jahre eine weitgehend unbemerkte Existenz am Rande der Gesellschaft führten, begann sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten sowohl bei den Muslimen als auch bei der christlich-säkularen Mehrheitsbevölkerung die Einsicht durchzusetzen, dass der Islam als eine inzwischen in Deutschland weit verbreitete Religion zunächst einmal wahrgenommen, dann aber auch an bestimmten gesellschaftspolitischen Diskussionen und Entscheidungsprozessen beteiligt werden müsse. In diesem Zusammenhang sahen sich Moscheegemeinden, Kulturzentren und übergeordnete Organisationen vor die Notwendigkeit gestellt, Koordinierungsinstanzen und damit Ansprechpartner für die deutschen Behörden zu schaffen, um gesamtislamische Interessen vor deutschen Instanzen vertreten zu können.45 Zu diesem Zweck mussten unter den verschiedenen Organisationen Differenzen beseitigt, gelegentlich sogar alte Vorurteile überwunden werden. Solche gesamtislamischen Organisationen sind in Deutschland z.B. der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, der 1986 „als bundesweite Koordinierungsinstanz und gemeinsames Beschlussorgan islamischer Religionsgemeinschaften in Berlin gegründet“ wurde und Rechtsnachfolger des noch aus den 1930er Jahren stammenden Islamischen Weltkongreß / Zweigstelle Berlin ist.46 Kritiker werfen dieser Dachorganisation vor, sich einen Alleinvertretungsanspruch für mindestens 200 000 Muslime anzumaßen, für den er eine nur unzureichende Legitimation besitzte.4748